Entscheidungsdatum
19.10.2018Norm
BFA-VG §21 Abs5Spruch
W117 1422645-3/13E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Andreas DRUCKENTHANER über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch die ARGE Rechtsberatung - Diakonie und Volkshilfe, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 01.03.2017, Zl. IFA 791058609-160249017, zu Recht erkannt:
A) In Erledigung der Beschwerde wird gemäß § 21 Abs. 5 BFA-VG
festgestellt, dass die aufenthaltsbeendende Maßnahmen gemäß § 52 Abs. 4 FPG iVm § 9 BFA-VG, § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG zum Zeitpunkt der Erlassung rechtmäßig und dass seine Abschiebung gemäß § 52 Abs. 9 FPG, § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig waren.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz
(B-VG), BGBl. I Nr. 1/1930 idgF nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
Der (damals unbegleitete minderjährige) Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation, stellte am 02.09.2009 nach illegaler Einreise einen Antrag auf internationalen Schutz.
Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 31.10.2011, Zl. 09 10.586-BAW, wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) abgewiesen und der Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs. 1 Z 2 AsylG aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation ausgewiesen (Spruchpunkt III.).
Das Bundesasylamt ging auf Grund von Rechercheergebnissen nicht von der Glaubwürdigkeit des Fluchtvorbringens aus.
Hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ging das Bundesasylamt davon aus, dass der Beschwerdeführer im Fall der Rückkehr nicht in eine lebensbedrohende Notlage geraten werde, im Herkunftsstaat sei die Behandlung von psychischen Erkrankungen (PTSD) möglich. Es lägen somit keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vor, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung Gefahr laufe, in der russischen Föderation (Tschetschenien) einer unmenschlichen Behandlung oder Strafe oder der Todesstrafe unterworfen zu werden, womit festzustellen gewesen sei, dass eine solche zulässig sei.
Sodann begründete das Bundesasylamt die Ausweisung des Beschwerdeführers in die Russische Föderation, wonach sich seine Mutter und sein Bruder nach wie vor in der Russischen Föderation aufhielten und in sein bisher zwei Jahre dauerndes Privatleben im Bundesgebiet nicht in ungerechtfertigter Weise eingegriffen werde.
Die gegen diese Entscheidung erhobene Beschwerde an den Asylgerichtshof vom 11.11.2011 wurde nach einer Verhandlung beim Bundesverwaltungsgericht am 06.08.2014 hinsichtlich Spruchpunkt I. und II. zurückgezogen, das Verfahren mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 07.08.2014 hinsichtlich der Asylfrage und subsidiärem Schutz eingestellt sowie gemäß § 75 Abs. 20 AsylG 2005 festgestellt, dass eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist.
Mit rechtskräftigem Urteil des XXXX vom 09.06.2015 wurde Beschwerdeführer wegen § 142 Abs. 1 StGB, § 12 3.Fall StGB; § 143
1. u.2.Fall StGB, § 15 StGB; § 144 Abs. 1 StGB; § 145 Abs. 1 Z 2 StGB als junger Erwachsener zu einer Freiheitsstrafe von 4 Jahren verurteilt (errechnetes Strafende 17.02.2019).
Dem Beschwerdeführer wurde daraufhin mit Schreiben des Bundesamtes vom 16.02.2016 das Ergebnis der Beweisaufnahme betreffend die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs.1 Z 1 iVm einem Einreiseverbot gemäß § 53 Abs. 3 Z 1 (FPG) mit der Möglichkeit dazu binnen 2 Wochen Stellung zu nehmen samt Länderinformationen zu Russland (Stand 13.04.2015) und Tschetschenien (Stand Dezember 2013) zur Kenntnis gebracht und der Beschwerdeführer um Beantwortung von Fragen zu seinen persönlichen Verhältnissen gebeten.
In der Stellungnahme vom 24.02.2016 gab der Beschwerdeführer ua. an, eine Beziehung mit einer österreichischen Staatsbürgerin zu haben, sowie dass er keinen Kontakt mehr zu seiner Mutter und zu seinem Bruder habe.
Mit Bescheid vom 18.03.2016 wurde dem Beschwerdeführer ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 55 AsylG 2005 nicht erteilt und gemäß § 52 Abs. 4 FPG iVm § 9 BFA-VG gegen den Beschwerdeführer eine Rückehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt I.) Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Russland zulässig ist (Spruchpunkt II.). Gemäß § 46 FPG wurde eine Frist für die freiwillige Ausreise nicht gewährt (Spruchpunkt III.) und einer Beschwerde gegen diese Rückkehrentscheidung gemäß § 18 Abs. 2 Z 1 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt IV.) sowie gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z1 FPG gegen den Beschwerdeführer ein auf die Dauer von 10 Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt V.).
Mit Verfahrensanordnung vom 20.03.2016 wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG ein Rechtsberater amtswegig zur Seite gestellt.
In der Beschwerde vom 07.04.2016 führte der Vertreter des Beschwerdeführers im Wesentlichen aus, dass der angefochtene Bescheid ohne vorhergehende Einvernahme des Beschwerdeführers erlassen worden sei und ihm damit in unzulässiger Weise das Parteiengehör verwehrt worden sei. Ferner wurde die mangelnde Aktualität der Länderfeststellungen sowie in der Folge die Beweiswürdigung gerügt.
Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 21.10.2016, Zl. W117 1422645-2/5E, wurde dieser Bescheid behoben und die Angelegenheit gemäß § 28 Abs. 3, 2. Satz VwGVG zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen, da neben der fehlenden Einvernahme des Beschwerdeführers und veralteten Länderfeststellungen noch die bereits seit 2012 geplante Hochzeit mit einer österreichischen Staatsbürgerin, seine Deutschkenntnisse und Integration sowie der Umstand, dass seiner künftigen Ehefrau ein Aufenthalt in der Russischen Föderation unzumutbar sei, Berücksichtigung zu finden habe und ein allfälliger Behandlungsbedarf zu erheben und vor aktuellen Länderfeststellungen zu beurteilen sei.
Am 19.01.2017 wurde der Beschwerdeführer beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl in der JA XXXX niederschriftlich einvernommen.
Mit Schreiben vom 02.02.2017 wurde ihm zur beabsichtigten Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 4 iVm einem Einreiseverbot gemäß § 53 Abs. 3 Z 1 (FPG) sowie zu aktuellen Länderinformationen zu Tschetschenien und Russland Parteiengehör unter Einräumung einer Frist von 2 Wochen gewährt.
Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 01.03.2017, Zl. 791058609-160249017, wurde gemäß § 52 Abs. 4 FPG iVm § 9 BFA-VG gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt I.), gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Russland zulässig sei (Spruchpunkt II.), gemäß § 55 Abs. 4 FPG eine Frist für die freiwillige Ausreise nicht gewährt (Spruchpunkt III.), einer Beschwerde gegen diese Entscheidung gemäß §18 Abs. 2 Z 1 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt IV.), sowie gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG gegen den Beschwerdeführer ein auf 10 Jahre befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt V.). Begründet wurde dies im Wesentlichen damit, dass wegen der strafgerichtlichen Verurteilung des Beschwerdeführers als Obmann des "Sport- und Kulturvereins Goldenberg" wegen schwerer Straftaten als Mitglied der sogenannten "Goldenbergbande" zu einer Haftstrafe von 4 Jahren eine Rückkehrentscheidung nach § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG zulässig sei. Da diese nicht auf Dauer unzulässig sei, habe nach § 58 Abs. 2 ASylG 2005 eine Prüfung der Erteilung eines Aufenthaltstitels zu unterbleiben. Die Voraussetzungen des § 52 Abs. 4 FPG seien gegeben. Die Abschiebung sei mangels glaubwürdiger politischer Verfolgung auch zulässig. Da sein Verbleib im Bundesgebiet eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstelle, sei seine sofortige Ausreise erforderlich und seine Abschiebung nach Russland nach seiner Entlassung aus der Strafhaft geplant. Ferner stelle die Erfüllung des § 53 Abs. 3 Z 1 FPG das Vorliegen einer schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit dar. Er habe als Mitglied der "Goldenbergbande" zahlreiche schwere Straftaten verübt, weshalb er zu vier Jahren Freiheitsentzug verurteilt worden sei. Es sei auch als Planer und Hintermann der Raubüberfälle aufgetreten und habe diese koordiniert. Er stelle eine massive Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung dar und sei auf Grund des von ihm gezeigten Verhaltens von einer negativen Zukunftsprognose auszugehen.
In der dagegen vom bevollmächtigten Rechtsberater erhobenen vollumfänglichen Beschwerde wurde die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung beantragt. Nach Ausführungen zu verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die zweiwöchige Beschwerdefrist gemäß § 16 Abs. 1 BFA-VG wurde das Fehlen aktueller Länderfeststelllungen bemängelt und das Fehlen beweiswürdigender Ausführungen gerügt. Der Beschwerdeführer verfüge in Österreich über ein schützenswertes Privatleben im Sinne des Art. 8 EMRK, was auch bereits mit Erkenntnis des BVwG vom 07.08.2014, Zl. W112 1422645-1/11E, festgestellt und daher eine Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig erachtet worden sei. Da die Strafhaft einen Gesinnungswandel beim Beschwerdeführer herbeigeführt habe, bedeute die Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in sein Recht auf Familien- und Privatleben nach Ar.t 8 EMRK und sei bei seiner Rückkehr eine Verletzung seiner ihm durch Art. 2 und 3 EMRK gewährten Rechte zu befürchten. Im Fall des Beschwerdeführers müsse eine Interessensabwägung eindeutig zu seinen Gunsten ausgehen. Hinsichtlich des Einreisverbotes wäre eine Einzelfallprüfung vorzunehmen gewesen. Die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung sei nicht ausreichend begründet worden. Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung wurde beantragt.
Am 26.09.2018 wurde der Beschwerdeführer abgeschoben.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Zur Person des Beschwerdeführers:
Der damals minderjährige Beschwerdeführer stellte am 02.09.2009 nach illegaler Einreise einen Antrag auf internationalen Schutz, zu welchem das Verfahren letztlich mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 07.08.2014 nach Zurückziehung der Beschwerde hinsichtlich der Asylfrage und subsidiärem Schutz eingestellt wurde sowie gemäß § 75 Abs. 20 AsylG 2005 festgestellt wurde, dass eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist.
Mit rechtskräftigem Urteil des XXXX vom 09.06.2015 wurde der Beschwerdeführer wegen § 142 Abs. 1 StGB, § 12 3.Fall StGB, § 143 1. Und 2. Fall StGB, § 15 StGB, § 144 Abs. 1 StGB, § 145 Abs. 1 Z 2 StGB als junger Erwachsener zu einer Freiheitsstrafe von 4 Jahren verurteilt.
Der Beschwerdeführers hatte als Obmann des "Sport- und Kulturvereins Goldenberg" als Mitglied der sogenannten "Goldenbergbande" zahlreiche schwere Straftaten - unter anderem war er als Planer und Hintermann zahlreicher Raubüberfälle aufgetreten und hatte diese koordiniert, - begangen und stellt eine massive Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung dar.
Daher war seine sofortige Ausreise erforderlich und seine in der Zwischenzeit nach seiner Entlassung aus der Strafhaft nach Russland erfolgte Abschiebung rechtmäßig. Russland stellte zum Zeitpunkt der Abschiebung - für den konkreten Beschwerdeführer - keinen solchen Herkunftsstaat dar, in welchem sein Leben oder körperliche Unversehrtheit aus welchen Gründen auch immer gefährdet gewesen wäre.
Der Beschwerdeführer ist ledig und gesund. Er hat im Herkunftsstaat in Moskau und Grosny die Schule und danach im Bundesgebiet vier Jahre das Gymnasium besucht sowie in der Justizanstalt eine Lehre als Maler begonnen. Zusätzlich besuchte er Deutschkurse. Er beherrscht neben seiner Muttersprache (Tschetschenisch) auch Russisch und Deutsch auf einem hohen Niveau. Bisher ist er im Bundesgebiet keiner Erwerbstätigkeit nachgegangen, sondern hat die staatliche Grundversorgung bezogen. Er führte von 2012 bis 2016 eine Beziehung mit einer österreichischen Staatsbürgerin, welche sich nach seiner Inhaftierung auf gelegentliche Besuche in der Justizsanstalt beschränkte, und beendete diese dann im Streit. Im Bundesgebiet lebt seine Tante, zu welcher der Beschwerdeführer auch während seiner Haft regelmäßig Kontakt hatte, mit ihren drei Kindern. Im Herkunftsstaat leben noch seine Mutter und sein älterer Bruder.
Der Beschwerdeführer wurde am 26.09.2018 in seinen Herkunftsstaat abgeschoben.
Zur Situation im Herkunftsstaat:
Politische Lage
Die Russische Föderation hat knapp 143 Millionen Einwohner (CIA 15.6.2017, vgl. GIZ 7.2017c). Die Russische Föderation ist eine föderale Republik mit präsidialem Regierungssystem. Am 12. Juni 1991 erklärte sie ihre staatliche Souveränität. Die Verfassung der Russischen Föderation wurde am 12. Dezember 1993 verabschiedet. Das russische Parlament besteht aus zwei Kammern, der Staatsduma (Volksvertretung) und dem Föderationsrat (Vertretung der Föderationssubjekte) (AA 3.2017a). Der Staatspräsident der Russischen Föderation verfügt über sehr weitreichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik. Seine Amtszeit beträgt sechs Jahre. Amtsinhaber ist seit dem 7. Mai 2012 Wladimir Putin (AA 3.2017a, vgl. EASO 3.2017).
Der russische Präsident Wladimir Putin hat am Montag (7.5.2018) den Eid für seine vierte und somit letzte Amtszeit abgelegt. Vor etwa 5.000 Gästen im Kreml in Moskau gelobte er, "dem Volk treu zu dienen", wie es in der Eidesformel heißt (Kurier.at 7.5.2018).
Bei der Präsidentenwahl im März 2018 hatte die Wahlbehörde ihm ein Rekordergebnis von knapp 77% der Stimmen zugesprochen. Überschattet wird die Amtseinführung von der Gewalt, mit der die Polizei am 5.5.2018 Kundgebungen von Regierungsgegnern auflöste. Landesweit wurden dabei etwa 1.600 Anhänger des Oppositionellen Alexej Nawalny festgenommen, die meisten aber wieder freigelassen.
Schon seit der Wiederwahl von Staatspräsident Putin im Mai 2012 wird eine Zunahme autoritärer Tendenzen beklagt. So wurden das Versammlungsrecht und die Gesetzgebung über Nichtregierungsorganisationen erheblich verschärft, ein föderales Gesetz gegen "Propaganda nicht-traditioneller sexueller Beziehungen" erlassen, die Extremismus-Gesetzgebung verschärft sowie Hürden für die Wahlteilnahme von Parteien und Kandidaten beschlossen, welche die Wahlchancen oppositioneller Kräfte weitgehend zunichtemachen. Der Druck auf Regimekritiker und Teilnehmer von Protestaktionen wächst, oft mit strafrechtlichen Konsequenzen. Der Mord am Oppositionspolitiker Boris Nemzow hat das Misstrauen zwischen Staatsmacht und außerparlamentarischer Opposition weiter verschärft (AA 3.2017a). Mittlerweile wurden alle fünf Angeklagten im Mordfall Nemzow schuldig gesprochen. Alle fünf stammen aus Tschetschenien. Der Oppositionelle Ilja Jaschin hat das Urteil als "gerecht" bezeichnet, jedoch sei der Fall nicht aufgeklärt, solange Organisatoren und Auftraggeber frei sind. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow hat verlautbart, dass die Suche nach den Auftraggebern weiter gehen wird. Allerdings sind sich Staatsanwaltschaft und Nebenklage, die die Interessen der Nemzow-Familie vertreten, nicht einig, wen sie als potenziellen Hintermann weiter verfolgen. Die staatlichen Anklagevertreter sehen als Lenker der Tat Ruslan Muchutdinow, einen Offizier des Bataillons "Nord", der sich in die Vereinigten Arabischen Emirate abgesetzt haben soll. Nemzows Angehörige hingegen vermuten, dass die Spuren bis "zu den höchsten Amtsträgern in Tschetschenien und Russland" führen. Sie fordern die Befragung des Vizebataillonskommandeurs Ruslan Geremejew, der ein entfernter Verwandter von Tschetscheniens Oberhaupt Ramsan Kadyrow ist (Standard 29.6.2017). Ein Moskauer Gericht hat den Todesschützen von Nemzow zu 20 Jahren Straflager verurteilt. Vier Komplizen erhielten Haftstrafen zwischen 11 und 19 Jahren. Zudem belegte der Richter Juri Schitnikow die fünf Angeklagten aus dem russischen Nordkaukasus demnach mit Geldstrafen von jeweils 100.000 Rubel (knapp 1.500 Euro). Die Staatsanwaltschaft hatte für den Todesschützen lebenslange Haft beantragt, für die Mitangeklagten 17 bis 23 Jahre (Kurier 13.7.2017).
Russland ist formal eine Föderation, die aus 83 Föderationssubjekten besteht. Die im Zuge der völkerrechtswidrigen Annexion erfolgte Eingliederung der ukrainischen Krim und der Stadt Sewastopol als Föderationssubjekte Nr. 84 und 85 in den russischen Staatsverband ist international nicht anerkannt. Die Föderationssubjekte genießen unterschiedliche Autonomiegrade und werden unterschiedlich bezeichnet (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Regionen, Gebiete, Föderale Städte). Die Föderationssubjekte verfügen jeweils über eine eigene Legislative und Exekutive. In der Praxis unterstehen die Regionen aber finanziell und politisch dem föderalen Zentrum (AA 3.2017a).
Die siebte Parlamentswahl in Russland hat am 18. September 2016 stattgefunden. Gewählt wurden die 450 Abgeordneten der russischen Duma. Insgesamt waren 14 Parteien angetreten, unter ihnen die oppositionellen Parteien Jabloko und Partei der Volksfreiheit (PARNAS). Die Wahlbeteiligung lag bei 47,8%. Die meisten Stimmen bei der Wahl, die auch auf der Halbinsel Krim abgehalten wurde, erhielt die von Ministerpräsident Dmitri Medwedew geführte Regierungspartei "Einiges Russland" mit gut 54%. Nach Angaben der Wahlkommission landete die Kommunistische Partei mit 13,5% auf Platz zwei, gefolgt von der nationalkonservativen LDPR mit 13,2%. Die nationalistische Partei "Gerechtes Russland" erhielt 6%. Diese vier Parteien waren auch bislang schon in der Duma vertreten und stimmten in allen wesentlichen Fragen mit der Mehrheit. Den außerparlamentarischen Oppositionsparteien gelang es nicht die Fünf-Prozent-Hürde zu überwinden. In der Duma verschiebt sich die Macht zugunsten der Regierungspartei "Einiges Russland". Die Partei erreicht im Parlament mit 343 Sitzen deutlich die Zweidrittelmehrheit, die ihr nun Verfassungsänderungen ermöglicht. Die russischen Wahlbeobachter von der NGO Golos berichteten auch in diesem Jahr über viele Verstöße gegen das Wahlrecht (GIZ 4.2017a, vgl. AA 3.2017a).
Das Verfahren am Wahltag selbst wurde offenbar korrekter durchgeführt als bei den Dumawahlen im Dezember 2011. Direkte Wahlfälschung wurde nur in Einzelfällen gemeldet, sieht man von Regionen wie Tatarstan oder Tschetschenien ab, in denen Wahlbetrug ohnehin erwartet wurde. Die Wahlbeteiligung von über 90% und die hohen Zustimmungsraten in diesen Regionen sind auch nicht geeignet, diesen Verdacht zu entkräften. Doch ist die korrekte Durchführung der Abstimmung nur ein Aspekt einer demokratischen Wahl. Ebenso relevant ist, dass alle Bewerber die gleichen Chancen bei der Zulassung zur Wahl und die gleichen Möglichkeiten haben, sich der Öffentlichkeit zu präsentieren. Der Einsatz der Administrationen hatte aber bereits im Vorfeld der Wahlen - bei der Bestellung der Wahlkommissionen, bei der Aufstellung und Registrierung der Kandidaten sowie in der Wahlkampagne - sichergestellt, dass sich kein unerwünschter Kandidat und keine missliebige Oppositionspartei durchsetzen konnte. Durch restriktives Vorgehen bei der Registrierung und durch Behinderung bei der Agitation wurden der nichtsystemischen Opposition von vornherein alle Chancen genommen. Dieses Vorgehen ist nicht neu, man hat derlei in Russland vielfach erprobt und zuletzt bei den Regionalwahlen 2014 und 2015 erfolgreich eingesetzt. Das Ergebnis der Dumawahl 2016 demonstriert also, dass die Zentrale in der Lage ist, politische Ziele mit Hilfe der regionalen und kommunalen Verwaltungen landesweit durchzusetzen. Insofern bestätigt das Wahlergebnis die Stabilität und Funktionsfähigkeit des Apparats und die Wirksamkeit der politischen Kontrolle. Dies ist eine der Voraussetzungen für die Erhaltung der politischen Stabilität (RA 7.10.2016).
Quellen:
-
AA - Auswärtiges Amt (3.2017a): Russische Föderation - Innenpolitik,
http://www.auswaertigesamt.de/sid_167537BE2E4C25B1A754139A317E2F27/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/RussischeFoederation/Innenpolitik_node.html, Zugriff 21.6.2017
-
CIA - Central Intelligence Agency (15.6.2017): The World Factbook, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/rs.html, Zugriff 21.6.2017
-
EASO - European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 21.6.2017
-
GIZ Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (4.2017a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c24819, Zugriff 21.6.2017
-
GIZ Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2017c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/, Zugriff 11.7.2017
-
Kurier.at (13.7.2017): Nemzow-Mord: 20 Jahre Straflager für Mörder,
https://kurier.at/politik/ausland/nemzow-mord-20-jahre-straflager-fuer-moerder/274.903.855, Zugriff 13.7.2017
-
RA - Russland Analysen (7.10.2016): Nr. 322, Bewegung in der russischen Politik?,
http://www.laender-analysen.de/russland/pdf/RusslandAnalysen322.pdf, Zugriff 21.6.2017
-
Standard (29.7.2017): Alle Angeklagten im Mordfall Nemzow schuldiggesprochen,
http://derstandard.at/2000060550142/Alle-Angeklagten-im-Mordfall-Nemzow-schuldig-gesprochen, Zugriff 30.6.2017;
-
Standard.at (6.5.2018): Härte gegen Proteste vor erneuter Putin-Amtseinführung,
https://derstandard.at/2000079263953/Nawalny-nach-Festnahme-bei-Oppositionskundgebung-wieder-frei, Zugriff 7.5.2018
-
Standard.at (7.5.201): Putin trat vierte Amtszeit als Präsident an, kommt am 5. Juni nach Wien, https://derstandard.at/2000079311730/Putin-tritt-vierte-Amtszeit-als-russischer-Praesident-an, Zugriff 7.5.2018
-
Kurier.at (7.5.2018): Putin trat vierte Amtszeit an und besucht am 5. Juni Wien,
https://kurier.at/politik/ausland/putin-trat-vierte-amtszeit-an-geloebnis-vor-5000-gaesten/400031920, Zugriff 7.5.2018
Dagestan
Dagestan belegt mit einer Einwohnerzahl von knapp drei Millionen Menschen (2% der Gesamtbevölkerung Russlands) den dritten Platz unter den Republiken der Russischen Föderation. Über die Hälfte der Einwohner (54,9%) sind Dorfbewohner. Die Bevölkerung in Dagestan wächst verhältnismäßig schnell. Im Unterschied zu den faktisch monoethnischen Republiken Tschetschenien und Inguschetien setzt sich die Bevölkerung Dagestans aus einer Vielzahl von Ethnien zusammen. In der Republik gibt es 60 verschiedene Nationalitäten, einschließlich der Vertreter der 30 alteingesessenen Ethnien. Alle sprechen unterschiedliche Sprachen. Dieser Umstand legt die Vielzahl der in Dagestan wirkenden Kräfte fest, begründet die Notwendigkeit eines Interessenausgleichs bei der Lösung entstehender Konflikte und stellt ein Hindernis für eine starke autoritäre Zentralmacht in der Republik dar. Allerdings findet dieser "Interessenausgleich" traditionellerweise nicht auf dem rechtlichen Wege statt, was in Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Clans münden kann. Der Lebensstandard in der Republik Dagestan ist einer der niedrigsten in der gesamten Russischen Föderation und das Ausmaß der Korruption sogar für die Region Nordkaukasus beispiellos (IOM 6.2014, vgl. ACCORD 14.4.2017).
Dagestan ist hinsichtlich persönlicher Freiheiten besser gestellt als Tschetschenien, bleibt allerdings eine der ärmsten Regionen Russlands, in der der Staat mit aller Härte gegen "Aufständische" vorgeht. Die weit überwiegende Anzahl von Gewaltopfern war in den Jahre 2015 und 2016 in Dagestan zu verzeichnen. Aktionen von Sicherheitskräften nehmen auch die Familienangehörigen von bewaffneten Untergrundkämpfern ins Visier (AA 24.1.2017).
Was das politische Klima betrifft, gilt die Republik Dagestan im Vergleich zu Tschetschenien noch als relativ liberal. Die Zivilgesellschaft ist hier stärker vertreten als in Tschetschenien. Ebenso existiert - anders als in der Nachbarrepublik - zumindest eine begrenzte Pressefreiheit. Wie im Abschnitt über Dagestans Völkervielfalt erwähnt, stützt die ethnische Diversität ein gewisses Maß an politischem Pluralismus und steht autokratischen Herrschaftsverhältnissen entgegen. So hatte der Vielvölkerstatus der Republik das Amt eines Präsidenten oder Republikführers lange Zeit verhindert. Erst Anfang 2006 setzte der Kreml den Awaren Muchu Alijew als Präsidenten an die Spitze der Republik. Alijew war in sowjetischer Zeit ein hochrangiger Parteifunktionär und bekleidete danach zehn Jahre lang den Vorsitz im Parlament Dagestans. Er galt als "Mann des Volkes" in einer Republik, in der politische Macht bislang an die Unterstützung durch lokale und ethnische Seilschaften gebunden war. Alijew, so schien es anfangs, stand über diesen Clan-Welten. Doch die Hoffnung auf Korruptionsbekämpfung und bessere Regierungsführung wurde enttäuscht. Moskau ersetzte ihn 2009 durch Magomedsalam Magomedow, einen Sohn des langjährigen Staatsratsvorsitzenden, der als Präsidentenersatz fungiert hatte. Damit verschob sich die politische Macht im ethnischen Spektrum von den Awaren wieder zu den Darginern. Der neue Präsident war mit Hinterlassenschaften der 14-jährigen Herrschaft seines Vaters Magomedali Magomedow konfrontiert, die sein Amtsvorgänger Alijew nicht hatte bewältigen können. Das betraf vor allem Korruption und Vetternwirtschaft. In Dagestan bemühte sich Magomedow vor allem um einen Dialog zwischen den konfessionellen Konfliktparteien der Sufiten und Salafisten und um eine Reintegration der "Waldbrüder", des bewaffneten Untergrunds also, in die Gesellschaft. Er berief auch einen dagestanischen Völkerkongress mit fast 3.000 Teilnehmern ein, der im Dezember 2010 religiösen Extremismus und Terrorismus verdammte und die Bevölkerung aufrief, den Kampf gegen den bewaffneten Untergrund zu unterstützen. Ein Ergebnis des Kongresses war die Schaffung eines Komitees für die Reintegration von Untergrundkämpfern. Doch auch Magomedsalam Magomedow gelang es nicht, die Sicherheitslage in Dagestan zu verbessern. Anfang 2013 ersetzte der Kreml Magomedow durch Ramsan Abdulatipow, den in Moskau wohl bekanntesten Dagestaner. Abdulatipow galt dort als Experte für interethnische Beziehungen und religiöse Konflikte im Nordkaukasus; 1999/2000 hatte er kurzzeitig das ein Jahr später abgeschaffte föderale Ministerium für Nationalitätenbeziehungen geleitet. Damit trat abermals ein Hoffnungsträger an die Spitze der Republik, der als Erstes der Korruption und dem Clanismus den Kampf ansagte. Abdulatipows Kampf gegen Korruption und Nepotismus führte zwar zum Austausch von Personal, doch die Strukturen, die dem Problem zugrunde liegen, wurden kaum angetastet. Es war auch nicht zu erwarten, dass sich ein Phänomen wie das Clan- und Seilschaftsprinzip, das für Dagestan so grundlegende gesellschaftlich-politische Bedeutung hat, ohne weiteres würde überwinden lassen. Dieses Prinzip wird nicht nur durch ethnische, sondern auch durch viele andere Zuordnungs- und Gemeinschaftskriterien bestimmt und prägt Politik wie Geschäftsleben der Republik auf entscheidende Weise. Zudem blieb der Kampf gegen den bewaffneten Untergrund oberste Priorität, was reformpolitische Programme in den Hintergrund rückte. Dabei zeugt die Praxis der Anti-Terror-Operationen in der Ära Abdulatipow von einer deutlichen Stärkung der "Siloviki", das heißt des Sicherheitspersonals. Zur Bekämpfung der Rebellen setzt der Sicherheitsapparat alte Methoden ein. Wie in Tschetschenien werden die Häuser von Verwandten der Untergrundkämpfer gesprengt, und verhaftete "Terrorverdächtige" können kaum ein faires Gerichtsverfahren erwarten. Auf Beschwerden von Bürgern über Willkür und Straflosigkeit der Sicherheitskräfte reagiert Abdulatipow mit dem Argument, Dagestan müsse sich "reinigen", was ein hohes Maß an Geduld erfordere (SWP 4.2015).
Laut Swetlana Gannuschkina ist Abdulatipow ein alter sowjetischer Bürokrat. Sein Vorgänger Magomedsalam Magomedow war ein sehr intelligenter Mann, der kluge Innenpolitik betrieb. Er hatte eine Diskussionsplattform organisiert, wo verfeindete Gruppen miteinander gesprochen haben. Es ging dabei vor allem um den Dialog zwischen den Salafisten und den Anhängern des Sufismus. Unter ihm haben auch die außergerichtlichen Hinrichtungen von Seiten der Polizei aufgehört. Er hat eine sogenannte Adaptionskommission eingerichtet. Diese Kommission hatte die Aufgabe, Kämpfern von illegal bewaffneten Einheiten eine Rückkehr ins bürgerliche Leben zu ermöglichen. Diejenigen, die kein Blut an den Händen hatten, konnten mit Hilfe dieser Kommission wieder in der Gesellschaft Fuß fassen. Wenn sie in ihrem bewaffneten Widerstand Gewalt angewendet oder Verbrechen begangen hatten, wurden sie zwar verurteilt, aber zu einer geringeren Strafe. Auch diese Personen sind in die dagestanische Gesellschaft reintegriert worden. Mit der Ernennung Abdulatipows als Oberhaupt der Republik gab es keine Verhandlungen mehr mit den Aufständischen und er initiierte einen harten Kampf gegen den Untergrund. Dadurch stiegen die Terroranschläge und Gewalt in Dagestan wieder an (Gannuschkina 3.12.2014, vgl. AI 9.2013).
In Machatschkala, der Hauptstadt Dagestans, ist die gesamte Regierungsspitze auf Befehl Moskaus festgenommen worden, insgesamt sieben Personen: der kommissarische Regierungschef Abdussamad Gamidow, zwei seiner Stellvertreter und vier weitere ranghohe Beamte. Ihnen wird Korruption vorgeworfen. Persönliche Waffen der Politiker wurden beschlagnahmt. Die Politiker wurden von Sicherheitskräften aus Moskau in Handschellen zum Flughafen gebracht und zu Vernehmungen in die russische Hauptstadt geflogen. Die muslimisch geprägte russische Teilrepublik Dagestan wird von Korruption und islamistischem Extremismus geprägt und macht Moskau Sorgen. Präsident Wladimir Putin entsandte im vergangenen Oktober den ehemaligen russischen Vize-Innenminister Wladimir Wassiljew, um für Ordnung zu sorgen. Im Januar war bereits der Bürgermeister der Hauptstadt, Mussa Mussajew, wegen Amtsmissbrauchs verhaftet worden (Euronews 6.2.2018, vgl. Kurier 5.2.2018).
Der Präsident der Republik Dagestan, Ramasan Abdulatipow, ist im September 2017 von seinem Amt aus Altersgründen zurückgetreten (Ostexperte.de 28.9.2017). Am 9.10.2017 wird daraufhin Wladimir Wasiljew zum kommissarischen Oberhaupt der Republik Dagestan ernannt (Länderanalysen - Chronik 9.10.2017).
Quellen:
-
Euronews (6.2.2018): Dagestan: Gesamte Regierung in Handschellen abgeführt,
http://de.euronews.com/2018/02/06/dagestan-gesamte-regierung-in-handschellen-abgefuhrt, Zugriff 7.2.2018
-
Kurier (5.2.2018): Russland: Regierungsspitze in Dagestan festgenommen,
https://kurier.at/politik/ausland/russland-regierungsspitze-in-dagestan-festgenommen/309.777.147, Zugriff 7.2.2018
-
Russland Analysen (9.10.2017): Chronik: Russland im Jahr 2017, http://www.laender-analysen.de/russland/chroniken/Chronik_RusslandAnalysen_2017.pdf, Zugriff 7.2.2018
-
Ostexperte.de (28.9.2017): Präsident von Dagestan verkündet Rücktritt,
https://ostexperte.de/praesident-von-dagestan-verkuendet-ruecktritt/, Zugriff 7.2.2018
-
ACCORD (14.4.2017): Themendossier Sicherheitslage in Dagestan & Zeitachse von Angriffen,
http://www.ecoi.net/news/190001::russische-foederation/120.sicherheitslage-in-dagestan-zeitachse-von-angriffen.htm, Zugriff 21.6.2017
-
AI - Amnesty International (9.2013): Amnesty Journal Oktober 2013, Hinter den Bergen,
http://www.amnesty.de/journal/2013/oktober/hinter-den-bergen, Zugriff 21.6.2017
-
Gannuschkina, Swetlana (3.12.2014): UNHCR Veranstaltung "Informationsaustausch über die Lage in der Russischen Föderation/ Nordkaukasus" im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF)
-
IOM - International Organisation of Migration (6.2014):
Länderinformationsblatt Russische Föderation
-
SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan:
Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 21.6.2017
Sicherheitslage
Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, jederzeit zu Attentaten kommen. Zuletzt kam es am 3.4.2017 in Sankt Petersburg zu einem Anschlag in der Metro, der Todesopfer und Verletzte forderte. Die russischen Behörden haben zuletzt ihre Warnung vor Attentaten bekräftigt und rufen zu besonderer Vorsicht auf (AA 21.7.2017b). Den Selbstmordanschlag in der St. Petersburger U-Bahn am 3.4.2017 hat nach Angaben von Experten eine Gruppe mit mutmaßlichen Verbindungen zum islamistischen Terrornetzwerk Al-Qaida für sich reklamiert. Das Imam-Schamil-Bataillon habe den Anschlag mit 15 Todesopfern nach eigenen Angaben auf Anweisung des Al-Qaida-Chefs Ayman al-Zawahiri verübt, teilte das auf die Überwachung islamistischer Internetseiten spezialisierte US-Unternehmen SITE am Dienstag mit (Standard 25.4.2017). Der Selbstmordattentäter Akbarschon Dschalilow stammte aus der kirgisischen Stadt Osch. Zehn Personen, die in den Anschlag verwickelt sein sollen, sitzen in Haft, sechs von ihnen wurden in St. Petersburg, vier in Moskau festgenommen. In russischen Medien wurde der Name eines weiteren Mannes aus der Gegend von Osch genannt, den die Ermittler für den Auftraggeber des Anschlags hielten: Siroschiddin Muchtarow, genannt Abu Salach al Usbeki. Der Angriff, sei eine Vergeltung für russische Gewalt gegen muslimische Länder wie Syrien und für das, was in der russischen Nordkaukasus-Teilrepublik Tschetschenien geschehe; die Operation sei erst der Anfang. Mit Terrorangriffen auf und in Russland hatte sich zuletzt nicht Al-Qaida, sondern der sogenannte Islamische Staat gebrüstet, so mit jüngsten Angriffen auf Sicherheitskräfte in Tschetschenien und der Stadt Astrachan. Laut offizieller Angaben sollen 4.000 Russen und 5.000 Zentralasiaten in Syrien und dem Irak für den IS oder andere Gruppen kämpfen. Verteidigungsminister Schoigu behauptete Mitte März 2016, es seien durch Russlands Luftschläge in Syrien "mehr als 2.000 Banditen" aus Russland, unter ihnen 17 Feldkommandeure getötet worden (FAZ 26.4.2017).
Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderte Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Gewaltzwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Demnach stand Russland 2011 noch an neunter Stelle hinter mittelöstlichen, afrikanischen und südasiatischen Staaten, weit vor jedem westlichen Land. Im Jahr 2016 rangierte es dagegen nur noch auf Platz 30 hinter Frankreich (Platz 29), aber vor Großbritannien (Platz 34) und den USA (Platz 36). Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der IS Russland den Jihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an internationale Kooperation (SWP 4.2017).
Russland hat den sog. IS erst Ende Dezember 2014 auf seine Liste terroristischer Organisationen gesetzt und dabei andere islamistische Gruppierungen außer Acht gelassen, in denen seine Staatsbürger, insbesondere Tschetschenen und Dagestaner, in Syrien und im Irak ebenfalls aktiv sind - wie die Jaish al-Muhajireen-wal-Ansar, die überwiegend von Kämpfern aus dem Nordkaukasus gegründet wurde. Ausländische und russische Beobachter, darunter die kremlkritische Novaja Gazeta im Juni 2015, erhoben gegenüber den Sicherheitsbehörden Russlands den Vorwurf, der Abwanderung von Jihadisten aus dem Nordkaukasus und anderen Regionen nach Syrien tatenlos, wenn nicht gar wohlwollend zuzusehen, da sie eine Entlastung für den Anti-Terror-Einsatz im eigenen Land mit sich bringe. Tatsächlich nahmen die Terroraktivitäten in Russland selber ab (SWP 10.2015). In der zweiten Hälfte des Jahres 2014 kehrte sich diese Herangehensweise um, und Personen, die z.B. Richtung Türkei ausreisen wollten, wurden an der Ausreise gehindert. Nichtsdestotrotz geht der Abgang von gewaltbereiten Dschihadisten weiter und Experten sagen, dass die stärksten Anführer der Aufständischen, die dem IS die Treue geschworen haben, noch am Leben sind. Am 1.8.2015 wurde eine Hotline eingerichtet, mit dem Ziel, Personen zu unterstützen, deren Angehörige in Syrien sind bzw. planen, nach Syrien zu gehen. Auch Rekrutierer und Personen, die finanzielle Unterstützung für den Dschihad sammeln, werden von den Sicherheitsbehörden ins Visier genommen. Einige Experten sind der Meinung, dass das IS Rekrutierungsnetzwerk eine stabile Struktur in Russland hat und Zellen im Nordkaukasus, in der Wolga Region, Sibirien und im russischen Osten hat (ICG 14.3.2016).
Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt. Dem russischen Islamexperten Aleksej Malaschenko zufolge reisten gar Offizielle aus der Teilrepublik Dagestan nach Syrien, um IS-Kämpfer aus dem Kaukasus darin zu bestärken, ihren Jihad im Mittleren Osten und nicht in ihrer Heimat auszutragen. Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Novaja Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der IS-Sprecher Muhammad al-Adnani ein ‚Wilajat Kavkaz', eine Provinz Kaukasus, als Teil des IS-Kalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kaukasus Emirats dem ‚Kalifen' Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Jihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren. Seitdem mehren sich am Südrand der Russischen Föderation die Warnungen vor einer Bedrohung durch den sogenannten Islamischen Staat. Kurz zuvor hatten die föderalen und lokalen Sicherheitsorgane noch den Rückgang terroristischer Aktivitäten dort für sich reklamiert. Als lautester Mahner tut sich wieder einmal der tschetschenische Republikführer Ramzan Kadyrow hervor. Er rief alle muslimischen Länder dazu auf, sich im Kampf gegen den IS, den er mit Iblis-Staat - also Teufelsstaat - übersetzt, zusammenzuschließen. Für Kadyrow ist der IS ein Produkt anti-islamischer westlicher Politik, womit er sich im Einklang mit der offiziellen Sichtweise des Kremls befindet, der dem Westen regelmäßig fatale Eingriffe im Mittleren Osten vorwirft. Terroristische Aktivitäten im Nordkaukasus, die eindeutig den Überläufern zum IS zuzuschreiben sind, haben sich aber bislang nicht verstärkt. Bis September 2015 wurden nur zwei Anschläge in Dagestan der IS-Gefolgschaft zugeschrieben: die Ermordung des Imam einer Dorfmoschee und ein bewaffneter Angriff auf die Familie eines Wahrsagers. Auch im Südkaukasus mehren sich die Stimmen, die vor dem IS warnen (SWP 10.2015).
Bis ins Jahr 2015 hinein hat Russland die vom sogenannten Islamischen Staat ausgehende Gefahr eher relativiert und die Terrormiliz als einen von vielen islamistischen Akteuren abgetan, die das mit Moskau verbündete Assad-Regime, die ‚legitime Regierung Syriens', bekämpfen. In seiner jährlichen Tele-Konferenz mit der Bevölkerung am 18. April 2015 hatte Präsident Putin noch geäußert, der IS stelle keine Gefahr für Russland dar, obwohl die Sicherheitsbehörden schon zu diesem Zeitpunkt eine zunehmende Abwanderung junger Menschen nach Syrien und Irak registriert und vor den Gefahren gewarnt hatten, die von Rückkehrern aus den dortigen Kampfgebieten ausgehen könnten. Wenige Tage später bezeichnete Außenminister Lawrow den IS in einem Interview erstmals als Hauptfeind Russlands (SWP 10.2015).
Innerhalb der extremistischen Gruppierungen ist ein Ansteigen der Sympathien für den IS - v.a. auch auf Kosten des sog. Kaukasus-Emirats - festzustellen. Nicht nur die bislang auf Propaganda und Rekrutierung fokussierte Aktivität des IS im Nordkaukasus erregt die Besorgnis der russischen Sicherheitskräfte. Ein Sicherheitsrisiko stellt auch die mögliche Rückkehr von nach Syrien oder in den Irak abwandernden russischen Kämpfern dar. Laut diversen staatlichen und nichtstaatlichen Quellen kann man davon ausgehen, dass die Präsenz russischer Kämpfer in den Krisengebieten Syrien und Irak mehrere tausend Personen umfasst. Gegen IS-Kämpfer, die aus den Krisengebieten Syrien und Irak zurückkehren, wird v.a. gerichtlich vorgegangen. Zu Jahresende 2015 liefen laut Angaben des russischen Innenministeriums rund 880 Strafprozesse, die meisten davon basierend auf den relevanten Bestimmungen des russischen StGB zur Teilnahme an einer terroristischen Handlung, der Absolvierung einer Terror-Ausbildung sowie zur Organisation einer illegalen bewaffneten Gruppierung oder Teilnahme daran. Laut einer INTERFAX-Meldung vom 2.12.2015 seien in Russland bereits über 150 aus Syrien zurückgekehrte Kämpfer verurteilt worden. Laut einer APA-Meldung vom 27.7.2016 hat der Leiter des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB erläutert, das im Vorjahr geschätzte 3.000 Kämpfer nach Russland aus den Kriegsgebieten in Syrien, Irak oder Afghanistan zurückkehrt seien, wobei 220 dieser Kämpfer im besonderen Fokus der Sicherheitskräfte zur Vorbeugung von Anschlägen ständen. In einem medial verfolgten Fall griffen russische Sicherheitskräfte im August 2016 in St. Petersburg auf mutmaßlich islamistische Terroristen mit Querverbindungen zum Nordkaukasus zu. Medienberichten zufolge wurden im Verlauf des Jahres 2016 über 100 militante Kämpfer in Russland getötet, in Syrien sollen über 2.000 militante Kämpfer aus Russland bzw. dem GUS-Raum getötet worden sein (ÖB Moskau 12.2016).
Der russische Präsident Wladimir Putin setzt tschetschenische und inguschetische Kommandotruppen in Syrien ein. Bis vor kurzem wurden reguläre russische Truppen in Syrien überwiegend als Begleitcrew für die Flugzeuge eingesetzt, die im Land Luftangriffe fliegen. Von wenigen bemerkenswerten Ausnahmen abgesehen - der Einsatz von Artillerie und Spezialtruppen in der Provinz Hama sowie von Militärberatern bei den syrischen Streitkräften in Latakia - hat Moskau seine Bodeneinsätze bislang auf ein Minimum beschränkt. Somit repräsentiert der anhaltende Einsatz von tschetschenischen und inguschetischen Brigaden einen strategischen Umschwung seitens des Kremls. Russland hat nun in ganz Syrien seine eigenen, der sunnitischen Bevölkerung entstammenden Elitetruppen auf dem Boden. Diese verstärkte Präsenz erlaubt es dem sich dort langfristig eingrabenden Kreml, einen stärkeren Einfluss auf die Ereignisse im Land auszuüben. Diese Streitkräfte könnten eine entscheidende Rolle spielen, sollte es notwendig werden, gegen Handlungen des Assad-Regimes vorzugehen, die die weitergehenden Interessen Moskaus im Nahen Osten unterlaufen würden. Zugleich erlauben sie es dem Kreml, zu einem reduzierten politischen Preis seine Macht in der Region zu auszubauen (Mena Watch 10.5.2017). Welche Rolle diese Brigaden spielen sollen, und ihre Anzahl sind noch nicht sicher. Es wird geschätzt, dass zwischen 300 und 500 Tschetschenen und um die 300 Inguscheten in Syrien stationiert sind. Obwohl sie offiziell als "Militärpolizei" bezeichnet werden, dürften sie von der Eliteeinheit Speznas innerhalb der tschetschenischen Streitkräfte rekrutiert worden sein (FP 4.5.2017).
Für den Kreml hat der Einsatz der nordkaukasischen Brigaden mehrere Vorteile. Zum einen reagiert die russische Bevölkerung sehr sensibel auf Verluste der russischen Armee in Syrien. Verluste von Personen aus dem Nordkaukasus würden wohl weniger Kritik hervorrufen. Zum anderen ist der wohl noch größere Vorteil jener, dass sowohl Tschetschenen, als auch Inguscheten fast alle sunnitische Muslime sind und somit derselben islamischen Richtung angehören, wie ein Großteil der syrischen Bevölkerung. Die mehrheitlich sunnitischen Brigaden könnten bei der Bevölkerung besser ankommen, als ethnisch russische Soldaten. Außerdem ist nicht zu vernachlässigen, dass diese Einsatzkräfte schon über Erfahrung am Schlachtfeld verfügen, beispielsweise vom Kampf in der Ukraine (FP 4.5.2017).
Bis jetzt war der Einsatz der tschetschenischen und inguschetischen Bodentruppen auf Gebiete beschränkt, die für den Kreml von entscheidender Bedeutung waren. Obwohl es momentan eher unwahrscheinlich scheint, dass die Rolle der nordkaukasischen Einsatzkräfte bald ausgeweitet wird, agieren diese wohl weiterhin als die Speerspitze in Moskaus Strategie, seinen Einfluss in Syrien zu vergrößern (FP 4.5.2017).
Quellen:
-
AA - Auswärtiges Amt (21.7.2017b): Reise- und Sicherheitshinweise, http://www.auswaertiges-amt.de/sid_93DF338D07240C852A755BB27CDFE343/DE/Laenderinformationen/00-SiHi/Nodes/RussischeFoederationSicherheit_node.html, Zugriff 21.7.2017
-
FAZ (26.4.2017):"Erst der Anfang", http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/anschlag-in-st-petersburg-russland-steht-im-visier-von-terror-14989012.html, Zugriff 21.7.2017
-
FP - Foreign Policy (4.5.2017): Putin has a new secret weapon in Syria: Chechens,
http://foreignpolicy.com/2017/05/04/putin-has-a-new-secret-weapon-in-syria-chechens/, Zugriff 21.7.2017