TE Bvwg Erkenntnis 2018/10/2 W191 2152554-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 02.10.2018
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Entscheidungsdatum

02.10.2018

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §34 Abs2
B-VG Art.133 Abs4

Spruch

W191 2152554-1/5E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Rosenauer als Einzelrichter über die Beschwerde der minderjährigen XXXX, geboren am XXXX, Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch ihre Mutter XXXX, geboren am XXXX, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 28.02.2017, Zahl 1096121101-151838255, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 12.09.2018 zu Recht:

A)

I. Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 34 Abs. 2 Asylgesetz 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt.

II. Gemäß § 3 Abs. 5 Asylgesetz 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

1. Verfahrensgang:

1.1. Die Beschwerdeführer (in der Folge BF), Frau XXXX, geboren am XXXX (BF1), ihr Ehemann XXXX, geboren am XXXX (BF2), der Bruder des BF2, XXXX, geboren am XXXX (BF3), der gemeinsame minderjährige Sohn von BF1 und BF2, XXXX, geboren am XXXX (BF4), und ihre gemeinsame minderjährige Tochter, XXXX, geboren am XXXX(BF5), afghanische Staatsangehörige, reisten irregulär und schlepperunterstützt in Österreich ein und wurden im Zuge einer fremdenrechtlichen Kontrolle am 23.11.2015 in Linz mangels eines gültigen Aufenthaltstitels vorläufig festgenommen. Die BF stellten, die minderjährigen Kinder gesetzlich vertreten durch ihre Eltern, jeweils einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (in der Folge AsylG).

Eine EURODAC-Abfrage ergab keine Übereinstimmung bezüglich der erkennungsdienstlichen Daten der BF.

1.2. In ihrer Erstbefragung am 23.11.2015 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes des Stadtpolizeikommando Linz, Polizeianhaltezentrum, gaben die BF1, der BF2 und der BF3 im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari im Wesentlichen Folgendes an:

Sie seien Angehörige der Volksgruppe der Hazara, (schiitische) Muslime, und hätten im Iran gelebt, wo sie auch (mit Ausnahme des BF2, der vor ca. 15 Jahren seine afghanische Herkunftsprovinz Ghazni verlassen habe) geboren worden seien.

Die BF schilderten relativ detailliert ihre Reiseroute (per Schlauchboot von Izmir/Türkei nach Mytilini/Griechenland, und dann über mehrere europäische Länder - Mazedonien, Serbien, Kroatien, Slowenien - bis nach Österreich).

Als Fluchtgrund gaben die BF an, dass sie illegal im Iran gelebt hätten. Der BF2 sei schon mehrmals nach Afghanistan, wo die Sicherheitslage sehr schlecht sei, abgeschoben worden, der BF3 hätte sich nach Festnahmen mehrmals von der Abschiebung freikaufen können.

Die BF1 gab zudem an, dass ihre Kinder im Iran nicht zur Schule gehen könnten, sie wolle für ihre Kinder eine gute Zukunft.

1.3. Bei ihrer Einvernahme am 16.02.2017 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge BFA), offenbar Regionaldirektion Steiermark, Außenstelle Graz (beides geht aus dem Briefkopf der Niederschrift nicht hervor), im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Farsi, bestätigten die BF die Richtigkeit ihrer bisher gemachten Angaben und führten sie auf Nachfrage näher aus.

Die BF1 gab an, sie habe vier Jahre einen Alphabetisierungskurs in Waramin besucht. Sie hätten vor ca. acht Jahren auch dort geheiratet. Zur Finanzierung der Reise hätten sie Schmuck und Haushaltsgeräte verkauft. Weitere Familienangehörige (Eltern, Geschwister) hielten sich noch illegal im Iran auf und hätten wegen der vielen Kinder nicht ausreisen können.

Sie gab weiters an, dass Hazara in Afghanistan sehr schlecht behandelt würden. Die Taliban gingen sehr schlecht mit den Frauen um und die Frauen hätten auch keine Rechte dort. Sie habe Angst um ihre Kinder.

Der BF2 gab an, er habe im Iran als Arbeiter und Tagelöhner alle Arbeiten angenommen, die er bekommen habe. Er sei einmal alleine nach Herat abgeschoben worden und nach zwölf Tagen über Pakistan wieder in den Iran zu seiner Familie gereist. Aus Afghanistan sei er seinerzeit wegen nicht näher bekannten Problemen seines Vaters im Bürgerkrieg gemeinsam mit diesem ausgereist.

Der BF3 gab an, dass er ein schreckliches Bild von Afghanistan habe. Er entnehme den Nachrichten, dass die Taliban die Hazara hassen, als Verräter bezeichnen und verfolgen würden.

Laut Niederschrift wurde den BF die Möglichkeit eingeräumt, "in die vom Bundesamt [...] herangezogenen allgemeinen Länderfeststellungen des BFA [...] Einsicht und gegebenenfalls schriftlich Stellung zu nehmen", worauf diese verzichteten.

Zu ihrer Integration in Österreich legten die BF Belege vor (Deutschkursbestätigungen, Empfehlungsschreiben, Bestätigungen über gemeinnützige Tätigkeiten des BF2 und BF3, Schulbesuchsbestätigungen des BF3).

1.4. Nach Durchführung des Ermittlungsverfahrens wies das BFA mit Bescheiden vom 28.02.2017 die Anträge der BF auf internationalen Schutz vom 23.11.2015 gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt I.), erkannte den BF gemäß § 8 Abs. 1 AsylG den Status von subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zu (Spruchpunkt II.) und erteilte ihnen in Spruchpunkt III. jeweils eine befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG bis zum 28.02.2018.

Dem BF2 und dem BF3 wurde der Status als subsidiär Schutzberechtigte originär zuerkannt. Aus den Bescheidbegründungen (nicht aus dem Spruch) geht hervor, dass den engeren Familienangehörigen des BF2, sohin auch der BF1, der Status als subsidiär Schutzberechtigte abgeleitet im Familienverfahren zuerkannt wurde.

In den Bescheidbegründungen traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person der BF und zur Lage in ihrem Herkunftsstaat. Eine asylrelevante Verfolgung liege nicht vor, die BF hätten eine Verfolgung im Sinne des AsylG nicht geltend und somit auch nicht glaubhaft gemacht.

Beweiswürdigend führte das BFA (zusammengefasst) aus, dass die BF bezüglich ihrer behaupteten Herkunftsregion, Volks- und Staatsangehörigkeit aufgrund ihrer Sprach- und Lokalkenntnisse glaubwürdig wären. Die Feststellungen zur Situation in Afghanistan wären glaubhaft, weil sie verlässlichen, seriösen, aktuellen und unbedenklichen Quellen entstammten, deren Inhalt schlüssig und widerspruchsfrei sei.

Subsidiärer Schutz wurde ihnen zuerkannt, da im Falle einer Rückkehr der BF in ihren Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 oder 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder 13 zur GFK oder eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt oder im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes aufgrund der derzeitigen, allgemeinen Lage in Afghanistan unter Berücksichtigung ihrer persönlichen Umstände aufgrund Fehlens eines familiären Netzwerkes nicht ausgeschlossen werden könne.

1.5. Gegen diesen Bescheid brachten die BF mit zwei offensichtlich von einer Hilfsorganisation unterstützt erstellten Schreiben (ein Schreiben für BF1, BF2, BF4 und BF5, ein Schreiben für BF3) fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG) wegen "Mangelhaftigkeit des Verfahrens" sowie inhaltlicher Rechtswidrigkeit ein.

In den Beschwerdebegründung wurde neben weitwendigen Ausführungen (und Zitaten aus diversen Berichten - vielfach in englischer Sprache - und Judikaten etwa zur Lage der Hazara in Afghanistan) im Wesentlichen moniert, dass die belangte Behörde nicht hinreichend geprüft habe, ob die BF1 der sozialen Gruppe der Frauen mit westlicher Lebenseinstellung angehöre und ihr aus diesem Grund Asyl zuzuerkennen sei.

1.6. Das BVwG führte am 12.09.2018 eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Farsi durch, zu der die BF persönlich erschienen. Die belangte Behörde verzichtete im Vorhinein auf die Teilnahme an der Verhandlung.

"[...] RI [Richter]: Was ist Ihre Muttersprache?

BF: Unsere Muttersprache ist Dari. Aber aufgrund unseres langjährigen Aufenthaltes im Iran sprechen wir viel besser Farsi.

BF3: Ich spreche auch ein bisschen Englisch.

RI an D [Dolmetsch]: In welcher Sprache übersetzen Sie für die BF?

D: Farsi.

RI befragt BF, ob sie D gut verstehen; dies wird bejaht.

Zur heutigen Situation:

RI: Fühlen Sie sich körperlich und geistig in der Lage, der heutigen Verhandlung zu folgen?

BF: Ja.

RI: Leiden Sie an chronischen oder akuten Krankheiten oder anderen Leiden oder Gebrechen?

BF: Nein.

[...]

Die BF haben bisher keine Bescheinigungsmittel zu ihrer Identität oder zu ihrem Fluchtvorbringen vorgelegt und legen auch heute keine vor. Zu ihrer Integration haben sie bisher Deutschkursbestätigungen, Empfehlungsschreiben, Schulzeugnisse für den BF3 sowie Bestätigungen für die Ausübung gemeinnütziger Tätigkeiten vorgelegt.

Heute legen sie eine Mappe vor, in der sie ihre Unterlagen zum Verfahren und Belege zu ihrer Integration in Klarsichthüllen gesammelt haben (Zeitungsberichte, Mietvertrag, Arbeitsbestätigungen, Bestätigung des AMS der Vormerkung zur Arbeitssuche, Integrationserklärung, Teilnahmebestätigung Werte- und Orientierungskurs, Deutschkursbestätigungen, Bestätigung, dass der BF2 Fahrräder für Flüchtlinge repariert hat, Kindergarten- und Schulnachrichten betreffend den BF4 sowie ein Arbeitszeugnis für den BF2 für eine Tätigkeit seit zwei Jahren).

Der BF3 legt weiters vor seinen Mietvertrag, Schulzeugnisse, Bankunterlagen sowie einen vorläufigen Führerschein für AM.

Diese Belege werden eingesehen, teilweise kopiert und rückausgefolgt.

BF2: Ich bin seit zwei Jahren beschäftigt und krankenversichert, ich wohne mit meiner Familie seit 01.08.2018 in einer neuen Mietwohnung.

[...]

Zur Identität und Herkunft sowie zu den persönlichen

Lebensumständen:

RI: Sind die von der belangten Behörde im angefochtenen Bescheid getroffenen Feststellungen zu Ihrem Namen und Geburtsdatum sowie zu Ihrer Staatsangehörigkeit korrekt?

BF: Ja, aber das Geburtsdatum des BF4 lautet richtig XXXX. Wir können das zwar nicht schriftlich belegen, aber die Schule in Österreich hat ihn auch deswegen zurückgestuft. Er hat die erste Klasse wiederholt und besucht nunmehr - seinem wirklichen Alter entsprechend - die zweite Klasse.

Die diesbezüglichen Schulbesuchsbestätigungen werden in Kopie zum Akt genommen.

RI: Welcher ethnischen Gruppe bzw. Volks- oder Sprachgruppe gehören Sie an?

BF: Hazara.

RI: Gehören Sie einer Religionsgemeinschaft an, und wenn ja, welcher?

BF: Schiiten.

RI: Sind Sie verheiratet, oder leben Sie in einer eingetragenen Partnerschaft oder sonst in einer dauernden Lebensgemeinschaft?

BF1 und 2: Wir haben im Jahr 2009 in Waramin (Iran) geheiratet.

BF3: Ich bin ledig und nicht verlobt.

RI an BF1: Warum haben Sie im Iran keine Schule besucht?

BF1: Wir waren dort illegal, ich durfte dort keine Schule besuchen, ich habe vier Jahre an einem Alphabetisierungskurs für afghanische Flüchtlinge teilgenommen. Ich hätte aber gerne die Schule besucht. Ich wäre gerne Frisörin geworden. Ich möchte das jetzt auch in Österreich lernen. Zuerst lerne ich die Sprache, dann mache ich eine Ausbildung als Frisörin, und dann arbeite ich.

RI an BF2: Was sagen Sie dazu, dass Ihre Frau arbeiten möchte?

BF2: Ich bin einverstanden.

Anmerkung: BF1 lacht.

BF1: Mein Mann sagt zuhause immer, er unterstützt mich. Jetzt habe ich ihm gesagt, er soll das jetzt auch hier sagen.

RI: Wo und wie leben Ihre Verwandten?

BF2: Mein Onkel väterlicherseits lebt in Pakistan seit vielen Jahren, ich glaube sogar schon vor 30 Jahren ist er geflüchtet wegen dem Bürgerkrieg.

BF3: Ich habe gehört, dass wir irgendwo einen Onkel in Afghanistan haben. Bei der Einvernahme habe ich das auch gesagt. Wo er lebt, weiß ich nicht.

BF2: Ich habe vor ungefähr zweieinhalb Jahren gehört, dass unser Onkel in Afghanistan tot ist. Ich glaube, er hat in Bamyan gelebt. Eigentlich stammen meine Eltern ursprünglich aus Bamyan. Als ich noch ein Kleinkind war, ist meine Familie nach Jaghori (Ghazni) gezogen.

Zur derzeitigen Situation in Österreich:

RI: Haben Sie in Österreich lebende Familienangehörige oder Verwandte?

BF: Nein.

RI an BF1: Wie verbringen Sie Ihren Tag?

BF1: Ich habe insgesamt ca. zwei Monate einen Deutschkurs besucht, weil meine Tochter noch sehr klein war und ich auf sie aufpassen musste. Ich habe aber zuhause sehr intensiv Deutsch gelernt, mit Hilfe des Internets. Dann habe ich die Prüfung für den Kurs A1 bestanden. Aktuell kann ich auch keinen Deutschkurs besuchen, weil meine Tochter in den Kindergarten geht. Um 7:15 Uhr bringe ich meinen Sohn zur Schule, wir gehen meistens zu Fuß und fahren manchmal mit der Straßenbahn. Dann bringe ich meine Tochter in den Kindergarten und fahre dann von dort mit der Straßenbahn ca. zehn Minuten zum AMS zum Deutschkurs, sobald dort wieder ein Kurs für mich angeboten wird. Dann erledige ich Einkäufe und hole dann die Kinder wieder ab und gehe dann mit ihnen zu dritt nachhause.

RI: Bekommen Sie von Ihrem Ehemann Wirtschaftsgeld?

BF1 lacht.

BF1: Das Geld bewirtschafte ich, das war von Anfang an so. Mein Mann arbeitet sehr brav, aber das Geld verwalte ich.

RI an BF2: Ist Ihnen das recht?

BF2 lacht.

BF2: Was sonst?

Angemerkt wird, dass die BF1 Sneaker, eine lange schwarze Hose, ein langes weiß-schwarz gemustertes Hemd sowie einen Schal, den sie als Kopftuch benützt, trägt. Sie ist dezent geschminkt, hat blond gefärbtes langes Haar und trägt pinke Ohrringe.

RI an BF1: Sind Sie immer geschminkt, seit wann sind Sie geschminkt?

BF1: Ich habe mich schon im Iran geschminkt, ich will ja Frisörin werden.

BF2 bestätigt dies.

RI an BF3: Was sagen Sie zum Outfit Ihrer Schwägerin?

BF3: Das geht mich überhaupt nichts an, ich bin nicht dagegen.

Angemerkt wird, dass die BF1 und der BF2 sehr entspannt und auf Augenhöhe miteinander umgehen. Die BF1 macht einen offenen und selbstbewussten Eindruck.

RI an BF1: Falls Sie nach Afghanistan gehen müssten, was würden Sie dazu sagen?

BF1: Ich kann in Afghanistan nicht zurechtkommen, weil ich praktisch nie dort war. Im bin im Iran aufgewachsen und eher iranisch. Jetzt bin ich seit einiger Zeit in Europa, ich habe mich hier angepasst, und ich liebe mein neues Leben hier in Österreich in Freiheit. Mein Lebensstil wird in Afghanistan nicht toleriert. Die Taliban, die IS-Kämpfer, die jetzt in Afghanistan sehr aktiv sind, werden mich umbringen, weil ich sehr unislamisch bin.

RI ersucht D, die folgenden Fragen nicht zu übersetzen. RI stellt diverse Fragen.

RI: Sprechen Sie Deutsch? Haben Sie mich bis jetzt auch ohne Übersetzung durch den D verstehen können?

BF: Wir verstehen viel von dem, was Sie sagen.

RI stellt fest, dass die BF die zuletzt gestellten und nicht übersetzten Fragen verstanden und auf Deutsch beantwortet haben. Der BF3 kann sehr gut Deutsch sprechen, da er jünger ist und in Österreich die Schule besucht hat.

RI: Haben Sie Arbeit in Österreich? Gehen Sie einer regelmäßigen Beschäftigung nach?

BF3 (auf Deutsch): Ich besuche derzeit die zweite Klasse einer fünfjährigen Schule, mit deren Abschluss mir viele Möglichkeiten offenstehen (Studium, Tourismus, etc.).

RI: Besuchen Sie in Österreich bestimmte Kurse oder eine Schule, oder sind Sie aktives Mitglied in einem Verein? Gehen Sie sportlichen oder kulturellen Aktivitäten nach? Wie ist Ihr Tagesablauf?

Die BF schildern diverse Aktivitäten. Der BF3 hat schon zweimal als Model bei einer Modenschau sowie bei einem Halbmarathon teilgenommen.

RI: Wurden Sie in Österreich jemals von einem Gericht wegen einer Straftat verurteilt oder von einer Behörde mit einem Aufenthaltsverbot oder Rückkehrverbot belegt?

BF: Nein.

RI: Unterhalten Sie von Österreich aus noch Bindungen an Ihren Herkunftsstaat, insbesondere Kontakte zu dort lebenden Familienangehörigen, Verwandten, Freunden oder zu sonstigen Personen? Wenn ja, wie sieht dieser Kontakt konkret aus (telefonisch, brieflich, per E-Mail), bzw. wie regelmäßig ist dieser Kontakt?

BF: Nein.

Zu den Fluchtgründen und zur Situation im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat:

RI: Sie wurden bereits im Verfahren vor dem Bundesasylamt zu den Gründen, warum Sie Ihren Herkunftsstaat verlassen haben bzw. warum Sie nicht mehr in Ihren Herkunftsstaat zurückkehren können (Fluchtgründe), einvernommen. Die diesbezüglichen Niederschriften liegen im Akt ein.

Sind Ihnen diese Angaben noch erinnerlich und, wenn ja, halten Sie diese Angaben vollinhaltlich und unverändert aufrecht, oder wollen Sie zu Ihren Fluchtgründen noch etwas ergänzen oder berichtigen, das Ihnen wichtig erscheint?

BF: Wir haben die Wahrheit gesagt.

RI an BF3: Was würde Ihnen konkret passieren, wenn Sie jetzt wieder in Ihren Herkunftsstaat zurückkehren müssten?

BF3: Ich will nicht übertreiben, deshalb sage ich, ich weiß überhaupt nicht, wie es in Afghanistan ist. Ich war nie dort. Ich bin im Iran aufgewachsen und auch sehr iranisch aufgewachsen. Die Sprache kenne ich nicht, wie man in Afghanistan lebt, weiß ich auch nicht, ich kenne mich in Afghanistan nicht aus und ich habe überhaupt keine Bindung zu Afghanistan. Alle wissen, dass die Sicherheitslage dort jetzt sehr kritisch ist. Ich habe das auch gehört, und ich wäre dann auch betroffen.

Der RI bringt unter Berücksichtigung des Vorbringens der BF auf Grund der dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Informationen die dieser Niederschrift beiliegenden Feststellungen und Berichte [...] in das Verfahren ein.

Der RI erklärt die Bedeutung und das Zustandekommen dieser Berichte. Im Anschluss daran legt der RI die für die Entscheidung wesentlichen Inhalte dieser Feststellungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat dar.

RI folgt BF Kopien dieser Erkenntnisquellen aus und gibt ihnen die Möglichkeit, dazu sowie zu den bisherigen Angaben der BF eine mündliche Stellungnahme abzugeben.

BF3: Ich habe Ihre Ausführungen bzw. Argumentation verstanden, es ist der gesetzlichen Regelung zu folgen.

BF1: Wir sind sehr froh, dass wir hier da bleiben dürfen, aber auf der anderen Seite sind wir etwas traurig über die Rechtslage betreffend meinen Schwager.

Seitens der Parteien erfolgt keine Stellungnahme, und es wird auch keine Frist für eine schriftliche Stellungnahme beantragt.

RI befragt BF, ob sie noch etwas Ergänzendes vorbringen wollen; dies wird verneint.

RI befragt BF, ob sie D gut verstanden haben; dies wird bejaht.

[...]"

Das erkennende Gericht brachte weitere Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF in das Verfahren ein (aufgelistet unter Punkt 2.).

Das BFA beantragte schriftlich die Abweisung der gegenständlichen Beschwerden. Dem BFA wurde die Verhandlungsschrift samt Beilagen übermittelt.

2. Beweisaufnahme:

Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:

* Einsicht in den dem BVwG vorliegenden Verwaltungsakt des BFA, beinhaltend die Niederschriften der Erstbefragungen am 23.11.2015 und der Einvernahmen vor dem BFA am 16.12.2017, Belege zur Integration der BF (Deutschkursbestätigungen, Empfehlungsschreiben, Schulzeugnisse für den BF3 und Bestätigungen für die Ausübung gemeinnütziger Tätigkeiten) sowie die Beschwerden vom 27.03.2017

* Einsicht in Dokumentationsquellen betreffend den Herkunftsstaat der BF im erstbehördlichen Verfahren (offenbar Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Aktenseiten 66 bis 141 im Verwaltungsakt der BF1)

* Einvernahme der BF1, BF2 und BF3 im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG am 12.09.2018 sowie Einsichtnahme in folgende in der Verhandlung vorgelegte Belege:

? Bezüglich BF1, BF2, BF4 und BF5: Zeitungsberichte, Mietvertrag, Arbeitsbestätigungen, Bestätigung des AMS der Vormerkung zur Arbeitssuche, Integrationserklärung, Teilnahmebestätigung Werte- und Orientierungskurs, Deutschkursbestätigungen, Bestätigung, dass der BF2 (wie auch der BF3) Fahrräder für Flüchtlinge repariert hat, Kindergarten- und Schulnachrichten betreffend den BF4 sowie ein Arbeitszeugnis für den BF2 für eine Tätigkeit seit zwei Jahren

? Bezüglich BF3: Mietvertrag, Schulzeugnisse, Bankunterlagen sowie einen vorläufigen Führerschein für AM

* Einsichtnahme in folgende in der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG zusätzlich in das Verfahren eingebrachte Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat der BF:

o Feststellungen und Berichte über die allgemeine Lage im Herkunftsstaat sowie der ethnischen Minderheiten, insbesondere der Hazara (Auszüge aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 29.06.2018, zuletzt aktualisiert am 22.08.2018)

o Auszug aus einer Anfragebeantwortung von ACCORD zur Situation für AfghanInnen (insbesondere Hazara), die ihr ganzes Leben im Iran verbracht haben und dann nach Afghanistan kommen (u.a. mögliche Ausgrenzung oder Belästigungen); Verhalten der Taliban gegenüber Hazara, die aus dem Iran zurückkehren, vom 12.06.2015 (a-9219) sowie

o Auszug aus den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs Afghanischer Asylsuchender vom April 2016 zur Lage der Frauen

3. Ermittlungsergebnis (Sachverhaltsfeststellungen):

Folgende Feststellungen werden aufgrund des glaubhaft gemachten Sachverhaltes getroffen:

3.1. Zur Person der BF:

3.1.1. Die BF führen die Namen XXXX, geboren am XXXX (BF1), ihr Ehemann XXXX, geboren am XXXX (BF2), der Bruder des BF2, XXXX, geboren am XXXX (BF3), der gemeinsame minderjährige Sohn von BF1 und BF2, XXXX, geboren am XXXX(BF4), und ihre gemeinsame minderjährige Tochter, XXXX, geboren am XXXX.

Die BF sind Staatsangehörige der Islamischen Republik Afghanistan, Angehörige der Volksgruppe der Hazara und bekennen sich zur schiitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Muttersprache der BF ist Dari, sie sprechen aber aufgrund ihres langjährigen bzw. lebenslangen Aufenthaltes im Iran besser Farsi.

3.1.2. Lebensumstände:

Der BF2 ist im Bürgerkrieg - gemeinsam mit seinem Vater - vor ca. 18 Jahren aus seiner Herkunftsprovinz Ghazni in Afghanistan in den Iran gegangen, wo die anderen BF geboren wurden, und dort aufgewachsen. BF1 und BF2 haben vor ca. zehn Jahren in Waramin geheiratet. Die BF waren illegal im Iran aufhältig und ständig von Abschiebung bedroht. Der BF2 wurde einmal nach Herat abgeschoben und reiste nach zwölf Tagen über Pakistan wieder zu seiner Familie in den Iran ein.

Die BF lebten von Erwerbstätigkeiten des BF2 als Arbeiter und Tagelöhner. Die minderjährigen BF konnten nicht die Schule besuchen.

Die BF haben mehrere Verwandte im Iran.

3.1.3. Die BF weisen beachtliche Integrationserfolge in Österreich auf. Sie besuchen Deutschkurse und haben gemeinnützige Tätigkeiten ausgeübt. Der BF2 ist seit vielen Monaten als Küchenhilfe bei einem Gastgewerbebetrieb beschäftigt und hat eine ausgezeichnete Beurteilung seiner Tätigkeit vorgelegt. Der BF3 spricht bereits ausgezeichnet Deutsch und besucht seit über zwei Jahren eine Höhere Bundeslehranstalt für wirtschaftliche Berufe. Der BF4 besucht die Volksschule.

3.1.4. Die BF sind in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

3.2. Zu den Fluchtgründen der BF:

3.2.1. BF1:

Die BF1 ist eine auf Eigenständigkeit bedachte Frau, die in ihrer persönlichen Wertehaltung und Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als "westlich" bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild (selbstbestimmt leben zu wollen) orientiert ist. In Österreich kleidet, frisiert und schminkt sich die BF1 nach westlicher Mode und regelt als "Wirtschafterin" der Familie sämtliche Geldangelegenheiten der BF. Sie genießt die Freiheiten, die sie in Österreich als Frau hat, und bringt ihre Kinder alleine in die Schule bzw. in den Kindergarten. Die BF1 will in der Zukunft selbst eine Ausbildung machen bzw. einer Erwerbstätigkeit nachgehen und hat den Wunsch, als Frisörin erwerbstätig zu sein.

Die BF1 lehnt die Umstände und Lebensverhältnisse für Frauen in Afghanistan ab und kann sich nicht vorstellen, nach dem konservativ-afghanischen Wertebild zu leben, zumal sie im Iran in weniger restriktiven Verhältnissen aufgewachsen ist. Ihre Einstellung und ihr Lebensstil stehen im Widerspruch zu den nach den Länderfeststellungen im Herkunftsstaat bestehenden traditionalistisch-religiös geprägten gesellschaftlichen Zwängen, denen Frauen dort mehrheitlich unterworfen sind.

Vor dem Hintergrund dieser grundlegenden und auch entsprechend verfestigten Änderung ihrer Lebensführung würde die BF1 im Falle ihrer Rückkehr nach Afghanistan von dem dortigen konservativen Umfeld als eine am westlichen Frauen- und Gesellschaftsbild orientierte Frau angesehen werden.

3.2.2. BF2, BF3, BF4 und BF5 konnten nicht glaubhaft vermitteln, dass sie in ihrem Herkunftsstaat konkret - etwa als Angehörige der Volksgruppe der Hazara sowie als schiitische Muslime - asylrelevant psychischer und/oder physischer Gewalt ausgesetzt wären.

3.2.3. Es liegen keine Gründe vor, nach denen die BF von der Zuerkennung des Status von Asylberechtigten auszuschließen wären.

3.2.4. Der BF3 verließ (wie auch die anderen BF) den Iran aufgrund der schwierigen Lebensbedingungen für dort aufhältige Afghanen.

3.2.5. BF2, BF4 und BF5 sind Ehemann bzw. minderjährige Kinder der BF1, der mit Erkenntnis vom heutigen Tag - in Stattgebung einer Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des BFA - rechtskräftig der Status der Asylberechtigten zuerkannt wird und gleichzeitig gemäß § 3 Abs. 5 AsylG festgestellt wird, dass ihr damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt, und leben mit ihr im gemeinsamen Haushalt.

3.3. Zu einer möglichen Rückkehr der BF in den Herkunftsstaat:

Da von den BF glaubhaft vermittelt werden konnte, dass ihnen im Falle der "Rückkehr" in den Herkunftsstaat ein Eingriff in ihre körperliche Unversehrtheit drohen würde, wurde dem BF3 (wie auch den anderen BF) der Status als subsidiär Schutzberechtigter bereits rechtskräftig zuerkannt. Diese Frage ist daher nicht mehr Gegenstand dieses Verfahrens.

3.4. Zur Lage im Herkunftsstaat der BF:

Aufgrund der in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des BF getroffen:

3.4.1. Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat (Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan ("Gesamtaktualisierung am 29.06.2018", zuletzt aktualisiert am 11.09.2018, Schreibfehler teilweise korrigiert):

"[...] 2. Politische Lage

Nach dem Sturz des Taliban-Regimes im Jahr 2001 wurde eine neue Verfassung ausgearbeitet und im Jahr 2004 angenommen (BFA Staatendokumentation 7.2016; vgl. Casolino 2011). Sie basiert auf der Verfassung aus dem Jahr 1964. Bei der Ratifizierung sah diese Verfassung vor, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA Staatendokumentation 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.01.2004).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015).

Nach den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2014 einigten sich die beiden Kandidaten Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah Mitte 2014 auf eine Regierung der Nationalen Einheit (RNE) (AM 2015; vgl. DW 30.09.2014). Mit dem RNE-Abkommen vom 21.09.2014 wurde neben dem Amt des Präsidenten der Posten des CEO (Chief Executive Officer) eingeführt, dessen Befugnisse jenen eines Premierministers entsprechen. Über die genaue Gestalt und Institutionalisierung des Postens des CEO muss noch eine loya jirga [Anm.: größte nationale Versammlung zur Klärung von wichtigen politischen bzw. verfassungsrelevanten Fragen] entscheiden (AAN 13.02.2015; vgl. AAN o. D.), doch die Einberufung einer loya jirga hängt von der Abhaltung von Wahlen ab (CRS 13.12.2017).

Die afghanische Innenpolitik war daraufhin von langwierigen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Regierungslagern unter Führung von Präsident Ashraf Ghani und dem Regierungsvorsitzenden (Chief Executive Officer, CEO) Abdullah Abdullah geprägt. Kurz vor dem Warschauer NATO-Gipfel im Juli 2016 wurden schließlich alle Ministerämter besetzt (AA 9.2016).

Parlament und Parlamentswahlen

Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus dem Unterhaus, auch wolesi jirga, "Kammer des Volkes", genannt, und dem Oberhaus, meshrano jirga auch "Ältestenrat" oder "Senat" genannt. Das Unterhaus hat 250 Sitze, die sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen verteilen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz im Unterhaus reserviert (AAN 22.01.2017; vgl. USDOS 20.04.2018, USDOS 15.08.2017, CRS 13.12.2017, Casolino 2011). Die Mitglieder des Unterhauses haben ein Mandat von fünf Jahren (Casolino 2011). Die verfassungsmäßigen Quoten gewährleisten einen Frauenanteil von ca. 25% im Unterhaus (AAN 22.01.2017).

Das Oberhaus umfasst 102 Sitze (IPU 27.02.2018). Zwei Drittel von diesen werden von den gewählten Provinzräten vergeben. Das verbleibende Drittel, wovon 50% mit Frauen besetzt werden müssen, vergibt der Präsident selbst. Zwei der vom Präsidenten zu vergebenden Sitze sind verfassungsgemäß für die Kutschi-Minderheit und zwei weitere für behinderte Personen bestimmt. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 20.04.2018; vgl. USDOS 15.08.2017).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist. Zugleich nutzt das Parlament seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die RNE als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leider die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 5.2018).

Die für Oktober 2016 angekündigten Parlamentswahlen konnten wegen ausstehender Wahlrechtsreformen nicht Am geplanten Termin abgehalten werden. Daher bleibt das bestehende Parlament weiterhin im Amt (AA 9.2016; vgl. CRS 12.01.2017). Im September 2016 wurde das neue Wahlgesetz verabschiedet und Anfang April 2018 wurde von der unabhängigen Wahlkommission (IEC) der 20.10.2018 als neuer Wahltermin festgelegt. Gleichzeitig sollen auch die Distriktwahlen stattfinden (AAN 12.04.2018; vgl. AAN 22.01.2017, AAN 18.12.2016).

Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 15.08.2017). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (AE o. D.). Der Terminus "Partei" umfasst gegenwärtig eine Reihe von Organisationen mit sehr unterschiedlichen organisatorischen und politischen Hintergründen. Trotzdem existieren Ähnlichkeiten in ihrer Arbeitsweise. Einer Anzahl von ihnen war es möglich, die Exekutive und Legislative der Regierung zu beeinflussen (USIP 3.2015).

Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen jedoch mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren, denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien. Ethnischer Proporz, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen genießen traditionell mehr Einfluss als politische Organisationen. Die Schwäche des sich noch entwickelnden Parteiensystems ist auf strukturelle Elemente (wie z.B. das Fehlen eines Parteienfinanzierungsgesetzes) zurückzuführen sowie auf eine allgemeine Skepsis der Bevölkerung und der Medien. Reformversuche sind im Gange, werden aber durch die unterschiedlichen Interessenlagen immer wieder gestört, etwa durch das Unterhaus selbst (AA 9.2016). Ein hoher Grad an Fragmentierung sowie eine Ausrichtung auf Führungspersönlichkeiten sind charakteristische Merkmale der afghanischen Parteienlandschaft (AAN 06.05.2018).

Mit Stand Mai 2018 waren 74 Parteien beim Justizministerium (MoJ) registriert (AAN 06.05.2018).

Parteienlandschaft und Opposition

Nach zweijährigen Verhandlungen unterzeichneten im September 2016 Vertreter der afghanischen Regierung und der Hezb-e Islami ein Abkommen (CRS 12.01.2017), das letzterer Immunität für "vergangene politische und militärische" Taten zusichert. Dafür verpflichtete sich die Gruppe, alle militärischen Aktivitäten einzustellen (DW 29.09.2016). Das Abkommen beinhaltete unter anderem die Möglichkeit eines Regierungspostens für den historischen Anführer der Hezb-e-Islami, Gulbuddin Hekmatyar; auch soll sich die afghanische Regierung bemühen, internationale Sanktionen gegen Hekmatyar aufheben zu lassen (CRS 12.01.2017). Tatsächlich wurde dieser im Februar 2017 von der Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates gestrichen (AAN 03.05.2017). Am 04.05.2017 kehrte Hekmatyar nach Kabul zurück (AAN 04.05.2017). Die Rückkehr Hekmatyars führte u.a. zu parteiinternen Spannungen, da nicht alle Fraktionen innerhalb der Hezb-e Islami mit der aus dem Friedensabkommen von 2016 erwachsenen Verpflichtung, sich unter Hekmatyars Führung wiederzuvereinigen, einverstanden sind (AAN 25.11.2017; vgl. Tolonews 19.12.2017, AAN 6.5.2018). Der innerparteiliche Konflikt dauert weiter an (Tolonews 14.03.2018).

Ende Juni 2017 gründeten Vertreter der Jamiat-e Islami-Partei unter Salahuddin Rabbani und Atta Muhammad Noor, der Jombesh-e Melli-ye Islami-Partei unter Abdul Rashid Dostum und der Hezb-e Wahdat-e Mardom-Partei unter Mardom Muhammad Mohaqeq die semi-oppositionelle "Coalition for the Salvation of Afghanistan", auch "Ankara Coalition" genannt. Diese Koalition besteht aus drei großen politischen Parteien mit starker ethnischer Unterstützung (jeweils Tadschiken, Usbeken und Hazara) (AB 18.11.2017; vgl. AAN 06.05.2018).

Unterstützer des weiterhin politisch tätigen ehemaligen Präsidenten Hamid Karzai gründeten im Oktober 2017 eine neue politische Bewegung, die Mehwar-e Mardom-e Afghanistan (The People's Axis of Afghanistan), unter der inoffiziellen Führung von Rahmatullah Nabil, des ehemaligen Chefs des afghanischen Geheimdienstes (NDS). Später distanzierten sich die Mitglieder der Bewegung von den politischen Ansichten Hamid Karzais (AAN 06.05.2018; vgl. AAN 11.10.2017).

Anwarul Haq Ahadi, der langjährige Anführer der Afghan Mellat, eine der ältesten Parteien Afghanistans, verbündete sich mit der ehemaligen Mujahedin-Partei Harakat-e Enqilab-e Eslami-e Afghanistan. Gemeinsam nehmen diese beiden Parteien am New National Front of Afghanistan teil (NNF), eine der kritischsten Oppositionsgruppierungen in Afghanistan (AAN 6.5.2018; vgl. AB 29.05.2017).

Eine weitere Oppositionspartei ist die Hezb-e Kongara-ya Melli-ye Afghanistan (The National Congress Party of Afghanistan) unter der Führung von Abdul Latif Pedram (AB 151.2016; vgl. AB 295.2017).

Auch wurde die linksorientierte Hezb-e-Watan-Partei (The Fatherland Party) wieder ins Leben gerufen, mit der Absicht, ein wichtiges Segment der ehemaligen linken Kräfte in Afghanistan zusammenzubringen (AAN 06.05.2018; vgl. AAN 21.08.2017).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Am 28.02.2018 machte Afghanistans Präsident Ashraf Ghani den Taliban ein Friedensangebot (NYT 11.03.2018; vgl. TS 28.02.2018). Die Annahme des Angebots durch die Taliban würde, so Ghani, diesen verschiedene Garantien gewähren, wie eine Amnestie, die Anerkennung der Taliban-Bewegung als politische Partei, eine Abänderung der Verfassung und die Aufhebung der Sanktionen gegen ihre Anführer (TD 07.03.2018). Quellen zufolge wird die Annahme bzw. Ablehnung des Angebots derzeit in den Rängen der Taliban diskutiert (Tolonews 16.4.2018; vgl. Tolonews 11.4.2018). Anfang 2018 fanden zwei Friedenskonferenzen zur Sicherheitslage in Afghanistan statt: die zweite Runde des Kabuler Prozesses [Anm.: von der afghanischen Regierung ins Leben gerufene Friedenskonferenz mit internationaler Beteiligung] und die Friedenskonferenz in Taschkent (TD 24.03.2018; vgl. TD 07.03.2018, NZZ 28.02.2018). Anfang April rief Staatspräsident Ghani die Taliban dazu auf, sich für die Parlamentswahlen im Oktober 2018 als politische Gruppierung registrieren zu lassen, was von diesen jedoch abgelehnt wurde (Tolonews 16.04.2018). Ende April 2018 kam es in diesem Zusammenhang zu Angriffen regierungsfeindlicher Gruppierungen (hauptsächlich des IS, aber auch der Taliban) auf mit der Wahlregistrierung betraute Behörden in verschiedenen Provinzen (vgl. Kapitel 3. "Sicherheitslage").

Am 19.05.2018 erklärten die Taliban, sie würden keine Mitglieder afghanischer Sicherheitskräfte mehr angreifen, wenn diese ihre Truppen verlassen würden, und gewährten ihnen somit eine "Amnestie". In ihrer Stellungnahme erklärten die Aufständischen, dass das Ziel ihrer Frühlingsoffensive Amerika und ihre Alliierten seien (AJ 19.05.2018).

Am 07.06.2018 verkündete Präsident Ashraf Ghani einen Waffenstillstand mit den Taliban für den Zeitraum 12.06.2018 - 20.06.2018. Die Erklärung erfolgte, nachdem sich Am 04.06.2018 über 2.000 Religionsgelehrte aus ganz Afghanistan in Kabul versammelt hatten und eine Fatwa zur Beendigung der Gewalt aussprachen (Tolonews 07.06.2018; vgl. Reuters 07.06.2018, RFL/RL 05.06.2018). Durch die Fatwa wurden Selbstmordanschläge für ungesetzlich (nach islamischem Recht, Anm.) erklärt und die Taliban dazu aufgerufen, den Friedensprozess zu unterstützen (Reuters 05.06.2018). Die Taliban selbst gingen am 09.06.2018 auf das Angebot ein und erklärten einen Waffenstillstand von drei Tagen (die ersten drei Tage des Eid-Fests, Anm.). Der Waffenstillstand würde sich jedoch nicht auf die ausländischen Sicherheitskräfte beziehen; auch würden sich die Taliban im Falle eines militärischen Angriffs verteidigen (HDN 10.06.2018; vgl. TH 10.06.2018, Tolonews 09.06.2018).

[...]

2. Sicherheitslage

Wegen einer Serie von öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffen in städtischen Zentren, die von regierungsfeindlichen Elementen ausgeführt wurden, erklärten die Vereinten Nationen (UN) im Februar 2018 die Sicherheitslage für sehr instabil (UNGASC 27.02.2018).

Für das Jahr 2017 registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) landesweit 29.824 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahresvergleich wurden von INSO 2016 landesweit 28.838 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert und für das Jahr 2015 25.288. Zu sicherheitsrelevanten Vorfällen zählt INSO Drohungen, Überfälle, direkter Beschuss, Entführungen, Vorfälle mit IEDs (Sprengfallen/ Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung - USBV) und andere Arten von Vorfällen (INSO o.D.)

[...]

Für das Jahr 2017 registrierte die UN insgesamt 23.744 sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan (UNGASC 27.02.2018); für das gesamte Jahr 2016 waren es 23.712 (UNGASC 09.03.2017). Landesweit wurden für das Jahr 2015 insgesamt 22.634 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert (UNGASC 15.03.2016).

[...]

Im Jahr 2017 waren auch weiterhin bewaffnete Zusammenstöße Hauptursache (63%) aller registrierten sicherheitsrelevanten Vorfälle, gefolgt von IEDs (Sprengfallen/ Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung - USBV) und Luftangriffen. Für das gesamte Jahr 2017 wurden 14.998 bewaffnete Zusammenstöße registriert (2016: 14.977 bewaffnete Zusammenstöße) (USDOD 12.2017). Im August 2017 stuften die Vereinten Nationen (UN) Afghanistan, das bisher als "Post-Konflikt-Land" galt, wieder als "Konfliktland" ein; dies bedeute nicht, dass kein Fortschritt stattgefunden habe, jedoch bedrohe der aktuelle Konflikt die Nachhaltigkeit der erreichten Leistungen (UNGASC 10.08.2017).

Die Zahl der Luftangriffe hat sich im Vergleich zum Jahr 2016 um 67% erhöht, die gezielter Tötungen um 6%. Ferner hat sich die Zahl der Selbstmordattentate um 50% erhöht. Östliche Regionen hatten die höchste Anzahl an Vorfällen zu verzeichnen, gefolgt von südlichen Regionen. Diese beiden Regionen zusammen waren von 55% aller sicherheitsrelevanten Vorfälle betroffen (UNGASC 27.02.2018). Für den Berichtszeitraum 15.12.2017 - 15.02.2018 kann im Vergleich zum selben Berichtszeitraum des Jahres 2016, ein Rückgang (-6%) an sicherheitsrelevanten Vorfällen verzeichnet werden (UNGASC 27.02.2018).

[...]

Afghanistan ist nach wie vor mit einem aus dem Ausland unterstützten und widerstandsfähigen Aufstand konfrontiert. Nichtsdestotrotz haben die afghanischen Sicherheitskräfte ihre Entschlossenheit und wachsenden Fähigkeiten im Kampf gegen den von den Taliban geführten Aufstand gezeigt. So behält die afghanische Regierung auch weiterhin Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, die wichtigsten Verkehrsrouten und den Großteil der Distriktzentren (USDOD 12.2017). Zwar umkämpften die Taliban Distriktzentren, sie konnten aber keine Provinzhauptstädte (bis auf Farah-Stadt; vgl. AAN 06.06.2018) bedrohen - ein signifikanter Meilenstein für die ANDSF (USDOD 12.2017; vgl. UNGASC 27.02.2018); diesen Meilenstein schrieben afghanische und internationale Sicherheitsbeamte den intensiven Luftangriffen durch die afghanische Nationalarmee und der Luftwaffe sowie verstärkter Nachtrazzien durch afghanische Spezialeinheiten zu (UNGASC 27.02.2018).

Die von den Aufständischen ausgeübten öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffe in städtischen Zentren beeinträchtigten die öffentliche Moral und drohten das Vertrauen in die Regierung zu untergraben. Trotz dieser Gewaltserie in städtischen Regionen war im Winter landesweit ein Rückgang an Talibanangriffen zu verzeichnen (UNGASC 27.02.2018). Historisch gesehen gehen die Angriffe der Taliban im Winter jedoch immer zurück, wenngleich sie ihre Angriffe im Herbst und Winter nicht gänzlich einstellen. Mit Einzug des Frühlings beschleunigen die Aufständischen ihr Operationstempo wieder. Der Rückgang der Vorfälle im letzten Quartal 2017 war also im Einklang mit vorangegangenen Schemata (LIGM 15.02.2018).

Anschläge bzw. Angriffe und Anschläge auf hochrangige Ziele

Die Taliban und weitere aufständische Gruppierungen wie der Islamische Staat (IS) verübten auch weiterhin "high-profile"-Angriffe, speziell im Bereich der Hauptstadt, mit dem Ziel, eine Medienwirksamkeit zu erlangen und damit ein Gefühl der Unsicherheit hervorzurufen und so die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben (USDOD 12.2017; vgl. SBS 28.02.2018, NZZ 21.03.2018, UNGASC 27.02.2018). Möglicherweise sehen Aufständische Angriffe auf die Hauptstadt als einen effektiven Weg, um das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung zu untergraben, anstatt zu versuchen, Territorium in ländlichen Gebieten zu erobern und zu halten (BBC 21.03.2018).

Die Anzahl der öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffe hatte sich von 01.06. - 20.11.2017 im Gegensatz zum Vergleichszeitraum des Vorjahres erhöht (USDOD 12.2017). In den ersten Monaten des Jahres 2018 wurden verstärkt Angriffe bzw. Anschläge durch die Taliban und den IS in verschiedenen Teilen Kabuls ausgeführt (AJ 24.02.2018; vgl. Slate 22.04.2018). Als Antwort auf die zunehmenden Angriffe wurden Luftangriffe und Sicherheitsoperationen verstärkt, wodurch Aufständische in einigen Gegenden zurückgedrängt wurden (BBC 21.03.2018); auch wurden in der Hauptstadt verstärkt Spezialoperationen durchgeführt, wie auch die Bemühungen der US-Amerikaner, Terroristen zu identifizieren und zu lokalisieren (WSJ 21.03.2018).

Landesweit haben Aufständische, inklusive der Taliban und des IS, in den Monaten vor Jänner 2018 ihre Angriffe auf afghanische Truppen und Polizisten intensiviert (TG 29.01.2018; vgl. BBC 29.01.2018); auch hat die Gewalt Aufständischer gegenüber Mitarbeiter/innen von Hilfsorganisationen in den letzten Jahren zugenommen (The Guardian 24.01.2018). Die Taliban verstärken ihre Operationen, um ausländische Kräfte zu vertreiben; der IS hingegen versucht, seinen relativ kleinen Einflussbereich zu erweitern. Die Hauptstadt Kabul ist in diesem Falle für beide Gruppierungen interessant (AP 30.01.2018).

Angriffe auf afghanische Sicherheitskräfte und Zusammenstöße zwischen diesen und den Taliban finden weiterhin statt (AJ 22.05.2018; AD 20.05.2018).

Registriert wurde auch eine Steigerung öffentlichkeitswirksamer gewalttätiger Vorfälle (UNGASC 27.02.2018), [...]

Angriffe gegen Gläubige und Kultstätten

Registriert wurde eine steigende Anzahl der Angriffe gegen Glaubensstätten, religiöse Führer sowie Gläubige; 499 zivile Opfer (202 Tote und 297 Verletzte) waren im Rahmen von 38 Angriffen im Jahr 2017 zu verzeichnen. Die Anzahl dieser Art Vorfälle hat sich im Gegensatz zum Jahr 2016 (377 zivile Opfer, 86 Tote und 291 Verletzte bei zwölf Vorfällen) verdreifacht, während die Anzahl ziviler Opfer um 32% gestiegen ist (UNAMA 2.2018). Auch verzeichnete die UN in den Jahren 2016 und 2017 Tötungen, Entführungen, Bedrohungen und Einschüchterungen von religiösen Personen - hauptsächlich durch regierungsfeindliche Elemente. Religiösen Führern ist es nämlich möglich, durch ihre Predigten öffentliche Standpunkte zu verändern, wodurch sie zum Ziel von regierungsfeindlichen Elementen werden (UNAMA 07.11.2017). Ein Großteil der zivilen Opfer waren schiitische Muslime. Die Angriffe wurden von regierungsfeindlichen Elementen durchgeführt - hauptsächlich dem IS (UNAMA 07.11.2017; vgl. UNAMA 2.2018). Es wurden aber auch Angriffe auf sunnitische Moscheen und religiöse Führer ausgeführt (TG 20.10.2017; vgl. UNAMA 07.11.2017)

Diese serienartigen und gewalttätigen Angriffe gegen religiöse Ziele haben die afghanische Regierung veranlasst, neue Maßnahmen zu ergreifen, um Gebetsstätten zu beschützen: landesweit wurden 2.500 Menschen rekrutiert und bewaffnet, um 600 Moscheen und Tempel vor Angriffen zu schützen (UNGASC 20.12.2017).

[...]

Angriffe auf Behörden zur Wahlregistrierung:

Seit der Ankündigung des neuen Wahltermins durch den afghanischen Präsidenten Ashraf Ghani im Jänner 2018 haben zahlreiche Angriffe auf Behörden, die mit der Wahlregistrierung betraut sind, stattgefunden (ARN 21.05.2018; vgl. DW 06.05.2018, AJ 06.05.2018, Tolonews 06.05.2018, Tolonews 29.04.2018, Tolonews 220.4.2018).

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Zivilist/innen

[...]

Im Jahr 2017 registrierte die UNAMA 10.453 zivile Opfer (3.438 Tote und 7.015 Verletzte) - damit wurde ein Rückgang von 9% gegenüber dem Vergleichswert des Vorjahres 2016 (11.434 zivile Opfer mit 3.510 Toten und 7.924 Verletzen) festgestellt. Seit 2012 wurde zum ersten Mal ein Rückgang verzeichnet: im Vergleich zum Jahr 2016 ist die Anzahl ziviler Toter um 2% zurückgegangen, während die Anzahl der Verletzten um 11% gesunken ist. Seit 01.01.2009 - 31.12.2017 wurden insgesamt 28.291 Tote und 52.366 Verletzte von der UNAMA registriert. Regierungsfeindliche Gruppierungen waren für 65% aller zivilen Opfer im Jahr 2017 verantwortlich; Hauptursache dabei waren IEDs, gefolgt von Selbstmordangriffen und komplexen Attacken (UNAMA 2.2018). Im Zeitraum 01.01.2018 - 31.03.2018 registriert die UNAMA

2.258 zivile Opfer (763 Tote und 1.495 Verletzte). Die Zahlen reflektieren ähnliche Werte wie in den Vergleichsquartalen für die Jahre 2016 und 2017. Für das Jahr 2018 wird ein neuer Trend beobachtet: Die häufigste Ursache für zivile Opfer waren IEDs und komplexe Angriffe. An zweiter Stelle waren Bodenoffensiven, gefolgt von gezielten Tötungen, Blindgängern (Engl. UXO, "Unexploded Ordnance") und Lufteinsätzen. Die Bewohner der Provinzen Kabul, Helmand, Nangarhar, Faryab und Kandahar waren am häufigsten vom Konflikt betroffen (UNAMA 12.04.2018).

Regierungsfeindlichen Gruppierungen wurden landesweit für das Jahr 2017 6.768 zivile Opfer (2.303 Tote und 4.465 Verletzte) zugeschrieben - dies deutet auf einen Rückgang von 3% im Vergleich zum Vorjahreswert von 7.003 zivilen Opfern (2.138 Tote und 4.865 Verletzte). Der Rückgang ziviler Opfer, die regierungsfeindlichen Gruppierungen zugeschrieben werden, ist auf einen Rückgang ziviler Opfer, die durch Bodenkonfrontation, IED und ferngezündete Bomben zu Schaden gekommen sind, zurückzuführen. Im Gegenzug dazu hat sich die Anzahl ziviler Opfer aufgrund von Selbstmordangriffen und komplexen Attacken erhöht. Die Anzahl ziviler und nicht-ziviler Opfer, die aufgrund gezielter Tötungen durch regierungsfeindliche Elemente zu Schaden gekommen sind, ist ähnlich jener aus dem Jahr 2016 (UNAMA 2.2018).

Im Jänner 2018 waren 56,3% der Distrikte unter der Kontrolle bzw. dem Einfluss der afghanischen Regierung, während Aufständische 14,5% der Distrikte kontrollierten bzw. unter ihrem Einfluss hatten. Die übriggebliebenen 29,2% der Distrikte waren umkämpft. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an Distrikten, die von Aufständischen kontrolliert werden, waren mit Stand Jänner 2018 Uruzgan, Kunduz und Helmand. Alle Provinzhauptstädte befanden sich unter der Kontrolle bzw. dem Einfluss der afghanischen Regierung (SIGAR 30.04.2018).

[...]

Zu den regierungsfreundlichen Kräften zählten: ANDSF, Internationale Truppen, regierungsfreundliche bewaffnete Gruppierungen sowie nicht näher identifizierte regierungsfreundliche Kräfte. Für das Jahr 2017 wurden 2.108 zivile Opfer (745 Tote und 1.363 Verletzte) regierungsfreundlichen Kräften zugeschrieben, dies deutet einen Rückgang von 23% gegenüber dem Vorjahreswert 2016 (2.731 zivile Opfer, 905 Tote und 1.826 Verletzte) an (UNAMA 2.2018; vgl. HRW 26.01.2018). Insgesamt waren regierungsfreundliche Kräfte für 20% aller zivilen Opfer verantwortlich. Hauptursache (53%) waren Bodenkonfrontation zwischen ihnen und regierungsfeindlichen Elementen - diesen fielen 1.120 Zivilist/innen (274 Tote und 846 Verletzte) zum Opfer; ein Rückgang von 37% gegenüber dem Vorjahreswert 2016 (UNAMA 2.2018). Luftangriffe wurden zahlenmäßig als zweite Ursache für zivile Opfer registriert (UNAMA 2.2018; vgl. HRW 26.1.2018); diese waren für 6% ziviler Opfer verantwortlich - hierbei war im Gegensatz zum Vorjahreswert eine Zunahme von 7% zu verzeichnen gewesen. Die restlichen Opferzahlen 125 (67 Tote und 58 Verletzte) waren auf Situationen zurückzuführen, in denen Zivilist/innen fälschlicherweise für regierungsfeindliche Elemente gehalten wurden. Suchaktionen forderten 123 zivile Opfer (79 Tote und 44 Verletzte), Gewalteskalationen 52 zivile Opfer (18 Tote und 34 Verletzte), und Bedrohungen und Einschüchterungen forderten 17 Verletzte Zivilist/innen (UNAMA 2.2018).

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Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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