TE Bvwg Erkenntnis 2018/9/21 W229 2166186-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 21.09.2018
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Entscheidungsdatum

21.09.2018

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §34
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art.133 Abs4

Spruch

W229 2166186-1/14E

W229 2166180-1/15E

W229 2166184-1/6E

W229 2166176-1/6E

W229 2166173-1/6E

W229 2171585-1/6E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag.a Elisabeth WUTZL als Einzelrichterin über die Beschwerde der 1.) XXXX , geb. am XXXX , des 2.) XXXX , geb. am XXXX , der 3.) XXXX , geb. XXXX , des 4.) XXXX geb. XXXX , des 5.) XXXX , geb. XXXX und der 6.) XXXX , geb. XXXX , alle StA. Afghanistan, vertreten durch Rechtsanwalt Mag. Robert BITSCHE, Nikolsdorfergasse 7-11/15, 1050 Wien, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 26.06.2017, 1.) Zl. XXXX , 2.) Zl. XXXX , 3.) Zl. XXXX , 4.) Zl. XXXX , 5.) Zl. XXXX und gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 07.09.2017, Zl. 1165120309-170979276, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung, zu Recht:

A)

I. Die Beschwerden werden hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

II. Den Beschwerden gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und XXXX , XXXX , XXXX und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 und XXXX und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 iVm § 34 Abs 3 AsylG 2005 der Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX , XXXX , XXXX , XXXX ,

XXXX und XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter bis zum 20.09.2018 erteilt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. XXXX , geb. am XXXX (BF1), XXXX , geb. am XXXX (BF2), XXXX , geb. XXXX (BF3), XXXX geb. XXXX (BF4), und XXXX , geb. XXXX (BF5), alle afghanische Staatsangehörige, reisten in das österreichische Bundesgebiet ein und stelten am 12.06.2016 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. XXXX , geb. XXXX (BF6) wurde am

XXXX in Österreich geboren.

2.1. Bei ihrer Erstbefragung am selben Tag durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab die BF1 zusammengefasst an, sie sei in Mazar e Sharif, Afghanistan, geboren. Sie sei verheiratet, ihre Muttersprache sei Dari, sie gehöre der Volksgruppe der Tadschiken und der sunnitischen Glaubensrichtung des Islam an. Sie habe drei Jahre die Grundschule besucht und sei Hausfrau gewesen. Als Angehörige in Österreich gab sie den BF2 und ihre Tochter (BF3) und ihre zwei Söhne (BF4, BF5) an. Ihr Bruder befinde sich in Griechenland. Als Familienangehörige im Herkunftsstaat oder anderem Drittstaat gab die BF1 ihre zwei Brüder und vier Schwestern an. Ihr Wohnsitz in Afghanistan sei in Mazar e Sharif, XXXX gewesen.

Befragt zu ihren Fluchtgründen gab die BF1 an, sie und ihre Familie hätten schon seit ca. 10-11 Jahren im Iran gelebt und sie seien dort nicht gut behandelt worden. Außerdem hätten ihre Kinder keine Schule besuchen dürfen und sie sollten eine bessere Zukunft haben als die BF1. Deshalb hätten sie den Iran vor ca. 5 Monaten verlassen damit ihre Kinder in Europa eine bessere Ausbildung bekommen. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan befürchte sie: "Meine Kinder sind mir wichtig und sollen eine gute Ausbildung bekommen."

Die BF1 stellte für die BF3-BF5 einen Antrag auf internationalen Schutz mit denselben Fluchtgründen.

2.2. Der BF2 gab bei der Erstbefragung zusammengefasst an, er sei am XXXX in Kabul, Afghanistan, geboren. Er sei verheiratet, seine Muttersprache sei Dari, er gehöre der Volksgruppe der Tadschiken und der sunnitischen Glaubensrichtung des Islam an. Er habe sechs Jahre die Grundschule in Kabul besucht. Bis zum 01.01.2016 habe er als Maler gearbeitet. Zwei seiner Brüder leben in Deutschland. Als Familienangehörige im Herkunftsstaat oder einem anderen Drittstaat gab der BF2 seine Eltern, drei Brüder und vier Schwestern an. Als seinen Wohnsitz in Afghanistan gab er Mazar e Sharif an.

Zu seinen Fluchtgründen gab der BF2 an, er und seine Familie hätten seit ca. 10-11 Jahren schon im Iran gelebt und Sie seien dort nicht gut behandelt worden und in der Arbeit habe er von 4 Uhr morgens bis Mitternacht arbeiten müssen. Außerdem hätten seine Kinder keine Schule besuchen dürfen. Deshalb hätten sie den Iran vor ca. sechs Monaten verlassen damit seine Kinder in Europa eine bessere Ausbildung bekommen. Befragt, was er bei einer Rückkehr befürchte, gab er an, seine Kinder seien ihm wichtig und er habe Sorge, dass sie keine Zukunft bzw. Ausbildung haben.

3.1. Im weiteren Verfahrensverlauf gab die BF1 in ihrer niederschriftlichen Einvernahme vor dem BFA am 31.05.2017 zusammengefasst weiter an:

Sie habe zuletzt in der Provinz Balkh, Distrikt Mazar e Sharif, in der Straße Koche Chitgari mit der Familie ihres Mannes gelebt. Sie sei nicht in der Schule gewesen. Sie sei Hausfrau gewesen und habe zu Hause genäht. Sie habe selbst kein Einkommen gehabt, es sei ihnen gut gegangen. Ihre Geschwister seien in Mazar e Sharif, in Kunduz und in Kabul wohnhaft. Sie habe seit vielen Jahren keinen Kontakt zu den Geschwistern. Seit der Ausreise habe sie Kontakt mit ihrem Neffen gehabt. Sie habe zuletzt vor einem Monat mit jemandem Kontakt aus dem Herkunftsland gehabt. Eine Nichte der BF1 lebe in Großbritannien.

Zu ihren Fluchtgründen gab sie in freier Erzählung an, sie hätten das Heimatland wegen den Problemen ihres Ehemannes verlassen. Es seien familiäre Probleme gewesen. Nach ihrer Heirat sei es ihnen sehr gut gegangen. Der Cousin ihres Mannes habe kein gutes Verhältnis zur Familie des Mannes, er habe ihren Mann überfallen, als er von der Bank das Geld abgehoben habe und von seinem Geschäft auf dem Nachhauseweg gewesen sei. Die Situation zu Hause habe sich verschlechtert. Jeden Tag habe es Streit in der Familie gegeben. Es sei soweit gekommen, dass ihr Mann nicht mehr nach Hause kommen habe können und die Nächte bei ihrem Schwager verbracht habe. Auch für sie sei es unerträglich geworden. Die Familie habe auch ein Problem mit ihr gehabt. Sie seien sehr streng zu ihr gewesen. Wenn sie das Haus verlassen habe wollen, habe sie jeden um Erlaubnis bitten müssen. Sie habe keine Freiheiten gehabt. Die Situation habe sich für sie unerträglich entwickelt. Ihr Mann habe ihren Schmuck verkauft und für sie Reisepässe organisiert. Mit diesen seien sie in den Iran gegangen.

Näher befragt gab sie u.a. an, ihr Ehemann habe als Devisenhändler gearbeitet. Genau wisse sie nicht, wann er überfallen wurde. Es sei vor vielen Jahren und einen Monat vor ihrer Ausreise gewesen.

Bei einer Rückkehr befürchte sie eine barbarische Situation. Sie habe in Afghanistan nichts.

Ihre Kinder hätten dieselben Fluchtgründe wie die BF1.

3.2. Im weiteren Verfahrensverlauf gab der BF2 in seiner niederschriftlichen Einvernahme vor dem BFA am 31.05.2017 zusammengefasst weiter an:

Sie hätten 12-13 Jahre im Iran gelebt. Er habe bis zu seinem 18. Lebensjahr in Kabul gelebt. In Mazar e Sharif habe er mit seinen Eltern und seiner Ehefrau in einem Miethaus gewohnt. Es spreche Dari, Farsi, Paschtu, ein wenig Russisch und Usbekisch. Er habe nie eine Schule besucht. Er sei Maler im Iran und in Mazar e Sharif Devisenhändler gewesen. Was das Einkommen anbelangt, hätten sie ein normales Leben geführt. Die wirtschaftliche Situation sei zuletzt mittelmäßig gewesen. Im Iran habe er 15.000 USD durch seine Arbeit für die Schleppung gespart.

Vor der Ausreise sei er von Dieben überfallen worden. Man habe ihm sein ganzes Geld weggenommen, deshalb sei er dann in den Iran gegangen. Sein Cousin habe mit den Dieben zusammengearbeitet. Er habe sie angezeigt, da sie aber alle für einen Kommandanten gearbeitet hätten, sei er machtlos gewesen. Das sei damals gewesen als Präsident Karzai an die Macht gekommen und die neue Währung eingeführt worden sei. Er habe keine Probleme mit den Behörden, außer mit den Leuten des Kommandanten XXXX gehabt, welche ihn überfallen hätten.

Seit 10 oder 12 Jahren habe er keinen Kontakt zu seinen Brüdern. Nach dem Überfall habe sich das Verhältnis verschlechtert. Mit seinen Eltern habe er keinen Kontakt. Im Iran habe er einmal mit seiner Mutter telefoniert. Das Telefonat sei vor 13 Jahren gewesen. Dieser Kommandant sei auf der Suche nach ihm gewesen. Seine Mutter habe ihm erzählt, dass die Familie von ihm belästigt worden sei. Er habe zuletzt vor 13 Jahren mit jemandem aus dem Herkunftsland Kontakt gehabt. Sein Vater sei zu Zeiten des Präsidenten Najib Regierungsmitarbeiter gewesen.

Er habe keine Verwandten in Deutschland.

Aufgefordert seine Fluchtgründe detailliert zu schildern, gab er in freier Erzählung an, er sei aus Angst vor diesem Kommandanten XXXX geflüchtet. Er sei einer der Kommandanten von XXXX gewesen. Er habe ihn angezeigt und er hätte ihn töten wollen.

Näher befragt gab er zusammengefasst an, er sei Devisenhändler gewesen und habe das Geld bei der Behörde getauscht. Am Tag als die neue Währung eingeführt worden sei, sei er auf dem Weg nach Hause gewesen und ein Jeep habe neben ihm angehalten. Einer habe ihm die Tasche plötzlich weggerissen und er sei mit einem Kolben des Gewehrs auf sein Gesicht geschlagen worden. Es seien vier Personen gewesen. Er habe diese Leute erkannt. Am übernächsten Tag sei er zur Polizei gegangen und habe diese Angreifer angezeigt. Es habe ihm nur Nachteile gebracht. Als der Kommandant erfahren habe, dass er ihn angezeigt habe, habe ihn verfolgt. Deswegen sei er mit seiner Frau geflüchtet. Er wisse nicht woher die Leute gewusst haben, dass er Geld in der Tasche hatte. Er sei ca. sechs Jahre Devisenhändler gewesen. Er könne nicht sagen, ob es eine geplante Sache gewesen sei. Das Verhältnis zu seinen Geschwistern und zu seinem Vater sei wegen des gestohlenen Geldes schlecht geworden. Der Kontakt sei abgebrochen worden. Sie seien verärgert gewesen da auch ihr Geld gestohlen worden sei. Sie hätten ihn aus dem Haus geworfen. Einen Monat später habe Afghanistan verlassen.

Befragt, ob eine Möglichkeit bestanden hätte sich im Heimatland sich woanders hin zu begeben, gab der BF2 an, er habe gedacht, er könnte nach Kabul oder nach Herat gehen. Dort hätte die Arbeit auch gut funktioniert, aber er habe Angst vor diesen Leuten gehabt. Sie hätten der Gruppierung XXXX angehört. Sie hätten ihn überall finden können.

Bei einer Rückkehr würden sie ihn erwischen und töten.

4. Mit Bescheiden vom 26.06.2017 und 07.09.2017 (BF6) wies das BFA die Anträge auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) ab. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 wurde nicht erteilt; gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) wurde eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde eine Frist von 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung für die freiwillige Ausreise festgelegt (Spruchpunkt IV.).

5. Mit Verfahrensanordnung vom 28.06.2017 und 07.09.2017 (BF6) wurden den BF gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG amtswegig die ARGE Rechtsberatung - Diakonie und Volkshilfe als Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht zur Seite gestellt.

6. Die BF erhoben gegen den oben genannten Bescheid fristgerecht Beschwerde, welche am 12.07.2017 und am 21.09.2017 (BF6) beim BFA einlangte und in der Folge an das Bundesverwaltungsgericht weitergeleitet wurde (eingelangt am 01.08.2017 und am 26.09.2017).

7. Am 01.02.2018 gab der nunmehrige Rechtsvertreter seine Vollmacht bekannt.

8. Mit Schreiben vom 27.04.2018 legte die ARGE Rechtsberatung Diakonie ihre Vollmacht zurück.

9. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 09.05.2018 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an welcher die BF und ihre Rechtsvertreterin teilnahmen und ein Dolmetscher für die Sprache Dari beigezogen wurde. Ein Vertreter des BFA nahm an der Verhandlung nicht teil; die Verhandlungsschrift wurde dem BFA übermittelt. Den Parteien wurde eine zweiwöchige Frist zwecks Erstattung einer Stellungnahme zu den Länderberichten eingeräumt.

10. Am 24.05.2018 langte beim Bundesverwaltungsgericht eine Stellungnahme der BF zu den Länderberichten ein.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1.1. Zur Person der Beschwerdeführer:

Die volljährige BF1 führt den Namen XXXX geb. am XXXX , ist Staatsangehörige der Islamischen Republik Afghanistan, Angehörige der Volksgruppe der Tadschiken und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Ihre Muttersprache ist Dari. Die BF1 ist in Mazar e Sharif geboren und aufgewachsen. Die BF1 besuchte drei Jahre die Grundschule und hat zumindest Grundkenntnisse im Lesen und Schreiben. Die BF1 erlernte das Schneiderhandwerk.

In der Heimatstadt leben noch zwei Brüder und zwei Schwestern der BF1.

Eine Schwester der BF1 lebt in Kabul und eine weitere in Kunduz.

In Großbritannien lebt eine Nichte der BF1 (Tochter einer in Mazar e Sharif lebenden Schwester), welche die BF bereits in Österreich besucht hat.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Kontakt zu ihren Geschwistern dauerhaft abgebrochen ist.

Die BF1 ist die Mutter der BF3 XXXX , geb. XXXX , des BF4 Ar XXXX geb. XXXX , des BF5 XXXX , geb. XXXX und der BF6 XXXX , geb. XXXX , alle Staatsangehörige der Islamischen Republik Afghanistan. Nach ihren Angaben ist der BF2 der Vater der BF3-BF6 und der Ehegatte von BF1.

Der volljährige BF2 führt den Namen XXXX , geb. am XXXX , ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Seine Muttersprache ist Dari.

Der BF2 stammt aus Kabul und lebte dort bis zu seinem ca. 18. Lebensjahr. Er übersiedelte danach mit seinen Eltern nach Mazar e Sharif. In Kabul hat er sechs Jahre die Grundschule besucht und kann lesen und schreiben. In Afghanistan leben noch seine Mutter, drei Brüder und vier Schwestern. Der BF2 steht im Kontakt mit seiner Mutter.

Er war in Mazar e Sharif mehrere Jahre als Devisenhändler selbständig mit einem eigenen Geschäft tätig. Die Familie lebte unter gesicherten wirtschaftlichen Verhältnissen.

Die BF1 und der BF2 lebten nach ihrer Eheschließung gemeinsam bis zu ihrer Ausreise in Mazar e Sharif, Provinz Balkh, Afghanistan.

Die BF1 und der BF2 lebten ungefähr bis zum Jahr 2005 in Afghanistan. Sie reisten dann in den Iran, wo sie bis zu ihrer Ausreise nach Österreich aufhältig waren. Im Iran lebten die BF in Teheran. Der BF2 arbeitete als Maler und sorgte durch sein Einkommen für den Unterhalt der Familie und konnte circa USD 15.000 für die Schleppung erwirtschaften. Die BF3 bis BF5 sind im Iran geboren worden.

Die BF1 bis BF5 reisten gemeinsam ungefähr im Jänner 2016 vom Iran nach Österreich, wo die BF6 am XXXX geboren wurde.

Alle BF sind in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

Die BF1 und der BF2 waren bisher in Österreich nicht erwerbstätig. Die BF leben von der Grundversorgung und sind nicht selbsterhaltungsfähig.

Die BF pflegen in Österreich freundschaftliche Beziehungen zu Österreichern (Flüchtlingshelfern) und Afghanen.

Die BF1 besuchte zwischenzeitlich einen Orientierungskurs des ÖIF am 17.01.2018 und am Clearing für den Kurs "Startpaket Deutsch & Integration 2017-2018 teilgenommen.

Sie besuchte zusammen mit dem BF2 regelmäßig den vom Verein " XXXX " veranstalten Deutschkurs für Asylwerberinnen im Ausmaß von 4 Lerneinheiten pro Woche. Die einzige vorgelegte Bestätigung darüber ist vom Mai 2017. Laut ihren Angaben bekommt sie drei Mal die Woche Privatunterricht von XXXX . Die BF1 besucht seit März 2018 ein "niederschwelliges" Computertraining des Vereins. Die Familie ist seit Anfang 2017 Mitglied dieses Vereins. Die BF1 hat geringfügige Deutschkenntnisse; sie kann einfache Fragen, bspw. nach dem Wetter, verstehen und beantworten. Sie hat bisher keine Deutschprüfung absolviert.

Laut ihren eigenen Angaben kann sie noch nicht lesen und schreiben.

Der BF2 besuchte zwischenzeitlich Deutschkurse (höchstes Niveau A1) des Vereins XXXX und weist dies durch Teilnahmebestätigungen nach. Er leistete gemeinnützige Malerarbeiten in der Gemeinschaftsunterkunft in XXXX .

Die BF sind gesund.

1.1.2. Zu den Fluchtgründen der Beschwerdeführer:

Die BF stellten am 19.02.2016 bzw. am 10.08.2017 (BF6) den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Den Antrag auf internationalen Schutz begründen die BF im Wesentlichen damit, dass der BF2 aufgrund seiner Tätigkeit als Devisenhändler in Mazar e Sharif ein Opfer eines Raubüberfalles gewesen sei und ihm dabei eine große Menge Geld entwendet worden sei. Die Täter seien sein Cousin sowie die Leute des Kommandanten XXXX , dem Stellvertreter des Gouverneurs gewesen. Sie hätten der Gruppierung XXXX angehört. Er habe die Angreifer bei der Polizei angezeigt. Der Kommandant habe ihn deswegen verfolgt.

Das von den BF dargelegte Fluchtvorbringen (betreffend die ihnen drohende Gefahr, in Afghanistan physischer und/oder psychischer Gewalt durch den namentlich genannten Kommandanten als Folge der Anzeige eines Raubüberfalles ausgesetzt zu sein) kann nicht festgestellt werden.

Die BF1 und BF3 sowie die BF6 sind in ihrem Herkunftsstaat allein aufgrund ihres Geschlechts keiner asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt.

Bei der BF1 handelt es sich nicht um eine auf Eigenständigkeit bedachte Frau, deren persönliche Haltung über die grundsätzliche Stellung der Frau in Familie und Gesellschaft im Widerspruch zu den in Afghanistan bislang vorherrschenden gesellschaftlich-religiösen Zwängen steht, denen Frauen dort mehrheitlich unterworfen sind. Die Beschwerdeführerin hat geringfügige Deutschkenntnisse und kümmert sich in Österreich primär um den Haushalt und die Kinder. Die von ihr geschlossenen Freundschaften bestehen im Wesentlichen zu Flüchtlingshelfern. Die Beschwerdeführerin hat keine konkreten Berufswünsche. Zwar war die Beschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung modern gekleidet und bemüht, einen selbstbestimmten und engagierten Eindruck zu hinterlassen. Es war jedoch nicht erkennbar, dass die BF1 eine "westliche" Lebensweise angenommen, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt, die zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Identität geworden ist, sodass von ihnen erwartet werden kann, dieses Verhalten im Heimatland zu unterdrücken, um einer drohenden Verfolgung wegen Nichtbeachtung der herrschenden politischen und/oder religiösen Normen zu entgehen.

Bei der BF3 sowie der BF6 ist aufgrund ihres jungen Alters von elf Jahren bzw. einem Jahr keine derart fortgeschrittene Persönlichkeitsentwicklung anzunehmen, aufgrund derer eine Verinnerlichung eines "westlichen Verhaltens" oder eine "westliche Lebensführung" als wesentlicher Bestandteil ihrer Identität angenommen werden kann. Die BF3 und die BF6 wären in Afghanistan, insbesondere in Mazar e Sharif, aufgrund ihres Geschlechts auch nicht von der Inanspruchnahme von Bildungsmöglichkeiten, dem Schulbesuch, ausgeschlossen oder darin maßgeblich beschränkt. In Afghanistan besteht Schulpflicht. Auch ist in Afghanistan, insbesondere in den Städten, ein Schulangebot für Mädchen und Buben vorhanden. Vor diesem Hintergrund ist auch keine asylrelevante Verfolgung der unmündig minderjährigen BF3 und der BF6 für den Fall zu befürchten, dass die Eltern ihr bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine grundlegende Bildung zukommen lassen wollten.

Spezifische sonstige Antragsgründe der minderjährigen BF konnten nicht festgestellt werden.

Es kann auch insgesamt nicht festgestellt werden, dass die BF aufgrund der Tatsache, dass sie sich seit Juli 2016 in Europa aufhalten, im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan psychischer und/oder physischer Gewalt oder anderen erheblichen Eingriffen ausgesetzt wären.

Weiters konnte nicht festgestellt werden, dass die BF ohne Hinzutreten weiterer wesentlicher individueller Merkmale mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine gegen sie gerichtete Verfolgung oder Bedrohung durch staatliche Organe oder (von staatlichen Organen geduldet:) durch Private, sei es vor dem Hintergrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit (Tadschiken), ihrer Religion (sunnitischer Islam), Nationalität (Afghanistan), Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Gesinnung im Falle ihrer Rückkehr zu erwarten hätten.

1.1.3.1. Zur Situation im Fall einer Rückkehr der BF1 und des BF2:

Dem BF2 wäre eine Rückkehr nach Mazar e Sharif, wo er ab seinem 18 Lebensjahr gelebt und auch schon gearbeitet hat möglich. Es besteht kein reales Risiko eines Eingriffs in die körperliche Unversehrtheit aufgrund der Sicherheitslage in der Stadt Mazar e Sharif. Der BF2 ist aufgrund seines Lebens in Mazar e Sharif mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates, insbesondere auch jenen in der Stadt Mazar e Sharif und einer in Afghanistan gesprochenen Sprache (Dari) vertraut. Er ist in einem afghanischen Familienverband aufgewachsen und hat eine Schule besucht. Er kann lesen und schreiben. Er verfügt in Afghanistan über familiäre Anknüpfungspunkte. Angesichts seines guten Gesundheitszustandes, seiner Arbeitsfähigkeit und seiner Berufserfahrung könnte er sich in Mazar-e Sharif eine Existenz aufbauen und diese - zumindest anfänglich - mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten sichern, wobei er seine Berufserfahrung - so war er bereits als Devisenhändler in Mazar e Sharif bzw. im Iran als Maler tätig - nutzen könnte. Der BF2 konnte sowohl im Iran als auch zuvor in Mazar e Sharif durch seine beruflichen Tätigkeiten für sich sorgen. Ihm wäre daher auch der Aufbau einer neuerlichen Existenzgrundlage in Mazar e Sharif möglich. Der Zweitbeschwerdeführer wäre in der Lage, in seiner Herkunftsstadt Mazar-e Sharif eine einfache Unterkunft zu finden. Aufgrund der vorhandenen Schulbildung, der Schreib- und Lesekompetenz, der Arbeitsfähigkeit und der bisherigen Berufserfahrung ist somit von einer Selbsterhaltungsfähigkeit des BF2 auszugehen. Außergewöhnliche Gründe, die eine Rückkehr des BF2 nach Mazar e Sharif ausschließen könnten, sind im Verfahren nicht hervorgekommen.

Auch die BF1 hat bereits in Mazar e Sharif gelebt und verfügt dort sowohl über familiäre Anknüpfungspunkte als auch über grundlegende Berufserfahrung. Da sie noch nie eigenständig für ihren Unterhalt aufgekommen ist, wäre es ihr grundsätzlich nicht möglich sich alleine in Mazar e Sharif niederzulassen. Da jedoch der BF2 für ihren Unterhalt sorgen könnte und dies auch in der Vergangenheit seit der Eheschließung getan hat, wäre der BF1 eine Rückkehr nach Mazar-e Sharif im Familienverband sehr wohl möglich.

1.1.3.2. Zur Situation im Fall einer Rückkehr der BF3 bis BF6:

Bei den BF3 bis BF6 handelt es sich um unmündig minderjährige Kinder im Alter von einem, sechs, zehn und elf Jahren und somit besonders vulnerable und besonders schutzbedürftige Personen (VwGH 21.3.2018, Ra 2017/18/0474 bis 0479-9).

Es besteht betreffend die unmündig minderjährigen BF3 bis BF6 eine allgemeine Gefährdungslage im Herkunftsstaat. Die BF3 bis BF6 leben im Familienverband mit ihren Eltern und verfügen weder über eigenes Vermögen noch über eine eigene Möglichkeit der Existenzsicherung. Vor allem Kinder sind in Afghanistan besonders von Unterernährung betroffen. Ungefähr zehn Prozent der Kinder sterben vor ihrem fünften Geburtstag. Auch besteht für die minderjährigen Beschwerdeführer - selbst wenn sie im Familienverband zurückkehren - die Gefahr, dass sie Kinderarbeit leisten müssen, für den Fall, dass der BF2 zu wenig verdienen würde, um die gesamte Familie zu erhalten. Weiters besteht in Afghanistan eine hohe Zahl an minderjährigen zivilen Opfern. Es wird festgestellt, dass die BF3 bis BF6 bei einer Rückkehr nach Mazar-e Sharif einem realen Risiko ausgesetzt wären, in eine existenzbedrohende (Not-)Lage zu geraten. Da die festgestellte Situation für Kinder des Alters der BF3 bis BF6 nicht bloß für einzelne Teile Afghanistans zutrifft, wäre dies nicht bloß in der Herkunftsprovinz Balkh und deren Hauptstadt Mazar e Sharif so, sondern auch in Kabul sowie in Herat.

1.2. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

1.2.1. Auszüge aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 02.03.2017 idF vom 30.01.2018:

1.2.1.1. Neueste Ereignisse - Integrierte Kurzinformationen

KI vom 30.01.2018: Angriffe in Kabul (betrifft: Abschnitt 3 Sicherheitslage)

Landesweit haben in den letzten Monaten Aufständische, inklusive der Taliban und des IS, ihre Angriffe auf afghanische Truppen und Polizisten intensiviert (The Guardian; vgl. BBC 29.1.2018). Die Gewalt Aufständischer gegen Mitarbeiter/innen von Hilfsorganisationen hat in den letzten Jahren zugenommen (The Guardian 24.1.2018). Die Taliban erhöhen ihre Operationen, um ausländische Kräfte zu vertreiben; der IS hingegen versucht seinen relativ kleinen Einflussbereich zu erweitern. Kabul ist in diesem Falle für beide Gruppierungen interessant (Asia Pacific 30.1.2018).

Im Stadtzentrum und im Diplomatenviertel wurden Dutzende Hindernisse, Kontrollpunkte und Sicherheitskameras errichtet. Lastwagen, die nach Kabul fahren, werden von Sicherheitskräften, Spürhunden und weiteren Scannern kontrolliert, um sicherzustellen, dass keine Sprengstoffe, Raketen oder Sprengstoffwesten transportiert werden. Die zeitaufwändigen Kontrollen führen zu langen Wartezeiten; sollten die korrekten Papiere nicht mitgeführt werden, so werden sie zum Umkehren gezwungen. Ebenso werden die Passagiere in Autos von der Polizei kontrolliert (Asia Pacific 30.1.2018).

Angriff auf die Marshal Fahim Militärakademie 29.1.2019

Am Montag den 29.1.2018 attackierten fünf bewaffnete Angreifer einen militärischen Außenposten in der Nähe der Marshal Fahim Militärakademie (auch bekannt als Verteidigungsakademie), die in einem westlichen Außendistrikt der Hauptstadt liegt. Bei dem Vorfall wurden mindestens elf Soldaten getötet und 15 weitere verletzt, bevor die vier Angreifer getötet und ein weiterer gefasst werden konnten. Der Islamische Staat bekannte sich zu dem Vorfall (Reuters 29.1.2018; vgl. NYT 28.1.2018).

Quellen zufolge operiert der IS in den Bergen der östlichen Provinz Nangarhar (The Guardian 29.1.2018); die Provinzhauptstadt Jalalabad wird als eine Festung des IS erachtet, dessen Kämpfer seit 2015 dort aktiv sind (BBC 24.1.2018). Nachdem der IS in Ostafghanistan unter anhaltenden militärischen Druck gekommen war, hatte dieser immer mehr Angriffe in den Städten für sich beansprucht. Nationale und Internationale Expert/innen sehen die Angriffe in den Städten als Überlappung zwischen dem IS und dem Haqqani-Netzwerk (einem extremen Arm der Taliban) (NYT 28.1.2018).

Angriff im Regierungs- und Diplomatenviertel in Kabul am 27.1.2018

Bei einem der schwersten Angriffe der letzten Monate tötete am Samstag den 27.1.2018 ein Selbstmordattentäter der Taliban mehr als 100 Menschen und verletzte mindestens 235 weitere (Reuters 28.1.2018; vgl. The Guardian 28.1.2018). Eine Bombe - versteckt in einem Rettungswagen - detonierte in einem schwer gesicherten Bereich der afghanischen Hauptstadt (The Guardian 27.1.2018; vgl. The Guardian 28.1.2018). Der Vorfall ereignete sich im Regierungs- und Diplomatenviertel und wird als einer der schwersten seit dem Angriff vom Mai 2017 betrachtet, bei dem eine Bombe in der Nähe der deutschen Botschaft explodiert war und 150 Menschen getötet hatte (Reuters 28.1.2018).

Die Taliban verlautbarten in einer Aussendung, der jüngste Angriff sei eine Nachricht an den US-amerikanischen Präsidenten, der im letzten Jahr mehr Truppen nach Afghanistan entsendete und Luftangriffe sowie andere Hilfestellungen an die afghanischen Sicherheitskräfte verstärkte (Reuters 28.1.2018).

Angriff auf das Hotel Intercontinental in Kabul am 20.1.2018

Der Angriff bewaffneter Männer auf das Luxushotel Intercontinental in Kabul, wurde von afghanischen Truppen abgewehrt, nachdem die ganze Nacht um die Kontrolle über das Gebäude gekämpft worden war (BBC 21.1.2018).Fünf bewaffnete Männer mit Sprengstoffwesten hatten sich Zutritt zu dem Hotel verschafft (DW 21.1.2018). Die exakte Opferzahl ist unklar. Einem Regierungssprecher zufolge sollen 14 Ausländer/innen und vier Afghan/innen getötet worden sein. Zehn weitere Personen wurden verletzt, einschließlich sechs Mitglieder der Sicherheitskräfte (NYT 21.1.2018). 160 Menschen konnten gerettet werden (BBC 21.1.2018). Alle Fünf Angreifer wurden von den Sicherheitskräften getötet (Reuters 20.1.2018). Die Taliban bekannten sich zu dem Angriff (DW 21.1.2018).

Wie die Angreifer die Sicherheitsvorkehrungen durchbrechen konnten, ist Teil von Untersuchungen. Erst seit zwei Wochen ist eine private Firma für die Sicherheit des Hotels verantwortlich. Das Intercontinental in Kabul ist trotz des Namens nicht Teil der weltweiten Hotelkette, sondern im Besitz der afghanischen Regierung. In diesem Hotel werden oftmals Hochzeiten, Konferenzen und politische Zusammentreffen abgehalten (BBC 21.1.2018). Zum Zeitpunkt des Angriffes war eine IT-Konferenz im Gange, an der mehr als 100 IT-Manager und Ingenieure teilgenommen hatten (Reuters 20.1.2018; vgl. NYT 21.1.2018).

Insgesamt handelte es sich um den zweiten Angriff auf das Hotel in den letzten acht Jahren (NYT 21.1.2018). Zu dem Angriff im Jahr 2011 hatten sich ebenso die Taliban bekannt (Reuters 20.1.2018).

Unter den Opfern waren ausländische Mitarbeiter/innen der afghanischen Fluggesellschaft Kam Air, u.a. aus Kirgisistan, Griechenland (DW 21.1.2018), der Ukraine und Venezuela. Die Fluglinie verbindet jene Gegenden Afghanistans, die auf dem Straßenweg schwer erreichbar sind (NYT 29.1.2018).

KI vom 21.12.2017: Aktualisierung der Sicherheitslage in Afghanistan - Q4.2017 (betrifft: Abschnitt 3 Sicherheitslage)

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor höchst volatil - der Konflikt zwischen regierungsfeindlichen Kräften und Regierungskräften hält landesweit an (UN GASC 20.12.2017). Zur Verschlechterung der Sicherheitslage haben die sich intensivierende Zusammenstöße zwischen Taliban und afghanischen Sicherheitskräften beigetragen (SIGAR 30.10.2017; vgl. SCR 30.11.2017).

Die afghanischen und internationalen Sicherheitskräfte verstärkten deutlich ihre Luftoperationen (UN GASC 20.12.2017; vgl. SIGAR 30.10.2017), die in 22 Provinzen registriert wurden. So haben sich im Berichtszeitraum der Vereinten Nationen (UN) Luftangriffe um 73% gegenüber dem Vorjahreswert erhöht (UN GASC 20.12.2017). Der Großteil dieser Luftangriffe wurde in der südlichen Provinz Helmand und in der östlichen Provinz Nangarhar erfasst (UN GASC 20.12.2017; vgl. SIGAR 30.10.2017), die als Hochburgen des IS und der Taliban gelten (SIGAR 30.10.2017). Verstärkte Luftangriffe hatten wesentliche Auswirkungen und führten zu hohen Opferzahlen bei Zivilist/innen und regierungsfeindlichen Elementen (UN GASC 20.12.2017). Zusätzlich ist die Gewalt in Ostafghanistan auf die zunehmende Anzahl von Operationen der ANDSF und der Koalitionskräfte zurück zu führen (SIGAR 30.10.2017).

Landesweit kam es immer wieder zu Sicherheitsoperationen, bei denen sowohl aufständische Gruppierungen als auch afghanische Sicherheitskräfte Opfer zu verzeichnen hatten (Pajhwok 1.12.2017; TP 20.12.2017; Xinhua 21.12.2017; Tolonews 5.12.2017; NYT 11.12.2017).

Den Vereinten Nationen zufolge hat sich der Konflikt seit Anfang des Jahres verändert, sich von einer asymmetrischen Kriegsführung entfernt und in einen traditionellen Konflikt verwandelt, der von bewaffneten Zusammenstößen zwischen regierungsfeindlichen Elementen und der Regierung gekennzeichnet ist. Häufigere bewaffnete Zusammenstöße werden auch als verstärkte Offensive der ANDSF-Operationen gesehen um die Initiative von den Taliban und dem ISKP zu nehmen - in diesem Quartal wurde im Vergleich zum Vorjahr eine höhere Anzahl an bewaffneten Zusammenstößen erfasst (SIGAR 30.10.2017).

Sicherheitsrelevante Vorfälle

Die Vereinten Nationen (UN) registrierten im Berichtszeitraum (15.9.-15.11.2017) 3.995 sicherheitsrelevante Vorfälle; ein Rückgang von 4% gegenüber dem Vorjahreswert. Insgesamt wurden von 1.1.-15.11.2017 mehr als 21.105 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert, was eine Erhöhung von 1% gegenüber dem Vorjahreswert andeutet. Laut UN sind mit 62% bewaffnete Zusammenstöße die Hauptursache aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, gefolgt von IEDs [Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung/Sprengfallen], die in 17% der sicherheitsrelevanten Vorfälle Ursache waren. Die östlichen Regionen hatten die höchste Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen zu verzeichnen, gefolgt von den südlichen Regionen - zusammen wurde in diesen beiden Regionen 56% aller sicherheitsrelevanten Vorfälle registriert. Gezielte Tötungen und Entführungen haben sich im Vergleich zum Vorjahreswert um 16% erhöht (UN GASC 20.12.2017).

Laut der internationalen Sicherheitsorganisation für NGOs (INSO) wurden vom 1.1.-30.11.2017 24.917 sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan registriert (Stand: Dezember 2017) (INSO o.D.).

Zivilist/innen

Im Gegensatz zum Vergleichszeitraum des letzten Jahres registrierte die UNAMA zwischen 1.1. und 30.9.2017 8.019 zivile Opfer (2.640 Tote und 5.379 Verletzte). Dies deutet insgesamt einen Rückgang von fast 6% gegenüber dem Vorjahreswert an (UNAMA 10.2017); konkret hat sich die Anzahl getöteter Zivilist/innen um 1% erhöht, während sich die Zahl verletzter Zivilist/innen um 9% verringert hat (UN GASC 20.12.2017). Wenngleich Bodenoffensiven auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer waren - führte der Rückgang der Anzahl von Bodenoffensiven zu einer deutlichen Verringerung von 15% bei zivilen Opfern. Viele Zivilist/innen fielen Selbstmordattentaten, sowie komplexen Angriffen und IEDs zum Opfer - speziell in den Provinzen Kabul, Helmand, Nangarhar, Kandahar und Faryab (UNAMA 10.2017).

Zivile Opfer, die regierungsfreundlichen Kräften zugeschrieben wurden, sind um 37% zurückgegangen: Von insgesamt 849 waren 228 Tote und 621 Verletzte zu verzeichnen. Im Gegensatz dazu erhöhte sich die Anzahl ziviler Opfer, die regierungsfeindlichen Elementen zugeschrieben werden, um 7%: von den 1.150 zivilen Opfer starben 225, während 895 verletzt wurden. Die restlichen Opfer konnten keiner Tätergruppe zugeschrieben werden (UNAMA 10.2017).

High-profile Angriffe:

Am 31.10.2017 sprengte sich ein Selbstmordattentäter in der "Green Zone" der Hauptstadt Kabul in die Luft. Der angebliche Täter soll Quellen zufolge zwischen 12-13 Jahren alt gewesen sein. Mindestens vier Menschen starben bei dem Angriff und ein Dutzend weitere wurden verletzt. Dies war der erste Angriff in der "Green Zone" seit dem schweren Selbstmordattentat im Mai 2017 (BBC 31.10.2017; vgl. Telegraph 31.10.2017). der IS bekannte sich zu diesem Vorfall Ende Oktober 2017 (BBC 31.10.2017; vgl. Telegraph 31.10.2017; UN GASC 20.12.2017)

Am 20.10.2017 sprengte sich ein Angreifer in der Shia Imam Zamam Moschee in Kabul in die Luft; dabei wurden mindestens 30 Menschen getötet und 45 weitere verletzt. Der IS bekannt sich zu diesem Angriff (Independent 20.10.2017; vgl. BBC 21.10.2017; UN GASC 20.12.2017). In dem Distrikt Solaina, in der westlichen Provinz Ghor, wurde ebenso eine Moschee angegriffen - in diesem Fall handelt es sich um eine sunnitische Moschee. Die tatsächliche Opferzahl ist umstritten: je nach Quellen sind zwischen 9 und 39 Menschen bei dem Angriff gestorben (Independent 20.10.2017; vgl. NYT 20.10.2017; al Jazeera 20.10.2017).

Am 19.10.2017 wurde im Rahmen eines landesweit koordinierten Angriffes der Taliban 58 afghanische Sicherheitskräfte getötet: ein militärisches Gelände, eine Polizeistationen und ein militärischer Stützpunkt in Kandahar wären beinahe überrannt worden (Independent 20.10.2017; vgl. BBC 21.10.2017). Einige Tage vor diesem Angriff töteten ein Selbstmordattentäter und ein Schütze mindestens 41 Menschen, als sie ein Polizeiausbildungszentrum in der Provinzhauptstadt Gardez stürmten (Provinz Paktia) (BBC 21.10.2017). In der Woche davor wurden 14 Offiziere der Militärakademie auf dem Weg nach Hause getötet, als ein Selbstmordattentäter den Minibus in die Luft sprengte in dem sie unterwegs waren (NYT 20.10.2017). Die afghanische Armee und Polizei haben dieses Jahr schwere Verlusten aufgrund der Taliban erlitten (BBC 21.10.2017).

Am 7.11.2017 griffen als Polizisten verkleidete Personen/regierungsfeindliche Kräfte eine Fernsehstation "Shamshad TV" an; dabei wurde mindestens eine Person getötet und zwei Dutzend weitere verletzt. Die afghanischen Spezialkräfte konnten nach drei Stunden Kampf, die Angreifer überwältigen. Der IS bekannt sich zu diesem Angriff (Guardian 7.11.2017; vgl. NYT 7.11.2017; UN GASC 20.12.2017).

Bei einem Selbstmordangriff im November 2017 wurden mindestens neun Menschen getötet und einige weitere verletzt; die Versammelten hatten einem Treffen beigewohnt, um den Gouverneur der Provinz Balkh - Atta Noor - zu unterstützen; auch hier bekannte sich der IS zu diesem Selbstmordattentat (Reuters 16.11.2017; vgl. UN GASC 20.12.2017)

Interreligiöse Angriffe

Serienartige gewalttätige Angriffe gegen religiöse Ziele, veranlassten die afghanische Regierung neue Maßnahmen zu ergreifen, um Anbetungsorte zu beschützen: landesweit wurden 2.500 Menschen rekrutiert und bewaffnet, um 600 Moscheen und Tempeln vor Angriffen zu schützen (UN GASC 20.12.2017).

Seit 1.1.2016 wurden im Rahmen von Angriffen gegen Moscheen, Tempel und andere Anbetungsorte 737 zivile Opfer verzeichnet (242 Tote und 495 Verletzte); der Großteil von ihnen waren schiitische Muslime, die im Rahmen von Selbstmordattentaten getötet oder verletzt wurden. Die Angriffe wurden von regierungsfeindlichen Elementen durchgeführt - hauptsächlich dem IS (UNAMA 7.11.2017).

Im Jahr 2016 und 2017 registrierte die UN Tötungen, Entführungen, Bedrohungen und Einschüchterungen von religiösen Personen - hauptsächlich durch regierungsfeindliche Elemente. Seit 1.1.2016 wurden 27 gezielte Tötungen religiöser Personen registriert, wodurch 51 zivile Opfer zu beklagen waren (28 Tote und 23 Verletzte); der Großteil dieser Vorfälle wurde im Jahr 2017 verzeichnet und konnten großteils den Taliban zugeschrieben werden. Religiösen Führern ist es möglich, öffentliche Standpunkte durch ihre Predigten zu verändern, wodurch sie zum Ziel von regierungsfeindlichen Elementen werden (UNAMA 7.11.2017).

Regierungsfeindliche Gruppierungen:

Taliban

Der UN zufolge versuchten die Taliban weiterhin von ihnen kontrolliertes Gebiet zu halten bzw. neue Gebiete unter ihre Kontrolle zu bringen - was zu einem massiven Ressourcenverbrauch der afghanischen Regierung führte, um den Status-Quo zu halten. Seit Beginn ihrer Frühjahrsoffensive unternahmen die Taliban keine größeren Versuche, um eine der Provinzhauptstädte einzunehmen. Dennoch war es ihnen möglich kurzzeitig mehrere Distriktzentren einzunehmen (SIGAR 30.10.2017):

Die Taliban haben mehrere groß angelegte Operationen durchgeführt, um administrative Zentren einzunehmen und konnten dabei kurzzeitig den Distrikt Maruf in der Provinz Kandahar, den Distrikt Andar in Ghazni, den Distrikt Shib Koh in der Farah und den Distrikt Shahid-i Hasas in der Provinz Uruzgan überrennen. In allen Fällen gelang es den afghanischen Sicherheitskräften die Taliban zurück zu drängen - in manchen Fällen mit Hilfe von internationalen Luftangriffen. Den afghanischen Sicherheitskräften gelang es, das Distriktzentrum von Ghorak in Kandahar unter ihre Kontrolle zu bringen - dieses war seit November 2016 unter Talibankontrolle (UN GASC 20.12.2017).

Im Rahmen von Sicherheitsoperationen wurden rund 30 Aufständische getötet; unter diesen befand sich - laut afghanischen Beamten - ebenso ein hochrangiger Führer des Haqqani-Netzwerkes (Tribune 24.11.2017; vgl. BS 24.11.2017). Das Haqqani-Netzwerk zählt zu den Alliierten der Taliban (Reuters 1.12.2017).

Aufständische des IS und der Taliban bekämpften sich in den Provinzen Nangarhar und Jawzjan (UN GASC 20.12.2017). Die tatsächliche Beziehung zwischen den beiden Gruppierungen ist wenig nachvollziehbar - in Einzelfällen schien es, als ob die Kämpfer der beiden Seiten miteinander kooperieren würden (Reuters 23.11.2017).

IS/ISIS/ISKP/ISIL-KP/Daesh

Der IS war nach wie vor widerstandsfähig und bekannte sich zu mehreren Angriffen auf die zivile Bevölkerung, aber auch auf militärische Ziele [Anm.: siehe High-Profile Angriffe] (UN GASC 20.12.2017). Unklar ist, ob jene Angriffe zu denen sich der IS bekannt hatte, auch tatsächlich von der Gruppierung ausgeführt wurden bzw. ob diese in Verbindung zur Führung in Mittleren Osten stehen. Der afghanische Geheimdienst geht davon aus, dass in Wahrheit manche der Angriffe tatsächlich von den Taliban oder dem Haqqani-Netzwerk ausgeführt wurden, und sich der IS opportunistischerweise dazu bekannt hatte. Wenngleich Luftangriffe die größten IS-Hochburgen in der östlichen Provinz Nangarhar zerstörten; hielt das die Gruppierungen nicht davon ab ihre Angriffe zu verstärken (Reuters 1.12.2017).

Sicherheitsbeamte gehen davon aus, dass der Islamische Staat in neun Provinzen in Afghanistan eine Präsenz besitzt: im Osten von Nangarhar und Kunar bis in den Norden nach Jawzjan, Faryab, Badakhshan und Ghor im zentralen Westen (Reuters 23.11.2017). In einem weiteren Artikel wird festgehalten, dass der IS in zwei Distrikten der Provinz Jawzjan Fuß gefasst hat (Reuters 1.12.2017).

KI vom 25.9.2017: Aktualisierung der Sicherheitslage in Afghanistan - Q3.2017 (betrifft: Abschnitt 3 Sicherheitslage)

"Green Zone" in Kabul

Kabul hatte zwar niemals eine formelle "Green Zone"; dennoch hat sich das Zentrum der afghanischen Hauptstadt, gekennzeichnet von bewaffneten Kontrollpunkten und Sicherheitswänden, immer mehr in eine militärische Zone verwandelt (Reuters 6.8.2017).

Eine Erweiterung der sogenannten Green Zone ist geplant; damit wird Verbündeten der NATO und der US-Amerikaner ermöglicht, auch weiterhin in der Hauptstadt Kabul zu bleiben ohne dabei Risiken ausgesetzt zu sein. Kabul City Compound - auch bekannt als das ehemalige Hauptquartier der amerikanischen Spezialkräfte, wird sich ebenso innerhalb der Green Zone befinden. Die Zone soll hinkünftig vom Rest der Stadt getrennt sein, indem ein Netzwerk an Kontrollpunkten durch Polizei, Militär und privaten Sicherheitsfirmen geschaffen wird. Die Erweiterung ist ein großes öffentliches Projekt, das in den nächsten zwei Jahren das Zentrum der Stadt umgestalten soll; auch sollen fast alle westlichen Botschaften, wichtige Ministerien, sowie das Hauptquartier der NATO und des US-amerikanischen Militärs in dieser geschützten Zone sein. Derzeit pendeln tagtäglich tausende Afghaninnen und Afghanen durch diese Zone zu Schulen und Arbeitsplätzen (NYT 16.9.2017).

Nach einer Reihe von Selbstmordattentaten, die hunderte Opfer gefordert haben, erhöhte die afghanische Regierung die Sicherheit in der zentralen Region der Hauptstadt Kabul - dieser Bereich ist Sitz ausländischer Botschaften und Regierungsgebäude. Die Sicherheit in diesem diplomatischen Bereich ist höchste Priorität, da, laut amtierenden Polizeichef von Kabul, das größte Bedrohungsniveau in dieser Gegend verortet ist und eine bessere Sicherheit benötigt wird. Die neuen Maßnahmen sehen 27 neue Kontrollpunkte vor, die an 42 Straßen errichtet werden. Eingesetzt werden mobile Röntgengeräte, Spürhunde und Sicherheitskameras. Außerdem werden 9 weitere Straßen teilweise gesperrt, während die restlichen sechs Straßen für Autos ganz gesperrt werden. 1.200 Polizist/innen werden in diesem Bereich den Dienst verrichten, inklusive spezieller Patrouillen auf Motorrädern. Diese Maßnahmen sollen in den nächsten sechs Monaten schrittweise umgesetzt werden (Reuters 6.8.2017).

Ein erweiterter Bereich, die sogenannte "Blue Zone" soll ebenso errichtet werden, die den Großteil des Stadtzentrums beinhalten soll - in diesem Bereich werden strenge Bewegungseinschränkungen, speziell für Lastwagen, gelten. Lastwagen werden an einem speziellen externen Kontrollpunkt untersucht. Um in die Zone zu gelangen, müssen sie über die Hauptstraße (die auch zum Flughafen führt) zufahren (BBC 6.8.2017; vgl. Reuters 6.8.2017).

1.2.1.2. Politische Lage

Nach dem Sturz des Taliban-Regimes im Jahr 2001 wurde eine neue Verfassung erarbeitet (IDEA o.D.), und im Jahre 2004 angenommen (Staatendokumentation des BFA 7.2016; vgl. auch: IDEA o.D.). Sie basiert auf der Verfassung aus dem Jahre 1964. Bei Ratifizierung sah diese Verfassung vor, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürger Afghanistans, Mann und Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA Staatendokumentation des BFA 3.2014; vgl. Max Planck Institute 27.1.2004).

Die Innenpolitik ist seit der Einigung zwischen den Stichwahlkandidaten der Präsidentschaftswahl auf eine Regierung der Nationalen Einheit (RNE) von mühsamen Konsolidierungsbemühungen geprägt. Nach langwierigen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Lagern der Regierung unter Führung von Präsident Ashraf Ghani und dem Regierungsvorsitzenden (Chief Executive Officer, CEO) Abdullah Abdullah sind kurz vor dem Warschauer NATO-Gipfel im Juli 2016 schließlich alle Ministerämter besetzt worden (AA 9.2016). Das bestehende Parlament bleibt erhalten (CRS 12.1.2017) - nachdem die für Oktober 2016 angekündigten Parlamentswahlen wegen bisher ausstehender Wahlrechtsreformen nicht am geplanten Termin abgehalten werden konnten (AA 9.2016; vgl. CRS 12.1.2017).

Parlament und Parlamentswahlen

Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wähler/innen. Seit Mitte 2015 ist die Legislaturperiode des Parlamentes abgelaufen. Seine fortgesetzte Arbeit unter Ausbleiben von Neuwahlen sorgt für stetig wachsende Kritik (AA 9.2016). Im Jänner 2017 verlautbarte das Büro von CEO Abdullah Abdullah, dass Parlaments- und Bezirksratswahlen im nächsten Jahr abgehalten werden (Pajhwok 19.1.2017).

Die afghanische Nationalversammlung besteht aus dem Unterhaus, Wolesi Jirga, und dem Oberhaus, Meshrano Jirga, auch Ältestenrat oder Senat genannt. Das Unterhaus hat 249 Sitze, die sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen verteilen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze und für die Minderheit der Kutschi 10 Sitze im Unterhaus reserviert (USDOS 13.4.2016 vgl. auch: CRS 12.1.2017).

Das Oberhaus umfasst 102 Sitze. Zwei Drittel von diesen werden von den gewählten Provinzräten vergeben. Das verbleibende Drittel, wovon 50% mit Frauen besetzt werden müssen, vergibt der Präsident selbst. Zwei der vom Präsidenten zu vergebenden Sitze sind verfassungsgemäß für die Kutschi-Minderheit und zwei weitere für Behinderte bestimmt. Die verfassungsmäßigen Quoten gewährleisten einen Frauenanteil von 25% im Parlament und über 30% in den Provinzräten. Ein Sitz im Oberhaus ist für einen Sikh- oder Hindu-Repräsentanten reserviert (USDOS 13.4.2016).

Die Rolle des Zweikammern-Parlaments bleibt trotz mitunter erheblichem Selbstbewusstsein der Parlamentarier begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit der kritischen Anhörung und auch Abänderung von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist. Zugleich nutzt das Parlament seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Regierungsarbeit destruktiv zu behindern, deren Personalvorschläge z. T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse teuer abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus spielt hier eine unrühmliche Rolle und hat sich dadurch sowohl die RNE als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht (AA 9.2016).

1.2.1.3. Sicherheitslage

Die Sicherheitslage ist beeinträchtigt durch eine tief verwurzelte militante Opposition. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädten und den Großteil der Distriktzentren. Die afghanischen Sicherheitskräfte zeigten Entschlossenheit und steigerten auch weiterhin ihre Leistungsfähigkeit im Kampf gegen den von den Taliban geführten Aufstand. Die Taliban kämpften weiterhin um Distriktzentren, bedrohten Provinzhauptstädte und eroberten landesweit kurzfristig Hauptkommunikationsrouten; speziell in Gegenden von Bedeutung wie z.B. Kunduz City und der Provinz Helmand (USDOD 12.2016). Zu Jahresende haben die afghanischen Sicherheitskräfte (ANDSF) Aufständische in Gegenden von Helmand, Uruzgan, Kandahar, Kunduz, Laghman, Zabul, Wardak und Faryab bekämpft (SIGAR 30.1.2017).

In den letzten zwei Jahren hatten die Taliban kurzzeitig Fortschritte gemacht, wie z.B. in Helmand und Kunduz, nachdem die ISAF-Truppen die Sicherheitsverantwortung den afghanischen Sicherheits- und Verteidigungskräften (ANDSF) übergeben hatten. Die Taliban nutzen die Schwächen der ANDSF aus, wann immer sie Gelegenheit dazu haben. Der IS (Islamischer Staat) ist eine neue Form des Terrors im Namen des Islam, ähnlich der al-Qaida, auf zahlenmäßig niedrigerem Niveau, aber mit einem deutlich brutaleren Vorgehen. Die Gruppierung operierte ursprünglich im Osten entlang der afghanisch-pakistanischen Grenze und erscheint, Einzelberichten zufolge, auch im Nordosten und Nordwesten des Landes (Lokaler Sicherheitsberater in Afghanistan 17.2.2017).

Zwangsrekrutierungen durch die Taliban, Milizen, Warlords oder kriminelle Banden sind nicht auszuschließen. Konkrete Fälle kommen jedoch aus Furcht vor Konsequenzen für die Rekrutierten oder ihren Familien kaum an die Öffentlichkeit (AA 9.2016).

Haqqani-Netzwerk

Das Haqqani-Netzwerk ist eine sunnitische Rebellengruppe, die durch Jalaluddin Haqqani gegründet wurde. Sirajuddin Haqqani, Sohn des Jalaluddin, führt das Tagesgeschäft, gemeinsam mit seinen engsten Verwandten (NCTC o.D.). Sirajuddin Haqqani, wurde zum Stellvertreter des Talibanführers Mullah Haibatullah Akhundzada ernannt (The National 13.1.2017).

Das Netzwerk ist ein Verbündeter der Taliban - dennoch ist es kein Teil der Kernbewegung (CRS 26.5.2016). Das Netzwerk ist mit anderen terroristischen Organisationen in der Region, inklusive al-Qaida und den Taliban, verbündet (Khaama Press 16.10.2014). Die Stärke des Haqqani-Netzwerks wird auf 3.000 Kämpfer geschätzt (CRS 12.1.2017). Das Netzwerk ist hauptsächlich in Nordwaziristan (Pakistan) zu verorten und führt grenzübergreifende Operationen nach Ostafghanistan und Kabul durch (NCTC o.D.).

Das Haqqani-Netzwerk ist fähig - speziell in der Stadt Kabul - Operationen durchzuführen; finanziert sich durch legale und illegale Geschäfte in den Gegenden Afghanistans, in denen es eine Präsenz hat, aber auch in Pakistan und im Persischen Golf. Das Netzwerk führt vermehrt Entführungen aus - wahrscheinlich um sich zu finanzieren und seine Wichtigkeit zu stärken (CRS 12.1.2017).

Kommandanten des Haqqani Netzwerk sagten zu Journalist/innen, das Netzwerk sei bereit eine politische Vereinbarung mit der afghanischen Regierung zu treffen, sofern sich die Taliban dazu entschließen würden, eine solche Vereinbarung einzugehen (CRS 12.1.2017).

1.2.1.3.1. Kabul

Die Provinzhauptstadt von Kabul und gleichzeitig Hauptstadt von Afghanistan ist Kabul Stadt. Die Provinz Kabul grenzt im Nordwesten an die Provinz Parwan, im Nordosten an Kapisa, im Osten an Laghman, Nangarhar im Südosten, Logar im Süden und (Maidan) Wardak im Südwesten. Kabul ist mit den Provinzen Kandahar, Herat und Mazar durch die sogenannte Ringstraße und mit Peshawar in Pakistan durch die Kabul-Torkham Autobahn verbunden. Die Stadt hat 22 Stadtgemeinden und 14 administrative Einheiten (Pajhwok o.D.z). Die Bevölkerungszahl der Provinz wird auf 4.523.718 geschätzt (CSO 2016)

Im Zeitraum 1.9.2015 - 31.5.2016 wurden im Distrikt Kabul 151 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert (EASO 11.2016).

Im Zeitraum 1.9.2015. - 31.5.2016 wurden in der gesamten Provinz Kabul 161 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert (EASO 11.2016).

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Transitrouten, Provinzhauptstädte und fast alle Distriktzentren (USDOD 12.2015). Aufständischengruppen planen oft Angriffe auf Gebäude und Individuen mit afghanischem und amerikanischem Hintergrund: afghanische und US-amerikanische Regierungseinrichtungen, ausländische Vertretungen, militärische Einrichtungen, gewerbliche Einrichtungen, Büros von Nichtregierungsorganisation, Restaurants, Hotels und Gästehäuser, Flughäfen und Bildungszentren (Khaama Press 13.1.2017). Nach einem Zeitraum länger andauernder relativer Ruhe in der Hauptstadt, explodierte im Jänner 2017 in der Nähe des afghanischen Parlaments eine Bombe; bei diesem Angriff starben mehr als 30 Menschen (DW 10.1.2017). Die Taliban bekannten sich zu diesem Vorfall und gaben an, hochrangige Beamte des Geheimdienstes wären ihr Ziel gewesen (BBC News 10.1.2017).

In der Provinz Kabul finden regelmäßig militärische Operationen statt (Afghanistan Times 8.2.2017; Khaama Press 10.1.2017; Tolonews 4.1.2017a; Bakhtar News 29.6.2016). Taliban Kommandanten der Provinz Kabul wurden getötet (Afghan Spirit 18.7.2016). Zusammenstößen zwischen Taliban und Sicherheitskräften finden statt (Tolonews 4.1.2017a).

Regierungsfeindliche Aufständische greifen regelmäßig religiöse Orte, wie z.B. Moscheen, an. In den letzten Monaten haben eine Anzahl von Angriffen, gezielt gegen schiitische Muslime, in Hauptstädten, wie Kabul und Herat stattgefunden (Khaama Press 2.1.2017; vgl. auch: UNAMA 6.2.2017).

1.2.1.3.2. Balkh

Die Provinz Balkh liegt in Nordafghanistan; sie ist geostrategisch gesehen eine wichtige Provinz und bekannt als Zentrum für wirtschaftliche und politische Aktivitäten. Die Hauptstadt Mazar-e Sharif, liegt an der Autobahn zwischen Maimana [Anm.:

Provinzhauptstadt Faryab] und Pul-e-Khumri [Anm.: Provinzhauptstadt Baghlan]. Sie hat folgende administrative Einheiten: Hairatan Port, Nahra-i-Shahi, Dihdadi, Balkh, Daulatabad, Chamtal, Sholgar, Chaharbolak, Kashanda, Zari, Charkont, Shortipa, Kaldar, Marmal, und Khalm. Die Provinz grenzt im Norden an Tadschikistan und Usbekistan. Die Provinz Samangan liegt sowohl östlich als auch südlich. Die Provinz Kunduz lieg im Os

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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