TE Bvwg Erkenntnis 2018/10/11 W226 2195569-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 11.10.2018
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Entscheidungsdatum

11.10.2018

Norm

AsylG 2005 §10 Abs3
AsylG 2005 §2 Abs1 Z13
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §18 Abs1 Z4
BFA-VG §9
B-VG Art.133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs2 Z6

Spruch

W226 2195569-1/13E

W226 2195565-1/12E

W226 2195564-1/9E

W226 2195562-1/9E

W226 2195567-1/9E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. WINDHAGER als Einzelrichter über die Beschwerden von 1.) XXXX , geb. XXXX ,

2.)

XXXX geb. XXXX , 3.) XXXX , geb. XXXX , 4.) XXXX , geb. XXXX und

5.)

XXXX , geb. XXXX , alle StA. Russische Föderation, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 04.04.2018,

                 1.)      Zl. 1028767203-14883195, 2.) Zl. 1028767301-14883204, 3.) Zl. 1028767508-14884324, 4.) Zl. 1028767410-14884332 und 5. 1085588404-151258149, zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerden werden mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass gegen XXXX gemäß § 53 Abs 1 iVm Abs 2 Z 6 iVm Abs 3 Z 1 FPG, BGBl I Nr. 100/2005 (FPG) ein auf die Dauer von 3 Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen wird.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

Der Erstbeschwerdeführer (BF1) und die Zweitbeschwerdeführerin (BF2) sind verheiratet und Eltern sowie gesetzliche Vertreter der minderjährigen BF3 bis BF5. Die beschwerdeführenden Parteien sind Staatsangehörige der Russischen Föderation, sie gehören der darginischen Volksgruppe und dem moslemischen Glauben an. Die beschwerdeführenden Parteien 1-4 gelangten auf illegalem Weg in das Bundesgebiet und stellten am 14.08.2014 die diesem Verfahren zugrundeliegenden Anträge auf Gewährung internationalen Schutzes, zu welchen der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt wurden. BF5 wurde erst am XXXX im Bundesgebiet geboren.

BF1 schilderte, mit der BF2 seit dem Jahre XXXX traditionell verheiratet zu sein, im Jahr XXXX hätten sie auch standesamtlich geheiratet. Die BF3 sei in der Entwicklung zurückgeblieben, sie könne nicht selbstständig gehen und auch nicht wirklich sehen. Der Fluchtweg wurde von BF1 dahingehend geschildert, dass die beiden Ehegatten mit den beiden älteren Kindern mit einem PKW von der Heimatstadt XXXX nach XXXX gefahren seien, von dort seien sie versteckt in einem LKW auf einer Ladefläche bis ins Bundesgebiet gelangt.

Der Fluchtgrund wurde von BF1 dahingehend geschildert, dass er in XXXX eine leerstehende Wohnung gehabt habe, welche er einem Freund zur Verfügung gestellt habe. Dieser Freund sei Mitglied einer kriminellen Gruppierung gewesen, wovon BF1 aber nichts gewusst habe. Er sei dann als Komplize von der Zivilpolizei in XXXX am XXXX angehalten und zwei Tage lang gefoltert worden. Es seien ihm auch Stromschläge verabreicht worden, damit er gestehe, er sei dann hinausgeworfen worden und ein vorbeikommendes Fahrzeug habe ihn aufgenommen und ihn in das Spital gebracht, wo er sich dann längere Zeit aufgehalten habe. Ab Juni 2014 habe er nicht mehr zuhause genächtigt, am XXXX sei eine Hausdurchsuchung bei ihnen durchgeführt worden. Dabei sei der BF2 der Inlandspass abgenommen worden, danach habe es noch zwei weitere Hausdurchsuchungen gegeben, aber er sei nicht mehr zuhause gewesen. Aus all diesen Gründen habe er bereits im April den Entschluss zur Flucht gefasst, diese habe jedoch, weil das nötige Geld gefehlt habe, erst im August 2014 stattfinden können.

Die BF2 schilderte im Wesentlichen gleichlautend eine Reisebewegung versteckt auf einem LKW von XXXX bis Österreich, sie habe niemals einen Auslandspass besessen, der Inlandspass sei von maskierten Männern in XXXX abgenommen worden. Der Fluchtgrund wurde von der BF2 dahingehend geschildert, dass der BF1 in ihrer Abwesenheit von Männern mitgenommen und gefoltert worden sei. Danach sei BF1 im Spital gewesen. Am XXXX seien maskierte Männer in Uniform in das Haus gekommen und hätten das ganze Haus durchsucht. Nach diesem Vorfall sei sie zu ihren Eltern gefahren, am XXXX seien erneut vier oder fünf unbekannte Männer gekommen, diese hätten den Bruder geschlagen und bedroht, das sie den Bruder mit dem Ehegatten, dem BF1 verwechselt hätten.

In weiterer Folge wurde der BF1 durch das XXXX mit Urteil vom XXXX , Zl. XXXX wegen des Vergehens des Diebstahls nach §127 StGB, des Vergehens des Widerstands gegen die Staatsgewalt nach § 269 Abs. 1 StGB und des Vergehens der schweren Körperverletzung nach §§ 83, 84 Abs. 2 Z 4 StGB zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten bedingt verurteilt.

Am 27.12.2017 erfolgte endlich die niederschriftliche Einvernahme von BF1 und BF2 zu den Fluchtgründen. BF1 legte in diesem Zusammenhang diverse Unterlagen betreffend die gesundheitliche Verfassung der BF3 vor, verwies weiters darauf, dass er einen Deutschkurs (Anfängerkurs) besuche.

Nach allgemeinen Fragen zur familiären Situation schilderte der BF, dass er in einer namentlich genannten Bäckerei gearbeitet habe, nach Konkurs der Bäckerei habe er sich eine neue Arbeit suchen müssen und habe dann am Markt in XXXX als Sicherheitsmann gearbeitet. Er habe dort an diesem Markt sieben Tage in der Woche gearbeitet, er habe sich auch um die Sicherheit gekümmert. Diese Arbeit habe er "bis zur Ausreise ausgeführt." Am Vormittag habe er in einer Großbäckerei Brot ausgeliefert und am Nachmittag habe er als Mitarbeiter am Markt Nummer zwei in Machatschkala gearbeitet. Auf die Frage, ob er entlassen worden sei, ob er gekündigt habe bzw. ob er selbst gekündigt worden sei, führte der BF1 aus: "Ich bin einfach am XXXX nicht mehr zur Arbeit erschienen." Auf die Frage, wo er die letzte Nacht vor der Ausreise aufhältig gewesen sei, schilderte der BF seine Wohnadresse in der dagestanischen Hauptstadt XXXX .

Der Fluchtgrund wurde vom BF1 - verkürzt wiedergegeben - dahingehend geschildert, dass er glaublich im Jahr 2009 von einer Großmutter väterlicherseits eine Wohnung geerbt habe. Diese habe er dann vermietet, nämlich über eine Agentur, welche die Formalitäten für ihn erledigt habe. Die Wohnung sei zuletzt an ein Ehepaar vermietet gewesen, wovon er nur den Vornamen XXXX und XXXX nennen konnte, danach hätte ein Freund von ihm, ebenfalls mit Namen XXXX in dieser Wohnung gelebt. Seit April 2014 stehe aber die Wohnung leer, denn sein Freund XXXX sei am XXXX in dieser Wohnung getötet worden. Der Fluchtgrund wurde nunmehr dahingehend geschildert, dass dieser Shamil aus nicht näher bekannten Gründen getötet worden sei, am folgenden Tag sei der BF1 von zuhause abgeholt worden und habe sich dann bis XXXX bei der Polizei befunden. Nach diesen zwei Tagen sei er entlassen worden und er habe sich dann am XXXX ins Krankenhaus begeben, wo er sich bis XXXX aufgehalten habe.

Die folgende Zeit wurde vom BF1 vorerst dahingehend geschildert, dass er nach Entlassung aus dem Krankenhaus, also nach dem XXXX , sich noch einen Monat zuhause aufgehalten habe, er habe noch einen Monat nicht gearbeitet und habe sich erholen wollen. Auf Vorhalt, dass er eingangs angegeben habe, bis zur Ausreise als Wachmann und als Fahrer in einer Bäckerei gearbeitet zu haben vermeinte der BF nunmehr, dass er sich ab dem XXXX bei namentlich genannten Bekannten aufgehalten habe, dies bis zur Ausreise.

In Weiterer Folge schilderte der BF im Zuge der Befragung durch die belangte Behörde, dass er nach der Entlassung aus dem Krankenhaus bis XXXX in seinem Haus gelebt habe, dann sei er zu seinen namentlich genannten Bekannten gezogen.

Nachdem der BF schilderte, dass am XXXX eine Hausdurchsuchung bei ihm zuhause stattgefunden habe, wurde ihm vorgehalten, dass er sich dann noch zuhause hätte aufhalten müssen, da er ja erst am XXXX zu dem namentlich genannten Freund gezogen sei. Darauf schilderte der BF1, dass er sich bis XXXX in seinem Haus aufgehalten habe, an diesem Tag sei er zu seinem Freund übersiedelt. Dort sei nichts mehr geschehen, die Behörden hätten seinen Aufenthalt nicht gewusst.

Auf die Frage, ob nach dem XXXX noch weitere Einvernahmen stattfanden, führte der BF aus: "Nein, denn ich wusste nichts über die Machenschaften meines Mieters- zudem war ich im Krankenhaus."

Aufgrund der Tatsache, dass er einem Freund die Wohnung überlassen habe, sei er der Komplizenschaft verdächtigt worden, aber er habe für alle Straftaten seines Freundes ein Alibi. Er sei auf einem namentlich genannten Wachzimmer in der Stadt XXXX einvernommen worden.

Die BF2 wurde am selben Tag ebenfalls durch die belangte Behörde zu den Fluchtgründen einvernommen. BF2 legte eine Fülle von Dokumenten, betreffend die medizinische Behandlung der BF3 im Bundesgebiet vor, verwies auf sonstige integrative Aspekte. Einen Auslandspass habe sie nie besessen.

Nachdem die BF2 geschildert hatte, dass der BF1 nur bis zum XXXX als Auslieferungsfahrer für eine namentlich genannte Bäckerei gearbeitet habe, wurde ihr vorgehalten, dass BF1 auch geschildert hatte, als Sicherheitsmann am Markt in XXXX gearbeitet zu haben. Die Antwort lautete, dass BF1 nie eine derartige Arbeit ausgeführt habe, da müsse die Behörde den Mann missverstanden haben. BF2 schilderte nunmehr, dass sich BF1 seit dem XXXX nicht mehr zuhause aufgehalten habe, er habe nie gesagt, wo er sei. Bis zum XXXX sei der BF1 bei ihr zuhause gewesen. BF1 sei am XXXX verschwunden und habe bis heute nicht erzählt, wo er sich ab dem XXXX aufgehalten habe. Am XXXX sei etwas passiert, aber BF1 habe es ihr nicht mitgeteilt.

Mit dem Namen des angeblichen Mieters konfrontiert vermeinte die BF2, dass dieser Name ihr gar nichts sage, diesen Namen habe sie noch nie in ihrem Leben gehört. Unter Vorhalt, dass der BF1 geschildert habe, dass er am XXXX von der Polizei zuhause abgeholt worden sei, vermeinte die BF2, dass BF1 am XXXX ganz normal in die Arbeit gegangen sei und nicht mehr zurückgekehrt sei. Sie selbst sei dann noch bis XXXX zuhause aufhältig gewesen, wobei sie diese Aussage dahin korrigierte, dass sie nur bis XXXX zuhause gewesen sei, dann sei sie zu ihren Eltern gezogen. Die Hausdurchsuchungen hätten am XXXX . und XXXX in ihrem Haus stattgefunden. Mit den Angaben des BF1 konfrontiert vermeinte BF2, dass dieser nicht bis Ende Juni 2014 zuhause gelebt habe, er habe die gemeinsame Wohnadresse um den XXXX verlassen.

Die belangte Behörde beauftragte in weiterer Folge durch einen Sachverständigen eine Recherche im Herkunftsstaat der BF, wobei laut Akteninhalt der Sachverständige ein konzessioniertes Detektivbüro mit Zentrale in Moldavien beauftragte. Das Ergebnis dieser Recherche war, dass die vom BF1 vorgelegte Bestätigung eines Krankenhauses in seiner Heimatstadt XXXX echt sei, BF1 sei in das Anmeldejournal des Krankenhauses eingetragen. Weder nach BF1 noch nach BF2 werde jedoch auf dem Territorium der Russischen Föderation strafrechtlich gesucht, beide seien noch unbescholten.

Am 27.03.2017 wurde BF1 dieses Ermittlungsergebnis durch die belangte Behörde im Rahmen einer Niederschrift zur Kenntnis gebracht. BF1 verwies im Zuge der Einvernahme darauf, dass nach seiner Person nicht offiziell gefahndet werde. Es werde zwar nach ihm gesucht, aber die Behörden der Russischen Föderation würden nicht nach ihm suchen. Er habe zum Beweis der Identität nur den internationalen Führerschein. Der letzte Arbeitstag in der Russischen Föderation sei der XXXX gewesen und nicht der XXXX . Am XXXX sei er einfach nicht mehr zur Arbeit erschienen. Am XXXX sei er zu seinen Bekannten gefahren und dort sei er bis zur Ausreise, bis zum XXXX geblieben.

2. Mit den nunmehr angefochtenen, im Familienverfahren ergangenen, Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl jeweils vom 04.04.2018 (bei BF1 und BF2 aufgrund eines offensichtlichen Tippfehlers 04.04.2017) wurden die Anträge auf internationalen Schutz der beschwerdeführenden Parteien in Spruchpunkt I. jeweils gemäß § 3 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 Asylgesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (AsylG) idgF, hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten abgewiesen. Gemäß § 8 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 AsylG wurden die Anträge auf internationalen Schutz in Spruchpunkt II. jeweils hinsichtlich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf ihren Herkunftsstaat Russische Föderation abgewiesen.

Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde den beschwerdeführenden Parteien gemäß § 57 AsylG nicht erteilt. Gemäß § 10 Absatz 1 Ziffer 3 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 87/2012 (BFA-VG) idgF, wurde gegen die beschwerdeführenden Parteien jeweils eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Absatz 2 Ziffer 2 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (FPG) idgF, erlassen und unter einem gemäß § 52 Absatz 9 FPG festgestellt, dass deren Abschiebung gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig ist (Spruchpunkte III.).

Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 Z 6 FPG wurde gegen den BF1 zudem ein auf die Dauer von 3 Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt IV.) und einer Beschwerde gemäß § 18 Abs. 1 Z 4 BFA-VG jeweils die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt V.).

Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl stellte die Identität und Staatsangehörigkeit der beschwerdeführenden Parteien fest und traf umfangreiche Feststellungen zur Lage in deren Herkunftsstaat.

Die beiden erwachsenen Beschwerdeführer seien widerrechtlich und schlepperunterstützt nach Österreich eingereist.

Die belangte Behörde verwies im Verfahren des BF1 auf dessen strafrechtliche Verurteilung im Bundesgebiet. Die belangte Behörde führte zum individuellen Vorbringen vom BF1 und BF2 aus, dass dieses Vorbringen - aus näher dargestellten Gründen - nicht glaubhaft sei. Es sei für die belangte Behörde nicht nachvollziehbar, da die Behörden der russischen Föderation den Aufenthaltsort des BF1 nach dessen Wegzug vom eigenen Haus hätten wissen müssen, da sie nur seinem Bruder hätten folgen müssen, der den BF in seinem Versteck regelmäßig besucht habe. Die BF2 habe die Angaben des BF1 nicht bestätigt, und wie dargestellt, ganz andere Daten genannt an denen BF1 zuhause gelebt bzw. an denen BF1 das gemeinsame Haus verlassen habe. Auch seien die Daten der angeblichen Hausdurchsuchungen bzw. deren Anzahl unterschiedlich geschildert worden, BF2 habe mit dem Namen des angeblichen Mieters überhaupt nichts anfangen können. Auch das genannte Ermittlungsergebnis durch ein Detektivbüro habe ergeben, dass nach BF1 und BF2 nicht gesucht werde.

In rechtlicher Hinsicht führte die belangte Behörde aus, dass eine asylrelevante Verfolgung nicht feststellbar sei, es sei auch nichts hervorgetreten, wonach die BF im Falle einer Rückkehr in die Heimat in eine lebensbedrohende Notlage geraten würden. Es würde ein soziales Auffangnetz durch die große Familie geben, weiters würde Unterstützung von Seiten humanitärer Organisationen geboten werden.

Die Rückkehrentscheidung wurde dahingehend begründet, dass unvermindert Kontakt zu den zahlreichen Angehörigen im Herkunftsstaat bestehe, es könne nicht davon ausgegangen werden, dass eine Resozialisierung im Herkunftsstaat nicht möglich und zumutbar wäre. Die BF würden kaum Deutschkenntnisse aufweisen, im Vergleich dazu jedoch fließend Russisch und Darginisch sprechen, in Österreich würde keinerlei Familienbezug bestehen, umgekehrt lebe im Herkunftsstaat der gesamte Familienclan. BF1 sei zudem wegen Diebstahls und Widerstands gegen die Staatsgewalt und schwerer Körperverletzung rechtskräftig verurteilt worden.

Mit dieser rechtskräftigen Verurteilung wurde auch das Einreiseverbot im Verfahren des BF1 durch die belangte Behörde begründet. Zudem wurde in allen Verfahren einer Beschwerde gegen die angefochtenen Entscheidungen die aufschiebende Wirkung aberkannt, wobei dies im Verfahren von BF2 bis BF5 damit begründet wurde, dass diese selbst keine Fluchtgründe vorgebracht haben.

Gegen obgenannte Bescheide wurde fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde erhoben, wobei im Wesentlichen das Vorbringen vor der Behörde gerafft wiederholt wurde. Der letzte Mieter des BF1 dürfte im "kriminellen Milieu" beheimatet gewesen sein und da BF1 diesem seine Wohnung vermietet habe, sei er der Komplizenschaft verdächtigt worden, festgenommen und krankenhausreif gefoltert worden. Auch nach der Entlassung aus dem Krankenhaus sei nach dem BF1 gesucht worden, Hausdurchsuchungen seien durchgeführt worden, weshalb er mit seiner Familie aus Furcht um Leib und Leben aus Dagestan geflüchtet sei.

Beantragt wurde weiters, die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, das Einreiseverbot gegen BF1 zu beheben und eine mündliche Verhandlung durchzuführen.

Am 27.09.2018 fand eine Beschwerdeverhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht statt. Dabei wurden mit BF1 und BF2 nochmals die angeblichen fluchtauslösenden Ereignisse erörtert sowie die in der Vergangenheit erfolgte Heilbehandlung von BF3 in der Russischen Föderation hinterfragt. BF1 und BF2 legten Dokumente zum Gesundheitszustand und zum Aufenthalt, insbesonders von BF3 vor und verwiesen auf die aus ihrer Sicht gegebenen integrativen Aspekte.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage der Anträge auf internationalen Schutz, der Einvernahmen der erst- und zweitbeschwerdeführenden Parteien durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, der Beschwerde gegen die angefochtenen Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 04.04.2018, der im Verfahren vorgelegten Dokumente, der Einsichtnahme in die bezughabenden Verwaltungsakten, sowie der Einsichtnahme in das Zentrale Melderegister, Zentrale Fremdenregister, Strafregister und Grundversorgungs-Informationssystem werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zu Grunde gelegt:

Die Beschwerdeführer sind Staatsangehörige der Russischen Föderation aus der Teilrepublik Dagestan und Angehörige der darginischen Volksgruppe sowie des islamischen Glaubens. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind verheiratet und Eltern der Dritt- bis FünftbeschwerdeführerInnen. Im Herkunftsstaat halten sich nach wie vor die Eltern und eine Schwester des Erstbeschwerdeführers sowie die Eltern und zwei Brüder der Zweitbeschwerdeführerin mit deren Familien auf. Vor ihrer Ausreise lebten die beschwerdeführenden Parteien gemeinsam vom Einkommen des BF1. Der BF1 verfügt über eine Ausbildung und ein Haus in Dagestan.

Die beschwerdeführenden Parteien stellten infolge illegaler Einreise die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz und halten sich seither durchgehend im Bundesgebiet auf.

Die beschwerdeführenden Parteien waren in ihrem Herkunftsstaat in der Vergangenheit keiner Bedrohung aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Ansichten ausgesetzt und drohen ihnen solche auch in Zukunft nicht.

Nicht festgestellt werden kann, dass die beschwerdeführenden Parteien im Fall ihrer Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Russische Föderation in ihrem Recht auf Leben gefährdet, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen würden oder von der Todesstrafe bedroht wären.

Der Gesundheitszustand der beschwerdeführenden Parteien - insbesonders BF3 - steht einer Rückkehr in den Herkunftsstaat im Lichte von Art. 3 EMRK jeweils nicht entgegen.

Nicht festgestellt werden kann, dass eine ausgeprägte und verfestigte Integration der beschwerdeführenden Parteien in Österreich vorliegt. Diese leben von der Grundversorgung und sind nicht selbsterhaltungsfähig. Außerhalb ihrer Kernfamilie verfügen die beschwerdeführenden Parteien über keine familiäre oder sonstige enge soziale Bezugspunkte im Bundesgebiet. Die beschwerdeführenden Parteien haben sich - geringe - Kenntnisse der deutschen Sprache angeeignet, gingen jedoch keiner dauerhaften Erwerbstätigkeit oder ehrenamtlichen Tätigkeit nach und sind nicht Mitglieder in Vereinen. Die minderjährige Viertbeschwerdeführerin besucht den Kindergarten im Bundesgebiet, BF3 eine Sonderschule für Kinder mit erhöhtem Förderbedarf.

Die beschwerdeführenden Parteien verfügen über kein schützenswertes Familien- und Privatleben in Österreich.

1.2. Zur Lage im Herkunftsstaat:

0. Politische Lage

Die Russische Föderation hat ca. 143 Millionen Einwohner (CIA 12.7.2018, vgl. GIZ 7.2018c). Russland ist eine Präsidialdemokratie mit föderativem Staatsaufbau. Der Präsident verfügt über weit reichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik (GIZ 7.2018a, vgl. EASO 3.2017). Er ernennt auf Vorschlag der Staatsduma den Vorsitzenden der Regierung, die stellvertretenden Vorsitzenden und die Minister und entlässt sie (GIZ 7.2018a). Wladimir Putin ist im März 2018, bei der Präsidentschaftswahl im Amt mit 76,7% bestätigt worden. Die Wahlbeteiligung lag der Nachrichtenagentur TASS zufolge bei knapp 67% und erfüllte damit nicht ganz die Erwartungen der Präsidialadministration (Standard.at 19.3.2018). Putins wohl ärgster Widersacher Alexej Nawalny durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Er war zuvor in einem von vielen als politisch motivierten Prozess verurteilt worden und rief daraufhin zum Boykott der Abstimmung auf, um die Wahlbeteiligung zu drücken (Presse.at 19.3.2018). Oppositionelle Politiker und die Wahlbeobachtergruppe Golos hatten mehr als 2.400 Verstöße gezählt, darunter mehrfach abgegebene Stimmen und die Behinderung von Wahlbeobachtern. Wähler waren demnach auch massiv unter Druck gesetzt worden, um an der Wahl teilzunehmen. Auch die Wahlkommission wies auf mutmaßliche Manipulationen hin (Tagesschau.de 19.3.2018, FH

1.2018) . Putin kann dem Ergebnis zufolge nach 18 Jahren an der Staatsspitze weitere sechs Jahre das Land führen. Gemäß der Verfassung darf er nach dem Ende seiner sechsjährigen Amtszeit nicht erneut antreten, da es eine Beschränkung auf zwei aufeinander folgende Amtszeiten gibt (Tagesschau.de 19.3.2018, vgl. OSCE/ODIHR 18.3.2018).

Die Verfassung wurde per Referendum am 12.12.1993 mit 58,4% der Stimmen angenommen. Sie garantiert die Menschen- und Bürgerrechte. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist zwar in der Verfassung verankert, jedoch verfügt der Präsident über eine Machtfülle, die ihn weitgehend unabhängig regieren lässt. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, trägt die Verantwortung für die Innen- und Außenpolitik und kann die Gesetzentwürfe des Parlaments blockieren. Die Regierung ist dem Präsidenten untergeordnet, der den Premierminister mit Zustimmung der Staatsduma ernennt. Das Parlament - Staatsduma und Föderationsrat - ist in seinem Einfluss stark beschränkt. Der Föderationsrat ist als "obere Parlamentskammer" das Verfassungsorgan, das die Föderationssubjekte auf föderaler Ebene vertritt. Er besteht aus 178 Abgeordneten: Jedes Föderationssubjekt entsendet je einen Vertreter aus der Exekutive und Legislative in den Föderationsrat. Die Staatsduma mit 450 Sitzen wird für vier Jahre nach dem Verhältniswahlrecht auf der Basis von Parteilisten gewählt. Es gibt eine Siebenprozentklausel. Wichtige Parteien sind die regierungsnahen Einiges Russland (Jedinaja Rossija) mit 1,9 Millionen Mitgliedern und

Gerechtes Russland (Spravedlivaja Rossija) mit 400.000 Mitgliedern. Die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) mit 150.000 Mitgliedern, die die Nachfolgepartei der früheren KP ist. Die Liberaldemokratische Partei (LDPR) mit 185.000 Mitgliedern, die populistisch und nationalistisch ausgerichtet ist, die Wachstumspartei (Partija Rosta), die sich zum Neoliberalismus bekennt; Jabloko, eine demokratisch-liberale Partei mit 55.000 Mitgliedern, die Patrioten Russlands (Patrioty Rossii), linkszentristisch, mit 85.000 Mitgliedern, die Partei der Volksfreiheit (PARNAS) und die demokratisch-liberale Partei mit 58.000 Mitgliedern (GIZ 7.2018a). Die Zusammensetzung der Staatsduma nach Parteimitgliedschaft gliedert sich wie folgt: Einiges Russland (339 Sitze), Kommunistische Partei Russlands (42 Sitze), Liberaldemokratische Partei Russlands (40 Sitze), Gerechtes Russland (23 Sitze), Vaterland-Partei (1 Sitz), Bürgerplattform (1 Sitz) (AA 5.2018b).

Russland ist eine Föderation, die aus 85 Föderationssubjekten (einschließlich der international umstrittenen Einordnung der Republik Krim und der Stadt föderalen Ranges, Sewastopol) mit unterschiedlichem Autonomiegrad besteht. Die Föderationssubjekte (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Gebiete, Regionen und Föderale Städte) verfügen über jeweils eine eigene Legislative und Exekutive (GIZ 7.2018a, vgl. AA 5.2018b). Die Gouverneure der Föderationssubjekte werden auf Vorschlag der jeweils stärksten Fraktion der regionalen Parlamente vom Staatspräsidenten ernannt. Dabei wählt der Präsident aus einer Liste dreier vorgeschlagener Kandidaten den Gouverneur aus (GIZ 7.2018a).

Es wurden acht Föderationskreise (Nordwestrussland, Zentralrussland, Südrussland, Nordkaukasus, Wolga, Ural, Sibirien, Ferner Osten) geschaffen, denen jeweils ein Bevollmächtigter des Präsidenten vorsteht. Der Staatsrat der Gouverneure tagt unter Leitung des Präsidenten und gibt der Exekutive Empfehlungen zu aktuellen politischen Fragen und zu Gesetzesprojekten. Nach der Eingliederung der Republik Krim und der Stadt Sewastopol in die Russische Föderation wurde am 21.3.2014 der neunte Föderationskreis Krim gegründet. Die konsequente Rezentralisierung der Staatsverwaltung führt seit 2000 zu politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit der Regionen vom Zentrum. Diese Tendenzen wurden bei der Abschaffung der Direktwahl der Gouverneure in den Regionen und der erneuten Unterordnung der regionalen und kommunalen Machtorgane unter das föderale Zentrum ("exekutive Machtvertikale") deutlich (GIZ 7.2018a).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (5.2018b): Russische Föderation - Außen- und Europapolitik,

https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/russischefoederation-node/

russischefoederation/201534. Zugriff 1.8.2018

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CIA - Central Intelligence Agency (12.7.2018): The World Factbook, https://www.cia.gov/library/

publications/the-world-factbook/geos/rs.html. Zugriff 1.8.2018

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EASO - European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file upload/1226 1489999668 easocoi-russia-stateactors-of-protection.pdf. Zugriff 1.8.2018

FH - Freedom House (1.2018): Freedom in the World 2017 - Russia,

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https://www.ecoi.net/de/dokument/1428824.html. Zugriff 1.8.2018

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GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2018a): Russland. Geschichte und Staat.

https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836. Zugriff 1.8.2018

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GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2018c): Russland. Gesellschaft.

https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/. Zugriff 1.8.2018

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OSCE/ODIHR - Organization for Security and Co-operation in Europe/Office for Democratic Institutions and Human Rights (18.3.2018): Russian Federation Presidential Election Observation Mission Final Report. https://www.osce.org/odihr/elections/383577? download=true. Zugriff 29.8.2018

-

Presse.at (19.3.2018): Putin: "Das russische Volk schließt sich um Machtzentrum zusammen".

https://diepresse.com/home/ausland/aussenpolitik/5391213/Putin Das-russische-Volk-

schliesst-sich-um-Machtzentrum-zusammen. Zugriff 1.8.2018

-

Standard.at (19.3.2018): Putin sichert sich vierte Amtszeit als Russlands Präsident.

https://derstandard.at/2000076383332/Putin-sichert-sich-vierte-Amtszeit-als-Praesident.

Zugriff

1.8.2018

-

Tagesschau.de (19.3.2018): Klarer Sieg für Putin. https://www.tagesschau.de/ausland/russland-wahl-putin-101.html. Zugriff 1.8.2018

2.1. Tschetschenien

Die Tschetschenische Republik ist eine der 22 Republiken der Russischen Föderation. Die Fläche beträgt 15.647 km2 (Rüdisser 11.2012) und laut offizieller Bevölkerungsstatistik der Russischen Föderation zum 1.1.2018 beläuft sich die Einwohnerzahl Tschetscheniens auf 1.4 Millionen (GKS

25.1.2018) . wobei die offiziellen Angaben von unabhängigen Medien infrage gestellt werden. Laut Aussagen des Republiksoberhauptes Ramzan Kadyrow sollen rund 600.000 TschetschenInnen außerhalb der Region leben. die eine Hälfte davon in der Russischen Föderation. die andere Hälfte im Ausland. Experten zufolge hat die Hälfte Tschetschenien während der Kriege nach dem Zerfall der Sowjetunion verlassen. bei der anderen Hälfte handle es sich um Siedlungsgebiete außerhalb Tschetscheniens. die bereits vor über einem Jahrhundert entstanden seien. teilweise durch Migration aus dem Russischen in das Osmanische Reich. und zwar über Anatolien bis in den arabischen Raum (ÖB Moskau 12.2017). In Bezug auf Fläche und Einwohnerzahl ist Tschetschenien somit mit der Steiermark vergleichbar. Etwa die Hälfte des tschetschenischen Territoriums besteht aus Ebenen im Norden und Zentrum der Republik. Heutzutage ist die Republik eine nahezu monoethnische: 95.3% der Bewohner/innen Tschetscheniens gaben [bei der letzten Volkszählung] 2010 an. ethnische Tschetschenen/innen zu sein. Der Anteil ethnischer Russen/innen an der Gesamtbevölkerung liegt bei 1.9%. Rund 1% sind ethnische Kumyk/innen. des Weiteren leben einige Awar/innen. Nogaier/innen. Tabasar/innen. Türk/innen. Inguschet/innen und Tatar/innen in der Republik (Rüdisser 11.2012).

In Tschetschenien gilt Ramzan Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres Herrschaftssystem geschaffen. das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und weitgehend außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018). So musste im Mai 2016 der Vorsitzende des Obersten Gerichts Tschetscheniens nach Kritik von Kadyrow zurücktreten, obwohl die Ernennung/Entlassung der Richter grundsätzlich in föderale Kompetenz fällt. Fraglich bleibt auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren faktische Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt. Im Juni 2016 beschloss das tschetschenische Parlament die vorzeitige Selbstauflösung, um vorgezogene Neuwahlen parallel zu den Wahlen zum Oberhaupt der Republik durchzuführen. Bei den Wahlen vom 18.9.2016 lag die Wahlbeteiligung in Tschetschenien weit über dem landesweiten Durchschnitt. Kadyrow wurde laut offiziellen Angaben bei hoher Wahlbeteiligung mit überwältigender Mehrheit für eine weitere Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Unabhängige Medien berichteten über Unregelmäßigen bei den Wahlen, in deren Vorfeld Human Rights Watch über massive Druckausübung auf Kritiker des derzeitigen Machthabers berichtet hatte. Das tschetschenische Oberhaupt bekundet immer wieder seine absolute Loyalität gegenüber dem Kreml (ÖB Moskau 12.2017). Vertreter russischer und internationaler NGOs berichten immer wieder von Gewalt und Menschenrechtsverletzungen, einem Klima der Angst und Einschüchterung (AA 21.5.2018). Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische Gegner, wird rigoros vorgegangen. Anfang 2016 sorgte Kadyrow landesweit für Aufregung, als er die liberale Opposition in Moskau als Staatsfeinde bezeichnete, die danach trachteten, Russland zu zerstören. Nachdem er dafür von Menschenrechtsaktivisten sowie von Vertretern des präsidentiellen Menschenrechtsrats scharf kritisiert worden war, wurde in Grozny eine Massendemonstration zur Unterstützung Kadyrows organisiert (ÖB Moskau 12.2017).

Während der mittlerweile über zehn Jahre dauernden Herrschaft des amtierenden Republikführers Ramzan Kadyrow gestaltete sich Tschetscheniens Verhältnis zur Russischen Föderation ambivalent. Einerseits ist Kadyrow bemüht, die Zugehörigkeit der Republik zu Russland mit Nachdruck zu bekunden, tschetschenischen Nationalismus mit russischem Patriotismus zu verbinden, Russlands Präsidenten in der tschetschenischen Hauptstadt Grozny als Staatsikone auszustellen und sich als "Fußsoldat Putins" zu präsentieren. Andererseits hat er das Föderationssubjekt Tschetschenien so weit in einen Privatstaat verwandelt, dass in der Umgebung des russischen Präsidenten die Frage gestellt wird, inwieweit sich die von Wladimir Putin ausgebaute föderale Machtvertikale dorthin erstreckt. Zu Kadyrows Eigenmächtigkeit gehört auch eine Außenpolitik, die sich vor allem an den Mittleren Osten und die gesamte islamische Welt richtet. Kein anderer regionaler Führer beansprucht eine vergleichbare, über sein eigenes Verwaltungsgebiet und die Grenzen Russlands hinausreichende Rolle. Kadyrow inszeniert Tschetschenien als Anwalt eines russländischen Vielvölker-Zusammenhalts, ist aber längst zum "inneren Ausland" Russlands geworden. Deutlichster Ausdruck dieser Entwicklung ist ein eigener Rechtszustand, in dem islamische und gewohnheitsrechtliche Regelungssysteme sowie die Willkür des Republikführers in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands geraten (SWP 3.2018).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

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GKS - Staatliches Statistikamt (25.1.2018): Bevölkerungsverteilung zum 1.1.2018,

http://www.gks.ru/free_doc/new_site/population/demo/PrPopul2018.xlsx. Zugriff 1.8.2018

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ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation

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Rüdisser, V. (11.2012): Russische Föderation/Tschetschenische Republik. In:

Länderinformation n°15, Österreichischer Integrationsfonds.

http://www.integrationsfonds.at/themen/publikationen/oeif-laenderinformation/. Zugriff 1.8.2018

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SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (3.2018): Tschetscheniens Stellung in der Russischen Föderation. Ramsan Kadyrows Privatstaat und Wladimir Putins föderale Machtvertikale. https:// www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2018S01_hlb.pdf. Zugriff 1.8.2018

2.2. Dagestan

Dagestan ist mit ungefähr drei Millionen Einwohnern die größte kaukasische Teilrepublik und wegen seiner Lage am Kaspischen Meer für Russland strategisch wichtig. Dagestan ist das ethnisch vielfältigste Gebiet des Kaukasus (ACCORD 16.5.2018. vgl. IOM 6.2014). Im Unterschied zu den faktisch mono-ethnischen Republiken Tschetschenien und Inguschetien setzt sich die Bevölkerung Dagestans aus einer Vielzahl von Ethnien zusammen. In der Republik gibt es 60 verschiedene Nationalitäten. einschließlich der Vertreter der 30 alteingesessenen Ethnien. Alle sprechen unterschiedliche Sprachen. Dieser Umstand legt die Vielzahl der in Dagestan wirkenden Kräfte fest. begründet die Notwendigkeit eines Interessenausgleichs bei der Lösung entstehender Konflikte und stellt ein Hindernis für eine starke autoritäre Zentralmacht in der Republik dar. Allerdings findet dieser "Interessenausgleich" traditionellerweise nicht auf dem rechtlichen Wege statt. was in Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Clans münden kann (IOM 6.2014).

Dagestan ist hinsichtlich persönlicher Freiheiten bessergestellt als Tschetschenien, bleibt allerdings eine der ärmsten Regionen Russlands. In der die Sicherheitslage zwar angespannt ist. sich in jüngerer Zeit aber verbessert hat. War die weit überwiegende Anzahl von Gewaltopfern bei Auseinandersetzungen zwischen "Aufständischen" und Sicherheitskräften in den Jahren 2015 und 2016 in Dagestan zu verzeichnen. hat die Gewalt in den letzten Jahren abgenommen (AA 21.5.2018). Gründe für den Rückgang der Gewalt sind die konsequente Politik der Repression radikaler Elemente und das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte. aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak (ÖB Moskau 12.2017).

Was das politische Klima betrifft. gilt die Republik Dagestan im Vergleich zu Tschetschenien noch als relativ liberal. Die Zivilgesellschaft ist hier stärker vertreten als in Tschetschenien. Ebenso existiert - anders als in der Nachbarrepublik - zumindest eine begrenzte Pressefreiheit. Die ethnische Diversität stützt ein gewisses Maß an politischem Pluralismus und steht automatischen Herrschaftsverhältnissen entgegen. Im Jahr 2006 wurde Muchu Alijew vom Kreml als Präsident an die Spitze der Republik gesetzt. 2013 wurde er von Magomedsalam Magomedow ersetzt. Magomedow war vor allem mit Korruption und Vetternwirtschaft konfrontiert, die auch sein Vorgänger nicht lösen konnte. Anfang 2013 ersetzte der Kreml Magomedow durch Ramzan Abdulatipow, den in Moskau wohl bekanntesten Dagestaner. Abdulatipow galt dort als Experte für interethnische Beziehungen und religiöse Konflikte im Nordkaukasus. Abdulatipows Kampf gegen Korruption und Nepotismus führte zwar zum Austausch von Personal, doch die Strukturen, die dem Problem zugrunde liegen, wurden kaum angetastet. Es war auch nicht zu erwarten, dass sich ein Phänomen wie das Clan- und Seilschaftsprinzip, das für Dagestan so grundlegende gesellschaftlich-politische Bedeutung hat, ohne weiteres würde überwinden lassen. Dieses Prinzip wird nicht nur durch ethnische, sondern auch durch viele andere Zuordnungs- und Gemeinschaftskriterien bestimmt und prägt Politik wie Geschäftsleben der Republik auf entscheidende Weise. Zudem blieb der Kampf gegen den bewaffneten Untergrund oberste Priorität, was reformpolitische Programme in den Hintergrund rückte. Dabei zeugt die Praxis der Anti-Terror-Operationen in der Ära Abdulatipow von einer deutlichen Stärkung der "Siloviki", das heißt des Sicherheitspersonals. Zur Bekämpfung der Rebellen setzt der Sicherheitsapparat alte Methoden ein. Wie in Tschetschenien werden die Häuser von Verwandten der Untergrundkämpfer gesprengt, und verhaftete "Terrorverdächtige" können kaum ein faires Gerichtsverfahren erwarten. Auf Beschwerden von Bürgern über Willkür und Straflosigkeit der Sicherheitskräfte reagierte Abdulatipow mit dem Argument, Dagestan müsse sich "reinigen", was ein hohes Maß an Geduld erfordere (SWP 4.2015). Im Herbst 2017 setzte Präsident Putin ein neues Republiksoberhaupt ein. Mit dem Fraktionsvorsitzenden der Staatspartei Einiges Russland in der Staatsduma und ehemaligen hohen Polizeifunktionär Wladimir Wassiljew schreckte der Kreml die lokalen Eliten auf. Wassiljew ist keiner von ihnen, er war mit Blick auf das zuvor behutsam gepflegte Gleichgewicht der Ethnien wie eine Faust aufs Auge. Der Kreml hatte länger schon damit begonnen, ortsfremde Funktionäre in die Regionen zu entsenden. Im Nordkaukasus hatte er davon Abstand genommen. Immerhin dürfte Wassiljew für ethnische Fragen ein gewisses Gespür mitbringen. Er ist selbst halb Kasache, halb Russe. Wassiljew ist das Gegenmodell zu Kadyrows ungestümer Selbstherrlichkeit. Er ist ein altgedienter Funktionär und einer, der durch den Zugriff Moskaus auf Dagestan - und nicht in Abgrenzung von der Zentralmacht - Ordnung, Sicherheit und wirtschaftliche Prosperität herstellen soll. Mit Wassiljew tritt jemand mit wirklich direktem Draht zur Zentralmacht im Nordkaukasus auf. Das könnte ihn, zumindest für einige Zeit, zum starken Mann in der ganzen Region machen. Dafür allerdings benötigt er genauso die Akzeptanz der Einheimischen (NZZ 12.2.2018).

Anfang 2018 wurden in der Hauptstadt Dagestans, Machatschkala, der damalige Regierungschef [Abdussamad Gamidow], zwei seiner Stellvertreter und ein kurz vorher abgesetzter Minister von föderalen Kräften verhaftet und nach Moskau gebracht. Ihnen wird vorgeworfen, sie hätten eine organisierte kriminelle Gruppierung gebildet zur Ausbeutung der wirtschaftlich abgeschlagenen und am stärksten von allen russischen Regionen am Tropf des Zentralstaats hängenden Nordkaukasus-Republik. Kurz vorher waren bereits der Bürgermeister von Machatschkala und der Stadtarchitekt festgenommen worden (NZZ 12.2.2018).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

-

ACCORD (16.5.2018): Themendossier Sicherheitslage in Dagestan & Zeitachse von Angriffen,

https://www.ecoi.net/de/laender/russische-foederation/themendossiers/sicherheitslage-in-

dagestan-zeitachse-von-angriffen/, Zugriff 2.8.2018

-

IOM - International Organisation of Migration (6.2014):

Länderinformationsblatt Russische Föderation

-

NZZ - Neue Zürcher Zeitung (12.2.2018): Durchgreifen in Dagestan:

Moskau räumt im Nordkaukasus auf, https://www.nzz.ch/international/moskau-raeumt-im-nordkaukasus-aufld.1356351, Zugriff 2.8.2018

-

ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation

-

SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan:

Russlands schwierigste Teilrepublik,

http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf.

Zugriff 2.8.2018

1. Sicherheitslage

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen. Todesopfer forderte zuletzt ein Terroranschlag in der Metro von St. Petersburg im April 2017. Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 28.8.2018a, vgl. BMeiA 28.8.2018, GIZ 6.2018d). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 28.8.2018).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Gewaltzwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global

Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Demnach stand Russland 2011 noch an neunter Stelle hinter mittelöstlichen, afrikanischen und südasiatischen Staaten, weit vor jedem westlichen Land. Im Jahr 2016 rangierte es dagegen nur noch auf Platz 30 hinter Frankreich (Platz 29), aber vor Großbritannien (Platz 34) und den USA (Platz 36). Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).

Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sogenannten IS kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (28.8.2018a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise,

https://www.auswaertiges-amt.de/de/russischefoederationsicherheit/201536#content_0.

Zugriff

28.8.2018

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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