RS Vfgh 2018/10/10 G186/2018 ua

JUSLINE Rechtssatz

Veröffentlicht am 10.10.2018
beobachten
merken

Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

B-VG Art140 Abs1 Z1 lita
B-VG Art130 Abs1 Z1, Art132 Abs1 Z1
AsylG 2005 §12a, §22 Abs10
BFA-VG §22
VfGG §7 Abs1

Leitsatz

Keine Verfassungswidrigkeit von Bestimmungen des AsylG 2005 und des BFA-VG betreffend die Voraussetzungen und das Verfahren bei Folgeanträgen nach Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes von Fremden durch das BFA; Fiktion der Erhebung einer (Partei-)Beschwerde durch Übermittlung der Verwaltungsakten an das BVwG mit System der Verwaltungsgerichtsbarkeit vereinbar; kein amtswegiges Vorgehen des BVwG, keine erstinstanzliche Zuständigkeit des BVwG

Rechtssatz

Abweisung von - zulässigen - (Gerichts-)Anträgen des VwGH und des BVwG auf Aufhebung des §22 Abs10 dritter, vierter und fünfter Satz AsylG 2005 sowie des §22 BFA-VG (alle idF BGBl I 68/2013) aufgrund offenkundiger Untrennbarkeit der Bestimmungen. Im Übrigen Zurückweisung der Hauptanträge als zu eng sowie teilweise Zurückweisung der Eventualanträge als zu weit gefasst.

Gemäß Art130 Abs1 Z1 B-VG erkennen die Verwaltungsgerichte über Beschwerden gegen den Bescheid einer Verwaltungsbehörde wegen Rechtswidrigkeit. Das schließt einerseits ein amtswegiges Tätigwerden des BVwG aus und verlangt andererseits ein entsprechendes Kontrollobjekt; erstinstanzliche Zuständigkeiten des BVwG können daher nicht begründet werden.

Kein amtswegiges Vorgehen des BVwG auf Grund von §22 Abs10 AsylG 2005 und §22 BFA-VG:

Gemäß §22 Abs10 AsylG 2005 wird nicht das BVwG, sondern vielmehr das BFA, also die Verwaltungsbehörde, von Amts wegen tätig. Das BFA hat dem BVwG die Verwaltungsakten unverzüglich zur Überprüfung zu übermitteln. Nach den Erläuterungen zu §22 Abs10 AsylG 2005 erfolgt diese Übermittlung der Verwaltungsakten "automatisch", also von Amts wegen. Das BVwG wird indes nicht aus Eigenem tätig; vielmehr wird die Pflicht zur Überprüfung des verwaltungsbehördlichen Bescheides erst mit dem Einlangen der Verwaltungsakten, die das BFA zu übermitteln hat, ausgelöst (vgl die VfSlg 19215/2010 zugrundeliegende Gesetzessystematik).

Des Weiteren liegt auch eine Beschwerde iSd Art130 B-VG vor. Gemäß Art132 Abs1 Z1 B-VG kann eine Beschwerde wegen Rechtswidrigkeit gegen einen Bescheid einer Verwaltungsbehörde u.a. erheben, wer durch den Bescheid in seinen Rechten verletzt zu sein behauptet ("Parteibeschwerde"). Art132 B-VG regelt somit, wem die Beschwerdeberechtigung zukommt; eine Beschwerde kann ausschließlich von einem legitimierten Beschwerdeführer erhoben werden. Die Beschwerdelegitimation knüpft dabei an den jeweiligen Beschwerdegegenstand an. Die gemäß §22 Abs10 AsylG 2005 erfolgte Übermittlung der Verwaltungsakten an das BVwG gilt nach der ausdrücklichen Anordnung des §22 Abs10 vierter Satz leg cit als Beschwerde gegen den Bescheid des BFA. Den Erläuterungen zufolge sei "eine gesonderte Beschwerde aus Eigenem [...] daher nicht zulässig" bzw "erforderlich".

Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass der Gesetzgeber mit der Übermittlung der Verwaltungsakten intendiert, eine Parteibeschwerde, also die Geltendmachung einer Rechtswidrigkeit durch den Betroffenen im Sinne des Art132 Abs1 Z1 B-VG, zu fingieren.

Die vom Gesetzgeber in §22 Abs10 AsylG 2005 und §22 BFA-VG angeordnete Rechtsschutzkonstruktion in Form einer fiktiven Parteibeschwerde in ausnahmslos jedem Fall einer Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes ist - vor dem Hintergrund des engen inhaltlichen Zusammenhanges des Aufhebungsverfahrens mit dem Folgeantrag - mit dem in Art130 und 132 B-VG vorgesehenen System der Verwaltungsgerichtsbarkeit vereinbar:

Das Verfahren über die Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes gemäß §12a Abs2 AsylG 2005 steht stets in Zusammenhang mit einem Asylverfahren anlässlich eines Folgeantrages, über den noch nicht abschließend entschieden wurde. Diesem Folgeantrag geht ein rechtskräftig mit der vollinhaltlichen Ab- oder Zurückweisung des Antrages auf internationalen Schutz abgeschlossenes, rechtsstaatlich durchgeführtes, Asylverfahren ("Erstverfahren") voraus, das mit einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme verbunden wurde. Folglich wurde bereits vor der Stellung eines Folgeantrages zumindest einmal eine Refoulement-Prüfung bzw Interessenabwägung vorgenommen.

Gemäß §12a Abs2 Z1 AsylG 2005 kann der faktische Abschiebeschutz nur aufgehoben werden, wenn eine Rückkehrentscheidung gemäß §52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß §61 FPG, eine Ausweisung gemäß §66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß §67 FPG vorliegt. §12a Abs2 Z2 AsylG 2005 verlangt eine Prognoseentscheidung über eine voraussichtliche Antragszurückweisung; die Sachentscheidung über den Folgeantrag selbst ist nicht Gegenstand dieses Verfahrens. Darüber hinaus sieht §12a Abs2 Z3 leg cit vor, dass vor Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes und damit vor der möglichen Effektuierung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme erneut eine Refoulement-Prüfung nach Art2 und 3 EMRK sowie eine Interessenabwägung iSv Art8 EMRK vorzunehmen sind.

Die Erläuterungen zur Regierungsvorlage zu §12a und §41a Abs2 AsylG 2005 idF vor der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012 heben hervor, dass sich die Refoulement-Prüfung auf einen seit dem Entscheidungszeitpunkt des vorigen Verfahrens geänderten Sachverhalt zu beziehen hat. Die - durch die Übermittlung der Verwaltungsakten an das BVwG ausgelöste - "automatische" Überprüfung der Entscheidung des BFA gewährleistet die rasche Überprüfung durch das BVwG. Der Überprüfung durch das BVwG kommt an sich keine aufschiebende Wirkung zu. Jedoch hat der Gesetzgeber mit der - ab Einlangen des Verwaltungsaktes bei der zuständigen Gerichtsabteilung beginnenden - Frist von drei Arbeitstagen, innerhalb derer mit der Effektuierung der aufenthaltsbeendenden Maßnahme zuzuwarten ist, in einem erforderlichen Maß sichergestellt, dass das BVwG in der Lage ist, den Fall zu prüfen und gegebenenfalls die Entscheidung des BFA zu beheben, bevor es zu einer Außerlandesschaffung kommt.

Die Gesetzesmaterialien erklären die Einführung der Sonderbestimmungen für Folgeanträge mit der Praxis in der Vergangenheit. Diese habe gezeigt, dass Fremde, deren Asylantrag auch nach Beschwerden vor dem Asyl- und VfGH ab- oder zurückgewiesen wurde, oftmals einen oder auch mehrere weitere Asylanträge gestellt hätten (diese Feststellung wird in den Materialien mit entsprechendem Datenmaterial untermauert). Diese Anträge würden oft nicht dem berechtigten Vorbringen neuer Asylgründe dienen, sondern allein auf die Verhinderung aufenthaltsbeendender Maßnahmen und damit auf die ungerechtfertigte Verlängerung des faktischen Aufenthalts in Österreich abzielen. Diese Vorgehensweise stelle für das Asylsystem eine enorme Belastung dar und gefährde den geordneten Vollzug des Fremdenwesens.

Die angefochtenen Bestimmungen gewährleisten für den vorliegenden Zusammenhang, dass im Verfahren über die Aberkennung des faktischen Abschiebeschutzes rasch entschieden wird. Mit einem Folgeantrag auf internationalen Schutz begehrt ein Fremder, den Status eines Asylberechtigten iSd §2 Abs1 Z15 AsylG 2005 zu erlangen. Die Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes gemäß §12a Abs2 AsylG 2005 durch das BFA läuft dem vom Fremden mit der Stellung des Folgeantrages erkennbar verfolgten Ziel, sich (rechtmäßig) im Bundesgebiet aufzuhalten, zuwider. Zudem greift die Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes, der Fremden zunächst durch §12 Abs1 AsylG 2005 ex lege zusteht, in deren verfassungsgesetzlich gewährleistete Rechte ein.

Der VwGH und das BVwG gehen zwar zu Recht davon aus, dass Art130 B-VG grundsätzlich der Gedanke zugrunde liegt, ein Verwaltungsgericht habe nur dann über Streitigkeiten betreffend die Tätigkeit einer Verwaltungsbehörde zu entscheiden, wenn solche von jemandem, der rechtliche Interessen verfolgt, an das Verwaltungsgericht herangetragen werden. Doch kann dem Gesetzgeber im vorliegenden Fall von Verfassungs wegen nicht entgegengetreten werden, wenn er den von einem Aufhebungsbescheid betroffenen Fremden in typisierender Betrachtungsweise unterstellt, eine Abschiebung für die Zukunft unterbinden und daher den Bescheid über die Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes bekämpfen zu wollen. Vor diesem Hintergrund geht der Gesetzgeber in der spezifischen Konstellation der §§22 Abs10 AsylG 2005 und 22 BFA-VG zulässigerweise davon aus, dass eine Beschwerdeerhebung in Form einer gesetzlichen Fiktion den rechtlichen Interessen des von einem Aufhebungsbescheid betroffenen Fremden entspricht.

Das BVwG hat den Bescheid gemäß §22 Abs10 letzter Satz AsylG 2005 auf seine Rechtswidrigkeit hin zu überprüfen. Das BVwG ist sohin gehalten, (sämtliche) Rechtswidrigkeiten aufzugreifen. Abgesehen davon ist es dem betroffenen Fremden nicht verwehrt, eine Stellungnahme abzugeben bzw durch eine Beschwerdeergänzung auf Umstände des Falles hinzuweisen, die ihm entscheidungsrelevant erscheinen. Dies wird durch §22 Abs1 dritter Satz BFA-VG bestätigt, der die Geltung des §20 leg.cit. normiert und damit eine Beschränkung des zulässigen (Beschwerde-)Vorbringens auch für das Verfahren über die Aberkennung des faktischen Abschiebeschutzes anordnet. Dem Fremden wird insofern von Gesetzes wegen insbesondere auch nicht die Möglichkeit genommen, von ihm behauptete Rechtswidrigkeiten des Aufhebungsbescheides vorzubringen.

Keine Begründung einer erstinstanzlichen Zuständigkeit des BVwG durch §22 Abs10 AsylG 2005 und §22 BFA-VG iSd Art130 B-VG:

Gemäß §22 Abs10 AsylG 2005 entscheidet das BVwG über die Rechtmäßigkeit der Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes. Die Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes durch das BFA gemäß §12a Abs2 AsylG 2005 ergeht in Bescheidform. §22 Abs10 AsylG 2005 beruft das BVwG folglich dazu, über die Rechtmäßigkeit des Bescheides einer Verwaltungsbehörde zu erkennen, gibt also ein entsprechendes Kontrollobjekt - den verwaltungsbehördlichen Bescheid - vor. Damit ist das BVwG jedoch (ausschließlich) zur Überprüfung des Bescheides des BFA berufen und wird daher als Kontroll- bzw Rechtsmittelinstanz, nicht jedoch als erste Instanz tätig. Dass das BVwG gemäß §22 Abs1 letzter Satz BFA-VG grundsätzlich in der Sache selbst zu entscheiden hat, ist im Hinblick auf Art130 Abs4 B-VG unbedenklich. Vor dem Hintergrund des Art130 B-VG ist in vorliegendem Fall auch die Frage der Rechtskraftfähigkeit des gemäß §12a Abs2 AsylG 2005 erlassenen Aufhebungsbescheides unerheblich.

Entscheidungstexte

  • G186/2018 ua
    Entscheidungstext VfGH Erkenntnis 10.10.2018 G186/2018 ua

Schlagworte

Fremdenrecht, Asylrecht, Beschwerderecht, Rechtsschutz, Refoulement-Verbot, Ausweisung, Verwaltungsverfahren, Bescheid Rechtskraft, VfGH / Prüfungsumfang

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2018:G186.2018

Zuletzt aktualisiert am

09.03.2020
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten