TE Bvwg Erkenntnis 2018/10/8 W251 2147896-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 08.10.2018
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Entscheidungsdatum

08.10.2018

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art.133 Abs4
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch

W251 2147896-1/28E

W251 2148772-1/28E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Angelika SENFT als Einzelrichterin über die Beschwerden von 1.) XXXX XXXX, geb. XXXX und 2.) XXXX, geb. XXXX, beide StA. Afghanistan, vertreten durch RA Dr. Christian SCHMAUS, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 24.01.2017, 1.) zur Zl. XXXX und 2.) zur Zl. XXXX, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

Die Beschwerden werden als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist nicht zulässig.

Text

BEGRÜNDUNG:

I. Verfahrensgang:

1. Die Beschwerdeführerin stellten am 05.08.2015 (Zweitbeschwerdeführerin) bzw. am 07.08.2015 (Erstbeschwerdeführer) einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Der Erstbeschwerdeführer ist der Onkel väterlicherseits der Zweitbeschwerdeführerin.

2. Am 07.08.2015 fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung der Beschwerdeführer statt. Dabei gab der Erstbeschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen befragt an, dass sein Sohn ein Mädchen heiraten habe wollen. Deren Eltern seien jedoch gegen diese Heirat gewesen. Der Vater des Mädchens habe verlangt, dass der Erstbeschwerdeführer eine seiner Töchter sowie seine Nichte, die Zweitbeschwerdeführerin, zur Zwangsheirat freigebe. Da er und sein Bruder sich dagegen geweigert hätten, seien sie aus Afghanistan ausgereist. Er sei nunmehr alleine mit seiner Nichte in Österreich, weil ihre Reisepässe am schnellsten fertig gewesen seien.

Die Zweitbeschwerdeführerin gab zu ihren Fluchtgründen an, dass sie ca. 1 1/2 Jahre vor der Erstbefragung mit ihrem Cousin zwangsverheiratet hätte werden sollen.

3. Am 06.10.2016 fand eine Einvernahme der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Bundesamt) statt. Der Erstbeschwerdeführer gab zu seinen Fluchtgründen im Wesentlichen an, dass sein Sohn mit einem Mädchen, XXXX, das bereits verlobt gewesen sei, zusammen weggelaufen sei. Der Vater des ehemaligen Verlobten des Mädchens, General XXXX, und die Onkel des Mädchens (zugleich Cousins des Erstbeschwerdeführers) hätten den Erstbeschwerdeführer festgehalten, mit einer Waffe bedroht und aufgefordert, bekannt zu geben wo sich sein Sohn und das Mädchen aufhalten würden. Der Erstbeschwerdeführer habe beteuert, dass sein Sohn alleine in Indien sei. Seine Cousins und der General hätten bei Verwandten des Erstbeschwerdeführers nachgefragt und ihn nach ca. einer Stunde wieder gehen lassen. Zuhause habe der Erstbeschwerdeführer von seiner Frau erfahren, dass sein Sohn Kontakt zu XXXX gehabt habe. Da der Erstbeschwerde-führer seinen Sohn daraufhin nicht erreicht habe, sei er sich sicher gewesen, dass sein Sohn tatsächlich mit XXXX weggelaufen sei. Der Erstbeschwerdeführer und sein Bruder hätten daraufhin samt ihren Familien ihre Häuser und schließlich Afghanistan verlassen.

Die Zweitbeschwerdeführerin gab zu ihren Fluchtgründen befragt an, dass ihr Cousin mit einem Mädchen namens XXXX, die bereits dem Sohn von General XXXX versprochen gewesen sei, weggelaufen sei. Der General und die Familie des Mädchens hätten daraufhin von ihrem Vater und von ihrem Onkel väterlicherseits - dem Erstbeschwerdeführer - verlangt, ihnen die Zweitbeschwerdeführerin sowie eine Tochter des Erstbeschwerdeführers zu übergeben um sie unter Zwang zu verheiraten. Die Familie der Zeitbeschwerdeführerin sowie ihr Onkel väterlicherseits und dessen Familie hätten Afghanistan daraufhin verlassen.

4. Mit dem angefochtenen Bescheid wies das Bundesamt die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) ab und erteilte den Beschwerdeführern keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen. Gegen die Beschwerdeführer wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass ihre Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 4 Wochen ab Rechtskraft der Entscheidung festgesetzt (Spruchpunkt IV.).

Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die Beschwerdeführer ihre Fluchtgründe nicht glaubhaft machen konnten. Es drohe den Beschwerdeführern auch keine Gefahr, die die Erteilung eines subsidiären Schutzes rechtfertigen würde. Die Beschwerdeführer verfügen in Österreich zudem über kein schützenswertes Privat- und Familienleben, das einer Rückkehrentscheidung entgegenstehen würde.

5. Die Beschwerdeführer erhoben gegen die Bescheide des Bundesamtes Beschwerde und brachten im Wesentlichen vor, dass das Verfahren beim Bundesamt nicht den Anforderungen des amtswegigen Ermittlungsverfahrens gemäß § 18 Abs. 1 AsylG genügt habe. So seien die Länderfeststellungen unvollständig und teilweise nicht aktuell. Die Länderfeststellungen würden sich auch nicht mit dem konkreten Fluchtvorbringen der Beschwerdeführer (Blutrache, außereheliche Beziehungen, Situation für Frauen in Afghanistan und für Rückkehrer aus westlichen Ländern) befassen. Der Erstbeschwerdeführer beantragte die Durchführung von Nachforschungen vor Ort bei der Organisation "XXXX" um die von ihm geschilderten Ereignisse zu überprüfen. Das Bundesamt habe das junge Alter der Zweitbeschwerdeführerin nicht berücksichtigt. Den Beschwerdeführern drohe in Afghanistan Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie im Zusammenhang mit Blutrache. Die Zweitbeschwerdeführerin sei auch aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der afghanischen Frauen mit westlicher Orientierung einer Verfolgung in Afghanistan ausgesetzt. Das Bundesamt hätte den Beschwerdeführern jedenfalls den Status der subsidiär Schutzberechtigen zuerkennen müssen. Zudem bestehe für die Beschwerdeführer in Österreich bereits ein schützenswertes Privat- und Familienleben.

6. Die Beschwerde des Erstbeschwerdeführers wurde verspätet eingebracht. Dem Antrag des Erstbeschwerdeführers auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vom 23.02.2017 wurde mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 30.05.2015 stattgegeben.

7. Mit Schriftsatz vom 07.05.2018 lehnten die Beschwerdeführer die Beiziehung des Gutachtens von Mag. Mahringer ab und stellten für den Fall, dass das Gutachten dennoch als Entscheidungsgrundlage herangezogen werde den Antrag auf Ladung des Gutachters zum Zwecke der Befragung um die Schlüssigkeit und Nachvollziehbarkeit des Gutachtens zu überprüfen und entsprechende Erwiderungen vorzubringen. Unter einem wurde das Gutachten zur Einhaltung der Regeln guter wissenschaftlicher Praxis von Doz. Dr. Stefan Weber vom 08.02.2018 samt Anlage, das Gutachten von Friederike Stahlmann vom 28.03.2018 sowie Unterlagen betreffend die Integration der Beschwerdeführer in Österreich und medizinische Befunde des Erstbeschwerdeführers vorgelegt.

8. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 14.05.2018 in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Dari und im Beisein des Rechtsvertreters der Beschwerdeführer eine öffentliche mündliche Verhandlung durch. Die Beschwerdeverfahren der Beschwerdeführer wurden gemäß § 39 Abs 2 AVG zur gemeinsamen Verhandlung verbunden. Die Verhandlung wurde nach Einvernahme der Beschwerdeführer zur fortgesetzten Einvernahme der Beschwerdeführer auf unbestimmte Zeit vertagt.

9. Mit Schriftsatz vom 25.05.2018 gaben die Beschwerdeführer die Daten ihres in Österreich aufhältigen Familienangehörigen bekannt.

10. Mit Schriftsatz vom 20.06.2018 wurde für den Fall, dass Zweifel am Vorbringen der Beschwerdeführer bestehen, der Antrag auf Einholung eines Gutachtens auf Grundlage einer Vor-Ort-Recherche durch einen länderkundlichen Sachverständigen gestellt.

11. Am 22.06.2018 wurde die Beschwerdeverhandlung in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Dari und des Rechtsvertreters der Beschwerdeführer fortgesetzt.

12. Mit Stellungnahme vom 18.07.2018 sind die Beschwerdeführer dem Länderinformations-blatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 29.06.2018 nicht substantiiert entgegengetreten.

13. Mit Urkundenvorlage vom 29.09.2017, 02.08.2018 und 17.08.2018 legten die Beschwerdeführer Unterlagen betreffend ihre Integration in Österreich, Bestätigungen über psychotherapeutische Behandlungen sowie einen Bericht betreffend Anschläge in Kabul vor.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person der Beschwerdeführer:

Der Erstbeschwerdeführer führt den NamenXXXX XXXXund das Geburtsdatum XXXX. Die Zweitbeschwerdeführerin führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX. Der Erstbeschwerdeführer ist der Onkel väterlicherseits der Zweitbeschwerdeführerin.

Die Beschwerdeführer sind afghanische Staatsangehörige, gehören der Volksgruppe der Tadschiken an, bekennen sich zum sunnitisch-muslimischen Glauben und sprechen Dari als Muttersprache.

Der Erstbeschwerdeführer ist traditionell verheiratet und hat sechs

Kinder. Die Zweitbeschwerdeführerin ist weder verheiratet noch hat

sie Kinder (Akt W251 2147896-1 = BF 1 AS 21, 92 ff; Akt W251

2148772-1 = BF 2 AS 17, 87; Verhandlungsprotokoll vom 14.05.2018 =

VP 1, S. 8 f; Verhandlungsprotokoll vom 22.06.2018 = VP 2, S. 12).

Die Beschwerdeführer wurden in der Stadt XXXX geboren und sind dort aufgewachsen. Der Erstbeschwerdeführer hat mit seiner Familie im unteren Stock eines zweistöckigen Hauses gewohnt, darüber im Stock hat sein Bruder mit dessen Familie - darunter die Zweitbeschwerdeführerin - gewohnt (BF 1 AS 94; BF 2 AS 90; VP 1, S. 8, 10; VP 2, S. 12 f). Der Erstbeschwerdeführer hat von 1969 bis 1981, sohin 12 Jahre lang die Schule in XXXX besucht (BF 1 AS 21, 93 f; VP 1, S. 9). Die Zweitbeschwerdeführerin hat von 2009 bis 2014, sohin fünf Jahre lang die Schule in XXXX besucht sowie einen Englischkurs absolviert (BF 2 AS 17, 89 f; VP 2, S. 13, 15). Der Erstbeschwerdeführer hat gemeinsam mit seinem Bruder - dem Vater der Zweitbeschwerdeführerin - zwei Bekleidungsgeschäfte in XXXX betrieben, mit denen sie ca. 8.000 US-Dollar Gewinn pro Monat erwirtschaftet haben (BF 1 AS 93 f, VP 1, S. 9, 13 f). Der Gewinn wurde zwischen dem Erstbeschwerdeführer und seinem Bruder - dem Vater der Zweitbeschwerdeführerin - geteilt. Es kann nicht festgestellt werden, dass auch die weiteren drei Brüder des Erstbeschwerdeführers am Gewinn beteiligt gewesen sind.

Die Familie des Erstbeschwerdeführers bzw. des Vaters der Zweitbeschwerdeführerin besaß ein Grundstück im Ausmaß von ca. 4,5 Jerib in der Provinz XXXX, im Distrikt XXXX, auf dem mehrere Weinstöcke und Obstbäume stehen, das Wohnhaus des Erstbeschwerdeführers und dessen Bruder (dem Vater der Zweitbeschwerdeführerin), das Haus deren Eltern sowie ein weiteres Haus in XXXX, das sie vermietet haben (BF 1 AS 94; BF 2 AS 91). Die Beschwerdeführer lebten bis zu ihrer Ausreise aus Afghanistan ca. 2014 immer in der StadtXXXX (VP 1, S. 9; VP 2, S. 13).

Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin reisten gemeinsam unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und stellten am 05.08.2015 (Zweitbeschwerdeführerin) bzw. am 07.08.2015 (Erstbeschwerdeführer) einen Antrag auf internationalen Schutz (BF 1 AS 21 ff; BF 2 AS 17 ff).

Die Familie des Erstbeschwerdeführers (bestehend aus seiner Ehefrau und fünf seiner Kinder) leben derzeit in XXXX, in Indien. Ein Sohn des Erstbeschwerdeführers lebt in XXXX (BF 1 AS 92 f; VP 1, S. 10). Die Familie der Zweitbeschwerdeführerin (bestehend aus ihren Eltern und ihren drei Brüdern sowie zwei Schwestern) lebt gemeinsam mit der Familie des Erstbeschwerdeführers in XXXX, Indien (BF 2 AS 88; VP 2, S. 13 f). Die Familie des Erstbeschwerdeführers wird von dessen Bruder (dem Vater der Zweitbeschwerdeführerin) versorgt.

Die Mutter des Erst-, bzw. die Großmutter der Zweitbeschwerdeführerin sowie vier Schwestern des Erst-, bzw. vier Tanten väterlicherseits der Zweitbeschwerdeführerin leben nach wie vor in der Stadt XXXX. Die Schwestern des Erst-, bzw. die Tanten väterlicherseits der Zweitbeschwerdeführerin sind Hausfrauen, sechs ihrer Kinder (Nichten/Neffen des Erst-, bzw. Cousinen/Cousins der Zweitbeschwerdeführerin) sind berufstätig, wovon eine Nichte des Erst- bzw. eine Cousine der Zweitbeschwerdeführerin für das XXXX in XXXX arbeitet. Drei Brüder und eine Schwester des Erst-, bzw. drei Onkel und eine Tante väterlicherseits der Zweitbeschwerdeführerin leben in XXXX (BF 1 AS 25, 92; BF 2 AS 88; VP 1, S. 10 ff; VP 2, S. 13).

Der Erstbeschwerdeführer verfügt darüber hinaus über eine Tante väterlicherseits sowie drei Onkel und eine Tante mütterlicherseits samt deren Familien in Afghanistan (VP 1, S. 10). Die Zweitbeschwerdeführerin verfügt noch über zwei Onkel und zwei Tanten mütterlicherseits in der Stadt XXXX (VP 2, S. 14 f).

Der Erstbeschwerdeführer hat regelmäßig Kontakt zu seiner Familie und seinem Bruder in Indien sowie zu seiner Mutter und seinen Schwestern in XXXX und seinem Sohn sowie seinen Geschwistern in XXXX. Die Zweitbeschwerdeführerin hat Kontakt zu ihrer Familie in Indien sowie ihren Onkel und Tanten in XXXX und ihren Onkel und Tanten in XXXX (BF 1 AS 95; BF 2 AS 91; VP 1, S. 11; VP 2, S. 14 f).

Der Erstbeschwerdeführer und sein Bruder (der Vater der Zweitbeschwerdeführerin) verfügen nach wie vor über ein Bekleidungsgeschäft in XXXX, das derzeit von Angestellten betrieben wird. Der Bruder des Erst- bzw. der Vater der Zweitbeschwerdeführerin fährt regelmäßig nach XXXX um nach dem Geschäft zu sehen und die Einnahmen einzuheben (VP 1, S. 12 f; VP 2, S. 6, 15). Die Familie des Erst- bzw. des Vaters der Zweitbeschwerdeführerin verfügt noch über ein Eigentumshaus, nämlich das eigene Wohnhaus, in Afghanistan sowie über das Grundstück im Ausmaß von ca. 4,5 Jerib in der Provinz XXXX, im Distrikt XXXX mit Obstplantagen (VP 1, S. 12; VP 2, S. 9, 15). Der Obstgarten wird derzeit von Bauern bewirtschaftet (VP 2, S. 11). Das Vermögen des Erstbeschwerdeführers in Afghanistan hat einen Wert von ca. 2 Millionen US-Dollar (VP 2, S. 9).

Der Erstbeschwerdeführer leidet an XXXX und an einer XXXX (BF 1 AS 111-113; Arztbrief der Abteilung für Psychiatrie vom 12.03.2018; Befund eines Facharzt für Innere Medizin vom 23.04.2018; Labordaten vom 30.05.2017). Die Zweitbeschwerdeführerin leidet an einer XXXX (F 43.0) und XXXX(F 41.2) (Psychotherapeutischer Kurzbericht vom 06.08.2018). Der Erstbeschwerdeführer ist arbeitsfähig.

1.2. Zu den Fluchtgründen der Beschwerdeführer:

Das vom Beschwerdeführer ins Treffen geführte Verfolgungsvorbringen kann nicht festgestellt werden.

1.2.1 Der Sohn des Erstbeschwerdeführers und die Enkelin des Bruders der Mutter des Erstbeschwerdeführers [Anm. BVwG: die Cousine 2. Grades des Sohnes des Erstbeschwerde-führers], namens XXXX, sind aus Liebe heimlich gemeinsam von ihren Familien weggegangen. XXXX war davor gegen ihren Willen mit einem Cousin verlobt. Nachdem sie von ihren Familien weggegangen sind, haben sie sich an die Organisation "XXXX" gewandt, die sich mit dem Fall befasst haben. Mit Gerichtsurteil des Familiengerichts XXXX vom 09.04.2014 wurde die Verlobung von XXXX als annulliert erklärt. Am 21.04.2014 haben der Sohn des Erstbeschwerdeführers und XXXX vor dem Familiengericht der Stadt XXXX geheiratet.

1.2.2. Weder der Erstbeschwerdeführer noch sein Bruder (der Vater der Zweitbeschwerdeführerin) wurden vom ehemaligen Verlobten von XXXX, dessen Vater (General XXXX) oder der Familie von XXXX konkret und individuell mit der Ausübung von physischer oder psychischer Gewalt bedroht. Weder der Erstbeschwerdeführer noch sein Bruder sind aufgefordert worden diesen zwei Mädchen ihrer Familie - darunter die Zweitbeschwerdeführerin - zu übergeben. Die Zweitbeschwerdeführerin hätte nicht unter Zwang verheiratet werden sollen. Der Erstbeschwerdeführer wurde von seinem Cousin weder zu einer Polizeistation bestellt noch wurde er von seinem Cousin oder von anderen Personen mit einer Waffe bedroht.

Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sowie deren Familien haben XXXX weder aus Furcht vor Eingriffen in die körperliche Integrität noch wegen Lebensgefahr verlassen.

Im Falle der Rückkehr nach Afghanistan droht den Beschwerdeführern weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in ihre körperliche Integrität durch den ehemaligen Verlobten von XXXX, dessen Vater (General XXXX), der Familie von XXXX oder durch andere Personen.

1.2.3. Die Zweitbeschwerdeführerin ist in ihrem Herkunftsstaat allein aufgrund ihres Geschlechts keiner asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt.

Die Zweitbeschwerdeführerin stammt aus einer gebildeten, wohlhabenden und sehr offenen sowie liberalen Familie. Sie hat in Afghanistan die Schule besucht und hat sich dort leger gekleidet sowie, wie ihre Mutter und ihre Tante, ein nur locker sitzendes Kopftuch getragen. Sie führte damals in XXXX ein dem Alter entsprechendes freies Leben. Ihren weiblichen Verwandten ist es nach wie vor möglich ein selbstbestimmtes Leben in XXXX zu führen und sich frei zu bewegen, sich zu bilden sowie einer eigenständigen Arbeit nachzugehen.

Die bisherige in Afghanistan gelebte und aktuelle Lebensweise der Zweitbeschwerdeführerin verstößt aufgrund ihrer offenen und gebildeten Familie sowie der (finanziellen) Stellung ihrer Familie nicht in einer solchen Form gegen die sozialen Normen in urbanen Gebieten Afghanistans, dass sie als gegen die sozialen Sitten sowie gegen religiöse und politische Normen verstoßend und sie exponierend wahrgenommen wird.

In Afghanistan besteht Schulpflicht, ein Schulangebot ist faktisch auch vorhanden. Es besteht daher keine Gefahr einer Verfolgung, wenn der Zweitbeschwerdeführerin eine grundlegende Bildung zukommt. Der Erstbeschwerdeführer würde die Zweitbeschwerdeführerin in XXXX in die Schule schicken und ihr in XXXX ein Studium ermöglichen. Die Zweitbeschwerdeführerin kann inXXXX nach dem Studium einer Arbeit nachgehen. Die Zweitbeschwerdeführerin ist in Afghanistan nicht gezwungen sich gänzlich zu verschleiern.

Die Zweitbeschwerdeführerin kann in XXXX die Kontakte zu ihren Cousinen und Cousins aufrechterhalten und auch neue Kontakte und Freundschaften knüpfen.

Der Zweitbeschwerdeführerin droht in Afghanistan auch nicht die Gefahr zwangsverheiratet zu werden.

1.2.4. Der Zweitbeschwerdeführerin droht aufgrund ihres Alters bzw. vor dem Hintergrund der Situation der Kinder in Afghanistan weder physische noch psychische Gewalt.

1.3. Zu einer möglichen Rückkehr der Beschwerdeführer in den Herkunftsstaat:

Den Beschwerdeführern würde bei einer Rückkehr nach Afghanistan in die Stadt XXXX kein Eingriff in ihre körperliche Unversehrtheit drohen. Die Wohnraum- und Versorgungslage in XXXX ist sehr angespannt. Die Beschwerdeführer können in XXXX jedoch grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft, befriedigen, ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.

Die Beschwerdeführer verfügen in XXXX über ein soziales und familiäres Netzwerk. Der Erstbeschwerdeführer kann bei einer Rückkehr nach XXXX sein Bekleidungsgeschäft selber weiterbetreiben. Er kann auch auf die Erträge aus den Grundstücken im Distrikt XXXX, Provinz XXXX sowie das Vermögen seiner Familie in Form seines Eigentumshaus in Afghanistan zurückgreifen. Darüber hinaus können die Beschwerdeführer mit Unterstützung ihrer Verwandten in XXXX, zB. durch die Vermittlung einer Unterkunft oder die vorrübergehende Zurverfügungstellung einer Unterkunft, rechnen. Die Beschwerdeführer könne auch im eigenen Eigentumshaus in XXXX, in dem sie auch bisher mit ihren Kernfamilien gelebt haben, wohnen. Der Erstbeschwerdeführer kann selbst für sein Auskommen und Fortkommen sowie für das der Zweitbeschwerdeführerin sorgen.

Der Zweitbeschwerdeführerin ist es möglich nach einer Rückkehr in die Stadt XXXX eine Schule zu besuchen und sich an die sozialen und kulturellen Gegebenheiten in Afghanistan (wieder) anzupassen, nämlich neue Kontakte zu knüpfen, die begonnene Schulbildung fortzusetzen, zu studieren, einen Beruf zu lernen, einer eigenständigen Arbeit nachzugehen und die Sprachkenntnisse über die Muttersprache zu vertiefen. Auf Grund der finanziellen Situation der Beschwerdeführer, kann sich die Zweitbeschwerdeführerin aussuchen welche Schule und welche Universität sie besuchen möchte.

Es kann nicht festgestellt werden, dass es in der Familie der Beschwerdeführer bereits zu Vorfällen häuslicher Gewalt oder Gewalt im Familienverband gekommen wäre oder es dazu in der Zukunft kommen würde.

Es ist den Beschwerdeführern somit möglich nach anfänglichen Schwierigkeiten nach einer Rückkehr in der Stadt XXXX Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.

1.4. Zum (Privat)Leben der Beschwerdeführer in Österreich:

Die Beschwerdeführer sind seit ihrer Antragsstellung am 05.08.2015 (Zweitbeschwerde-führerin) bzw. 07.08.2015 (Erstbeschwerdeführer) aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig in Österreich aufhältig.

Der Erstbeschwerdeführer hat bereits Deutschkurse besucht (BF 1 AS 131, 145, 147) und die ÖSD Deutschprüfung für die Stufe A2 bestanden (ÖSD Zertifikat A2 vom 04.08.2017). Derzeit besucht er einen Deutschkurs B1 (VP 2, S. 8).

Der Erstbeschwerdeführer lebt von der Grundversorgung. Er arbeitet seit 04.05.2016 gemeinnützig in einem Seniorenheim (BF 1 AS 119-127; Bestätigung Beschäftigung im Seniorenheim vom 17.04.2018). In seiner Freizeit spielt er Tennis, das er bereits in XXXXgelernt hat (VP 2, S. 8). Er hat freundschaftliche Kontakte zu Österreichern knüpfen können (VP 2, S. 9).

Die Zweitbeschwerdeführerin besucht die Hauptschule als ordentliche Schülerin (Schreiben des Klassenvorstands über Leistungsstand der BF 2; vier Schreiben der Lehrer; Klassenfoto). Sie hat freundschaftliche Kontakte zu ihren Mitschülern knüpfen können, mit denen sie sich auch außerhalb der Schule trifft (VP 2, S. 15 f).

Die Beschwerdeführer verfügen über einen Neffen (Erstbeschwerdeführer) bzw. Cousin (Zweitbeschwerdeführerin) in Österreich zu dem sie in keinem Abhängigkeitsverhältnis stehen.

Die Beschwerdeführer sind in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

1.5. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Sicherheitslage

Wegen einer Serie von öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffen in städtischen Zentren, die von regierungsfeindlichen Elementen ausgeführt wurden, erklärten die Vereinten Nationen (UN) im Februar 2018 die Sicherheitslage für sehr instabil (Länderinformationsblatt für Afghanistan vom 29.06.2018 - LIB 29.06.2018, S. 20).

Für das Jahr 2017 registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) landesweit 29.824 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahresvergleich wurden von INSO 2016 landesweit 28.838 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert und für das Jahr 2015 25.288. Zu sicherheitsrelevanten Vorfällen zählt INSO Drohungen, Überfälle, direkter Beschuss, Entführungen, Vorfälle mit IEDs (Sprengfallen/ Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung - USBV) und andere Arten von Vorfällen (LIB 29.06.2018, S. 20).

Afghanistan ist nach wie vor mit einem aus dem Ausland unterstützten und widerstandsfähigen Aufstand konfrontiert. Nichtsdestotrotz haben die afghanischen Sicherheitskräfte ihre Entschlossenheit und wachsenden Fähigkeiten im Kampf gegen den von den Taliban geführten Aufstand gezeigt. So behält die afghanische Regierung auch weiterhin Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, die wichtigsten Verkehrsrouten und den Großteil der Distriktzentren. Zwar umkämpften die Taliban Distriktzentren, sie konnten aber keine Provinzhauptstädte (bis auf Farah-Stadt) bedrohen. Dies ist den intensiven Luftangriffen durch die afghanische Nationalarmee und der Luftwaffe sowie verstärkter Nachtrazzien durch afghanische Spezialeinheiten zuzuschreiben (LIB 29.06.2018, S. 24).

Im Jänner 2018 waren 56.3% der Distrikte unter der Kontrolle bzw. dem Einfluss der afghanischen Regierung, während Aufständische 14.5% der Distrikte kontrollierten bzw. unter ihrem Einfluss hatten. Die übriggebliebenen 29.2% der Distrikte waren umkämpft. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an Distrikten, die von Aufständischen kontrolliert werden, waren mit Stand Jänner 2018 Uruzgan, Kunduz und Helmand. Alle Provinzhauptstädte befanden sich unter der Kontrolle bzw. dem Einfluss der afghanischen Regierung (LIB 29.06.2018, S. 32).

Die Taliban und weitere aufständische Gruppierungen wie der Islamische Staat (IS) verübten "high-profile"-Angriffe, speziell im Bereich der Hauptstadt, mit dem Ziel, eine Medienwirksamkeit zu erlangen und damit ein Gefühl der Unsicherheit hervorzurufen und so die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben (LIB 29.06.2018, S. 25).

Die Anzahl der öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffe hatte sich von 1.6. - 20.11.2017 im Gegensatz zum Vergleichszeitraum des Vorjahres erhöht. In den ersten Monaten des Jahres 2018 wurden verstärkt Angriffe bzw. Anschläge durch die Taliban und den IS in verschiedenen Teilen Kabuls ausgeführt. Als Antwort auf die zunehmenden Angriffe wurden Luftangriffe und Sicherheits-operationen verstärkt, wodurch Aufständische in einigen Gegenden zurückgedrängt wurden; auch wurden in der Hauptstadt verstärkt Spezialoperationen durchgeführt, wie auch die Bemühungen der US-Amerikaner, Terroristen zu identifizieren und zu lokalisieren (LIB 29.06.2018, S. 25).

Landesweit haben Aufständische, inklusive der Taliban und des IS, in den Monaten vor Jänner 2018 ihre Angriffe auf afghanische Truppen und Polizisten intensiviert; auch hat die Gewalt Aufständischer gegenüber Mitarbeiter/innen von Hilfsorganisationen in den letzten Jahren zugenommen. Die Taliban verstärken ihre Operationen, um ausländische Kräfte zu vertreiben; der IS hingegen versucht, seinen relativ kleinen Einflussbereich zu erweitern. Die Hauptstadt Kabul ist in diesem Falle für beide Gruppierungen interessant (LIB 29.06.2018, S. 25).

Die Auflistung der high-profile Angriffe zeigt, dass die Anschläge in großen Städten, auch Kabul, hauptsächlich im Nahebereich von Einrichtungen mit Symbolcharakter (Moscheen, Tempel bzw. andere Anbetungsorte), auf Botschaften oder auf staatliche Einrichtungen stattfinden. Diese richten sich mehrheitlich gezielt gegen die Regierung, ausländische Regierungen und internationale Organisationen (LIB 29.06.2018, S. 26 ff, 30).

Taliban:

Die Taliban konzentrierten sich auf den Aufbau einer "Regierungsführung" der Taliban (Engl. "governance") bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der Gewalt gegen die afghanische Regierung, die ANDSF und ausländische Streitkräfte. Nichtsdestotrotz erreichten die Taliban, die Hauptziele dieser "Kampfsaison" nicht. Auch wollten sich die Taliban auf jene Gegenden konzentrieren, die vom Feind befreit worden waren. Das Scheitern der Taliban-Pläne für 2017 ist auf aggressive ANDSF-Operationen zurückgeführt, aber auch auf den Umstand, dass die Taliban den IS und die ANDSF gleichzeitig bekämpfen müssen (LIB 29.06.2018, S. 34).

Kabul

Die Provinzhauptstadt von Kabul und gleichzeitig Hauptstadt von Afghanistan ist Kabul-Stadt. Die Stadt hat 22 Stadtgemeinden und 14 administrative Einheiten. Die Bevölkerungszahl der Provinz wird auf

4.679.648 geschätzt (LIB 29.06.2018, S. 46).

In der Hauptstadt Kabul leben unterschiedliche Ethnien: Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Sikhs und Hindus. Ein Großteil der Bevölkerung gehört dem sunnitischen Glauben an, dennoch lebt eine Anzahl von Schiiten, Sikhs und Hindus nebeneinander in Kabul Stadt. Menschen aus unsicheren Provinzen, auf der Suche nach Sicherheit und Jobs, kommen nach Kabul - beispielsweise in die Region Shuhada-e Saliheen. In der Hauptstadt Kabul existieren etwa 60 anerkannte informelle Siedlungen, in denen 65.000 registrierte Rückkehrer/innen und IDPs wohnen (LIB 29.06.2018, S. 46).

Kabul ist durch einen internationalen Flughafen sicher erreichbar (LIB 29.06.2018, S. 47, 221 f).

Einst als relativ sicher erachtet, ist die Hauptstadt Kabul von öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffen der Taliban betroffen, die darauf abzielen, die Autorität der afghanischen Regierung zu untergraben. Regierungsfeindliche, bewaffnete Gruppierungen inklusive des IS versuchen in Schlüsselprovinzen und -distrikten, wie auch in der Hauptstadt Kabul, Angriffe auszuführen. Im Jahr 2017 und in den ersten Monaten des Jahres 2018 kam es zu mehreren "high-profile"-Angriffen in der Stadt Kabul; dadurch zeigte sich die Angreifbarkeit/Vulnerabilität der afghanischen und ausländischen Sicherheitskräfte (LIB 29.06.2018, S. 47).

Im Jahr 2017 war die höchste Anzahl ziviler Opfer Afghanistans in der Provinz Kabul zu verzeichnen, die hauptsächlich auf willkürliche Angriffe in der Stadt Kabul zurückzuführen waren; 16% aller zivilen Opfer in Afghanistan sind in Kabul zu verzeichnen.

Selbstmordangriffe und komplexe Attacken, aber auch andere Vorfallsarten, in denen auch IEDs verwendet wurden, erhöhten die Anzahl ziviler Opfer in Kabul. Dieser öffentlichkeitswirksame (high-profile) Angriff im Mai 2017 war alleine für ein Drittel ziviler Opfer in der Stadt Kabul im Jahr 2017 verantwortlich (LIB 29.06.2018, S. 48).

Regelmäßig werden in der Hauptstadt Sicherheitsoperationen durch die Regierung in unterschiedlichen Gebieten ausgeführt. Im Rahmen des neuen Sicherheitsplanes sollen außerdem Hausdurchsuchungen ausgeführt werden. Um die Sicherheitslage in Kabul-Stadt zu verbessern, wurden im Rahmen eines neuen Sicherheitsplanes mit dem Namen "Zarghun Belt" (der grüne Gürtel), der Mitte August 2017 bekannt gegeben wurde, mindestens 90 Kontrollpunkte in den zentralen Teilen der Stadt Kabul errichtet. Die afghanische Regierung deklarierte einen Schlüsselbereich der afghanischen Hauptstadt zur "Green Zone" - dies ist die Region, in der wichtige Regierungs-institutionen, ausländische Vertretungen und einige Betriebe verortet sind. Kabul hatte zwar niemals eine formelle "Green Zone"; dennoch hat sich das Zentrum der afghanischen Hauptstadt, gekennzeichnet von bewaffneten Kontrollpunkten und Sicherheitswänden, immer mehr in eine militärische Zone verwandelt. Die neue Strategie beinhaltet auch die Schließung der Seitenstraßen, welche die Hauptstadt Kabul mit den angrenzenden Vorstädten verbinden; des Weiteren, werden die Sicherheitskräfte ihre Präsenz, Personenkontrollen und geheimdienstlichen Aktivitäten erhöhen. Damit soll innerhalb der Sicherheitszone der Personenverkehr kontrolliert werden. Die engmaschigen Sicherheitsmaßnahmen beinhalten auch eine erhöhte Anzahl an Sicherheitskräften und eine Verbesserung der Infrastruktur rund um Schlüsselbereiche der Stadt. Auch übernimmt die ANA einige der porösen Kontrollpunkte innerhalb der Stadt und bildet spezialisierte Soldaten aus, um Wache zu stehen. Des Weiteren soll ein kreisförmiger innerer Sicherheitsmantel entstehen, der an einen äußeren Sicherheitsring nahtlos anschließt - alles dazwischen muss geräumt werden (LIB 29.06.2018, S. 49).

Sowohl die Taliban als auch der IS verüben öffentlichkeitswirksame (high-profile) Angriffe in der Stadt Kabul, auch das Haqqani-Netzwerk soll Angriffe in der Stadt Kabul verübt haben. So existieren in der Hauptstadt Kabul scheinbar eine Infrastruktur, Logistik und möglicherweise auch Personal ("terrorists to hire"), die vom Haqqani-Netzwerk oder anderen Taliban-Gruppierungen, Splittergruppen, die unter der Flagge des IS stehen, und gewaltbereiten pakistanischen sektiererischen (anti-schiitischen) Gruppierungen verwendet werden (LIB 29.06.2018, S. 49).

Zum Beispiel wurden zwischen 27.12.2017 und 29.1.2018 acht Angriffe in drei Städten ausgeführt, zu denen neben Jalalabad und Kandahar auch Kabul zählte - fünf dieser Angriffe fanden dort statt. Nichtsdestotrotz deuten die verstärkten Angriffe - noch - auf keine größere Veränderung hinsichtlich des "Modus Operandi" der Taliban an (LIB 29.06.2018, S. 49).

Rachehandlungen, Blutfehde

Gemäß althergebrachter Verhaltens- und Ehrvorstellungen töten bei einer Blutfehde die Mitglieder einer Familie als Vergeltungsakte die Mitglieder einer anderen Familie. In Afghanistan sind Blutfehden eine Tradition der Paschtunen und im paschtunischen Gewohnheitsrechtssystem Paschtunwali verwurzelt. Es kommt auch bei ethnischen Usbeken und Tadschiken vor, jedoch in einem geringeren Ausmaß als bei Paschtunen (Beilage ./IV, S. 1 f, 5).

Blutfehden können durch Morde ausgelöst werden, aber auch durch andere Taten sowie durch die Verletzung der Ehre und Streitigkeiten um Eigentum (Beilage ./IV, S. 1 ff).

Schlechte Taten (ebenso wie gute) erfordern eine reziproke Reaktion. Handelt es sich bei der schlechten Tat um einen Angriff auf die Ehre oder körperliche Integrität einer Person ist dafür Rache zu nehmen. Diese Rache habe das Ziel, das ursprüngliche Gleichgewicht zwischen Personen und Gruppen sowie die Ehre wiederherzustellen. Dieses Gleichgewicht wird auch als "badal" bezeichnet. Ein Zyklus gewaltsamer Vergeltungstaten könne in eine Blutfehde münden. Diese Fehden würden nicht deshalb "Blutfehden" genannt, weil es dabei unbedingt zu Blutvergießen kommen müsse, sondern weil sie von blutsverwandten Familiengruppen ausgeführt werden. Rachehandlungen können durch patrilineare Verwandte (d.h. Verwandte in männlicher Linie) der verletzten, getöteten oder anderweitig geschädigten bzw. entehrten Person vorgenommen werden und können sich gegen den Täter selbst oder einen von dessen patrilinealen Verwandten richten. Frauen, Mädchen und Buben sind von Blutrache ausgenommen (Beilage ./IV, S. 3 f).

Ehrverletzungen aufgrund eines gemeinsamen "Weglaufens" einer Frau und eines Mannes können eine Blutfehde auslösen, wenn der Familienverband des Mannes dem Paar Schutz biete und es zu keiner Einigung mit der Familie der Frau komme. In 95 Prozent der Fälle (Ehebruch ausgenommen) gibt es eine Möglichkeit, den Konflikt friedlich zu lösen (Beilage ./IV, S. 4).

Offener Widerstand gegen bzw. ein Bruch mit den Normen der Eheschließung, indem man den Ehepartner bzw. die Ehepartnerin ohne Zustimmung der jeweiligen Familien wähle, führe dazu, dass sich die Familien in ihrer Ehre gekränkt fühlen und können verschiedene Reaktionen hervorrufen, die sich sowohl gegen die Frau als auch den Mann richten können. Außereheliche Beziehungen stellen für alle ethnische Gruppen ein höchst sensibles Thema dar, jedoch haben Paschtunen eine restriktivere Sicht darauf. Die meisten Fälle werden von lokalen Schuras und Dschirgas beigelegt. Die beteiligten Personen würden versuchen, die Angelegenheit privat zu lösen, ohne dass Gerichte oder Vermittlungsgremien beteiligt würden. So werde der entstandene Ehrverlust lokal eingegrenzt (Beilage ./IV, S. 6).

Familien mit hoher Bildung, Familien in Großstädten, Hazara und Tadschiken sind allgemein offen dafür Lösungen zu finden, häufig auch mithilfe von Vermittlung. Auch wenn die Verhandlungen schwierig sind, würden die Parteien in der Regel zu einer Lösung kommen. Es komme selten vor, dass solche Fälle in Gewalt bzw. Mord enden. Zumeist werden Vermittlungen von traditionellen Streitschlichtungsorganen geleitet, jedoch kommt es auch vor, dass sich Familien an Gerichte wenden. Voraussetzung hierfür ist, dass die beteiligten Familien eine Verhandlungslösung etwaigen "Strafreaktionen" vorziehen. Es gibt diesbezüglich große Unterschiede zwischen den Städten und den ländlichen Gebieten (Beilage ./IV, S. 6).

Es kommt jedoch auch vor, dass sowohl die Familie der Frau als auch die des Mannes die Tötung eines Partners bzw. beider Partner in Betracht ziehen, um die Familienehre wiederherzustellen (Beilage ./IV, S. 6).

Medizinische Versorgung

Die Verfügbarkeit und Qualität der medizinischen Grundbehandlung ist durch Mangel an gut ausgebildeten Ärzten und Assistenzpersonal (v.a. Hebammen), mangelnde Verfügbarkeit von Medikamenten, schlechtes Management sowie schlechte Infrastruktur begrenzt. Sie ist in Afghanistan - insbesondere in Kabul mit 10 staatlichen Krankenhäusern - jedoch grundlegend gegeben. Das afghanische Gesundheitsministerium bietet zwei Grundversorgungsmöglichkeiten an:

das "Essential Package of Health Services" (EPHS) und das "Basic Package of Health Services" (BPHS). Beide Programme sollen standardisierte Behandlungsmöglichkeiten in gesundheitlichen Einrichtungen und Krankenhäusern garantieren. Die im BPHS vorgesehenen Gesundheitsdienstleistungen und einige medizinische Versorgungsmöglichkeiten des EPHS sind kostenfrei. Jedoch zahlen Afghanen und Afghaninnen oft aus eigener Tasche, weil sie private medizinische Versorgungsmöglichkeiten bevorzugen, oder weil die öffentlichen Gesundheitsdienstleistungen die Kosten nicht ausreichend decken. Es gibt keine staatliche Unterstützung für den Erwerb von Medikamenten, diese Kosten müssen von den Patienten getragen werden. Nur privat versicherten Patienten können die Medikamentenkosten zurückerstattet werden (LIB 29.06.2018, S. 317).

Eine begrenzte Anzahl an staatlichen Krankenhäusern in Afghanistan bietet kostenfreie medizinische Versorgung. Privatkrankenhäuser gibt es zumeist in größeren Städten wie Kabul, Jalalabad, Mazar-e Sharif, Herat und Kandahar. Die Behandlungskosten in diesen Einrichtungen variieren. Für den Zugang zur medizinischen Versorgung sind der Besitz der afghanischen Staatsbürgerschaft und die Mitnahme eines gültigen Ausweises bzw. der Tazkira erforderlich (LIB 29.06.2018, S. 319).

Psychische Erkrankungen sind in öffentlichen und privaten Klinken grundsätzlich behandelbar. So bieten landesweit alle Provinzkrankenhäuser kostenfreie psychologische Beratungen an, die in einigen Fällen sogar online zur Verfügung stehen. Mental erkrankte Personen können beim Roten Halbmond, in entsprechenden Krankenhäusern und bei anderen Nichtregierungsorganisationen behandelt werden. Zudem existieren z. B. in Mazar-e Sharif ein privates neuropsychiatrisches Krankenhaus (Alemi Hospital) und ein öffentliches psychiatrisches Krankenhaus. In Kabul existiert eine weitere psychiatrische Klinik (LIB 29.06.2018, S. 318).

Zwar gibt es traditionelle Methoden bei denen psychisch Kranke in spirituellen Schreinen unmenschlich behandelt werden. Es gibt jedoch aktuelle Bemühungen, die Akzeptanz und Kapazitäten für psychiatrische Behandlungsmöglichkeiten zu stärken und auch Aufklärung zu betreiben. Die gesellschaftliche Stigmatisierung psychisch Erkrankter konnte bereits reduziert werden (LIB 29.06.2018, S. 318).

Frauen

Die konkrete Situation von Frauen in Afghanistan ist erheblich von Faktoren wie Herkunft, Familie, Bildungsstand, finanzieller Situation und Religiosität abhängig. Obwohl sich die Lage afghanischer Frauen in den letzten Jahren erheblich verbessert hat, kämpfen viele weiterhin mit Diskriminierung auf einer Vielzahl von Ebenen, wie rechtlich, beruflich, politisch und sozial. Gewalt gegen Frauen bleibt weiterhin ein ernsthaftes Problem. Frauen im Berufsleben und in der Öffentlichkeit müssen oft gegen Belästigung und Schikane kämpfen und sehen sich oft Drohungen ausgesetzt (Beilage ./V, S. 10).

Frauenkleidung umfasst in Afghanistan ein breit gefächertes Spektrum, von moderner westlicher Kleidung, über farbenreiche volkstümliche Trachten, bis hin zur Burka und Vollverschleierung - diese unterscheiden sich je nach Bevölkerungsgruppe. Während Frauen in urbanen Zentren wie Kabul, Mazar-e Sharif und Herat häufig den sogenannten "Manteau shalwar" tragen, d.h. Hosen und Mantel mit verschiedenen Arten der Kopfbedeckung, bleiben konservativere Arten der Verschleierung, wie der Chador und die Burka (in Afghanistan Chadri genannt) weiterhin, auch in urbanen Gebieten, vertreten (Beilage ./V, S. 2).

Das Recht auf Bildung wurde den Frauen nach dem Fall der Taliban im Jahr 2001 eingeräumt. Laut Verfassung haben alle afghanischen Staatsbürger/innen das Recht auf Bildung. Öffentliche Kindergärten und Schulen sind bis zur Hochschulebene kostenlos. Private Bildungseinrichtungen und Universitäten sind kostenpflichtig (LIB 29.06.2018, S. 283). Im Mai 2016 eröffnete in Kabul die erste Privatuniversität für Frauen im Moraa Educational Complex, mit dazugehörendem Kindergarten und Schule für Kinder der Studentinnen. Die Universität bietet unter anderem Lehrveranstaltungen für Medizin, Geburtshilfe etc. an. Sowohl Männer als auch Frauen schließen Hochschulstudien ab - derzeit sind etwa 300.000 Student/innen an afghanischen Hochschulen eingeschrieben - darunter 100.000 Frauen (LIB 29.06.2018, S. 284).

Frauen in urbanen Zentren wie Kabul, Herat und Mazar-e Sharif sind in einer Vielzahl von beruflichen Feldern aktiv. Frauen arbeiten sowohl im öffentlichen Dienst, als auch in der Privatwirtschaft. Sie arbeiten im Gesundheitsbereich, in der Bildung, den Medien, als Polizistinnen und Beamtinnen, usw. Sie sind jedoch mannigfaltigen Schwierigkeiten im Berufsleben ausgesetzt, die von Diskriminierung in der Einstellung und im Gehalt, über Schikane und Drohungen bis zur sexuellen Belästigung reichen. Frauen der Mittel- und Unterschicht kämpfen mit erschwertem Zugang zum Arbeitsmarkt und Lohnungleichheit. Dazu müssen Frauen unverhältnismäßig oft unbezahlte Arbeit leisten. Trotzdem finden sich viele Beispiele erfolgreicher junger Frauen in den verschiedensten Berufen (Beilage ./V, S. 22).

Die Einstellung gegenüber der Berufstätigkeit von Frauen hat sich in Afghanistan in den letzten Jahren geändert; dies hängt auch mit den NGOs und den privaten Firmen zusammen, die in Afghanistan aktiv sind. Die städtische Bevölkerung hat kaum ein Problem mit der Berufstätigkeit ihrer Ehefrauen oder Töchter. In den meisten ländlichen Gemeinschaften sind konservative Einstellungen nach wie vor präsent, weshalb viele Frauen im ländlichen Afghanistan, aus Furcht vor sozialer Ächtung, keiner Arbeit außerhalb des Hauses nachgehen (LIB 29.06.2018, S. 285 f).

Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt ist weit verbreitet. Gewalttaten gegen Frauen und Mädchen finden zu über 90% innerhalb der Familienstrukturen statt. Die Gewalttaten reichen von Körperverletzung und Misshandlung über Zwangsehen bis hin zu Vergewaltigung und Mord. Zu geschlechtsspezifischer und sexueller Gewalt zählen außerdem noch die Praxis der badal-Hochzeiten (Frauen und Mädchen, die im Rahmen von Heiratsabmachungen zwischen Familien getauscht werden) bzw. des ba'ad (Mädchen, die zur Konfliktlösung abgegeben werden) (LIB 29.06.2018, S. 290).

Was die Möglichkeiten der Freizeitgestaltung für Frauen in afghanischen Städten betrifft, so gibt es auch hier, eine Vielzahl von Beispielen: So existiert etwa ein "Familienkino", das in Kabul zu bestimmten Tageszeiten Vorstellungen ausschließlich für Frauen anbietet. Es gibt auch einen sogenannten "Frauen-Garten" in Kabul - ein öffentlicher Park für Frauen mit verschiedenen Unterhaltungs-, Bildungs- und Sportmöglichkeiten. Der Garten, der sich über 13 Hektar Land streckt und vom Frauenministerium verwaltet wird, erlebt täglich einen großen Ansturm, vor allem am Wochenende. Er wurde nach der Taliban-Herrschaft durch finanzielle Unterstützung des US Entwicklungsministeriums und mit Hilfe von mehr als 600 afghanischen Arbeiterinnen und Arbeitern (großteils Frauen aus armen Verhältnissen) wiederaufgebaut. Neben den Gartenanlagen zählt auch ein Fitnesscenter, Buchgeschäft und Internetlokal zu den Einrichtungen des Gartens. Frauen können dort Computer benutzen und kostenfrei Sprachkurse belegen. Außerdem wird der Garten 24 Stunden am Tag von einem Sicherheitsteam bewacht (Beilage ./V, S. 29 ff).

Kinder

Die Situation der Kinder hat sich in den vergangenen Jahren verbessert. So werden mittlerweile rund zwei Drittel aller Kinder eingeschult. Während Mädchen unter der Taliban-Herrschaft fast vollständig vom Bildungssystem ausgeschlossen waren, machen sie von den heute ca. acht Millionen Schulkindern rund drei Millionen aus. Der Anteil der Mädchen nimmt jedoch mit fortschreitender Klassen- und Bildungsstufe ab. Den geringsten Anteil findet man im Süden und Südwesten des Landes (Helmand, Uruzgan, Zabul und Paktika). Landesweit gehen in den meisten Regionen Mädchen und Buben in der Volksschule in gemischten Klassen zur Schule; erst in der Mittel- und Oberstufe werden sie getrennt (LIB 29.06.2018, S. 296).

Der Schulbesuch ist in Afghanistan bis zur Unterstufe der Sekundarbildung Pflicht (die Grundschule dauert sechs Jahre und die Unterstufe der Sekundarbildung drei Jahre). Das Gesetz sieht kostenlose Schulbildung bis zum Hochschulniveau vor (LIB 29.06.2018, S. 296).

Aufgrund von Unsicherheit, konservativen Einstellungen und Armut haben Millionen schulpflichtiger Kinder keinen Zugang zu Bildung - insbesondere in den südlichen und südwestlichen Provinzen. Manchmal fehlen auch Schulen in der Nähe des Wohnortes. Jedoch wird durch UNICEF in Dorfgemeinschaften, die mehr als drei Kilometer von einer ordentlichen Schule entfernt sind eine Dorfschule mit lediglich einer Klasse errichtet um auch diesen Kindern Zugang zu Bildung zu ermöglichen. In von den Taliban kontrollierten Gegenden sind gewalttätige Übergriffe auf Schulkinder, insbesondere Mädchen, ein weiterer Hinderungsgrund beim Schulbesuch. Taliban und andere Extremisten bedrohen und greifen Lehrer/innen sowie Schüler/innen an und setzen Schulen in Brand (LIB 29.06.2018, S. 296 f).

Wirtschaft:

Angesichts des langsamen Wachstums, sicherheitsbedingter Versorgungsunterbrechungen und schwacher landwirtschaftlicher Leistungen, nimmt die Armut weiterhin zu (LIB 29.06.2018, S. 311).

Für ca. ein Drittel der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (inklusive Tiernutzung) die Haupteinnahmequelle. Die Arbeitslosigkeit betrifft hauptsächlich gering qualifizierte bildungsferne Personen; diese sind auch am meisten armutsgefährdet. Es müssten jährlich geschätzte 400.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden, um Neueinsteiger in den Arbeitsmarkt integrieren zu können. Mehr als ein Drittel der männlichen Bevölkerung (34,3%) Afghanistans und mehr als die Hälfte der weiblichen Bevölkerung (51,1%) sind nicht in der Lage, eine passende Stelle zu finden (LIB 29.06.2018, S. 312).

Rückkehrer:

Im Jahr 2017 kehrten sowohl freiwillig, als auch zwangsweise insgesamt 98.191 Personen aus Pakistan und 462.361 Personen aus Iran zurück. Bis Juli 2017 kehrten aus Europa und der Türkei 41.803 Personen nach Afghanistan zurück (LIB 29.06.2018, S. 324 f).

Auch wenn scheinbar kein koordinierter Mechanismus existiert, der garantiert, dass alle Rückkehrer/innen die Unterstützung erhalten, die sie benötigen, und dass eine umfassende Überprüfung stattfindet, können Personen, die freiwillig oder zwangsweise nach Afghanistan zurückgekehrt sind, dennoch verschiedene Unterstützungsformen in Anspruch nehmen. Eine Reihe unterschiedlicher Organisationen ist für Rückkehrer/innen und Binnenvertriebene (IDP) in Afghanistan zuständig. Außerdem erhalten Rückkehrer/innen Unterstützung von der afghanischen Regierung, den Ländern, aus denen sie zurückkehren, und internationalen Organisationen (z.B. IOM) sowie lokalen Nichtregierungsorganisationen (NGO) (z. B. IPSO und AMASO). Nichtsdestotrotz scheint das Sozialkapital die wichtigste Ressource zu sein, die Rückkehrer/innen zur Verfügung steht, da keine dezidiert staatlichen Unterbringungen für Rückkehrer existieren und familiäre Unterbringungsmöglichkeiten für Rückkehrer/innen daher als die zuverlässigste und sicherste Möglichkeit erachtet werden. So kehrt der Großteil der (freiwilligen bzw. zwangsweisen) Rückkehrer/innen direkt zu ihren Familien oder in ihre Gemeinschaften zurück. Für jene, die diese Möglichkeit nicht haben sollten, stellen die Regierung und IOM eine temporäre Unterkunft zur Verfügung, wo Rückkehrer/innen für maximal zwei Wochen untergebracht werden können (LIB 29.06.2018, S. 326 f).

IOM, IRARA, ACE und AKAH bieten Unterstützung und nachhaltige Begleitung bei der Reintegration einschließlich Unterstützung bei der Suche nach einer Beschäftigung oder Schulungen an. NRC bietet Rückkehrer/innen aus Pakistan, Iran und anderen Ländern Unterkunft sowie Haushaltsgegenstände und Informationen zur Sicherheit an und hilft bei Grundstücksstreitigkeiten. Das Internationale Komitee des Roten Kreuzes (ICRC) unterstützt Rückkehrer/innen dabei, ihre Familien zu finden (LIB 29.06.2018, S. 327 f).

Psychologische Unterstützung von Rückkehrer/innen wird über die Organisation IPSO betrieben - alle Leistungen sind kostenfrei. Diejenigen, die es benötigen und in abgelegene Provinzen zurückkehren, erhalten bis zu fünf Skype-Sitzungen von IPSO. Für psychologische Unterstützung könnte auch ein Krankenhaus aufgesucht werden; möglicherweise mangelt es diesen aber an Kapazitäten (LIB 29.06.2018, S. 328).

Die Großfamilie ist die zentrale soziale Institution in Afghanistan und bildet das wichtigste soziale Sicherheitsnetz der Afghanen. Alle Familienmitglieder sind Teil des familiären Netzes. Die Großfamilie trägt zu Schutz, Betreuung und Versorgung ihrer Mitglieder bei. Sie bildet auch eine wirtschaftliche Einheit; die Männer der Familie sind verpflichtet, die Mitglieder der Großfamilie zu unterstützen und die Familie in der Öffentlichkeit zu repräsentieren. Auslandsafghanen pflegen zumeist enge Kontakte mit ihren Verwandten in Afghanistan. Nur sehr wenige Afghanen in Europa verlieren den Kontakt zu ihrer Familie. Die Qualität des Kontakts mit der Familie hängt möglicherweise auch davon ab, wie lange die betreffende Person im Ausland war bzw. wie lange sie tatsächlich in Afghanistan lebte, bevor sie nach Europa migrierte. Der Faktor geographische Nähe verliert durch technologische Entwicklungen sogar an Wichtigkeit. Der Besitz von Mobiltelefonen ist mittlerweile "universell" geworden und digitale Kommunikation wird eine zunehmende Selbstverständlichkeit, vor allem in den Städten. Ein fehlendes familiäres Netzwerk stellt eine Herausforderung für die Reintegration von Migrant/innen in Afghanistan dar. Dennoch haben alleinstehende afghanische Männer, egal ob sie sich kürzer oder länger außerhalb der Landesgrenzen aufhielten, sehr wahrscheinlich eine Familie in Afghanistan, zu der sie zurückkehren können. Eine Ausnahme stellen möglicherweise jene Fälle dar, deren familiäre Netze in den Nachbarstaaten Iran oder Pakistan liegen (LIB 29.06.2018, S. 329 f).

Familien in Afghanistan halten in der Regel Kontakt zu ihrem nach Europa ausgewanderten Familienmitglied und wissen genau Bescheid, wo sich dieses aufhält und wie es ihm in Europa ergeht. Dieser Faktor wird in Asylinterviews meist heruntergespielt und viele Migranten, vor allem Minderjährige, sind instruiert zu behaupten, sie hätten keine lebenden Verwandten mehr oder jeglichen Kontakt zu diesen verloren (LIB 29.06.2018, S. 330).

Ein Netzwerk ist für das Überleben in Afghanistan wichtig. So sind einige Rückkehrer/innen auf soziale Netzwerke angewiesen, wenn es ihnen nicht möglich ist, auf das familiäre Netz zurückzugreifen. Die Rolle sozialer Netzwerke - der Familie, der Freunde und der Bekannten - ist für junge Rückkehrer/innen besonders ausschlaggebend, um sich an das Leben in Afghanistan anzupassen. Sollten diese Netzwerke im Einzelfall schwach ausgeprägt sein, kann die Unterstützung verschiedener Organisationen und Institutionen in Afghanistan in Anspruch genommen werden (LIB 29.06.2018, S. 330).

Es kann nicht festgestellt werden, dass Rückkehrer, alleine aufgrund dieses Merkmals, in Afghanistan psychischer oder physischer Gewalt ausgesetzt sind.

2. Beweiswürdigung:

Beweis wurde erhoben durch Einsicht in die Verwaltungs- und Gerichtsakten der Beschwerdeführer, durch Einvernahme der Beschwerdeführer sowie der Zeugin XXXX in der mündlichen Verhandlung und durch Einsichtnahme in die zum Akt genommenen Urkunden Beilage ./I bis ./V (Konvolut Auszüge ZMR, GVS, Strafregister, Schengener Informationssystem - Beilage ./I; Länderinformationsblatt der Staaten-dokumentation über Afghanistan vom 02.03.2017 mit Aktualisierung vom 22.06.2017 - Beilage ./II; Gutachten Mag. Mahringer vom 05.03.2017 - Beilage ./III; Anfragebeantwortung ACCORD betreffend Rachehandlungen, Blutrache vom 23.02.2017 - Beilage ./IV; Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Afghanistan betreffend Frauen in urbanen Zentren vom 18.09.2017 - Beilage ./V) und Beilage ./A bis ./C (Schreiben des Klassenvorstands über Leistungsstand der BF 2- Beilage ./A; Englisch Diplom 2018 betreffend BF 2- Beilage ./B; Bestätigung Behandlungstermin betreffend BF 2- Beilage ./C) und in das mit Parteiengehör vom 03.07.2018 übermittelte Länderinformationsblatt der Staaten-dokumentation über Afghanistan vom 29.06.2018 sowie in die Schriftsätze und die darin vorgelegten Urkunden vom 29.09.2017 (ÖSD Zertifikat A2 betreffend BF 1 vom 04.08.2017), vom 07.05.2018 (Gutachten zur Einhaltung der Regeln guter wissenschaftlicher Praxis von Doz. Dr. Stefan Weber vom 08.02.2018 samt Anlage; Gutachten von Friederike Stahlmann vom 28.03.2018; Konvolut von Fotos der Beschwerdeführer in Österreich; betreffend BF 1: Bestätigung Beschäftigung im Seniorenheim vom 17.04.2018; Arztbrief der Abteilung für Psychiatrie vom 12.03.2018; Befund eines Facharzt für Innere Medizin vom 23.04.2018; Labordaten vom 30.05.2017; betreffend BF 2: vier Schreiben der Lehrer; Klassenfoto; Englisch Diplom 2017), vom 25.05.2018, vom 20.06.2018, vom 18.07.2018, vom 02.08.2018 (3 Bestätigungen über psychotherapeutischen Behandlungstermine der BF 2 sowie deren Terminkarte) und vom 17.08.2018 (Bericht des Radio Free Europe/Radio Libery über die Einnahme einer Armeebasis im Norden Afghanistans vom 14.08.2018; Artikel des Standards betreffend einen Anschlag auf eine Moschee in Afghanistan vom 03.08.2018; Psychotherapeutischer Kurzbericht betreffend BF 2 vom 06.08.2018).

2.1. Zu den Feststellungen zur Person der Beschwerdeführer:

2.1.1. Bei der Beurteilung des Vorbringens der Zweitbeschwerdeführerin findet in die Beweiswürdigung Eingang, dass es sich bei der Zweitbeschwerdeführerin um eine Minderjährige handelt und das behauptete fluchtauslösende Ereignis in der Jugend zurückliegen würde, sodass die Dichte des Vorbringens der Zweitbeschwerdeführerin nicht mit "normalen" Maßstäben gemessen werden kann (vgl. VwGH 24.09.2014, 2014/19/0020). Die Zweitbeschwerdeführerin war bei der Erstbefragung ca. 13 Jahre und bei der Einvernahme beim Bundesamt ca. 14 Jahre alt, bei beiden Beschwerdeverhandlungsterminen vor dem Bundesverwaltungsgericht war die Zweitbeschwerdeführerin 16 Jahre alt. Das erkennende Gericht nimmt deshalb darauf Bedacht, dass die Erzählung der Fluchtgeschichte aus der Perspektive einer Minderjährigen erfolgte.

Die einzelnen Feststellungen beruhen auf den jeweils in der Klammer angeführten Beweismitteln.

Die Feststellungen zur Identität der Beschwerdeführer ergeben sich aus ihren dahingehend übereinstimmenden Angaben vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes, vor dem Bundesamt, in der Beschwerde und vor dem Bundesverwaltungsgericht. Die getroffenen Feststellungen zum Namen und zum Geburtsdatum der Beschwerdeführer gelten ausschließlich zur Identifizierung der Person der Beschwerdeführer im Asylverfahren.

Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit der Beschwerdeführer, ihrer Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, ihrer Muttersprache und ihrem Lebenslauf (ihr Aufwachsen sowie ihre familiäre und wirtschaftliche Situation in Afghanistan, die Schulausbildung der Beschwerdeführer und die Berufserfahrung des Erstbeschwerdeführers) sowie ihre Familienverhältnis gründen sich auf den diesbezüglich schlüssigen und im Wesentlichen übereinstimmenden Aussagen der Beschwerdeführer, weshalb das Bundesverwaltungs-gericht keine Veranlassung hat, an diesen zu zweifeln.

Die Feststellungen zur Einreise sowie das Datum der Antragstellung ergeben sich aus den Akteninhalten.

2.1.2. Die Feststellungen zum Betreiben eines Bekleidungsgeschäftes des Erstbeschwerde-führers gemeinsam mit seinem Brude

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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