Entscheidungsdatum
04.10.2018Norm
AsylG 2005 §3Spruch
W253 2135776-1/10E
Schriftliche Ausfertigung des am 11.09.2018 mündlich verkündeten Erkenntnisses
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Jörg C. BINDER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch Rechtsanwalt Mag. Robert BITSCHE, Nikolsdorfergasse 7-11/15, 1050 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:
A)
I. Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I. gemäß § 3 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.
II. Hinsichtlich Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird der Beschwerde stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.
III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigten bis zum 11.09.2019 erteilt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger und stellte am 28.04.2016 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.
2. Im Zuge seiner Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 29.04.2016 gab der Beschwerdeführer im Wesentlichen an, er sei Muslim und stamme aus XXXX , Iran. Er habe sieben Jahre die Grundschule besucht. Neben seinen Eltern habe der Beschwerdeführer noch zwei Schwestern. Befragt zu seinen Fluchtgründen gab der Beschwerdeführer an, er habe wegen des Krieges in Afghanistan Angst zu sterben.
3. Mit Verfahrensanordnung vom XXXX stellte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl fest, dass der Beschwerdeführer spätestens am
XXXX geboren worden sei.
4. In seiner niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 14.09.2016 führte der Beschwerdeführer im Wesentlichen ergänzend aus, er sei Hazara und schiitischer Muslim. Nachdem er sieben Jahre die Schule besucht habe, habe er als Schweißer gearbeitet. Vor etwa einem Jahr sei er nach Afghanistan abgeschoben worden, weshalb er zwei Wochen bei seinem Onkel in Kabul aufhältig gewesen sei. Seine Eltern und seine zwei Schwestern würden nach wie vor im Iran leben. Der Beschwerdeführer verfüge in Afghanistan noch über eine Tante väterlicherseits und einen Onkel mütterlicherseits. Der Beschwerdeführer vermute, dass seine Eltern aus der Provinz Daikundi stammen würden. Gefragt, warum er den Iran verlassen habe, gab der Beschwerdeführer an, er sei wegen seiner Herkunft schlecht behandelt worden; Afghanen würden im Iran schlimmer behandelt werden als Tiere. Seine Eltern hätten Afghanistan wegen des Krieges verlassen. Der Beschwerdeführer habe bei einer Rückkehr nach Afghanistan Angst, von den Taliban getötet zu werden.
5. Mit dem im Spruch bezeichneten Bescheid wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 wurde der Antrag auf Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ihm wurde kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Weiters wurde ausgesprochen, dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt IV.).
Der Begründung des im Spruch bezeichneten Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl ist im Wesentlichen zu entnehmen, das Vorbringen des Beschwerdeführers biete keinen Hinweis darauf, dass eine wohlbegründete Furcht aus einem in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe bestehen würde. Der Beschwerdeführer könne in Kabul seinen Lebensunterhalt bestreiten und sich auf die Unterstützung seines Onkels verlassen.
Gleichzeitig wurde dem Beschwerdeführer mit Verfahrensanordnung gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht der "Verein Menschenrechte Österreich, Alser Straße 20/5 (Mezzanin), 1090 Wien" als Rechtsberater amtswegig zur Seite gestellt.
6. Mit Schreiben vom 21.09.2018 erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde gegen sämtliche Spruchpunkte des gegenständlichen Bescheides und führte aus, er wolle nicht nach Afghanistan zurückkehren. Aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit sei er im Iran diskriminiert worden. Es gebe nach wie vor Diskriminierung und Gewalt gegen Hazara in Afghanistan; der Beschwerdeführer habe Angst vor dem Krieg.
7. Die Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt langten am 27.09.2016 beim Bundesverwaltungsgericht ein.
Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 20.10.2016 wurde die Rechtssache der Gerichtsabteilung W169 abgenommen und der Gerichtsabteilung W253 neu zugewiesen.
8. Mit Beschwerdeergänzung vom 11.06.2018 bemängelte der Beschwerdeführer, dass die asylrelevante Verfolgung durch die Taliban und andere regierungsfeindliche Kräfte wie Daesh aufgrund der westlichen Orientierung des Beschwerdeführers nicht ausreichend gewürdigt worden seien. Er führte eine asylrelevante Verfolgung aufgrund einer ihm unterstellten politischen Gesinnung, der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der westlich orientierten afghanischen Männer und der Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara sowie einer Gefährdung wegen Zwangsrekrutierung ins Treffen. Der in Kabul aufhältige Onkel sei mittlerweile verstorben und der Beschwerdeführer wisse nicht, wo sich seine Tante in Afghanistan aufhalten würde, zumal er zu dieser noch nie in Kontakt gestanden sei. Darüber hinaus verwies der Beschwerdeführer unter anderem auf das Gutachten von Friederike Stahlmann vom 28.03.2018. Als alleinstehender Mann ohne jegliches soziale Netzwerk hätte der Beschwerdeführer keine Chance eine Wohnung oder eine Arbeit zu finden und könnte dabei auch keinerlei Unterstützung erwarten. Die finanzielle Situation seiner Familie sei sehr schlecht. Außerdem habe sich der Beschwerdeführer nachhaltig integriert und sich eine Existenz in Österreich aufgebaut.
9. Am 11.09.2018 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung im Beisein des Beschwerdeführers, seiner Vertreterin und einer Dolmetscherin für die Sprache Dari statt, in welcher der Beschwerdeführer ausführlich zu seinen Fluchtgründen befragt und ihm Gelegenheit gegeben wurde, diese umfassend darzulegen. Ein Vertreter der belangten Behörde nahm an der Verhandlung nicht teil. Im Rahmen der mündlichen Verhandlung legte der Beschwerdeführer weitere Unterlagen vor. Zudem zog er sein Vorbringen, dass sein Onkel gestorben sei, aufgrund von Missverständnissen mit seiner rechtsfreundlichen Vertreterin, zurück.
Nach Schluss der Verhandlung verkündete der Richter das gegenständliche Erkenntnis samt den wesentlichen Entscheidungsgründen. Das Verhandlungsprotokoll wurde dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 12.09.2018 samt Hinweis auf die mündliche Verkündung übermittelt.
10. Am 17.09.2018 beantragte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl fristgerecht die Ausfertigung des Erkenntnisses gemäß § 29 Abs. 4 VwGVG.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage des erhobenen Antrages auf internationalen Schutz, der Erstbefragung und Einvernahme des Beschwerdeführers durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sowie des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, der Beschwerde gegen den im Spruch genannten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, der im Verfahren vorgelegten Dokumente, der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht, der Einsichtnahme in den Bezug habenden Verwaltungsakt, das Zentrale Melderegister, das Fremdeninformationssystem, das Strafregister und das Grundversorgungs-Informationssystem werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:
1. Feststellungen:
1.1. Zum Verfahrensgang:
Der Beschwerdeführer stellte am 28.04.2016 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Mit Verfahrensanordnung vom 28.07.2016 stellte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl fest, dass der Beschwerdeführer spätestens am XXXX geboren worden sei. Mit dem im Spruch bezeichneten Bescheid wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 wurde der Antrag auf Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ihm wurde kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Weiters wurde ausgesprochen, dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt IV.). Mit Schreiben vom 21.09.2018 erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde gegen sämtliche Spruchpunkte des gegenständlichen Bescheides, woraufhin am 11.09.2018 vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung im Beisein des Beschwerdeführers, seiner Vertreterin und einer Dolmetscherin für die Sprache Dari stattfand, in welcher der Beschwerdeführer ausführlich zu seinen Fluchtgründen befragt und ihm Gelegenheit gegeben wurde, diese umfassend darzulegen. Nach Schluss der Verhandlung verkündete der Richter das gegenständliche Erkenntnis samt den wesentlichen Entscheidungsgründen. Das Verhandlungsprotokoll wurde dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 12.09.2018 samt Hinweis auf die mündliche Verkündung übermittelt. Am 17.09.2018 beantragte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl fristgerecht die Ausfertigung des Erkenntnisses gemäß § 29 Abs. 4 VwGVG.
1.2. Zum Beschwerdeführer:
Der volljährige Beschwerdeführer führt den Namen XXXX , ist afghanischer Staatsangehöriger und wurde am XXXX im Iran geboren. Er gehört der Volksgruppe der Hazara an, ist schiitischer Muslim und seine Muttersprache ist Dari, wobei er Farsi spricht. Der Beschwerdeführer ist ledig und kinderlos. Aufgrund seines äußeren Erscheinungsbildes ist erkennbar, dass er einer ethnischen und damit verbunden einer religiösen Minderheit in Afghanistan angehört. Der Beschwerdeführer kleidet sich westlich.
Der Beschwerdeführer befindet sich seit April 2016 in Österreich.
Der Beschwerdeführer stammt aus der Stadt XXXX , Iran, wo er sieben Jahre die staatliche Grundschule besucht hat. Anschließend hat er als Schweißer[l1]/Hilfsarbeiter gearbeitet. Der Beschwerdeführer ist im erwerbsfähigen Alter und gesund. Er ist mit der afghanischen Tradition und Lebensweise nicht vertraut. Bis auf einen zweiwöchigen Aufenthalt in Afghanistan - aufgrund einer Abschiebung aus dem Iran - hat der Beschwerdeführer keinerlei Berührungspunkte mit seinem Herkunftsstaat.
Die Kernfamilie des Beschwerdeführers besteht aus seinen Eltern und zwei Schwestern, welche nach wie vor im Iran leben. Die Eltern des Beschwerdeführers haben ihre Heimatprovinz Daikundi vor etwa dreißig Jahren wegen der schlechten Sicherheitslage verlassen. Im Iran bestreitet seine Familie ihren Lebensunterhalt durch die Tätigkeit der jüngeren Schwester als Näherin, da der Vater des Beschwerdeführers schwer verletzt ist. Die Familie des Beschwerdeführers verfügt über keinen Grundbesitz. Mit seiner Familie steht der Beschwerdeführer nach wie vor in Kontakt.
Ebenfalls im Iran aufhältig sind seine Onkel väterlicher- sowie mütterlicherseits. Der Aufenthalt seiner Tante väterlicherseits kann nicht festgestellt werden. In Afghanistan verfügt der Beschwerdeführer daher über keine feststellbaren familiären und sozialen Anknüpfungspunkte.
Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
1.3. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:
Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer in Afghanistan einer individuellen konkreten Verfolgung oder Bedrohung ausgesetzt war. Weiters kann nicht festgestellt werden, dass er bei einer Rückkehr nach Afghanistan gefährdet ist, physischer Gewalt oder Verfolgung ausgesetzt zu sein.
Ebenso kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Rückkehr, als Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und schiitischer Muslim in Afghanistan einer konkret gegen ihn gerichteten psychischen und/oder psychischen Gewalt im Sinne des Beschwerdevorbringens ausgesetzt ist.
1.4. Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:
Der Beschwerdeführer liefe bei einer Rückkehr in die Heimatprovinz seiner Eltern, Kabul, Mazar-e Sharif oder Herat mangels Unterstützungsmöglichkeit von Seiten seiner Familie, welche im Iran lebt, sowie aufgrund seiner individuellen Umstände (mangelndes soziales Netz, optisch erkennbarer Angehöriger einer ethnischen und religiösen Minderheit in Afghanistan, hörbaren Farsi-Akzent, keine Sozialisation in Afghanistan) Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.
1.5. Zur Situation im Herkunftsstaat:
Das Bundesverwaltungsgericht trifft aufgrund der im Beschwerdeverfahren eingebrachten aktuellen Erkenntnisquellen folgende entscheidungsrelevante Feststellungen:
1.5.1. Auszug aus dem Länderinformationsblatt vom 31.01.2018, letzte Kurzinformation am 29.06.2018 (in Folge kurz "LIB"), der ACCORD-Anfragebeantwortung zur Lage der Hazara vom 02.09.2016 [l2][b3](in Folge kurz "ACCORD 02.09.2016") und dem Dossier der Staatendoku "Grundlagen der Stammes- und Clanstrukturen" (in Folge kurz "Stammes und Clanstrukturen Juli 2016"):
1.5.1.1. Zur Sicherheitslage in Afghanistan im Allgemeinen und in der Provinz Daikundi:
Wegen einer Serie von öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffen in städtischen Zentren, die von regierungsfeindlichen Elementen ausgeführt wurden, erklärten die Vereinten Nationen im Februar 2018 die Sicherheitslage für sehr instabil (LIB S. 20). Die Taliban und weitere aufständische Gruppierungen wie der Islamische Staat (IS) verübten auch weiterhin "high-profile"-Angriffe, speziell im Bereich der Hauptstadt, mit dem Ziel, eine Medienwirksamkeit zu erlangen und damit ein Gefühl der Unsicherheit hervorzurufen und so die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben (LIB S. 24).
Landesweit haben Aufständische, inklusive der Taliban und des IS, in den Monaten vor Jänner 2018 ihre Angriffe auf afghanische Truppen und Polizisten intensiviert; auch hat die Gewalt Aufständischer gegenüber Mitarbeiter/innen von Hilfsorganisationen in den letzten Jahren zugenommen. Die Taliban verstärken ihre Operationen, um ausländische Kräfte zu vertreiben; der IS hingegen versucht, seinen relativ kleinen Einflussbereich zu erweitern. Die Hauptstadt Kabul ist in diesem Falle für beide Gruppierungen interessant (LIB S. 24).
Regierungsfeindlichen Gruppierungen wurden landesweit für das Jahr 2017 6.768 zivile Opfer (2.303 Tote und 4.465 Verletzte) zugeschrieben. Dies deutet auf einen Rückgang von 3% im Vergleich zum Vorjahreswert von 7.003 zivilen Opfern (2.138 Tote und 4.865 Verletzte). Der Rückgang ziviler Opfer, die regierungsfeindlichen Gruppierungen zugeschrieben werden, ist auf einen Rückgang ziviler Opfer, die durch Bodenkonfrontation, IED und ferngezündete Bomben zu Schaden gekommen sind, zurückzuführen. Im Gegenzug dazu hat sich die Anzahl ziviler Opfer aufgrund von Selbstmordangriffen und komplexen Attacken erhöht. Die Anzahl ziviler und nichtziviler Opfer, die aufgrund gezielter Tötungen durch regierungsfeindliche Elemente zu Schaden gekommen sind, ist ähnlich jener aus dem Jahr 2016 (LIB S. 30 f).
Im Jänner 2018 waren 56,3% der Distrikte unter der Kontrolle bzw. dem Einfluss der afghanischen Regierung, während Aufständische 14,5% der Distrikte kontrollierten bzw. unter ihrem Einfluss hatten. Die übriggebliebenen 29,2% der Distrikte waren umkämpft. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an Distrikten, die von Aufständischen kontrolliert werden, waren mit Stand Jänner 2018 Uruzgan, Kunduz und Helmand. Alle Provinzhauptstädte befanden sich unter der Kontrolle bzw. dem Einfluss der afghanischen Regierung (LIB S. 31).
Im Jahr 2017 wurden den Taliban insgesamt 4.385 zivile Opfer (1.574 Tote und 2.811 Verletzte) zugeschrieben. Die Taliban bekannten sich nur zu 1.166 zivilen Opfern. Im Vergleich zum Vorjahreswert bedeutet dies einen Rückgang um 12% bei der Anzahl ziviler Opfer, die den Taliban zugeschrieben werden. Im Jahr 2017 haben sich die Taliban zu 67 willkürlichen Angriffen auf Zivilist/innen bekannt; dies führte zu 214 zivilen Opfern (113 Toten und 101 Verletzten). Auch wenn sich die Taliban insgesamt zu weniger Angriffen gegen Zivilist/innen bekannten, so haben sie dennoch die Angriffe gegen zivile Regierungsmitarbeiter/innen erhöht - es entspricht der Linie der Taliban, Regierungsinstitutionen anzugreifen (LIB S. 34).
Teil der neuen Strategie der Regierung und der internationalen Kräfte im Kampf gegen die Taliban ist es, die Luftangriffe der afghanischen und internationalen Kräfte in jenen Gegenden zu verstärken, die am stärksten von Vorfällen betroffen sind. Dazu gehören ua die östlichen und südlichen Regionen, in denen ein Großteil der Vorfälle registriert wurde. Eine weitere Strategie der Behörden, um gegen Taliban und das Haqqani-Netzwerk vorzugehen, ist die Reduzierung des Einkommens selbiger, indem mit Luftangriffen gegen ihre Opium-Produktion vorgegangen wird (LIB S. 33).
Die afghanischen Sicherheitskräfte haben ihre Entschlossenheit und wachsenden Fähigkeiten im Kampf gegen den von den Taliban geführten Aufstand gezeigt. So behält die afghanische Regierung auch weiterhin Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, die wichtigsten Verkehrsrouten und den Großteil der Distriktzentren. Zwar umkämpften die Taliban Distriktzentren, sie konnten aber keine Provinzhauptstädte (bis auf Farah-Stadt) bedrohen - ein signifikanter Meilenstein für die ANDSF; diesen Meilenstein schrieben afghanische und internationale Sicherheitsbeamte den intensiven Luftangriffen durch die afghanische Nationalarmee und der Luftwaffe sowie verstärkter Nachtrazzien durch afghanische Spezialeinheiten zu (LIB S. 23).
Die Provinz Daikundi ist seit dem Jahr 2014 autonom; davor war sie ein Distrikt der Provinz Uruzgan. Daikundi liegt 460 km vom Westen Kabuls entfernt und grenzt an die Provinzen Uruzgan im Südwesten, Bamyan im Osten, Ghor im Norden, Ghazni im Süden und Helmand im Nordosten. Die Provinz besteht aus den folgenden Distrikten: der Provinzhauptstadt Nieli/Nili, Ashtarly, Khijran/Kajran, Khedir/Khadir, Kitti/Kiti, Miramor, Sang Takh/Sang-e Takht, Shahristan/Shahrestan. Der Distrikt Gizab, früher Teil von Daikundi, unterliegt der Administration von Uruzgan. Mit 86% der Bevölkerung bestehend aus Hazara gilt die Provinz Daikundi als die zweitgrößte Region, in der Mitglieder dieser ethnischen Gruppe leben. Die Bevölkerungszahl der Provinz wird auf 475.848 geschätzt. Daikundi ist eine gebirgige Provinz mit kleinen Dörfern, die über unasphaltierte Straßen verbunden werden. In den letzten 17 Jahren wurden Quellen zufolge in der Provinz nur zehn Kilometer an Straßen gebaut. Dennoch sind laut Regierung Projekte für die Implementierung des Straßenbaus im Gange. Bis September 2017 war Daikundi die einzige Provinz im Land, die eine Frau als Gouverneurin vorweisen konnte; Ende September 2017 wurde Masooma Muradidann von einem Mann ersetzt (LIB S. 72).
Einer Quelle zufolge ist Daikundi eine sichere Provinz (Tolonews 10.3.2018). Im September wurde von einer Zunahme afghanischer Binnenvertriebener (IDP) berichtet, die in Daikundi Zuflucht gesucht hatten. Im Zeitraum 01.01.2017-30.04.2018 wurden in der Provinz 3 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert. Im gesamten Jahr 2017 wurden 43 zivile Opfer (16 getötete Zivilisten und 27 Verletzte) registriert. Hauptursache waren Blindgänger/Landminen, gefolgt von Bodenoffensiven und gezielten Tötungen. Dies bedeutet einen Rückgang von 59% im Gegensatz zum Vergleichsjahr 2016. Eine weitere Quelle berichtete allerdings von keinen Opfern im Jahr 2017 in der Provinz Daikundi (LIB S. 73).
Im März 2017 wurden in Daikundi 31 Aufständische durch die ANSF getötet. In den letzten 17 Jahren sind in Daikundi keine ausländischen Streitkräfte ums Leben gekommen. Ende Dezember 2017 wurde Daikundi einer Quelle zufolge als ruhige Provinz beschrieben (LIB S. 73).
Daikundi zählt zu den Provinzen, in denen die Anzahl der Taliban gering ist. Der Zusammenhalt zwischen den Bewohnern ethnisch homogenerer Gesellschaften wie in Panjsher, Bamyan und Daikundi wird als Grund für die geringe Anzahl an Anschlägen betrachtet: Da die Bewohner dieser Provinzen mehrheitlich einer Ethnie zugehören, würden diese keine aufständischen Aktivitäten erlauben. Des Weiteren wurde für den Zeitraum 01.01.2017 -31.01.2018 keine IS-bezogenen Sicherheitsvorfälle in der Provinz Daikundi gemeldet (LIB S. 74).
1.5.1.2. Zur Sicherheitslage in Kabul:
Einst als relativ sicher erachtet, ist die Hauptstadt Kabul von öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffen der Taliban betroffen, die darauf abzielen, die Autorität der afghanischen Regierung zu untergraben. Regierungsfeindliche, bewaffnete Gruppierungen inklusive des IS versuchen in Schlüsselprovinzen und -distrikten, wie auch in der Hauptstadt Kabul, Angriffe auszuführen. Im Jahr 2017 und in den ersten Monaten des Jahres 2018 kam es zu mehreren "high-profile"-Angriffen in der Stadt Kabul; dadurch zeigte sich die Angreifbarkeit/Vulnerabilität der afghanischen und ausländischen Sicherheitskräfte. Für Kabul-Stadt wurden insgesamt
1.612 zivile Opfer registriert; dies bedeutet eine Steigerung von 17% im Gegensatz zum Vorjahr 2016 (440 getötete Zivilisten und 1.172 Verletzte) (LIB S. 46 f). Kabul verfügt über einen internationalen Flughafen (LIB S. 222).
1.5.1.3. Zur Sicherheitslage in Mazar-e Sharif:
Die Hauptstadt Mazar-e Sharif ist die Hauptstadt der Provinz Balkh und ein Wirtschafts- und Verkehrsknotenpunkt in Nordafghanistan. Die Region entwickelt sich wirtschaftlich gut. Es entstehen neue Arbeitsplätze, Firmen siedeln sich an und auch der Dienstleistungsbereich wächst. Die Infrastruktur ist jedoch noch unzureichend und behindert die weitere Entwicklung der Region. Viele der Straßen, vor allem in den gebirgigen Teilen des Landes, sind in schlechtem Zustand, schwer zu befahren und im Winter häufig unpassierbar. In Mazar-e Sharif gibt es einen internationalen Flughafen (LIB S. 64).
Im Juni 2017 wurde ein großes nationales Projekt ins Leben gerufen, welches darauf abzielt, die Armut und Arbeitslosigkeit in der Provinz Balkh zu reduzieren (LIB S. 64).
Die Provinz Balkh ist nach wie vor eine der stabilsten Provinzen Afghanistans und zählt zu den relativ ruhigen Provinzen in Nordafghanistan. Balkh hat im Vergleich zu anderen Regionen weniger Aktivitäten von Aufständischen zu verzeichnen. Manchmal kommt es zu Zusammenstößen zwischen Aufständischen und den afghanischen Sicherheitskräften oder auch zu Angriffen auf Einrichtungen der Sicherheitskräfte. Im Zeitraum 01.01.2017-30.04.2018 wurden in der Provinz 93 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert (LIB S. 65).
1.5.1.4. Zur Sicherheitslage in Herat:
Herat ist eine der größten Provinzen Afghanistans und liegt im Westen des Landes. Herat grenzt im Norden an die Provinz Badghis und Turkmenistan, im Süden an die Provinz Farah, im Osten an die Provinz Ghor und im Westen an den Iran. Provinzhauptstadt ist Herat-Stadt, welche sich im gleichnamigen Distrikt befindet und eine Einwohnerzahl von 506.900 hat. In der Provinz befinden sich zwei Flughäfen: ein internationaler in Herat-Stadt und ein militärischer in Shindand. Die Bevölkerungszahl der Provinz wird auf 1.967.180 geschätzt. In der Provinz leben Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Turkmenen, Uzbeken und Aimaken (LIB S. 101).
Herat ist eine relativ entwickelte Provinz im Westen des Landes. Das Harirud-Tal, eines der fruchtbarsten Täler des Landes, wo Baumwolle, Obst und Ölsaat angebaut werden, befindet sich in der Provinz. Bekannt ist Herat auch wegen seiner Vorreiterrolle in der Safran Produktion. Im Dezember 2017 wurden verschiedene Abkommen mit Uzbekistan unterzeichnet. Eines davon betrifft den Bau einer 400 Km langen Eisenbahnstrecke von Mazar-e Sharif und Maymana nach Herat (LIB S. 101).
Herat wird als eine der relativ friedlichen Provinzen gewertet, dennoch sind Aufständische in einigen Distrikten der Provinz, wie Shindand, Kushk, Chisht-i-Sharif und Gulran, aktiv. Des Weiteren wurde Ende Oktober 2017 verlautbart, dass die Provinz Herat zu den relativ ruhigen Provinzen im Westen des Landes zählt, wenngleich sich in den abgelegenen Distrikten die Situation in den letzten Jahren aufgrund der Taliban verschlechtert hat. Die Provinz ist u.a. ein Hauptkorridor für den Menschenschmuggel in den Iran bekannt - speziell von Kindern (LIB S. 102).
Mitte Februar 2018 wurde von der Entminungs-Organisation Halo Trust bekannt gegeben, dass nach zehn Jahren der Entminung 14 von 16 Distrikten der Provinz sicher seien. In diesen Gegenden bestünde keine Gefahr mehr, Landminen und anderen Blindgängern ausgesetzt zu sein, so der Pressesprecher des Provinz-Gouverneurs. Aufgrund der schlechten Sicherheitslage und der Präsenz von Aufständischen wurden die Distrikte Gulran und Shindand noch nicht von Minen geräumt. In der Provinz leben u.a. tausende afghanische Binnenflüchtlinge. Im Zeitraum 01.01.2017-30.04.2018 wurden in der Provinz 139 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert. Im gesamten Jahr 2017 wurden in der Provinz Herat 495 zivile Opfer (238 getötete Zivilisten und 257 Verletzte) registriert. Hauptursache waren IEDs, gefolgt von Selbstmordanschlägen/komplexen Attacken und gezielten Tötungen. Dies bedeutet eine Steigerung von 37% im Gegensatz zum Vergleichsjahr 2016 (LIB S. 102 f).
In der Provinz werden militärische Operationen durchgeführt, um einige Gegenden von Aufständischen zu befreien. Auch werden Luftangriffe verübt; dabei wurden Taliban getötet. Zusammenstöße zwischen Sicherheitskräften und Aufständischen finden statt. In Herat sind Truppen der italienischen Armee stationiert, die unter dem Train Advise Assist Command West (TAAC-W) afghanische Streitmächte im Osten Afghanistans unterstützen (LIB S. 103).
Herat wird als einer der relativ friedlichen Provinzen gewertet, dennoch sind Aufständische in einigen Distrikten der Provinz, wie Shindand, Kushk, Chisht-i-Sharif und Gulran, aktiv. Dem Iran wird von verschiedenen Quellen nachgesagt, afghanische Talibankämpfer auszubilden und zu finanzieren. Regierungsfeindliche Aufständische griffen Mitte 2017 heilige Orte, wie schiitische Moscheen, in Hauptstädten wie Kabul und Herat, an. Dennoch erklärten Talibanaufständische ihre Bereitschaft, das TAPI-Projekt zu unterstützen und sich am Friedensprozess zu beteiligen. Es kam zu internen Konflikten zwischen verfeindeten TalibanGruppierungen (LIB S. 103 f).
Anhänger des IS haben sich in Herat zum ersten Mal für Angriffe verantwortlich erklärt, die außerhalb der Provinzen Nangarhar und Kabul verübt wurden. ACLED registrierte für den Zeitraum 01.01.2017-15.07.2017 IS-bezogene Vorfälle (Gewalt gegen die Zivilbevölkerung) in der Provinz Herat (LIB S. 104).
1.5.1.5. Binnenflüchtlinge (IDPs) und Flüchtlinge:
Wegen des Konflikts wurden im Jahr 2017 insgesamt 475.433 Menschen in Afghanistan neu zu Binnenvertriebenen (IDPs). Im Zeitraum 2012-2017 wurden insgesamt 1.728.157 Menschen im Land zu Binnenvertriebenen. Zwischen 01.01.2018 und 15.05.2018 wurden 101.000 IDPs registriert. 23% davon sind erwachsene Männer, 21% erwachsene Frauen und 55% minderjährige Kinder (LIB S. 309).
Vertriebene Bevölkerungsgruppen befinden sich häufig in schwer zugänglichen und unsicheren Gebieten, was die afghanischen Regierungsbehörden und Hilfsorganisationen bei der Beurteilung der Lage bzw. bei Hilfeleistungen behindert. Ungefähr 30% der 2018 vertriebenen Personen waren mit Stand 21.03.2018 in schwer zugänglichen Gebieten angesiedelt (LIB S. 310). Mit Stand Dezember 2017 lebten 54% der Binnenvertriebenen in den afghanischen Provinzhauptstädten. Dies führte zu weiterem Druck auf die bereits überlasteten Dienstleistungen sowie die Infrastruktur sowie zu einem zunehmenden Kampf um die Ressourcen zwischen den Neuankömmlingen und der einheimischen Bevölkerung (LIB S. 311).
Die Mehrheit der Binnenflüchtlinge lebt, ähnlich wie Rückkehrer aus Pakistan und Iran, in Flüchtlingslagern, angemieteten Unterkünften oder bei Gastfamilien. Die Bedingungen sind prekär. Die Unterstützungsfähigkeit der afghanischen Regierung gegenüber vulnerablen Personen - inklusive Rückkehrern aus Pakistan und Iran - ist beschränkt und auf die Hilfe durch die internationale Gemeinschaft angewiesen. Die Regierung hat einen Exekutivausschuss für Vertriebene und Rückkehrer sowie einen politischen Rahmen und einen Aktionsplan eingerichtet, um die erfolgreiche Integration von Rückkehrern und Binnenvertriebenen zu fördern. Im Rahmen der humanitären Hilfe wurden IDPs je nach Region und klimatischen Bedingungen unterschiedlich unterstützt, darunter Nahrungspakete, Non-Food-Items (NFI), grundlegende Gesundheitsdienstleistungen, Hygienekits usw (LIB S. 311 f).
1.5.1.6. Grundversorgung und Wirtschaft:
Im Jahr 2015 belegte Afghanistan auf dem Human Development Index (HDI) Rang 169 von 188. Seit 2002 hat Afghanistan mit Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft wichtige Fortschritte beim Wiederaufbau seiner Wirtschaft erzielt. Nichtsdestotrotz bleiben bedeutende Herausforderungen bestehen, da das Land weiterhin von Konflikten betroffen, arm und von Hilfeleistungen abhängig ist. Während auf nationaler Ebene die Armutsrate in den letzten Jahren etwas gesunken ist, stieg sie in Nordostafghanistan in sehr hohem Maße. Im Norden und im Westen des Landes konnte sie hingegen reduziert werden. Angesichts des langsamen Wachstums, sicherheitsbedingter Versorgungsunterbrechungen und schwacher landwirtschaftlicher Leistungen, nimmt die Armut weiterhin zu. Die Verbraucherpreisinflation bleibt mäßig und wurde für 2018 mit durchschnittlich 6% prognostiziert. Der wirtschaftliche Aufschwung erfolgt langsam, da die andauernde Unsicherheit die privaten Investitionen und die Verbrauchernachfrage einschränkt. Während der Agrarsektor wegen der ungünstigen klimatischen Bedingungen im Jahr 2017 nur einen Anstieg von ungefähr 1,4% aufwies, wuchsen der Dienstleistungs- und Industriesektor um 3,4% bzw. 1,8%. Das Handelsbilanzdefizit stieg im ersten Halbjahr 2017, da die Exporte um 3% zurückgingen und die Importe um 8% stiegen (LIB S. 314).
1.5.1.7. Arbeitsmarkt und Arbeitslosigkeit:
In den Jahren 2016-2017 wuchs die Arbeitslosenrate, die im Zeitraum 2013-2014 bei 22,6% gelegen hatte, um 1%. Die Arbeitslosigkeit betrifft hauptsächlich gering qualifizierte bildungsferne Personen; diese sind auch am meisten armutsgefährdet. Über 40% der erwerbstätigen Bevölkerung gelten als arbeitslos oder unterbeschäftigt. Es müssten jährlich geschätzte 400.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden, um Neueinsteiger in den Arbeitsmarkt integrieren zu können. Seit 2001 wurden zwar viele neue Arbeitsplätze geschaffen, jedoch sind diese landesweit ungleich verteilt und 80% davon sind unsichere Stellen (Tagelöhner) (LIB S. 314 f).
1.5.1.8. Projekte der afghanischen Regierung:
Im Laufe des Jahres 2017 hat die afghanische Regierung weiterhin Anstrengungen unternommen, um die Rechenschaftspflicht bei der Umsetzung ihrer Entwicklungsprioritäten durch die hohen Entwicklungsräte zu fördern. Darunter fällt ua der fünfjährige (2017 - 2020) Nationale Rahmen für Frieden und Entwicklung in Afghanistan (The Afghanistan National Peace and Development Framework, ANPDF) zur Erreichung der Selbständigkeit. Ziele dieses strategischen Plans sind ua der Aufbau von Institutionen, die Förderung von privaten Investitionen, Wirtschaftswachstum, die Korruptionsbekämpfung, Personalentwicklung usw. Im Rahmen der Umsetzung dieses Projekts hat die Regierung die zehn prioritären nationalen Programme mithilfe der Beratung durch die hohen Entwicklungsräte weiterentwickelt. Die Implementierung zweier dieser Projekte, des "Citizens' Charter National Priority Program" und des "Women's Economic Empowerment National Priority Program" ist vorangekommen. Die restlichen acht befinden sich in verschiedenen Entwicklungsstadien. Das "Citizens' Charter National Priority Program" zB hat die Armutsreduktion und die Erhöhung des Lebensstandards zum Ziel, indem die Kerninfrastruktur und soziale Dienstleistungen der betroffenen Gemeinschaften verbessert werden sollen (LIB S. 315).
Die afghanische Regierung hat Bemühungen zur Armutsreduktion gesetzt und unterstützt den Privatsektor weiterhin dabei, nachhaltige Jobs zu schaffen und das Wirtschaftswachstum voranzutreiben. Die Ausstellung von Gewerbeberechtigungen soll gesteigert, steuerliche Sanktionen abgeschafft und öffentlich-private Partnerschaften entwickelt werden; weitere Initiativen sind geplant (LIB S. 316).
1.5.1.9. Medizinische Versorgung:
Gemäß Artikel 52 der afghanischen Verfassung muss der Staat allen Bürgern kostenfreie primäre Gesundheitsversorgung in öffentlichen Einrichtungen gewährleisten; gleichzeitig sind im Grundgesetz die Förderung und der Schutz privater Gesundheitseinrichtungen vorgesehen. Allerdings ist die Verfügbarkeit und Qualität der Grundbehandlung durch Mangel an gut ausgebildeten Ärzten und Assistenzpersonal (va Hebammen), mangelnde Verfügbarkeit von Medikamenten, schlechtes Management sowie schlechte Infrastruktur begrenzt. Dazu kommt das starke Misstrauen der Bevölkerung in die staatlich finanzierte medizinische Versorgung. Die Qualität der Kliniken variiert stark. Es gibt praktisch keine Qualitätskontrollen. Berichten zufolge haben rund 10 Millionen Menschen in Afghanistan keinen oder nur eingeschränkten Zugang zu medizinischer Grundversorgung. Viele Afghanen suchen, wenn möglich, privat geführte Krankenhäuser und Kliniken auf. Die Kosten von Diagnose und Behandlung dort variieren stark und müssen von den Patienten selbst getragen werden. Daher ist die Qualität der Behandlung stark einkommensabhängig. Auch die Sicherheitslage hat erhebliche Auswirkungen auf die medizinische Versorgung (LIB S. 318).
In den letzten zehn Jahren hat die Flächendeckung der primären Gesundheitsversorgung in Afghanistan stetig zugenommen. Das afghanische Gesundheitssystem hat in dieser Zeit ansehnliche Fortschritte gemacht. Gründe dafür waren ua eine solide öffentliche Gesundheitspolitik, innovative Servicebereitstellung, Entwicklungshilfen usw. Einer Umfrage der Asia Foundation (AF) zufolge hat sich 2017 die Qualität der afghanischen Ernährung sowie der Gesundheitszustand in den afghanischen Familien im Vergleich zu 2016 gebessert (LIB S. 318).
Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat mit Unterstützung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) einen Strategieplan für den Gesundheitssektor (2011-2015) und eine nationale Gesundheitspolicy (2012-2020) entwickelt, um dem Großteil der afghanischen Bevölkerung die grundlegende Gesundheitsversorgung zu garantieren (LIB S. 318 f).
Trotz signifikanter Verbesserungen im Bereich des Deckungsgrades und der Qualität der Gesundheitsversorgung wie auch einer Reduzierung der Sterberate von Müttern, Säuglingen und Kindern unter fünf Jahren liegen die afghanischen Gesundheitsindikatoren weiterhin unter dem Durchschnitt der einkommensschwachen Länder. Des Weiteren hat Afghanistan eine der höchsten Unterernährungsraten der Welt. Etwa 41% der Kinder unter fünf Jahren leiden unter chronischer Unterernährung. Sowohl Frauen als auch Kinder leiden an Vitamin- und Mineralstoffmangel. In den Bereichen Mütter- und Kindersterblichkeit kam es zu erheblichen Verbesserungen: Während die Müttersterblichkeit früher bei 1.600 Todesfällen pro 100.000 Geburten lag, belief sie sich im Jahr 2015 auf 324 Todesfälle pro 100.000 Geburten. Allerdings wird von einer deutlich höheren Dunkelziffer berichtet. Bei Säuglingen liegt die Sterblichkeitsrate mittlerweile bei 45 Kindern pro 100.000 Geburten und bei Kindern unter fünf Jahren sank die Rate im Zeitraum 1990 - 2016 von 177 auf 55 Sterbefälle pro 1.000 Kindern. Trotz der Fortschritte sind diese Zahlen weiterhin kritisch und liegen deutlich über dem regionalen Durchschnitt. Weltweit sind Afghanistan und Pakistan die einzigen Länder, die im Jahr 2017 Poliomyelitis-Fälle zu verzeichnen hatten; nichtsdestotrotz ist deren Anzahl bedeutend gesunken. Impfärzte können Impfkampagnen sogar in Gegenden umsetzen, die von den Taliban kontrolliert werden. In jenen neun Provinzen, in denen UNICEF aktiv ist, sind jährlich vier Polio-Impfkampagnen angesetzt. In besonders von Polio gefährdeten Provinzen wie Kunduz, Faryab und Baglan wurden zusätzliche Kampagnen durchgeführt (LIB S. 319).
1.5.1.10. Krankenkassen und Gesundheitsversicherung:
Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) bietet zwei Grundversorgungsmöglichkeiten an: das "Essential Package of Health Services" (EPHS) und das "Basic Package of Health Services" (BPHS), die im Jahr 2003 eingerichtet wurden. Beide Programme sollen standardisierte Behandlungsmöglichkeiten in gesundheitlichen Einrichtungen und Krankenhäusern garantieren. Die im BPHS vorgesehenen Gesundheitsdienstleistungen und einige medizinische Versorgungsmöglichkeiten des EPHS sind kostenfrei. Jedoch zahlen Afghanen und Afghaninnen oft aus eigener Tasche, weil sie private medizinische Versorgungsmöglichkeiten bevorzugen, oder weil die öffentlichen Gesundheitsdienstleistungen die Kosten nicht ausreichend decken. Es gibt keine staatliche Unterstützung für den Erwerb von Medikamenten. Die Kosten dafür müssen von den Patienten getragen werden. Nur privat versicherten Patienten können die Medikamentenkosten zurückerstattet werden.
Medizinische Versorgung wird in Afghanistan auf drei Ebenen gewährleistet: Gesundheitsposten (HP) und Gesundheitsarbeiter (CHWs) bieten ihre Dienste auf Gemeinde- oder Dorfebene an; Grundversorgungszentren (BHCs), allgemeine Gesundheitszentren (CHCs) und Bezirkskrankenhäuser operieren in den größeren Dörfern und Gemeinschaften der Distrikte. Die dritte Ebene der medizinischen Versorgung wird von Provinz- und Regionalkrankenhäusern getragen. In urbanen Gegenden bieten städtische Kliniken, Krankenhäuser und Sonderkrankenanstalten jene Dienstleistungen an, die HPs, BHCs und CHCs in ländlichen Gebieten erbringen. 90% der medizinischen Versorgung in Afghanistan werden dennoch nicht direkt vom Staat zur Verfügung gestellt, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die über ein Vertragssystem beauftragt werden. Über dieses Vertragssystem wird sowohl primäre als auch sekundäre und tertiäre medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt. Allerdings mangelt es an Investitionen in medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen (LIB S. 319 f).
1.5.1.11. Krankenhäuser in Afghanistan:
Theoretisch ist die medizinische Versorgung in staatlichen Krankenhäusern kostenlos. Dennoch ist es üblich, dass Patienten Ärzte und Krankenschwestern bestechen, um bessere bzw schnellere medizinische Versorgung zu bekommen. Eine begrenzte Anzahl an staatlichen Krankenhäusern in Afghanistan bietet kostenfreie medizinische Versorgung. Privatkrankenhäuser gibt es zumeist in größeren Städten wie Kabul, Jalalabad, Mazar-e Sharif, Herat und Kandahar. Die Behandlungskosten in diesen Einrichtungen variieren. Für den Zugang zur medizinischen Versorgung sind der Besitz der afghanischen Staatsbürgerschaft und die Mitnahme eines gültigen Ausweises bzw. der Tazkira erforderlich. In öffentlichen Krankenhäusern in den größeren Städten Afghanistans können leichte und saisonbedingte Krankheiten sowie medizinische Notfälle behandelt werden. Es besteht die Möglichkeit, dass Beeinträchtigungen wie Herz-, Nieren-, Leber- und Bauchspeicheldrüsenerkrankungen, die eine komplexe, fortgeschrittene Behandlung erfordern, wegen mangelnder technischer bzw fachlicher Expertise nicht behandelt werden können. Chirurgische Eingriffe können nur in bestimmten Orten geboten werden, die meist einen Mangel an Ausstattung und Personal aufweisen. Wenn eine bestimmte medizinische Behandlung in Afghanistan nicht möglich ist, sehen sich Patienten gezwungen ins Ausland, meistens nach Indien, in den Iran, nach Pakistan und in die Türkei zu reisen. Da die medizinische Behandlung im Ausland kostenintensiv ist, haben zahlreiche Patienten, die es sich nicht leisten können, keinen Zugang zu einer angemessenen medizinischen Behandlung (LIB S. 321 f).
1.5.1.12. Rückkehrer:
Im Jahr 2018 kehrten mit Stand 21.3. 1.052 Personen aus angrenzenden Ländern und nicht-angrenzenden Ländern zurück (759 davon kamen aus Pakistan). Bis Juli 2017 kehrten aus Europa und der Türkei 41.803 Personen nach Afghanistan zurück (LIB S. 327).
Auch wenn scheinbar kein koordinierter Mechanismus existiert, der garantiert, dass alle Rückkehrer/innen die Unterstützung erhalten, die sie benötigen, und dass eine umfassende Überprüfung stattfindet, können Personen, die freiwillig oder zwangsweise nach Afghanistan zurückgekehrt sind, dennoch verschiedene Unterstützungsformen in Anspruch nehmen. Eine Reihe unterschiedlicher Organisationen ist für Rückkehrer/innen und Binnenvertriebene (IDP) in Afghanistan zuständig. Außerdem erhalten Rückkehrer/innen Unterstützung von der afghanischen Regierung, den Ländern, aus denen sie zurückkehren, und internationalen Organisationen (zB IOM) sowie lokalen Nichtregierungsorganisationen (NGO) (zB IPSO und AMASO). Nichtsdestotrotz scheint das Sozialkapital die wichtigste Ressource zu sein, die Rückkehrer/innen zur Verfügung steht, da keine dezidiert staatlichen Unterbringungen für Rückkehrer existieren und familiäre Unterbringungsmöglichkeiten für Rückkehrer/innen daher als die zuverlässigste und sicherste Möglichkeit erachtet werden. So kehrt der Großteil der (freiwilligen bzw. zwangsweisen) Rückkehrer/innen direkt zu ihren Familien oder in ihre Gemeinschaften zurück. Für jene, die diese Möglichkeit nicht haben sollten, stellen die Regierung und IOM eine temporäre Unterkunft zur Verfügung. Hierfür stand bislang das Jangalak-Aufnahmezentrum zur Verfügung, das sich direkt in der Anlage des Ministeriums für Flüchtlinge und Repatriierung in Kabul befand und wo Rückkehrende für die Dauer von bis zu zwei Wochen untergebracht werden konnten. Im Jangalak Aufnahmezentrum befanden sich 24 Zimmer, mit jeweils 2-3 Betten. Jedes Zimmer war mit einem Kühlschrank, Fernseher, einer Klimaanlage und einem Kleiderschrank ausgestattet. Seit September 2017 nutzt IOM nicht mehr das Jangalak-Aufnahmezentrum, sondern das Spinzar Hotel in Kabul als temporäre Unterbringungsmöglichkeit. Auch hier können Rückkehrer/innen für maximal zwei Wochen untergebracht werden (LIB S. 328 f).
1.5.1.13. Zur Lage der Hazara in Afghanistan:
Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 10% der Bevölkerung aus. Sie besiedeln traditionell das Bergland in Zentralafghanistan, das sich zwischen Kabul im Osten und Herat im Westen erstreckt und unter der Bezeichnung Hazaradschat bekannt ist (LIB S. 278 f, Stammes und Clanstrukturen Juli 2016 S. 17). Eine Minderheit der Hazara, die vor allem im nordöstlichen Teil des Hazaradschat leben, sind Ismailiten (LIB S. 279).
Dennoch hat sich die Lage der Hazara, die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgt waren, grundsätzlich verbessert; vornehmlich aufgrund von Bildung und vor allem auf ökonomischem und politischem Gebiet. Hazara in Kabul gehören jetzt zu den am besten gebildeten Bevölkerungsgruppen und haben auch eine Reihe von Dichtern und Schriftstellern hervorgebracht. Auch wenn es nicht allen Hazara möglich war diese Möglichkeiten zu nutzen, so haben sie sich dennoch in den Bereichen Bildung, öffentliche Verwaltung und Wirtschaft etabliert (LIB S. 279).
Die Hazara sind im nationalen Durchschnitt mit einem Anteil von etwa 10 Prozent in der Afghan National Army und der Afghan National Police repräsentiert (LIB S. 280).
Aus mehreren Provinzen, darunter Ghazni, Zabul und Baghlan, sind eine Reihe von Entführungen von Hazara berichtet worden. Die Entführer haben Berichten zufolge ihre Opfer erschossen, enthauptet, Lösegeld für sie verlangt oder sie freigelassen. Im Februar 2015 haben Aufständische 31 Hazara-Männer aus einem Bus in der Provinz Zabul entführt und im Mai 2015 19 Geiseln und im November 2015 acht weitere freigelassen (ACCORD 02.09.2016 S. 2).
1.5.1.14. Zur Lage der Schiiten in Afghanistan:
Die Bevölkerung schiitischer Muslime wird auf 10 - 15% geschätzt. Zur schiitischen Bevölkerung zählen die Ismailiten und ein Großteil der ethnischen Hazara. Die meisten Hazara-Schiiten gehören der Jafari-Sekte (Zwölfer-Sekte) an. Im letzten Jahrhundert ist allerdings eine Vielzahl von Hazara zur Ismaili-Sekte übergetreten (LIB S. 269 f).
Unter den Parlamentsabgeordneten befinden sich vier Ismailiten. Einige Mitglieder der ismailitischen Gemeinschaft beanstanden die vermeintliche Vorenthaltung von politischen Posten (LIB S. 270).
Afghanischen Schiiten ist es möglich ihre Feste öffentlich zu feiern, manche Paschtunen sind aber über die öffentlichen Feierlichkeiten verbittert, was gelegentlich in Auseinandersetzungen resultiert. In den Jahren 2016 und 2017 wurden schiitische Muslime, hauptsächlich ethnische Hazara, oftmals Opfer von terroristischen Angriffen ua der Taliban und des IS (LIB S. 269 f).
1.5.3. Auszug aus der ACCORD-Anfragebeantwortung a-9219 vom 12.06.2015 zur Situation von Afghanen (insbesondere Hazara), die ihr ganzes Leben im Iran verbracht haben und dann nach Afghanistan kommen:
"In der im Mai 2014 veröffentlichten Ausgabe der Forced Migration Review (FMR), einer Publikation des Refugee Studies Centre der Universität Oxford, findet sich ein Artikel von Armando Geller und Maciej M. Latek, Mitbegründer von Scensei, einem Unternehmen zur Unterstützung der Entscheidungsfindung und Durchführung von Analysen. Darin gehen die Autoren auf die Motivationen und die Lage von afghanischen Flüchtlingen im Iran ein, die nach Afghanistan zurückkehren. Wie der Artikel anführt, würden RückkehrerInnen bei ihrer Ankunft in Afghanistan nach einer Abwesenheit von sieben bis 30 Jahren bemerken, dass sie weitgehend von den Verwandtschafts-, Geschäfts- und Patronage-Beziehungen, die sich in den vergangenen zehn Jahren entwickelt hätten, ausgeschlossen seien. So würden RückkehrerInnen beispielsweise berichten, dass sie keine Jobs über Verwandte oder Freunde bekommen könnten, da sie keinem Patronage-Netzwerk mit Zugang zu Ressourcen angehören würden. Dies führe nicht nur dazu, dass ihr neues Leben wirtschaftlich unhaltbar sei, sondern auch zu vielen Anzeichen einer Identitätskrise bei den RückkehrerInnen. Nach ihrer Rückkehr nach Afghanistan seien sie Fremde im eigenen Land, die Mühe hätten, ihre schwachen sozialen Beziehungen, die sich weder materiell auszahlen noch Schutz bieten würden, neu zu beleben.
[...]
In einem im August 2014 veröffentlichten Artikel für die British & Irish Agencies Afghanistan Group (BAAG), ein Dachverband von in Afghanistan tätigen britischen und irischen Hilfsorganisationen, berichtet die freiberufliche Forscherin und Autorin Vanessa Thevathasan über die Lage junger afghanischer RückkehrerInnen aus dem Iran und Pakistan. Laut Thevathasan seien viele nach ihrer Rückkehr aufgrund des anhaltenden Konflikts und der schlechten Sicherheitslage zu Binnenvertriebenen geworden. Sie seien gezwungen, in Zelten zu leben, und hätten nur geringen Zugang zu Nahrungsmitteln und Wasser.
Die Mehrheit der AfghanInnen sichere sich den Lebensunterhalt durch Subsistenzlandwirtschaft und informellen Handel. In den Städten seien die meisten entweder selbstständig oder GelegenheitsarbeiterInnen. Die Verankerung dieses informellen Sektors sowie der Mangel an grundlegenden Diensten habe Afghanistans Fähigkeit untergraben, der Forderung der internationalen Gemeinschaft nach einer organisierten Rückkehr und Reintegration afghanischer Flüchtlinge nachzukommen. Die Situation sei besonders für zurückkehrende afghanische Jugendliche hart.
[...]
Einer in Kabul ansässigen Mitarbeiterin der norwegischen NGO Norwegian Refugee Council (NRC) ziehe es viele zurückkehrende AfghanInnen aufgrund der Aussicht auf bessere wirtschaftliche Möglichkeiten in die Städte. Die Wirklichkeit sei allerdings, dass es dort nur selten mehr Möglichkeiten gebe. Es setze sich immer mehr die Erkenntnis durch, dass die Mehrheit der Flüchtlinge nicht mehr zurückkehren wolle. Sie hätten Afghanistan oftmals wegen des Krieges oder anderer Schwierigkeiten verlassen und würden nun aufgrund der wirtschaftlichen Lage nicht mehr zurückkehren wollen.
[...]
Die Afghanistan Research and Evaluation Unit (AREU), eine unabhängige Forschungsorganisation mit Sitz in Kabul, geht in einem Bericht vom Juli 2009 auf die Erfahrungen junger AfghanInnen bei ihrer Rückkehr aus Pakistan und dem Iran ein. Wie der Bericht anführt, sei die soziale Ablehnung durch AfghanInnen, die während der Konfliktjahre in Afghanistan geblieben seien, eine schwierige Erfahrung für einige RückkehrerInnen der zweiten Generation gewesen. Es gebe zwei wichtige Gründe, warum Flüchtlinge der zweiten Generation bei ihrer Rückkehr in ihr Heimatland mit dieser sozialen Exklusion konfrontiert seien: Zum einen könnten einige Flüchtlinge als "Eindringlinge" in die afghanische Gesellschaft angesehen werden, zum zweiten könnte es sich um das erste Mal handeln, dass sie als AfghanInnen mit tiefgreifenden ethnischen und Stammes-Unterschieden unter ihren Landsleuten konfrontiert würden.
Rund ein Viertel der befragten RückkehrerInnen, die meisten aus dem Iran, aber auch einige aus Pakistan, hätten berichtet, dass sie bzw. Familienangehörige oder Freunde von anderen AfghanInnen wegen ihrer Rückkehr aus einem anderen Land geächtet worden seien. Bei den RückkehrerInnen, die dies berichtet hätten, habe es sich vor allem um alleinstehende, gebildete und weibliche Personen gehandelt. Zurückgekehrte Frauen seien relativ einfach anhand ihrer Kleidung auszumachen und ihre Erscheinung und ihr Verhalten könnten im Widerspruch zu den lokalen kulturellen Erwartungen und sozialen Codes stehen. Bei diesen RückkehrerInnen handle es sich eindeutig um "AußenseiterInnen", die leichte Ziele für Schikanierungen seitens anderer AfghanInnen darstellen würden. Insbesondere dann, wenn Flüchtlinge der zweiten Generation sich sehr stark in die pakistanische oder iranische Lebensweise integriert hätten und nicht wüssten, was für AfghanInnen "normal" sei, bzw. sich nicht dementsprechend verhalten könnten, könnten sie als "verwöhnt", "Nichtstuer" oder "nicht afghanisch" betrachtet werden.
[...]
Im Großen und Ganzen scheine es eine generelle negative Einstellung gegenüber einigen RückkehrerInnen zu geben, denen von einigen in Afghanistan verbliebenen Personen vorgeworfen werde, ihr Land im Stich gelassen zu haben, dem Krieg entflohen zu sein und im Ausland ein wohlhabendes Leben geführt zu haben. Einer der Gründe für diese Vorwürfe sei Angst im Zusammenhang mit der Konkurrenz um Ressourcen. RückkehrerInnen der zweiten Generation, bei denen es wahrscheinlich sei, dass sie sich in einer besseren sozioökonomischen Lage befinden würden als Personen, die in Afghanistan geblieben seien, würden von ihren Landsleuten, die ihr "Territorium" in den Bereichen Bildung, Arbeit, Eigentum und sozialer Status bedroht sehen würden, manchmal als unerwünschte Eindringlinge angesehen. Darüber hinaus scheine es eine stereotype Wahrnehmung von zurückgekehrten Mädchen und Frauen zu geben, wonach diese "freier" seien. Dies hänge mit der generellen Wahrnehmung der AfghanInnen von pakistanischen und iranischen Frauen zusammen. Afghanische Flüchtlinge der zweiten Generation würden diese Frauen oftmals als "freier" ansehen, sowohl in negativer (z.B. Scham in Verbindung mit einem weniger moralischen Verhalten) als auch in positiver Hinsicht (z.B. besserer Zugang zu Bildung und Arbeit). Die jungen RückkehrerInnen, die in Pakistan und im Iran aufgewachsen seien, würden von den in Afghanistan Verbliebenen ähnlich betrachtet.
Wie der Bericht weiters anführt, werde Diskriminierung aus ethnischen, religiösen und politischen Gründen von Flüchtlingen der zweiten Generation noch intensiver erlebt als von Flüchtlingen der ersten Generation oder AfghanInnen, die bereits Erfahrungen in Afghanistan gemacht hätten und sich dieser Realität bewusster seien.
[...]
In einer im Jahr 2014 eingereichten Masterarbeit an der University of Ottawa geht Masuma Moravej auf die Situation junger afghanischer Flüchtlinge, die aus dem Iran nach Afghanistan zurückkehren, ein. Unter anderem basiert die Arbeit auf Angaben von zwölf afghanischen RückkehrerInnen in Kabul (im Alter zwischen 19 und 34, davon sechs Hazara), die sich bereit erklärten, mit der Autorin über ihre Erfahrungen zu sprechen. Wie Moravej anführt, habe es InterviewpartnerInnen gegeben, die sich diskriminiert und geringgeschätzt gefühlt und angegeben hätten, als "verwöhnt", "Nichtstuer" oder "nicht afghanisch" bezeichnet zu werden. Obwohl einige Interviewte der Aussage, es komme zu Diskriminierung, nicht zugestimmt hätten, habe ungefähr die gleiche Anzahl an Interviewten dieser Aussage beigepflichtet.
Ausgrenzung aufgrund des Status eines/r Rückkehrers/Rückkehrerin sei nur eine der negativen Erfahrungen gewesen, die die InterviewpartnerInnen gemacht hätten. Eine weitere sei die Diskriminierung aufgrund persönlicher Merkmale (so wie Ethnie, Religion und Geschlecht) gewesen. Eine(r) der Interviewten habe mitgeteilt, dass man als RückkehrerIn aus dem Iran mit verschiedenen Arten von Diskriminierung und einem gewissen Grad an Stereotypisierung durch die lokale Gemeinschaft (andere AfghanInnen) konfrontiert werde. Deshalb müssten sich RückkehrerInnen mehr anstrengen, um bei der Arbeit oder in anderen Lebensbereichen erfolgreich zu sein.
Drei Interviewte hätten angegeben, dass die BewohnerInnen Kabuls ihnen gegenüber ein unfreundliches Verhalten an den Tag gelegt hätten. Die BewohnerInnen hätten sie als OpportunistInnen und SchwindlerInnen angesehen, die während des Krieges geflüchtet und nun nach Afghanistan zurückgekehrt seien, um von der teilweise stabilisierten Lage im Land zu profitieren. Das Problem der ethnischen Diskriminierung sei von zehn der Interviewten genannt worden. So habe eine der Interviewten (eine Hazara) angegeben, dass sie im Iran wegen ihres Afghanisch-Seins beleidigt worden sei und nun in Kabul wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit diskriminiert werde. Wie Moravej anführt, hätten die den Hazara angehörenden Interviewten berichtet, mit einem größeren Ausmaß ethnischer Diskriminierung konfrontiert worden zu sein.
[...]
Verhalten der Taliban gegenüber Hazara, die aus dem Iran zurückkehren
Der vom US-amerikanischen Kongress finanzierte Rundfunkveranstalter Radio Free Europe/Radio Liberty (RFE/RL) berichtet im Februar 2015, dass Bewaffnete zwei Busse mit 30 Hazara an Bord in der Provinz Zabul auf dem Highway zwischen Kandahar und Kabul aufgehalten hätten. Laut Angaben lokaler Behörden hätten die Bewaffneten die männlichen Hazara mitgenommen, während Frauen, Kinder und Personen, die nicht den Hazara angehört hätten, zurückgelassen worden seien. Es werde davon ausgegangen, so RFE/RL weiters, dass es sich bei den BusinsassInnen um afghanische Flüchtlinge gehandelt habe, die aus dem Iran zurückgekehrt seien. Keine Gruppe habe sich zu dieser Massenentführung bekannt.
[...]
In einer E-Mail-Auskunft vom 5. Juni 2015 schreibt Niamatullah Ibrahimi von der Australian National University, dessen Forschungsschwerpunkt auf politischen und Menschenrechtsthemen in Afghanistan liegt, dass die Behandlung eines Hazara, der aus dem Iran nach A