Entscheidungsdatum
25.09.2018Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W142 2162895-1/13E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Dr. Irene HOLZSCHUSTER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Somalia, vertreten durch RA DDr. Rainer Lukits, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 11.05.2017, Zl. 1112592000-160579165/BMI-BFA_SBG_AST_01_TEAM_04, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 23.03.2018 zu Recht erkannt:
A) Dem Antrag auf internationalen Schutz vom 26.05.2015 wird gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 stattgegeben und XXXX der Status der Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetz die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Die minderjährige Beschwerdeführerin (im Folgenden: BF) ist eine Staatsangehörige aus Somalia, reiste illegal und schlepperunterstützt in Österreich ein und stellte am 23.04.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2. In ihrer Erstbefragung am 04.05.2016 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes in Anwesenheit eines Dolmetschers der Sprache Somalisch, eines Rechtsberaters sowie einer Vertrauensperson, gab die BF zu ihren persönlichen Verhältnissen befragt an, dass sie sunnitische Muslimin sei und der Volksgruppe der Ashraaf angehöre. Sie habe eine Koranschule in XXXX besucht. In Somalia habe sie noch ihre Eltern, vier Schwestern sowie einen Bruder. Sie habe in XXXX gewohnt.
Zu ihrem Fluchtgrund brachte sie vor, dass Al Shabaab-Leute eines Abends zu ihnen ins Haus gestürmt seien. Ihre Mutter habe die Wohnungstür geöffnet und sei dabei angeschossen worden. Ihr Vater sei zu diesem Zeitpunkt nicht zu Hause, sondern in Mogadischu gewesen. Dann hätten die Al Shabaab-Leute versucht die BF mitzunehmen und hätten sie vergewaltigen wollen. Sie hätten mit einem Messer in die linke Seite ihres Rückens gestochen. Sie sei weggerannt. Als die Leute gesehen hätten, dass die Mutter angeschossen worden sei und sehr viel Blut verloren habe, hätten sie zur BF gesagt, dass sie wegen ihr zurückkommen würden. Die BF habe sich auf die Flucht begeben und habe dabei ihre Nachbarn getroffen, welche dasselbe Problem mit den Al-Shabaab-Leuten gehabt hätten. Bei einer Rückkehr befürchte sie, dass die Al-Shabaab-Leute sie umbringen werden. Sie wolle nicht dorthin zurück.
3. Am 24.04.2017 wurde die BF, in Anwesenheit des gesetzlichen Vertreters, durch die belangte Behörde in der Sprache Somalisch einvernommen. Die BF gab an, dass sie ihre früheren Angaben aufrecht halte, aber einiges falsch protokolliert worden sei. Sie fühle sich körperlich und geistlich dazu in der Lage, die gegenständliche Einvernahme durchzuführen. Das Alter ihres Vaters und Bruders sowie das Fluchtdatum sei nicht korrekt protokolliert worden. Es gebe eine Dame mit der sie ausgereist sei und einen Mann, den sie in Libyen getroffen habe, im Protokoll sei gestanden, dass sie gemeinsam aus Somalia ausgereist seien. Ihr Bruder sei 2005 geboren und ihr Vater sei 57 Jahre alt. Zu ihren persönlichen Verhältnissen gab sie ergänzend an, dass sie dem Clan der Ashraaf, Subclan der Sharif Baclaawi angehöre. Ihre Flucht habe sie am 15.01.2015 von XXXX aus angetreten. Wieviel sie für die Flucht bezahlt habe, könne sie nicht sagen, da ihr ihre Nachbarin geholfen habe.
Zu ihrem Fluchtgrund brachte die BF wie folgt vor:
[...]
A: Mein Vater war Soldat und hat für die Regierung gearbeitet. Nach dem Ausfall der Regierung war er in der Landwirtschaft tätig. Dann hat er ein Shoppingcenter eröffnet. Da war auch ein Kaffeehaus. Es lief dort immer im Fernsehen eine Information. Auf den Bildschirmen ist auch Musik gelaufen. Die Al-Shabaab hat meinem Vater vorgeworfen dass das von der Religion verboten ist. Sie haben gesagt du Jude musst das Geschäft schließen. Mein Vater hat das nicht befolgt. Als er einmal nicht anwesend war, kam Al-Shabaab in das Geschäft. Sie haben gesagt warum hat der Jude das Geschäft nicht geschlossen. Ein Mann war im Geschäft zur Aufsicht, weil mein Vater nicht anwesend war. Dem haben sie gesagt wenn er den Laden nicht schließt werden sie ihn töten. Im Oktober 2014 hat mein Vater das Geschäft geschlossen und er ist nach Äthiopien gegangen. Im selben Jahr im Dezember kam er zurück. Als Al-Shabaab bemerkte das er wieder da ist, flüchtete er nach Mogadischu. Spät abends kam dann kurz nach Sonnenuntergang Al-Shabaab zu uns nach Hause. Wir waren alle zu hause. Meine Mutter hat die Tür geöffnet. Sie haben mit ihr geschimpft und gefragt wo der Jude ist mit dem sie verheiratet ist. Sie hat gesagt dass sie es nicht weiß und hat keine Auskunft gegeben. Die Männer waren bewaffnet und haben auf meine Mutter geschossen. Sie wurde am Ohr und an der Schulter getroffen. Ich bin zu ihr gelaufen und habe geschrien. Einer hat mich mit dem Messer am Rücken verletzt. Sie sagten dass sie mich mitnehmen und mich mit jemandem verheiraten. Als sie gesehen haben dass ich stark geblutet habe, haben sie mich liegen lassen. Die Nachbarn haben mich dann mitgenommen und geholfen. Die Nachbarn haben die Verletzung versorgt und in einem anderen Haus wurde ich untergebracht. Meine Mutter haben sie in das Krankenhaus gebracht. Die Geschwister gingen auch zu den Nachbarn. Da sonst niemand zu Hause war um aufzupassen. Nachdem Al-Shabaab gesagt hat dass sie mich haben wollen und zurückkommen werden haben meine Nachbarn mich mitgenommen. Diese Nachbarn hatten vor das Land zu verlassen weil der Vater dieser Nachbarn auch von Al-Shabaab getötet wurde. Diese Nachbarin hat mich mitgenommen, mit ihr bin ich bis nach Österreich gekommen. (Anmerkung: die gesetzliche Vertretung hat die Wunde am Rücken gesehen und beschreibt Diese als 25 Zentimeter lange und stark vernarbte Schnittwunde am Rücken)
F: War ihre ältere Schwester XXXX (2001 geboren), auch anwesend bei dem Vorfall?
A: Nein, weil sie bei einer Familie in Kismayo gearbeitet hat. Ich war die älteste Anwesende
nach meiner Mutter
F: Wie alt sind die anderen Geschwister?
A: Die Nächste nach mir ist 2004 geboren. XXXX 2004, XXXX 2005, XXXX 2006, XXXX 2008
F: Das heißt sie sind ohne Geld mit der Nachbarin mitgegangen
A: Ja ich hatte nichts
F: Wer hat entschieden das sie flüchten mit der Nachbarin und ihre Geschwister nicht?
A: Nachdem meine Mutter im Koma lag und mein Vater aufgrund Al-Shabaab nicht
anwesend war, und meine ältere Schwester nicht anwesend war, haben die Nachbarn das
entschieden. Die Familie zu der ich kam hat eben entschlossen dass sie mich mitnehmen.
F: Das heißt die Nachbarn haben entschieden?
A: Ich konnte niemanden fragen und nicht alleine dort bleiben
F: Warum sind sie bei dem Vorfall zu einer anderen Familie gekommen als ihre
Geschwister?
A: Die Nachbarn haben aufgeteilt wer wohin geht
Vorhalt: Ihre ältere Schwester war nur 15 Kilometer weg die hätte man fragen können
A: Wir hatten alle kein Telefon
F: Wieviel Zeit ist vergangen von dem Vorfall bis zu ihrer Flucht?
A: Im Dezember ist das geschehen und am 15.01.2015 sind wir geflüchtet
Vorhalt: Das waren zumindest einige Wochen da hätte jemand die ältere Schwester von ihrer
Flucht in Kenntnis setzen können
A: In dem Moment war ich verletzt wir haben das Thema nicht diskutiert und sie war auch
jung und hätte an der Situation auch nichts ändern können
F: Ich bin mit den Fragen zu den Fluchtgründen soweit fertig. Wollen Sie dazu noch etwas
sagen? Haben Sie alle Ihre Gründe geltend gemacht? Hatten Sie genug Zeit und
Möglichkeit, alle Ihre Gründe geltend zu machen?
A: Ich bitte darum dass die Behörde meine Flucht anerkennt da ich Angst um mein Leben habe
F: Will die gesetzliche Vertretung etwas anmerken?
Frau XXXX : JA: Frage: hat dich Al-Shabaab sonst noch verletzt?
A:Ja, Al-Shabaab hat mir mit einem Stock auf den Kopf geschlagen, ich habe heute noch immer Kopfschmerzen. In der Nacht bekomme ich Alpträume. Ich muß oft in die Schule Schmerztabletten mitnehmen wenn ich Kopfschmerzen bekomme ist das so als ob es aus meinen Ohren raucht. In der Nacht brauche ich oft Beruhigungsmittel. Ich gehe jeden Donnerstag in eine Behandlung deswegen. Alle medizinischen Unterlagen, auch wegen der psychiatrischen Behandlung werden nachgereicht.
[...]
4. Am 05.05.2017 wurde durch die gesetzliche Vertretung eine Stellungnahme eingebracht. Darin wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die Länderberichte zur Situation in Lower Juba auf die Zeiträume 2015 bis Anfang 2016 beschränkt seien. Es werde daher beantragt, aktuelle Informationen zur Sicherheitslage in Lower Juba einzuholen. Zudem lasse sich aus den Länderberichten entnehmen, dass zum Zeitpunkt des fluchtauslösenden Ereignisses die Al Shabaab in dieser Region sehr aktiv gewesen seien. Die von der BF geschilderte Drohung der Al Shabaab gegen den Vater und der Überfall auf die Familie würden in Einklang mit der fanatisch-islamistischen Haltung der Miliz stehen. Es sei bekannt, dass Al Shabaab schwerste Menschenrechtsverletzungen begehe und auch bei Frauen und Kindern kein Erbarmen zeige. Diese seien den größten Gefahren wie sexueller Gewalt und Entführung ausgesetzt. Das Vorbringen der BF stehe in Einklang mit den Länderberichten und sei daher glaubhaft. Die Möglichkeit in Somalia Rechtschutz zu erlangen sei nicht gegeben. Auch würden für die BF keine innerstaatlichen Fluchtalternativen bestehen. Als minderjähriges Mädchen, ohne Kernfamilie, sei für die BF ein Leben in Somalia nicht möglich. Es bestehe die große Gefahr, dass sie Opfer von Gewalt werde.
Mit der Stellungnahme wurden folgende Unterlagen vorgelegt:
-
Ambulanzbericht eines Kinderspitals, wonach die BF am 30.05.2016 in der Schule kollabiert ist. Zudem wurde in der Rubrik Anamese "Messerverletzung linke Schulter und Gesäß" festgehalten.
-
Arztbrief Neuropädiatrie, wonach die BF am 23.06.2016 ambulant untersucht wurde und bei ihr die Diagnose "Posttraumatische Cephalea" erstellt wurde. In der Vorgeschichte wurde ausgeführt, dass die BF angegeben habe, Opfer eines Überfalles geworden zu sein und mit einer Holzstange auf den Kopf getroffen worden sei. Sie habe angegeben nach dem Schlag bewusstlos gewesen zu sein und eine starke Schwellung gehabt zu haben. An der linken Schulter sei sie mit einem Messerstich verletzt worden. Seit dem Überfall würden Kopfschmerzen bestehen.
-
Kernspintomographie Befund vom 14.07.2016.
-
Fachärztliche Stellungnahme vom 16.08.2016, wonach die BF seit 20.06.2016 in ambulanter Behandlung stehe.
-
Stellungnahme einer Psychotherapeutin vom 27.03.2017, wonach die BF seit August 2016 regelmäßige psychologische Gespräche durchführe.
-
Fachärztliche Bestätigung vom 04.04.2017, wonach die BF in ambulanter Behandlung aufgrund einer posttraumatischen Belastungsstörung sei. Die BF habe auch somatische Beschwerden im Sinne von Kopfschmerzen.
-
Schulbesuchsbestätigungen.
5. Mit Bescheid vom 11.05.2017 wies die belangte Behörde den Antrag der BF auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt I.), gemäß § 8 Abs. 1 AsylG wurde ihr der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.) und der BF eine befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG bis 11.05.2018 erteilt.
Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, dass die Identität der BF nicht feststehe. Sie gehöre dem Clan der Ashraaf, Subclan der Sharif Baclaawi an. Eine asylrechtlich relevante Verfolgung in Somalia habe nicht festgestellt werden können. Aufgrund der Aussagen und der vorgelegten medizinischen Unterlagen werde das Fluchtvorbringen im Wesentlichen als glaubhaft beurteilt. Es seien zwar Widersprüche vorhanden, aber es gehe klar hervor, dass Al Shabaab ursächlich wegen dem Vater bei der BF zu Hause aufgetaucht sei und die BF und die Mutter Opfer des Überfalles geworden seien. Ziel der Al Shabaab sei es aber gewesen den Vater zu töten, weil dieser ein Geschäft betrieben habe und aus diesem Grund mehrfach bedroht worden sei. Es sei davon auszugehen, dass der Überfall weder der BF, noch ihrer Mutter gegolten habe. Dies sei aber kein Fluchtgrund iSd GFK.
6. Gegen Spruchpunkt I. des Bescheides wurde fristgerecht Beschwerde erhoben. Darin wurde das Fluchtvorbringen der BF gerafft wiedergegeben und weiters ausgeführt, dass die Al Shabaab-Mitglieder der BF damit gedroht hätten, zurückzukommen und die BF mit einem Mitglied zu verheiraten. Die BF habe in der Einvernahme über den Überfall, die dabei entstandene Verletzung am Rücken und die drohende Zwangsehe durch ein Mitglied der Al Shabaab Miliz berichtet. Sie habe geschildert, wie sie beim Überfall mit einem großen Messer am Rücken verletzt worden sei und seither eine ca. 25cm lange Narbe habe. Die Anhänger der Al Shabaab hätten nur deshalb von ihr abgelassen, weil sie stark geblutet habe. Sie hätten aber deutlich gemacht, dass sie später noch einmal für sie zurückkommen und sie mit einem Anhänger der Al Shabaab Miliz verheiraten würden. Dass sich die Feindseligkeit der Miliz zunächst gegen den Vater gerichtet habe, ändere nichts daran, dass die BF persönlich einem Übergriff bzw. einer Bedrohung durch die Miliz ausgesetzt gewesen sei. Die BF sei Angehörige der sozialen Gruppe von Frauen bzw. minderjährigen Mädchen, der eine Zwangsverheiratung bzw. Verschleppung durch die Al Shabaab Miliz drohe, ohne, dass ihr die somalischen Behörden Schutz gewähren könnten. Den Länderfeststellungen lasse sich deutlich entnehmen, dass Frauen und Mädchen sich in einer besonders prekären Lage befinden würden. Sie seien besonderen Gefahren wie Vergewaltigung, Verschleppung und der systematischen sexuellen Versklavung ausgesetzt. Ein wirksamer Schutz sei nicht gewährleistet. Es bestehe auch keine innerstaatliche Fluchtalternative. Der BF sei Asyl zu gewähren gewesen.
7. Am 14.03.2018 brachte die BF folgende Unterlagen in Vorlage:
-
Ambulanzbrief einer Kinderklinik vom 10.01.2018, wonach bei der BF die Diagnosen "Morbide Adipositas (BMI-SDS + 2.7), Sekundäre Hyperthyreotropinämie V.a. familiäre kombinierte Hyperlipidämie, grenzwertig pathologische Glukosetoleranz, Vitamin-D-Mangel" erstellt wurde.
-
Fachärztliche Stellungnahme vom 09.03.2018, wonach die BF bei einer Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Behandlung ist.
-
Stellungnahme eines Arztes einer Universitätsklinik für Kinder- und Jugendchirurgie.
8. Am 21.03.2018 wurden folgende Unterlagen in Vorlage gebracht:
-
Schreiben einer Psychotherapeutin vom 02.05.2017.
-
Schreiben einer Psychotherapeutin vom 12.03.2018, wonach die BF seit 30.08.2016 in laufender Behandlung sei und bei ihr die Diagnose "Posttraumatische Belastungsstörung" erstellt wurde.
9. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 23.03.2018 in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Somali und im Beisein des Rechtsvertreters der BF sowie einer Vertrauensperson eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der das Bundesamt nicht teilnahm.
Die BF brachte wie folgt vor:
[...]
R: Was war der Grund dass Sie Ihr Heimatland verlassen haben?
BF: Mein Vater war ein Soldat und hat für die frühere Regierung gearbeitet. Nach dem Zerfall dieser Regierung ist er Nomade geworden. Er hat später dann eine kleine Cafeteria eröffnet. Es gab dort einen Fernseher, wo man beispielsweise die Nachrichten anschauen konnte oder Musik hören konnte. Nach den Nachrichten wurde im Fernsehen immer Musik gesendet. Dieses Cafe war in unserem Dorf in XXXX .
R: Wann hat er das Cafe aufgemacht?
BF: Ich weiß es nicht genau, ich war zu jung.
R: Was ist weiter passiert?
BF: Eines Tages kamen die Al Shabaab zu meinem Vater. Sie haben gesagt, dass diese Musik im Fernseher verboten ist. Sie haben ihn beschuldigt, dass er ein Jude ist. Er müsse sein Geschäft zusperren. Aber mein Vater hat seine Arbeit weiter geführt. Er hatte auch einen Mitarbeiter und die Al Shabaab kamen wieder und haben diesen gefragt, warum "der Jude" das Geschäft nicht zugesperrt hat. Wenn mein Vater das Geschäft nicht zusperren würde, würden sie ihn töten.
R: Wie hat dieser Mitarbeiter geheißen?
BF: XXXX , wie er sonst noch geheißen hat, habe ich vergessen. Ich weiß nur noch seinen Vornamen.
R: Wann ist die Al Shabaab zu Ihrem Vater gekommen und haben ihm gesagt, dass die Musik im Fernsehen verboten ist?
BF: Das war im September 2014. Das BFA hat mich das nicht gefragt.
R: War das das erste Mal, dass Al Shabaab Ihren Vater aufgesucht hat?
BF: Ja.
R: Wieso haben Angehörige der Al Shabaab mit Ihrem Mitarbeiter gesprochen und haben nicht direkt Ihrem Vater gesagt, dass er das Cafe zusperren soll.
BF: Weil mein Vater nicht da war.
R: Waren Sie selbst anwesend, als die Al Shabaab mit dem Mitarbeiter gesprochen haben?
BF: Ja, ich war dabei, auch meine Mutter und meine anderen Geschwister.
R: Wissen Sie, wann die Al Shabaab Leute mit dem Mitarbeiter gesprochen haben?
BF: Ich erinnere mich nicht.
R: Wie viele Leute von Al Shabaab sind in das Cafe gekommen und haben mit dem Mitarbeiter gesprochen?
BF: Es waren viele bewaffnete Männer.
R: Wie haben diese Männer ausgesehen, können Sie sie näher beschreiben?
BF: Sie waren vermummt und hatten viele Waffen.
R: Wissen Sie sonst noch etwas über diese Männer?
BF: Nein.
R: Woher haben Sie gewusst, dass diese Männer Angehörige der Al Shabaab sind?
BF: Weil sie es selbst gesagt haben.
R: Was genau haben Sie gesagt?
BF: Sie sagten, dass sie zu Al Shabaab gehören und mein Vater sein Geschäft zusperren müsse.
R: Hat Ihr Vater das Cafe in weiterer Folge zugesperrt?
BF: Er hat es im Oktober 2014 zugesperrt und ist nach Äthiopien gegangen.
R: Können Sie sich noch an den genauen Tag der Schließung erinnern?
BF: Es war Ende Oktober 2014.
R: Wieso ist ihr Vater nach Äthiopien gegangen?
BF: Weil die Al Shabaab ihn bedroht haben und er große Angst hatte, deshalb ist er geflüchtet.
R: Sind Sie mit Ihrer Mutter und Geschwister mit Ihrem Vater nach Äthiopien mitgereist?
BF: Nein. Nur mein Vater ist weg. Wenn die Al Shabaab jemanden bedrohen, töten sie.
R: Sie sind mit Ihrer Mutter und Geschwistern im Heimatdorf geblieben?
BF: Ja. Ich war die älteste.
R: Wovon haben Sie, Ihre Mutter und die Geschwister gelebt, wenn der Vater in Äthiopien war?
BF: Wir hatten Kühe und haben Milch verkauft.
R: Wie lange ist Ihr Vater in Äthiopien geblieben?
BF: Nach zwei Monaten ist er zurückgekommen, das war dann im Dezember 2014.
R: Was hat Ihr Vater dann gemacht?
BF: Die Al Shabaab haben erfahren, dass er zurückgekommen ist. Mein Vater ist nach Mogadischu gegangen weil sein Leben in Gefahr war.
R: Wieso sollte er nach wie vor in Gefahr sein, er hat doch sein Geschäft geschlossen gehabt.
BF: Weil sie ihn als Juden bezeichnet haben, außerdem war er früher auch ein Soldat.
R: Was haben die Al Shabaab damit gemeint, dass sie Ihren Vater als Juden bezeichnet haben?
BF: Sie haben ihn beschuldigt, dass er gegen den Islam ist.
R: Wurden Sie persönlich, Ihre Mutter oder Ihre Geschwister durch die Al Shabaab bedroht?
BF: Als mein Vater weg war, kamen Al Shabaab Leute zu uns. Es waren viele Männer und sie haben meine Mutter gefragt, wo ihr Mann sei. Sie sagte, dass sie das nicht wisse. Diese Männer haben dann auf meine Mutter geschossen und sie wurde dadurch am Ohr und auch am Oberarm verletzt.
R: Musste sie deswegen ins Spital?
BF: Als ich das gesehen habe, habe ich laut geschrien. Einer der Männer hat mich auch verletzt.
R: Wann ist das passiert als Ihre Mutter angeschossen wurde?
BF: Ich erinnere mich nicht genau, es war aber im Dezember 2014.
R: Wie viele Al Shabaab-Leute sind damals gekommen?
BF: Es waren ca. 8 bis 9 Männer.
R: Sie haben gesagt Sie wurden verletzt, wie und wo ist das passiert?
BF: An der Schulter. Sie haben mich mit einem Messer verletzt.
R: Sind Sie und Ihre Mutter medizinisch versorgt worden?
BF: Meine Mutter wurde nach Kismayo gebracht.
R: Wer hat das getan?
BF: Unser Nachbar.
R: Wie heißt Ihr Nachbar?
BF: Es waren zwei Frauen, namens XXXX und XXXX .
R: Sind das Vornamen?
BF: Ja.
R: Wissen Sie auch die Nachnamen?
BF: Nein, das weiß ich nicht.
R: Wieso wissen Sie die Nachnamen Ihrer Nachbarn nicht?
BF: Ich habe nicht gefragt, ich war noch klein.
R: Wohin ist Ihre Mutter in Kismayo gebracht worden?
BF: In ein Spital.
R: Wie lange war Ihre Mutter im Spital?
BF: Das weiß ich nicht. Ich habe seither nichts mehr von ihr gesehen oder gehört. Ich weiß nicht wo sie ist.
R: Wieso haben sie seither nichts mehr von ihr gehört?
BF: Ich habe nur gehört, dass sie im Spital im Koma liegt.
R: Wer hat Ihnen das gesagt?
BF: Unsere Nachbarn haben mich informiert.
R: Was ist mit Ihrer Verletzung geschehen, wurde diese versorgt?
BF: Sie haben mich nicht nur verletzt, sie haben mich auch entführt. Sie wollten mich heiraten. Auf dem Weg habe ich sehr viel geblutet und sie haben mich dann weggeschmissen.
R: Was meinen Sie mit weggeschmissen?
BF: Sie haben mich aus dem Auto weggeschmissen.
R: Schildern Sie diesen Vorfall genauer.
BF: Sie haben geglaubt, dass ich sterbe, weil ich viel geblutet habe. Deswegen haben sie mich aus dem Auto rausgeschmissen.
R: Wie war das genau.
BF: Sie sind mit dem Auto stehengeblieben und haben mich aus dem Auto rausgeschmissen.
R: Was ist dann mit Ihnen passiert?
BF: Die Nachbarinnen haben mir geholfen und mich verarztet.
R: Wie konnten die Nachbarinnen Sie finden, Sie sind doch mit dem Auto entführt worden.
BF: Sie haben mich nicht weit weggebracht, es war in der Nähe unseres Hauses als sie mich weggeschmissen haben.
R: Wieso haben die Nachbarinnen gewusst, dass sie aus dem Auto rausgeworfen wurden?
BF: Ich bin zu ihnen gegangen.
R: Bei welchen Nachbarinnen waren Sie da?
BF: Bei XXXX und XXXX .
R: Das heißt, das waren andere Nachbarinnen als die, die Ihre Mutter ins Spital gebracht haben.
BF: Ja. XXXX und XXXX sind gleichzeitig mit mir nach Österreich gekommen.
R: Wie lange sind Sie bei diesen Nachbarinnen geblieben?
BF: Von Ende Dezember 2014 bis zum 15.01.2015.
R: Als Sie bei diesen Nachbarinnen waren, sind die Al Shabaab wieder gekommen und haben versucht Sie zu finden?
BF: Nein.
R: Wieso haben Sie Somalia verlassen, warum sind Sie bei den Nachbarinnen nicht geblieben?
BF: Weil ich große Angst gehabt habe dass die Al Shabaab wieder zurückkommen und machen was sie wollen.
R: Was ist mit Ihren Geschwistern passiert?
BF: Die anderen Nachbarinnen haben auf meine Geschwister aufgepasst.
R: Wie alt sind Ihre Geschwister?
BF: XXXX ist 2005, meine Schwestern XXXX ist 2001, XXXX ist 2006, XXXX ist 2004 und XXXX ist 2008 geboren.
R: Wohin sind Sie dann ab dem 15.1.2015 gereist?
BF: Ich bin nach Bosaso gegangen.
R: Sind Sie zu Fuß gegangen?
BF: Nein, mit dem Auto.
R: Sind Sie alleine mit dem Auto gefahren?
BF: Nein, meine Nachbarn und ich. Es war ein Mietauto.
R: Wie haben diese Nachbarn, die mit Ihnen gereist sind, geheißen?
BF: XXXX und XXXX
R: Warum sind diese mit Ihnen mitgereist?
BF: Weil sie dieselben Probleme hatten.
R: Was ist eigentlich genau mit Ihrer Schulter passiert? Wurde Ihre Verletzung auch genäht?
BF: Nein, sie wurde nicht genäht.
R: Wenn Sie so stark geblutet haben, dass die Al Shabaab Leute Sie aus dem Auto geworfen haben, ist es naheliegend, dass Ihre Wunde so tief war, dass sie hätte genäht werden müssen.
BF: Ich sage die Wahrheit. Meine Nachbarinnen haben meine Wunde versorgt, aber nicht genäht.
[...]
R: Wie lange haben Sie sich im Jemen aufgehalten?
BF: Einige Monate, wie lange genau weiß ich nicht.
R: Wo im Jemen haben Sie gelebt?
BF: In Sana (phonetisch) Die BF schreibt den Namen auf ein Blatt Papier /Beilage A. (SANCA)
R: Woher hatten Sie das Geld um diese Reise in den Jemen zu bezahlen?
BF: Ich hatte kein Geld, meine Nachbarinnen haben mir geholfen.
R: Was war der Grund dafür, dass Sie Jemen verlassen haben?
BF: Meine Nachbarinnen haben gesagt, dass wir nicht mehr im Jemen bleiben können, wir müssten einen ruhigen Ort suchen. Wir sind dann in den Sudan weitergereist.
R: Wann genau haben Sie den Jemen verlassen?
BF: Ich erinnere mich nicht.
R: Wie sind Sie in den Sudan gelangt?
BF: Mit einem kleinen Boot.
R: Wo haben Sie mit diesem Boot im Sudan angelegt?
BF: Im Hafen, wo genau, weiß ich nicht.
R: Wie lange blieben Sie im Sudan?
BF: Ca. zwei Monate.
R: Wo lebten Sie in diesen zwei Monaten?
BF: In Karthoum.
R: Wissen Sie noch die genaue Adresse?
BF: Nein, ich kenne sie nicht.
R: Sind Sie gemeinsam mit Ihren Nachbarinnen dort gewesen?
BF: Ja.
R: Wieso haben Sie Karthoum verlassen?
BF: Ich weiß es nicht, ich habe nur meine Nachbarinnen begleitet, weil sie ja meine Reise bezahlt haben.
R: Woher hatten Ihre Nachbarinnen so viel Geld, dass diese auch Ihnen die Reise bezahlt haben?
BF: Das weiß ich nicht, sie haben mir nur geholfen.
[...]
R: Haben Sie etwas dafür bezahlt, um mit dem Plastikboot Libyen verlassen zu können?
BF: Nein, ich habe nichts bezahlt.
R: Ihre Nachbarinnen?
BF: Ja. Die haben bezahlt.
R: Woher hatten Ihre Nachbarinnen so viel Geld, dass diese Ihnen die Reise mitfinanzieren konnten?
BF: Ich weiß es nicht, ich habe sie auch nicht danach gefragt.
R: Von wann bis wann waren Sie in Karthoum?
BF: Ich war nur zwei Monate dort, aber den genauen Zeitraum weiß ich nicht mehr.
R: Was ist mit Ihrer ältesten Schwester passiert?
BF: Sie hat in Kismayo als Putzfrau gearbeitet.
R: Als Ihre Mutter angeschossen und Sie selbst verletzt wurden, war Ihre älteste Schwester nicht anwesend?
BF: Ja, sie war nicht da.
R: Wieso sind Sie nicht zu Ihrer Schwester nach Kismayo gegangen? Das wäre naheliegend gewesen.
BF: Ich hatte nicht ihre Telefonnummer.
R: Bei wem hat Ihre Schwester gearbeitet?
BF: Ich weiß es nicht.
R: Wieso wissen Sie das nicht?
BF: Ich war noch nie in Kismayo.
R: Hat sich Ihre Schwester nie bei Ihnen oder Ihrer Familie gemeldet, als Sie in Kismayo war?
BF: Ich habe kein Telefon.
R: Woher wissen Sie dann, dass die Schwester als Putzfrau gearbeitet hat?
BF: Meine Mutter hat es mir gesagt.
R: Woher wusste sie das?
BF: Meine Schwester hat mit meiner Mutter telefoniert.
R: Sie haben nicht nach ihrer Schwester gefragt?
BF: Doch, sie hat mir aber nur gesagt, dass sie in Kismayo ist.
R: Hatten Sie, seit Sie in Österreich sind, telefonischen Kontakt zu einem Ihrer Familienmitglieder?
BF: Nein.
R: Wenn Sie in Ihr Heimatland zurückkehren müssten, was würden Sie befürchten?
BF: Ich habe große Angst vor Al Shabaab. Ich habe noch immer Angst und kann oft ohne Schlaftabletten nicht schlafen.
[...]
BFV: Ihnen wurde von Al Shabaab angedroht, dass man Sie zwangsverheiratet. Wurde Ihren Geschwistern auch gedroht?
BF: Das weiß ich nicht.
BFV: Haben Ihre Nachbarinnen Ihre Fluchtstrecke mit Ihnen besprochen?
BF: Ich wusste nicht, was sie vorher geplant haben. Sie haben mir angeboten, dass ich mitgehen darf.
Erörtert werden
* Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Somalia, Stand 12.01.2018,
* Fact FindingMission Report Somalia, August 2017,
* EASO-Bericht vom Dezember 2017, Security Situation
Dazu gibt die BFV an: Die Gefahr die der BF droht und die Angst ist realistisch und berechtigt. Ich verweise auf das Länderinformationsblatt, 18.1. FRAUEN, auf Seite 95 ff. Sexuelle Versklavung stellt eine reelle Gefahr für die BF dar. Darüber hinaus wäre sie dort ganz auf sich alleine gestellt, ohne männlichen Schutz durch Vater oder Bruder, und wäre so der Al Shabaab hilflos ausgeliefert. Es handelt sich ja um ein junges Mädchen, das ohne jeglichen Schutz und Zufluchtsmöglichkeit sich dort aufhalten müsste und somit Angst und Furcht begründet sind.
R: Möchten Sie zu den Länderberichten noch etwas angeben?
BF: Nein. [...]
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Die unbescholtene minderjährige BF ist Staatsangehörige von Somalia und stellte am 23.04.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Ihre Identität steht nicht fest. Sie ist sunnitische Muslimin und gehört dem Clan der Ashraaf, Subclan der Sharif Baclaawi an. Die BF hat bis zu ihrer Ausreise nach Europa in der Stadt XXXX , in der Region Lower Juba gelebt. Die BF weiß nicht, ob ihre Verwandten noch in Somalia leben. Die BF leidet an einer posttraumatischen Belastungsstörung. Die BF wurde von Mitgliedern der al-Shabaab mit einem Messer an der Schulter verletzt.
Festgestellt wird, dass die BF in Somalia mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine an ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (junge, unverheiratete/alleinstehende Frau) anknüpfende aktuelle Verfolgung maßgeblicher Intensität (Zwangsheirat, geschlechtsspezifische Gewalt) droht und sie weder von staatlicher Seite noch von männlicher Verwandtschaft entsprechende Hilfe erwarten könnte.
Die BF lebt in Österreich als subsidiär Schutzberechtigte.
2. Relevante Länderberichte zur Situation in Somalia:
Politische Lage
Das Gebiet von Somalia ist de facto in drei unterschiedliche administrative Einheiten unterteilt: a) Somaliland, ein 1991 selbstausgerufener unabhängiger Staat, der von der internationalen Gemeinschaft nicht anerkannt wird; b) Puntland, ein 1998 selbstausgerufener autonomer Teilstaat Somalias; c) das Gebiet südlich von Puntland, das Süd-/Zentralsomalia genannt wird (EASO 8.2014). Im Hinblick auf fast alle asylrelevanten Tatsachen ist Somalia in diesen drei Teilen zu betrachten (AA 1.1.2017).
Im Jahr 1988 brach in Somalia ein Bürgerkrieg aus, der im Jahr 1991 im Sturz von Diktator Siyad Barre resultierte. Danach folgten Kämpfe zwischen unterschiedlichen Clans, Interventionen der UN sowie mehrere Friedenskonferenzen (EASO 8.2014). Seit Jahrzehnten gibt es keine allgemeinen Wahlen auf kommunaler, regionaler oder zentralstaatlicher Ebene. Politische Ämter wurden seit dem Sturz Siad Barres 1991 entweder erkämpft oder unter Ägide der internationalen Gemeinschaft, hilfsweise unter Einbeziehung nicht demokratisch legitimierter traditioneller Strukturen (v.a. Clan-Strukturen) vergeben (AA 1.1.2017).
Im August 2012 endete die Periode der Übergangsregierung (BS 2016). Seit damals gibt es eine politische Entwicklung, die den Beginn einer Befriedung und Stabilisierung sowie eines Wiederaufbaus staatlicher Strukturen markiert. Am 1.8.2012 wurde in Mogadischu eine vorläufige Verfassung angenommen. Seitdem ist die Staatsbildung kontinuierlich vorangeschritten. Das im Dezember 2016 gewählte Parlament stellt dabei auch einen deutlichen demokratischen Fortschritt gegenüber dem 2012 gewählten Parlament dar. Während 2012 135 Clanälteste die Zusammensetzung bestimmten (AA 4.2017a; vgl. UNSC 5.9.2017), waren es 2016 über 14.000 Clan-Repräsentanten (UNHRC 6.9.2017) bzw. 13.000. Während die 54 Mitglieder des Oberhauses von den Parlamenten der Bundesstaaten gewählt wurden, wählten die o.g. Clan-Repräsentanten die 275 auf Clan-Basis ausgewählten Abgeordneten des Unterhauses (UNSC 9.5.2017).
Auch wenn es sich um keine allgemeine Wahl gehandelt hat, ist diese Wahl im Vergleich zu vorangegangenen Wahlen ein Fortschritt gewesen (DW 10.2.2017). Allerdings war auch dieser Wahlprozess problematisch, es gibt zahlreiche Vorwürfe von Stimmenkauf und Korruption (SEMG 8.11.2017). Im Februar 2017 wählte das neue Zweikammerparlament Mohamed Abdullahi Mohamed "Farmaajo" zum Präsidenten; im März bestätigte es Hassan Ali Kheyre als Premierminister (AA 4.2017a; vgl. UNSC 5.9.2017, SEMG 8.11.2017). Das Parlament bestätigte am 29.3.2017 dessen 69-köpfiges Kabinett (UNSC 9.5.2017).
Die Macht wurde friedlich und reibungslos an die neue Regierung übergeben (WB 18.7.2017). Somalia hat den Zustand eines failed state überwunden, bleibt aber ein fragiler Staat (AA 1.1.2017). Die Regierung stellt sich den Herausforderungen, welche Dürre und Sicherheit darstellen. Überhaupt hat die Regierung seit Amtsantritt gezeigt, dass sie dazu bereit ist, die Probleme des Landes zu beheben (UNSC 5.9.2017). Dabei mangelt es der Bundesregierung an Einkünften, diese sind nach wie vor von den wenigen in Mogadischu erzielten Einnahmen abhängig (SEMG 8.11.2017).
Außerdem wird die Autorität der Zentralregierung vom nach Unabhängigkeit strebenden Somaliland im Nordwesten sowie von der die Regierung aktiv bekämpfenden, radikal-islamistischen al Shabaab-Miliz in Frage gestellt. Außerdem gibt es aber keine flächendeckende effektive Staatsgewalt. Die vorhandenen staatlichen Strukturen sind fragil und schwach (AA 1.1.2017). Die föderale Regierung hat es bislang kaum geschafft, sich außerhalb Mogadischus durchzusetzen (ÖB 9.2016).
Allgemeine Wahlen sind für das Jahr 2020 (UNSC 9.5.2017) bzw. 2021 vorgesehen (UNSC 5.9.2017; vgl. UNNS 13.9.2017). Deren Durchführung wird aber maßgeblich davon abhängen, wie sich die Sicherheitslage entwickelt, ob sich Wahlkommissionen auch in den Bundesstaaten etablieren können und ob ein Verfassungsgericht eingerichtet wird (UNSC 5.9.2017).
Neue föderale Teilstaaten (Bundesstaaten)
Generell befindet sich das föderalistische System Somalias immer noch in einer frühen Phase und muss in den kommenden Jahren konsolidiert werden (UNSC 9.5.2017). Zwar gibt es in manchen Gebieten Verbesserungen bei der Verwaltung und bei der Sicherheit. Es ist aber ein langsamer Prozess. Die Errichtung staatlicher Strukturen ist das größte Problem, hier versucht die internationale Gemeinschaft zu unterstützen (BFA 8.2017).
Kaum ein Bundesstaat ist in der Lage, das ihm zugesprochene Gebiet tatsächlich unter Kontrolle zu haben. Bei den neu etablierten Entitäten reicht die Macht nur wenige Kilometer über die Städte hinaus (BFA 8.2017; vgl. NLMBZ 11.2017).
Während im Norden bereits die Gliedstaaten Somaliland und Puntland etabliert waren, begann mit dem international vermittelten Abkommen von Addis Abeba von Ende August 2013 der Prozess der Gliedstaatsgründung im weiteren Somalia, der nach der Gründung der Bundesstaaten Jubaland, South West State (SWS), Galmudug und Hirshabelle 2016 seinen weitgehenden Abschluss fand (AA 4.2017a). Offen ist noch der finale Status der Hauptstadtregion Benadir/Mogadischu (AA 4.2017a; vgl. UNSC 5.9.2017, BFA 8.2017).
Die Bildung der Bundesstaaten erfolgte im Lichte der Clan-Balance.
Rein technisch bedeutet dies: Galmudug und HirShabelle für die Hawiye; Puntland und Jubaland für die Darod; der SWS für die Rahanweyn; Somaliland für die Dir (BFA 8.2017).
Die Beziehungen zwischen der Bundesregierung und den Regierungen der Bundesstaaten sind angespannt, da es bei der Sicherheitsarchitektur und bei der Ressourcenverteilung nach wie vor Unklarheiten gibt (SEMG 8.11.2017). Außerdem hat der Schritt zur Föderalisierung zur Verschärfung von lokalen Clan-Spannungen beigetragen und eine Reihe gewalttätiger Konflikte ausgelöst. Die Föderalisierung hat zu politischen Kämpfen zwischen lokalen Größen und ihren Clans geführt (BS 2016). Denn in jedem Bundesstaat gibt es unterschiedliche Clankonstellationen und überall finden sich Clans, die mit der Zusammensetzung ihres Bundesstaates unzufrieden sind, weil sie plötzlich zur Minderheit wurden. Sie fühlen sich marginalisiert (BFA 8.2017).
Im Zuge der Föderalisierung Somalias wurden mehrere Teilverwaltungen (Bundesstaaten) neu geschaffen: Galmudug Interim Administration (GIA); die Jubaland Interim Administration (JIA); Interim South West State Administration (ISWA). Keine dieser Verwaltungen hat die volle Kontrolle über die ihr unterstehenden Gebiete (USDOS 3.3.2017). Außerdem müssen noch wichtige Aspekte geklärt und reguliert werden, wie etwa die Machtverteilung zwischen Bund und Ländern, die Verteilung der Einkünfte oder die Verwaltung von Ressourcen. Internationale Geber unterstützen den Aufbau der Verwaltungen in den Bundesstaaten (UNSC 5.9.2017).
1) Jubaland (Gedo, Lower Juba, Middle Juba): Im Jahr 2013 kam es zu einem Abkommen zwischen der Bundesregierung und Delegierten von Jubaland über die Bildung des Bundesstaates Jubaland. Im gleichen Jahr wurde Ahmed Mohamed Islam "Madobe" zum Präsidenten gewählt (USDOS 3.3.2017). Der JIA ist es gelungen, zumindest in Kismayo eine Verwaltung zu etablieren. Die Machtbalance in Jubaland wurde verbessert, seit die Ogadeni auch mit anderen Clans kooperieren und diese in Strukturen einbinden (BFA 8.2017).
2) South West State (SWS; Bay, Bakool, Lower Shabelle): Nach einer Gründungskonferenz im Jahr 2014 formierte sich im Dezember 2015 das Parlament des Bundesstaates South West State. Dieses wählte Sharif Hassan Sheikh Adam zum Übergangspräsidenten (USDOS 3.3.2017). Insgesamt befindet sich der SWS immer noch im Aufbau, die Regierungsstrukturen sind schwach, Ministerien bestehen nur auf dem Papier. Es gibt kaum Beamte, und in der Politik kommt es zu Streitigkeiten. Die Region Bakool ist besser an den SWS angebunden, als dies bei Lower Shabelle der Fall ist. Die Beziehungen von Lower Shabelle zur Bundesregierung und zum SWS sind kompliziert, der SWS hat dort kaum Mitsprache (BFA 8.2017).
3) HirShabelle (Hiiraan, Middle Shabelle): Bei der Bildung des Bundesstaates HirShabelle wurde längere Zeit über gestritten. Beide Regionen (Hiiraan und Middle Shabelle) haben erklärt, dass sie genügend Einwohner hätten, um jeweils einen eigenen Bundesstaat gründen zu können. Trotzdem wurden die Regionen fusioniert (BFA 8.2017). Im Jänner 2016 fand eine Konferenz zur Bildung eines Bundesstaates aus Hiiraan und Middle Shabelle statt. In der Folge wurde im Oktober 2016 der Bundesstaat Hirshabelle eingerichtet: Ein Parlament wurde zusammengestellt und ein Präsident - Ali Abdullahi Osoble - gewählt. Anführer der Hawadle haben eine Teilnahme verweigert (USDOS 3.3.2017). Das Kabinett wurde Mitte März 2017 vom Parlament bestätigt (BFA 8.2017; vgl. UNSC 9.5.2017). Der Großteil der Regierung von HirShabelle befindet sich in Mogadischu. Die Bildung des Bundesstaates scheint alte Clan-Konflikte neu angeheizt zu haben, die Hawadle fühlen sich marginalisiert (BFA 8.2017).
4) Galmudug (Galgaduud, Teile von Mudug): 2015 wurde eine Regionalversammlung gebildet und Abdikarim Hussein Guled als Präsident gewählt hat (EASO 2.2016). Die Regionalversammlung war von der Bundesregierung eingesetzt worden. Ausgewählt wurden die 89 Mitglieder von 40 Ältesten, welche wiederum 11 Clans repräsentierten. Die Gruppe Ahlu Sunna wal Jama'a (ASWJ), die Teile der Region Galgaduud kontrolliert, hat den Prozess boykottiert und eine eigene Verwaltung eingerichtet (USDOS 3.3.2017). Die GIA wird von Hawiye/Habr Gedir/Sa'ad dominiert (EASO 2.2016). Am 25.2.2017 trat der Präsident von Galmudug, Abdikarim Hussein Guled, zurück (UNSC 9.5.2017). Am 3.5.2017 wurde Ahmed Duale Geele "Xaaf" vom Regionalparlament von Galmudug zum neuen Präsidenten gewählt (UNSC 5.9.2017). Auch der neue Präsident hat noch keine Lösung mit der ASWJ herbeigeführt (UNSOM 13.9.2017).
Quellen:
-
AA - Auswärtiges Amt (1.1.2017): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia
-
AA - Auswärtiges Amt (4.2017a): Somalia - Innenpolitik, http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/Somalia/Innenpolitik_node.html, Zugriff 13.9.2017
-
BFA - BFA Staatendokumentation (8.2017): Fact Finding Mission Report Somalia. Sicherheitslage in Somalia. Beric