Entscheidungsdatum
04.10.2018Norm
AsylG 2005 §5Spruch
W205 2013532-1/14E
W205 2178276-1/4E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. SCHNIZER-BLASCHKA über die Beschwerden der 1.) XXXX, festgestellte Volljährigkeit, geb. XXXX alias XXXX, und 2.) XXXX, geb. XXXX, beide StA. Nigeria, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 1.) 16.10.2014, Zahl 1.) 1027195309 - EAST Ost, 2.) 27.10.2017, Zahl 1139975805 - 170041081 EAST Ost, zu Recht erkannt:
A)
Die Beschwerden werden gemäß § 5 AsylG 2005 und § 61 FPG als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE
I. Verfahrensgang:
Die Erstbeschwerdeführerin ist die Mutter der minderjährigen Zweitbeschwerdeführerin, die am XXXX im Bundesgebiet geboren wurde. Beide sind Staatsangehörige von Nigeria.
Die Erstbeschwerdeführerin reiste im August 2014 von Italien kommend in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 04.08.2014 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Am 27.10.2017 stellte sie - als gesetzliche Vertreterin - den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz für die Zweitbeschwerdeführerin.
Eine EURODAC Abfrage ergab, dass die Erstbeschwerdeführerin am 26.06.2008 und am 17.11.2011 in Italien aufgrund einer Asylantragstellung erkennungsdienstlich behandelt wurde.
Im Verlauf ihrer Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes vom 06.08.2014 brachte die Erstbeschwerdeführerin vor, minderjährig zu sein. Sie habe in letzter Zeit öfters Bauch- und Kopfschmerzen, könne die Befragung allerdings durchführen. Sie habe in Österreich oder einem anderen EU-Mitgliedstaat keine Familienangehörigen oder sonstigen Verwandten. Im Jahr 2008 habe sie sich dazu entschlossen, Nigeria zu verlassen und sei im Juni 2008 über Italien in die EU eingereist. Bis zu ihrer Weiterreise nach Österreich im August 2014 habe sie sich durchgehend in Italien aufgehalten. In Italien habe sie einen negativen Asylbescheid erhalten und dagegen mit Hilfe eines Rechtsanwaltes Berufung eingelegt, woraufhin erneut ein negativer Bescheid ergangen sei. Sie habe ca. eine Woche in einem Camp gewohnt, danach habe sie sich bei Landsleuten in Privatunterkünften aufgehalten. Sie habe keine Arbeit und keine Unterstützung erhalten, fallweise habe sie auch auf der Straße leben müssen.
Im Rahmen der Erstbefragung wurde festgehalten, dass die Erstbeschwerdeführerin älter wirke als angegeben. Eine daraufhin durchgeführte Bestimmung des Knochenalters vom 13.08.2014 ergab das Ergebnis "GP 26, Schmeling 4". In weiterer Folge wurde die Erstbeschwerdeführerin zur sachverständigen medizinischen Altersfeststellung zugewiesen. Laut Gesamtgutachten wurde zum Zeitpunkt der Asylantragstellung ein Mindestalter von 18 Jahren festgestellt. Das von der Erstbeschwerdeführerin angegebene Geburtsdatum sei mit der Befundlage nicht vereinbar.
Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: "BFA") richtete am 04.09.2014 ein auf Art. 18 Abs. 1 lit. b Dublin III-VO gestütztes Wiederaufnahmeersuchen an Italien, welches in der Folge unbeantwortet blieb. Mit Schreiben vom 05.10.2014 wies das BFA die italienischen Behörden auf das Verstreichen der Antwortfrist und die sich daraus ergebende Verpflichtung zur Wiederaufnahme der Erstbeschwerdeführerin gemäß Art. 25 Abs. 2 Dublin III-VO hin.
Zwei Aufenthaltsbestätigungen eines Landesklinikums vom 28.08.2014 und 11.09.2014 ist zu entnehmen, dass die Erstbeschwerdeführerin von 26.08.2014 bis 28.08. sowie von 10.09.2014 bis 11.08.2014 im Krankenhaus stationär aufhältig war.
Am 08.10.2014 erfolgte die niederschriftliche Einvernahme der Erstbeschwerdeführerin vor dem BFA im Beisein eines Rechtsberaters nach durchgeführter Rechtsberatung. Hierbei gab sie an, dass sie an keinen Krankheiten leiden würde. Zum Ergebnis der Altersfeststellung führte sie an, dass ihr tatsächliches Geburtsdatum - wie auch in der Erstbefragung angegeben - der XXXX sei und sie Ende des Monats 16 Jahre alt werde. Beweisen könne sie das aber nicht, sie stehe auch nicht in Kontakten zu Verwandten oder Freunden, die ihr etwas schicken könnten. In Österreich habe sie keine Verwandten und lebe auch mit niemandem in einer Lebensgemeinschaft. Zu Italien befragt führte sie aus, dass sie dort um Asyl angesucht habe, aber einen negativen Bescheid bekommen hätte. Auch ihre Beschwerde sei abgelehnt worden. Das Leben dort sehr schwer für sie gewesen und sie keinen Platz gehabt, an dem sie habe bleiben können. Sie habe auf der Straße gelebt und geschlafen, bis sie schließlich genug von dem harten Leben gehabt habe und nach Österreich gekommen sei. Hier habe man ihr mitgeteilt, dass sie schwanger sei. Sie sei dann operiert worden, aber man habe kein Baby gefunden. Sie sei seither immer wieder im Spital gewesen, zuletzt am Freitag. Dort sei ihr mitgeteilt worden, dass sie diesen Freitag nochmals kommen solle.
Auf Aufforderung durch das BFA legte die Erstbeschwerdeführerin folgende Krankenhausbefunde vor:
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Gyn.-Ambulanzkarte vom 10.10.2014 mit einer Auflistung und Kurzbeschreibung der bisherigen Termine am 27.08.2014, 03.09.2014, 10.09.2014, 14.09.2014, 16.09.201419.09.2014, 26.09.2014 und 03.10.2014; die Erstbeschwerdeführerin sei erstmals am 27.08.2014 nach Überweisung durch den Facharzt nach vaginalen Blutungen vorstellig geworden und es wurden folgende Diagnosen gestellt: "Grav II, sekundäre Amenorrhoe von 6 Wochen und 5 Tagen, Abortus completus DD gestörte Grav (EU?)"
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Blutgruppenbefund vom 26.08.2014
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Vorläufiger Arztbrief vom 28.08.2014 mit den Diagnosen "Grav. II, 7 SSW, Ab. Complet. DD gestörte Grav. (EU)"
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Histologischer Befund vom 01.09.2014 mit dem Ergebnis "Schwangerschaftstypisch transformiertes Corpusendometrium ohne Nachweis von Plazentazotten bei dem klinisch angegeben Abortus incompletus. Kein Anhalt von Malignität im vorliegenden Material."
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Arztbrief vom 08.09.2014 mit den Diagnosen: "Abortus completus Grav. II 7. SSW, nicht bestätigten Tubagravidität"
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OP-Bericht vom 01.09.2014 betreffend eine am 27.08.2014 durchgeführte diagnostische Laparoskopie und geburtshilfliche Curettage, Diagnose: "V.a. Tubargrav. DD Abortus incompletus"
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Arztbrief vom 12.09.2014 mit den Diagnosen: "Verdacht auf Extrauteringravidität, Status post diagnostische Laparoskopie und Curettage am 27.08.2014"
2. Mit dem angefochtenen Bescheid wurde der Antrag der Erstbeschwerdeführerin auf internationalen Schutz ohne in die Sache einzutreten gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen und ausgesprochen, dass Italien für die Prüfung des Antrages gemäß Art. 18 Abs. 1 lit. b iVm Art. 25 Abs. 2 Dublin III-VO zuständig sei (Spruchpunkt I.). Gleichzeitig wurde gegen die Erstbeschwerdeführerin gemäß § 61 Abs. 1 FPG die Außerlandesbringung angeordnet und festgestellt, dass demzufolge eine Abschiebung nach Italien gemäß § 61 Abs. 2 FPG zulässig sei (Spruchpunkt II.).
Das BFA traf Feststellungen zur Lage in Italien und führte aus, sich im Verfahren keine Hinweise ergeben hätten, dass die volljährige Erstbeschwerdeführerin an einer schweren körperlichen oder ansteckenden Krankheit oder psychischen Erkrankung leiden würde, die bei einer Überstellung/Abschiebung eine unzumutbare Verschlechterung des Gesundheitszustandes bewirken würden. In Österreich würden weder familiäre noch berufliche Bindungen bestehen und sei auf Grund des kurzen Aufenthaltes auch nicht von einer besonderen Integrationsverfestigung in Österreich auszugehen. Ein von ihr im besonderen Maße substantiiertes glaubhaftes Vorbringen betreffend das Vorliegen besonderer, bescheinigter außergewöhnlicher Umstände, die die Gefahr einer relevanten Verletzung des Art. 3 EMRK oder Art. 4 GRC ernstlich möglich erscheinen ließen, sei im Verfahren nicht hervorgekommen. Die Regelvermutung des § 5 Abs. 3 AsylG treffe daher zu.
Der angefochtene Bescheid wurde der Erstbeschwerdeführerin am 20.10.2014 durch persönliche Übergabe zugestellt.
3. Gegen diesen Bescheid richtet sich die rechtzeitig eingebrachte Beschwerde, in welcher zusammengefasst vorgebracht wurde, dass die Verhältnisse in Italien menschenunwürdig und unzumutbar seien. Die Erstbeschwerdeführerin gehöre einer vulnerablen Gruppe an und werde darauf in den herangezogenen Länderfeststellungen nicht eingegangen. Die Behörde wäre verpflichtet gewesen, allenfalls durch Beiziehung eines Sachverständigen entsprechende ergänzende Erhebungen vorzunehmen. Zum Altersgutachten werde ausgeführt, dass dieses der Erstbeschwerdeführerin nicht zugegangen bzw. sprachlich nicht verständlich gemacht worden sei und insofern eine Verletzung des Rechtes auf Gehör vorliege.
4. Die Beschwerdevorlage vom 24.10.2014 langte am 28.10.2014 beim Bundesverwaltungsgericht ein.
Mit hg. Beschluss vom 07.11.2014, W205 2013532-1/5Z, wurde der Beschwerde gemäß § 17 BFA-VG die aufschiebende Wirkung zuerkannt. Nachdem der Aufenthaltsort der Erstbeschwerdeführerin nicht bekannt war und auch nicht ohne Schwierigkeiten ermittelt werden konnte, wurde der Beschluss am 18.12.2014 beim Bundesverwaltungsgericht durch Hinterlegung ohne vorausgehenden Zustellversuch zugestellt.
Mit Schreiben vom 17.05.2016 brachte der nunmehrige Vertreter der Erstbeschwerdeführerin vor, dass "im Hinblick auf den Zeitablauf" nunmehr Österreich für die Prüfung des Asylantrages der Asylwerberin zuständig sei.
5. Am XXXX wurde in Österreich die minderjährige Zweitbeschwerdeführerin geboren.
Am 09.01.2017 stellte die Erstbeschwerdeführerin für die nachgeborene Zweitbeschwerdeführerin als deren gesetzliche Vertreterin einen Antrag auf internationalen Schutz.
Das BFA wies die italienischen Behörden mit Schreiben vom 18.01.2017 gemäß Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO darauf hin, dass Italien aufgrund der Zuständigkeit zur Prüfung des Asylantrages der Mutter nun auch für den Antrag des nachgeborenen Kindes zuständig sei.
Am 28.02.2017 übermittelte die Vertreterin der Erstbeschwerdeführerin eine psychosoziale Stellungnahme und führte aus, dass die Erstbeschwerdeführerin umfassender psychosozialer Betreuung und Unterstützung als alleinstehende, alleinerziehende Mutter bedürfe. Außerdem stehe die neugeborene Zweitbeschwerdeführerin in kinderärztlicher Behandlung. Unter Bezugnahme auf die Entscheidung des EGMR Tarakhel vom 04.11.2014 wurde ausgeführt, dass zur Verletzung von Art. 3 EMRK im Fall einer Überstellung individuelle Garantien von den italienischen Behörden eingeholt werden müssten, dass die Betroffenen in einer entsprechenden Weise versorgt werden würden.
Mit Schreiben vom 13.03.2017 brachte die Kinderärztin der Zweitbeschwerdeführerin vor, dass aus medizinischen Gründen für die Zweitbeschwerdeführerin eine Aufenthaltsgenehmigung benötigt werde. Durch einen großen Nabelbruch werde voraussichtlich eine Operation nötig sein bzw. seien ständige ärztliche Kontrollen erforderlich.
Am 23.10.2017 wurde die Erstbeschwerdeführerin zum Asylantrag ihrer Tochter vor dem BFA einvernommen. Zu ihrer Gesundheit befragt gab sie an, dass ihre Tochter ein großes Problem mit ihrem Bauchnabel habe und manchmal weine, weil der Bauchnabel so groß sei. In Italien sei das Leben sehr schwer und es wäre wesentlich schwieriger mit einem Kind. Sie habe auch den Vater ihres Kindes in Österreich kennengelernt. Sie würden sich derzeit nicht gut verstehen und sie habe ihn auf der Geburtsurkunde ihrer Tochter nicht vermerken lassen, aber er habe sie vor kurzem angerufen und wolle gerne als offizieller Vater anerkannt werden. Ob er sie unterstützen wolle, wisse sie nicht. Sie wünsche sich, dass ihre Tochter in Österreich bleiben und ein besseres Leben führen könne als sie es gehabt habe.
6. Mit Bescheid vom 27.10.2017 wurde der Antrag der Zweitbeschwerdeführerin auf internationalen Schutz ohne in die Sache einzutreten gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen und ausgesprochen, dass Italien für die Prüfung des Antrages gemäß Art. 18 Abs. 1 lit. b iVm Art. 25 Abs. 2 Dublin III-VO zuständig sei (Spruchpunkt I.). Gleichzeitig wurde gegen die Zweitbeschwerdeführerin gemäß § 61 Abs. 1 FPG die Außerlandesbringung angeordnet und festgestellt, dass demzufolge eine Abschiebung nach Italien gemäß § 61 Abs. 2 FPG zulässig sei (Spruchpunkt II.). Begründend wurde ausgeführt, dass sie an keinen schweren körperlichen oder psychischen Krankheiten leiden würde, die bei einer Überstellung eine unzumutbare Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes bewirken würden. Ständige ärztliche Kontrollen bzw. notwendige Operationen seien auch in Italien verfügbar und sei ihr gesundheitlicher Zustand nicht genug, um ihrer Person eine Aufenthaltsgenehmigung zu gestatten. Es würden keine stichhaltigen Gründe vorliegen, dass sie in Italien unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausgesetzt sei. Ein von ihr im besonderen Maße substantiiertes glaubhaftes Vorbringen betreffend das Vorliegen besonderer, bescheinigter außergewöhnlicher Umstände, die die Gefahr einer relevanten Verletzung des Art. 3 EMRK oder Art. 4 GRC ernstlich möglich erscheinen ließen, sei im Verfahren nicht hervorgekommen. Die Regelvermutung des § 5 Abs. 3 AsylG treffe daher zu.
Der angefochtene Bescheid wurde der Erstbeschwerdeführerin am 30.10.2017 zugestellt.
Dagegen erhob die Zweitbeschwerdeführerin fristgerecht Beschwerde, in der im Wesentlichen ausgeführt wurde, dass die Behörde gegen die amtswegige Ermittlungspflicht verstoßen habe. In Italien würden für vulnerable Personen grob mangelhafte Aufnahmebedingungen und massive Mängel im Asylverfahren bestehen. Die noch äußerst junge Mutter der minderjährigen Zweitbeschwerdeführerin sei traumatisiert und bedürfe anhaltender psychosozialer Unterstützung und sozialpädagogischer Betreuung. Bei einer Überstellung sei mit einer Verschlechterung ihres psychischen Zustands und damit einhergehend mit einer Gefährdung des Kindeswohls der Zweitbeschwerdeführerin zu rechnen. Aufgrund der systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylwerber in Italien würden ernsthafte Gründe für die Annahme bestehen, dass die minderjährige Zweitbeschwerdeführerin tatsächlich Gefahr liefe, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu werden.
7. Die Beschwerdevorlage vom 28.11.2017 langte am 30.11.2017 beim Bundesverwaltungsgericht ein.
8. Mit hg. Schreiben vom 08.06.2018 wurden den Beschwerdeführerinnen aktualisierte Feststellungen zur Lage in Italien mit Stand vom 19.01.2018, zusammengestellt von der Staatendokumentation, übermittelt und ihnen Gelegenheit gegeben, eine Stellungnahme abzugeben. Unter einem wurden die Beschwerdeführerinnen aufgefordert, Zweckdienliches zur Frage der Beurteilung der Zuständigkeit Österreichs zur Behandlung ihres Antrages auf internationalen Schutz vorzubringen, beispielsweise, ob sich an ihrer persönlichen (privaten) Situation in Österreich bzw. allenfalls an ihrem Gesundheitszustand seit Beschwerdeeinbringung gravierende Veränderungen ergeben hätten.
Mit Stellungnahme vom 27.07.2018 wurde im Wesentlichen vorgebracht, dass die Erstbeschwerdeführerin eine alleinstehende Frau und alleinerziehende Mutter eines Kleinkindes sei und sich seit vier Jahren in Österreich befinde. Im Fall des minderjährigen Kindes sei kein Aufnahmegesuch an Italien gerichtet worden und liege somit auch keine Zustimmung zur Übernahme vor. Ferner könne nicht davon ausgegangen werden, dass die Erstbeschwerdeführerin im Fall ihrer Rückkehr ihr Verfahren vom Jahr 2011 problemlos fortsetzen könne. Bei den Beschwerdeführerinnen handle es sich um eine besonders vulnerable Personengruppe und sei eine adäquate Unterbringung für sie nicht gewährleistet. Eine Überstellung der Beschwerdeführerinnen ohne konkrete Einzelfallzusicherung würde zu einer Gefährdung des Kindeswohls führen.
Mit der Stellungnahme vorgelegt wurde ein Schreiben der Kinderärztin der Zweitbeschwerdeführerin, wonach bei der Zweitbeschwerdeführerin im März 2018 eine Nabelbruchoperation habe durchgeführt werden müssen. Aus medizinischer und kinderpsychologischer Sicht sei es kontraindiziert, das Kind aus dem gewohnten Umfeld zu reißen.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Die Erstbeschwerdeführerin ist die Mutter der minderjährigen Zweitbeschwerdeführerin, die am XXXX im Bundesgebiet geboren wurde. Sie sind Staatsangehörige Nigerias.
Die Erstbeschwerdeführerin reiste im Jahr 2008 aus einem Drittstaat kommend über Italien illegal in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten ein und stellte dort am 26.06.2008 und am 17.11.2011 einen Antrag auf internationalen Schutz. In der Folge reiste sie illegal nach Österreich weiter, wo sie am 04.08.2014 für sich und am 27.10.2017 für die zwischenzeitlich im Bundesgebiet (nach)geborene Zweitbeschwerdeführerin den jeweils hier gegenständlichen Antrag auf Gewährung internationalen Schutzes stellte.
Das BFA richtete am 04.09.2014 ein auf Art. 18 Abs. 1 lit. b Dublin III-VO gestütztes Wiederaufnahmeersuchen an Italien, welches in der Folge unbeantwortet blieb. Mit Schreiben vom 05.10.2014 wies das BFA die italienischen Behörden auf das Verstreichen der Antwortfrist und die sich daraus ergebende Verpflichtung zur Wiederaufnahme der Antragstellerinnen gemäß Art. 25 Abs. 2 Dublin III-VO hin.
Nach der Geburt der Zweitbeschwerdeführerin wies das BFA die italienischen Behörden mit Schreiben vom 18.01.2017 gemäß Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO darauf hin, dass Italien aufgrund der Zuständigkeit zur Prüfung des Asylantrages der Mutter nun auch für den Antrag des nachgeborenen Kindes zuständig sei.
Das Bundesverwaltungsgericht trifft zur Lage im Mitgliedstaat folgende Feststellungen:
1. Neueste Ereignisse - Integrierte Kurzinformationen
KI vom 19.01.2018, Asylstatistik und Unterbringung (relevant für Abschnitt 2/Allgemeines zum Asylverfahren und Abschnitt 6/Unterbringung)
2018 haben in Italien bis 12. Jänner 2.326 Personen einen Asylantrag gestellt. Mit demselben Datum waren 2.214 Asylverfahren entschieden. Davon erhielten 164 Antragsteller einen Flüchtlingsstatus, 117 einen subsidiären Schutz, 562 humanitären Schutz und 1.267 endeten negativ (einschließlich unzulässiger Anträge). 104 Antragsteller entzogen sich dem Verfahren (MdI 12.1.2018). Mit Stand 31.12.2017 waren im Land 183.681 Fremde in staatlicher Unterbringung (VB 17.1.2018).
Quellen:
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MdI - Ministero dell Interno (12.1.2018): Statistiken des MdI, per -E-Mail
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VB des BM.I Italien (17.1.2018): Bericht des VB, per E-Mail
KI vom 13.12.2017, Unterbringung (relevant für Abschnitt 6/Unterbringung)
Mit Stand 30.11.2017 waren in Italien 186.884 Fremde in staatlicher Unterbringung, und zwar in folgender regionaler Verteilung:
(VB 12.12.2017)
Quellen:
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VB des BM.I Italien (12.12.2017): Auskunft des VB, per E-Mail
KI vom 30.11.2017, Asylstatistik und Unterbringung (relevant für Abschnitt 2/Allgemeines zum Asylverfahren und Abschnitt 6/Unterbringung)
2017 haben in Italien bis 24.11. des Jahres 123.020 Personen einen Asylantrag gestellt. Mit demselben Datum waren 74.184 Asylverfahren entschieden. Davon erhielten 6.271 Antragsteller einen Flüchtlingsstatus, 6.399 einen subsidiären Schutz, 18.232 humanitären Schutz und 38.813 endeten negativ (einschließlich unzulässiger Anträge). 3.891 Antragsteller entzogen sich dem Verfahren. Mit Stand 18.6.2017 waren im Land 194.809 Fremde in staatlicher Unterbringung (VB 29.11.2017; vgl. MdI 24.11.2017).
Quellen:
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MdI - Ministero dell Interno (24.11.2017): Statistiken des MdI, per -E-Mail
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VB des BM.I Italien (29.11.2017): Auskunft des VB, per E-Mail
KI vom 26.07.2017, Neuer Circular Letter (Tarakhel); Asylstatistik; Unterbringung (relevant für Abschnitt 3/Dublin-Rückkehrer und Abschnitt 6/Unterbringung)
Im Sinne des Tarakhel-Urteils stellte Italien im Juni 2015 in einem Rundbrief eine Liste von SPRAR-Einrichtungen zur Verfügung, welche für die Unterbringung von Familien geeignet sind, die als Dublin-Rückkehrer nach Italien zurückkehren. Zuletzt wurde am 24. Juli 2017 ein neuer Rundbrief versendet und die Liste aktualisiert. Sie umfasst nun 18 SPRAR-Projekte mit zusammen 78 Unterbringungsplätzen für Familien mit Kindern (MdI 24.7.2017).
Aus einer Statistik des UNHCR geht hervor, dass 2017 bis 16. Juli
93.213 Bootsflüchtlinge in Italien gelandet sind. Das sind um 13.373 Personen mehr als im Vergleichszeitraum des Vorjahres. Allerdings ist der Juli 2017 bislang mit 9.461 Migranten etwas schwächer als der Vergleichszeitraum 2016 (9.618). Aus den Statistiken geht hervor, dass mehr Personen in Italien Asylanträge stellen als im Vergleichszeitraum des Vorjahres, wobei diese Anträge nicht notgedrungen von Neuankünften gestellt worden sein müssen (UNHCR 16.7.2017).
Laut offizieller italienischer Statistik haben 2017 bis zum 14. Juli
80.665 Personen einen Asylantrag gestellt. Mit selbem Datum waren
22.406 Anträge negativ erledigt, 3.842 erhielten Flüchtlingsstatus,
4.165 erhielten subsidiären Schutz, 10.632 erhielten humanitären Schutz. 2.118 Antragsteller waren nicht mehr auffindbar (VB 19.7.2017a).
Mit Stand 18. Juni 2017 waren 194.809 Migranten in staatlichen italienischen Unterbringungseinrichtungen untergebracht (VB 19.7.2017b).
Quellen:
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MdI - Ministero dell Interno (24.7.2017): Circular Letter, per -E-Mail
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UNHCR - Hoher Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (16.7.2017): Italy weekly snapshot - 16 Jul 2017, per E-Mail
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VB des BM.I Italien (19.7.2017a): Statistiken der ital. Asylbehörde, per E-Mail
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VB des BM.I Italien (19.7.2017b): Auskunft des VB, per E-Mail
2. Allgemeines zum Asylverfahren
In Italien existiert ein rechtsstaatliches Asylverfahren mit gerichtlichen Beschwerdemöglichkeiten (AIDA 2.2017; für ausführliche Informationen siehe dieselbe Quelle).
Aus aktuellen Statistiken des italienischen Innenministeriums geht hervor, dass es im Jahre 2016 insgesamt 123.600 Asylanträge gegeben hat, was einer Steigerung von 47% gegenüber 2015 entspricht (MdI 10.3.2017, vgl. Eurostat 16.3.2017). 4.808 Personen haben 2016 Flüchtlingsstatus zuerkannt bekommen, 12.873 subsidiären Schutz und
18.979 internationalen humanitären Schutz. 54.254 Anträge (60%) wurden abgewiesen (MdI - 10.3.2017).
Die Asylverfahren nehmen je nach Region sechs bis fünfzehn Monate in Anspruch. Wenn Rechtsmittel ergriffen werden, kann sich diese Dauer auf bis zu zwei Jahren erstrecken (USDOS 3.3.2017).
Aus Statistiken des italienischen Innenministeriums geht hervor, dass es in Italien 2017 mit Stand 21. April 46.225 Asylanträge gab.
(VB 26.4.2017)
Quellen:
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AIDA - Asylum Information Database (ASGI - Association for Legal Studies on Immigration; ECRE - European Council on Refugees and Exiles) (2.2017): National Country Report Italy, http://www.asylumineurope.org/sites/default/files/report-download/aida_it_2016update.pdf, Zugriff 23.3.2017
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MdI - Ministero dell'Interno (10.3.2017): Dati e statistiche, http://www.libertaciviliimmigrazione.dlci.interno.gov.it/it/documentazione/statistica/i-numeri-dellasilo; Zugriff 23.3.2017
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USDOS - US Department of State (3.3.2017): Country Report on Human Rights Practices 2016 - Italy,
http://www.ecoi.net/local_link/337159/479923_de.html, Zugriff 30.3.2017
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VB des BM.I Italien (26.4.2017): Statistik des ital. Innenministeriums, per E-Mail
3. Dublin-Rückkehrer
Die meisten Dublin-Rückkehrer landen auf den Flughäfen Rom-Fiumicino und Mailand-Malpensa. Ihnen wird am Flughafen von der Polizei eine Einladung (verbale di invito) ausgehändigt, der zu entnehmen ist, welche Quästur für ihr Asylverfahren zuständig ist. Die Situation von Dublin-Rückkehrern hängt vom Stand ihres Verfahrens in Italien ab:
1. Wenn ein Rückkehrer noch keinen Asylantrag in Italien gestellt hat, kann er dies nun tun, so wie jede andere Person auch (AIDA 2.2017).
2. Ist das Verfahren des Rückkehrers noch anhängig, wird es fortgesetzt und er hat dieselben Rechte wie jeder andere Asylwerber auch (AIDA 2.2017).
3. Wenn ein Verfahren vor endgültiger Entscheidung unterbrochen wurde, etwa weil sich der Antragsteller diesem entzogen hat, und der Betreffende wird von Italien im Rahmen von Art. 18(1)(c) zurückgenommen, wird das Verfahren auf Antrag wieder aufgenommen (EASO 12.2015).
4. Bei Rückkehrern, die unter Art. 18(1)(d) und 18(2) fallen und welche Italien verlassen haben, bevor sie über eine negative erstinstanzliche Entscheidung informiert werden konnten, beginnt die Rechtsmittelfrist erst zu laufen, wenn der Rückkehrer von der Entscheidung in Kenntnis gesetzt wurde (EASO 12.2015; vgl. AIDA 2.2017).
5. Wurde der Rückkehrer beim ersten Aufenthalt in Italien von einer negativen Entscheidung in Kenntnis gesetzt und hat dagegen nicht berufen, kann er zur Außerlandesbringung in ein CIE (Schubhaftlager) gebracht werden. Wurde ihm die Entscheidung nicht zur Kenntnis gebracht, steht dem Rückkehrer der Beschwerdeweg offen, sobald er informiert wurde (AIDA 2.2017).
6. Hat sich der Rückkehrer dem persönlichen Interview nicht gestellt und sein Antrag wurde daher negativ beschieden, kann er nach Rückkehr ein neues Interview beantragen (AIDA 2.2017).
(Für weitere Informationen, siehe Kapitel 6.3 Dublin-Rückkehrer.)
Quellen:
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AIDA - Asylum Information Database (ASGI - Association for Legal Studies on Immigration; ECRE - European Council on Refugees and Exiles) (2.2017): National Country Report Italy, http://www.asylumineurope.org/sites/default/files/report-download/aida_it_2016update.pdf, Zugriff 23.3.2017
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EASO - European Asylum Support Office (12.2015): Quality Matrix Report: Dublin procedure, per E-Mail
4. Unbegleitete minderjährige Asylwerber (UMA) / Vulnerable
Legislativdekret (LD) 142/2015 definiert folgende Personenkreise als vulnerabel: Minderjährige, unbegleitete Minderjährige, Schwangere, alleinstehende Eltern mit minder-jährigen Kindern, Opfer von Menschenhandel, Opfer von Genitalverstümmelung und ernsthaft physisch oder psychisch Kranke sowie Alte, Behinderte, und Opfer von Folter, Vergewaltigung oder anderen Formen physischer, psychischer oder sexueller Gewalt. In Italien ist kein eigener Identifizierungsmechanismus für Vulnerable vorgesehen. Wenn im Zuge des Interviews ein Vertreter der Behörde den Verdacht hat, es mit einer vulnerablen Person zu tun zu haben, kann er diese speziellen Diensten zuweisen. Legislativdekret (LD) 142/2015 sieht auch vor, dass Opfern von Gewalt Zugang zu geeigneter medizinischer und psychologischer Betreuung zu gewähren ist (AIDA 2.2017).
Beim Schutz von Minderjährigen sind Reifegrad und Entwicklung des Minderjährigen zu berücksichtigen und es ist im besten Interesse des Kindes zu handeln. Stellt ein unbegleiteter Minderjähriger einen Asylantrag, wird das Verfahren sofort ausgesetzt und es werden das Jugendgericht und der Vormundschaftsrichter informiert. Letzterer muss binnen 48 Stunden einen Vormund ernennen, der dann bei der Quästur die Wiederaufnahme des Verfahrens bewirkt und die Maßnahmen zu Unterbringung und Versorgung des UMA überwacht (AIDA 2.2017).
Bei Zweifeln bezüglich des Alters eines Antragstellers kann jederzeit eine medizinische Altersfeststellung durchgeführt werden
Zu den Methoden der Altersfeststellung gibt es keine spezifischen Vorgaben, außer dass sie nicht invasiv sein sollen und in öffentlichen Gesundheitseinrichtungen mit pädiatrischen Abteilungen durchzuführen sind. Für medizinische Untersuchungen ist jedenfalls die Zustimmung des Minderjährigen bzw. dessen Vormunds einzuholen. Die Ablehnung einer Altersfeststellung durch den Asylwerber hat keinen Einfluss auf das Asylverfahren. Altersfeststellungen werden oft auch von nicht-spezialisierten Medizinern anhand von Röntgenbildern vorgenommen. Im Zweifel ist jedenfalls die Minderjährigkeit anzunehmen (AIDA 2.2017).
Tatsächlich dauert es bis zur Bestimmung eines Vormunds oftmals bis zu mehreren Monaten. Hierdurch ergibt sich ein Vakuum in Bezug auf den Schutz des Minderjährigen.
Ohne Erziehungsberechtigten bzw. Vormund können Verwaltungsverfahren nicht abgeschlossen werden; auch verzögern sich Anträge auf Standortwechsel und Familienzusammenführung. Dies führt dazu, dass viele Minderjährige, die nicht in Italien bleiben wollen, untertauchen und versuchen in andere EU-Länder zu gelangen (CoE 2.3.2017).
In manchen Fällen erschwert das Fehlen eines Vormunds sogar die Möglichkeit, überhaupt um Asyl anzusuchen, da einige Quästuren bei Nichtvorhandensein eines Vormunds das formale Asylverfahren nicht einleiten. Das Gesetz sieht zwar vor, dass Vertreter der Aufnahmeeinrichtungen vorübergehend als Vormund fungieren können; diesen sind die diesbezüglichen rechtlichen Bestimmungen aber oft nicht ausreichend bekannt oder die Quästuren erlauben ihnen unter Verweis auf den vorübergehenden Charakter des Vormundes nicht, Ansuchen von Kindern auf internationalen Schutz zu bestätigen. Das kann zur Folge haben, dass unbegleitete Minderjährige oftmals sogar später ins Asylverfahren eintreten können als Erwachsene (AIDA 2.2017).
Der Vormund kümmert sich während des gesamten Verfahrens um den unbegleiteten Minderjährigen (UMA), im Falle einer negativen Entscheidung auch darüber hinaus. Vor allem während des Interviews ist seine Anwesenheit unerlässlich. Beschwerden gegen negative Entscheidungen sind selten, weil entweder ein anderer Schutztitel oder eine Aufenthaltserlaubnis bis zum 18. Geburtstag gewährt wird. Der Vormund ist für das Wohlergehen des Minderjährigen verantwortlich. In der Praxis wird der Bürgermeister jener Gemeinde, in welcher der UMA untergebracht ist, zum Vormund ernannt. Aufgrund der hohen Anzahl unbegleiteter Minderjähriger delegiert er die Vormundschaft häufig an andere Personen innerhalb der Gemeinde, die meist wiederum selbst zahlreiche andere Personen, wie etwa Behinderte, zu betreuen haben. Daher sind die ernannten Vormunde oft nicht in der Lage, ihren Schützlingen das erforderliche Maß an Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. In der Folge sehen Vormunde ihre Schützlinge daher oft nur bei der formalen Registrierung des Asylantrags und dann beim Interview, wozu sie gesetzlich verpflichtet sind. Auch die Ernennung eines freiwilligen Vormunds ist möglich, wird aber kaum angewendet. Es gibt keine Bestimmungen, die ein spezielles Training oder eine besondere Expertise des Vormunds im Bereich Asyl vorsehen (AIDA 2.2017; vgl. CoE 2.3.2017).
Laut italienischen Gesetzen ist bei der Unterbringung auf spezifische Bedürfnisse der Asylwerber Rücksicht zu nehmen. Dies gilt insbesondere für Vulnerable. LD 142/2015 sieht einen Gesundheitscheck in der Erstaufnahme vor, um auch spezielle Unterbringungsbedürfnisse erkennen zu können. PD 21/2015 führt die speziellen
Unterbringungsvorkehrungen für Vulnerable näher aus. Diese speziellen Unterbringungsmöglichkeiten sind auch in den SPRAR-Strukturen sicherzustellen. Die Erhebung spezieller Bedürfnisse wird in den Unterbringungseinrichtungen vorgenommen, allerdings nicht systematisch und je nach Qualität und Finanzlage des jeweiligen Zentrums unterschiedlich. Es kann in der Praxis passieren, dass Folteropfer aus Platzmangel nicht in SPRAR transferiert werden. Bei Familien ist in jeder Unterbringungsstufe die Familieneinheit zu berücksichtigen. In der Praxis kann es vorkommen, dass der Familienvater bei den Männern untergebracht wird und die Mutter mit den Kindern bei den Frauen. Familien können aus temporären Strukturen auf freie Plätze in SPRAR transferiert werden, da diese besser für Familien geeignet sind. Solche Transfers sind abhängig von der Zusammensetzung der Familie, Vorliegen von Vulnerabilität bzw. Gesundheitsproblemen und der Warteliste für SPRAR-Plätze. Bei UMA ist bei der Unterbringung auf das beste Interesse des Kindes Rücksicht zu berücksichtigen. In Erstaufnahmeeinrichtungen dürfen sie nur für begrenzte Zeit untergebracht werden. In dieser Zeit soll die Feststellung des Altes und der individuellen Bedürfnisse geschehen. Danach sind UMA zur Unterbringung in SPRAR-Strukturen berechtigt. Ist dort kein Platz frei, kann der UMA temporär in der zuständigen Gemeinde untergebracht werden. Unbegleitete Minderjährige, die nicht Asyl beantragen, haben ein Recht auf Unterbringung ohne Unterschied zu asylwerbenden UM. UMA dürfen nicht in Zentren für Erwachsene oder Schubhaftzentren untergebracht werden. Ersteres ist im Jahre 2016 jedoch vorgekommen. Für UM gibt es, zum Unterschied von erwachsenen AW, keinen zentralen Verteilungsmechanismus. Der Transfer in SPRAR ist daher in der Verantwortlichkeit der Ankunftsgemeinde. UM konzentrieren sich daher besonders in einigen Grenzregionen. 2016 waren dies vor allem Sizilien usw. 25.772 UM kamen im Jahre 2016 in Italien an (AIDA 2.2017).
Gerade für unbegleitete Minderjährige (UM) bzw. geistig oder körperlich Behinderte gibt es eigene SPRAR-Projekte mit spezialisierten Leistungen. Da die Kosten für die Unterbringung dieses Personenkreises aber weit über die staatlichen Unterstützungszahlungen hinausgehen, bieten nur wenige Gemeinden solche Plätze an. Derzeit beläuft sich das Angebot für unter 18-Jährige auf rund 2.000 Plätze. Aufgrund dieses Mangels an SPRAR-Plätzen verbringen bis dato viele unbegleitete Minderjährige über sechs Monate in den großen Erstaufnahmezentren, die aber nicht auf die speziellen Bedürfnisse von Minderjährigen eingerichtet sind (CoE 2.3.2017).
Am 6.5.2017 trat ein neues Gesetz zum Schutz unbegleiteter Minderjähriger in Kraft, das diesen nunmehr dieselben Rechte und denselben Schutz wie europäischen Minderjährigen zugesteht. Es reduziert u.a. die Aufenthaltsdauer für UM in Erstaufnahmezentren von 60 auf 30 Tage und besagt, dass UM binnen 10 Tagen identifiziert werden müssen. Außerdem sieht das neue Gesetz im Wesentlichen folgende weitere Verbesserungen vor:
• Die unbegleiteten oder getrennten Minderjährigen dürfen - ohne jede Ausnahme - an den Grenzen nicht zurückgewiesen bzw. abgeschoben werden.
• Die Maßnahmen zur Altersfeststellung werden verbessert und vereinheitlicht.
• Es wird ein strukturiertes und gestrafftes nationales Aufnahmesystem aufgebaut, das entsprechenden Mindeststandards für unbegleitete Minderjährige in allen Aufnahmezentren vorsieht.
• Es wird der Einsatz qualifizierter Kulturmediatoren ausgeweitet, um den Bedürfnissen besonders schutzbedürftiger Minderjähriger gerecht zu werden.
• Es werden für die Minderjährigen das Institut der Pflegefamilie und die zeitgerechte Bestellung eines freiwilligen Vormunds gefördert.
• Einige Rechte Minderjähriger werden gestärkt, beispielsweise bezüglich Gesundheitsfürsorge und Ausbildung.
• Es wird im Ministerium für Arbeit und Soziales ein nationales Informationssystem zur Erfassung der unbegleiteten Minderjährigen aufgebaut
(UNICEF 29.3.2017; vgl. PI 30.3.2017; UNHCR 30.3.2017; ECRE 12.5.2017).
Quellen:
-
AIDA - Asylum Information Database (ASGI - Association for Legal Studies on Immigration; ECRE - European Council on Refugees and Exiles) (2.2017): National Country Report Italy, http://www.asylumineurope.org/sites/default/files/report-download/aida_it_2016update.pdf, Zugriff 23.3.2017
-
CoE - Council of Europe Secretary General (2.3.2017): Bericht zu Fact-Finding-Mission zur Lage von MigrantInnen und Flüchtlingen von 16. bis 21. Oktober 2016 (Aufnahmebedingungen; unbegleitete Kinder;
internationale Schutzverfahren; MigrantInnen im Transit;
Integration; etc.),
https://search.coe.int/cm/Pages/result_details.aspx?ObjectId=09000016806f9d70, Zugriff 7.4.2017
-
ECRE - European Council on Refugees and Exiles (12.5.2017): ELENA Weekly Legal Update, per E-Mail
-
PI - Parlamento Italiano, Camera dei Deputati (30.3.2017):
Cittadinanza e immigrazione; Minori stranieri non accompagnati, http://www.camera.it/leg17/465?tema=minori_stranieri_non_accompagnati#m, Zugriff 3.4.2017
-
UNHCR - UN High Commissioner for Refugees (30.3.2017): Approvata legge su accoglienza e protezione dei minori stranieri non accompagnati in Italia,
https://www.unhcr.it/news/aggiornamenti/approvata-legge-accoglienza-protezione-dei-minori-stranieri-non-accompagnati-italia.html, Zugriff 31.3.2017
-
UNICEF - United Nations Children's Fund (29.3.2017): Approvata la "Legge Zampa": più tutele e inclusione per i minori stranieri non accompagnati,
http://www.unicef.it/doc/7324/approvata-la-legge-zampa-per-minori-stranieri-non-accompagnati.htm, Zugriff 3.4.2017
5. Non-Refoulement
Grundsätzlich bietet Italien Schutz gegen Abschiebung oder Rückkehr von Flüchtlingen in Länder, in denen ihr Leben oder ihre Freiheit aufgrund Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder politischer Gesinnung bedroht wäre (USDOS 25.6.2015).
Hinsichtlich unbegleiteter Minderjähriger besteht ein absolutes Rückschiebeverbot an der Grenze (UNICEF 29.3.2017).
Das italienische Innenministerium hat ausdrücklich darauf verwiesen, dass der Zugang zu Asylverfahren und Grundrechten Personen nicht verweigert werden kann, für die willkürlich angenommen wird, dass sie des internationalen Schutzes nicht bedürfen. Außerdem wurde explizit bestätigt, dass alle Migranten das Recht haben, vor Refoulement geschützt zu werden. Es würden laut Innenministerium keine Ausweisungsbefehle erlassen, wenn Migranten zuvor nicht korrekt informiert wurden (AIDA 2.2017).
Quellen:
-
AIDA - Asylum Information Database (ASGI - Association for Legal Studies on Immigration; ECRE - European Council on Refugees and Exiles) (2.2017): National Country Report Italy, http://www.asylumineurope.org/sites/default/files/report-download/aida_it_2016update.pdf, Zugriff 23.3.2017
-
UNICEF - United Nations Children's Fund (29.3.2017): Approvata la "Legge Zampa": più tutele e inclusione per i minori stranieri non accompagnati,
http://www.unicef.it/doc/7324/approvata-la-legge-zampa-per-minori-stranieri-non-accompagnati.htm, Zugriff 3.4.2017
-
USDOS - US Department of State (25.6.2015): Country Report on Human Rights Practices 2014 - Italy, http://www.ecoi.net/local_link/306380/443655_de.html, Zugriff 14.4.2016
6. Versorgung
6.1. Unterbringung
Grundsätzlich sind Fremde zur Unterbringung in Italien berechtigt, sobald sie den Willen erkennbar machen, um Asyl ansuchen zu wollen und eine entsprechende Bedürftigkeit besteht. Das Unterbringungsrecht gilt bis zur erstinstanzlichen Entscheidung bzw. dem Ende der Rechtsmittelfrist. Bei Rechtsmitteln mit automatisch aufschiebender Wirkung besteht dieses Recht auch bis zur Entscheidung des Gerichts. Gemäß der Praxis in den Jahren 2015 und 2016 erfolgt der tatsächliche Zugang zur Unterbringung erst mit der formellen Registrierung des Antrags (verbalizzazione) anstatt sofort nach der erkennungsdienstlichen Behandlung (fotosegnalamento). Zwischen diesen beiden Schritten sind, abhängig von Region und Antragszahlen, Wartezeiten von Wochen oder gar Monaten möglich, in denen Betroffene Probleme beim Zugang zu alternativer Unterbringung haben können. Betroffene Asylwerber ohne ausreichende Geldmittel sind daher auf Freunde oder Notunterkünfte angewiesen, oder es droht ihnen Obdachlosigkeit. Zum Ausmaß dieses Phänomens gibt es allerdings keine statistischen Zahlen. Tatsächlich ist diese Problematik durch die Erweiterung der SPRAR-Kapazitäten und Einführung der temporären Unterbringungsstrukturen (CAS) nur für Personen relevant, die ihren Antrag im Land stellen, nicht für auf See geretteten Asylwerber (AIDA 2.2017).
Wie die untenstehende Statistik des italienischen Innenministeriums zeigt, wurden die Unterbringungskapazitäten in den letzten 3 Jahren massiv gesteigert.
(MdI - 31.3.2017)
Mit Stand 31.3.2017 waren in Italien laut offiziellen Statistiken des italienischen Innenministeriums 137.599 Personen in Flüchtlingsunterkünften untergebracht, davon 2.204 in den sogenannten Hotspots (dienen nur der Registrierung der Flüchtlinge; nach max. 7