Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende sowie die Hofrätinnen und Hofräte Hon.-Prof. Dr. Höllwerth, Dr. E. Solé, Mag. Malesich und MMag. Matzka als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei F*****, vertreten durch Mag. Martin Divitschek und andere Rechtsanwälte in Deutschlandsberg, gegen die beklagte Partei U***** AG, *****, vertreten durch die Schönherr Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen 15.555 EUR sA und Feststellung, infolge der Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht vom 25. April 2018, GZ 7 R 70/17v-14, womit das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz vom 2. November 2017, GZ 13 Cg 36/17b-10, bestätigt wurde, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Das Verfahren 7 Ob 124/18p wird bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union über das Vorabentscheidungsersuchen des Bezirksgerichts für Handelssachen Wien (GZ 13 C 738/17z-12 [13 C 8/18y, 13 C 21/18k und 13 C 2/18s]), Rechtssache C-479/18, U***** ua, vom 12. Juli 2018, unterbrochen.
Nach Ergehen dieser Vorabentscheidung wird das Verfahren von Amts wegen fortgesetzt.
Text
Begründung:
Der Kläger stellte am 29. Oktober 2007 bei der Beklagten einen Antrag auf Abschluss einer klassischen Ab- und Erlebensversicherung mit Prämien von anfangs 100 EUR pro Monat. In diesem Antrag wurde er schriftlich wie folgt auf sein Rücktrittsrecht hingewiesen:
„Der Antragsteller kann innerhalb von 31 Tagen nach Zugang der Polizze schriftlich vom Vertrag zurücktreten. Es genügt, wenn die Rücktrittserklärung innerhalb des genannten Zeitraumes abgesendet wird. Die einzelnen gesetzlichen Rücktrittsregelungen sind in den §§ 3 und 3a KSchG sowie in den §§ 5b und 165a VersVG enthalten. Den Gesetzeswortlaut entnehmen Sie bitte unserer Homepage www.u*****.at. Wir senden ihnen diesen auf Wunsch auch kostenlos zu.“
Der Kläger unterfertigte den Antrag gleichzeitig mit den Erklärungen und Hinweisen, in denen die Belehrung zum Rücktrittsrecht enthalten war, eigenhändig. Es kam antragsgemäß zur Polizzierung der Lebensversicherung zu Polizzennummer ***** mit dem Versicherungsbeginn 1. Dezember 2007 und dem Versicherungsende 1. Dezember 2040.
Der Kläger erklärte mit Schreiben vom 26. April 2017 den Rücktritt vom Versicherungsvertrag, weil er nicht ordnungsgemäß über sein Rücktrittsrecht belehrt worden sei.
Die Beklagte ist „dem Rücktrittsersuchen … nicht näher getreten“.
Der Kläger begehrt die Rückzahlung aller gezahlten Prämien (13.193,69 EUR) samt 4 % kapitalisierten Zinsen bis 30. 6. 2017 (2.361,31 EUR) sowie die Feststellung, dass der Versicherungsvertrag aufgehoben und der Kläger von der weiteren Prämienzahlungsverpflichtung befreit sei. Schriftlichkeit der Rücktrittserklärung sei in § 165a VersVG nicht vorgesehen. Im Lichte von 7 Ob 107/15h und der Entscheidung des EuGH 19. 12. 2013, C-209/12, Endress, folge aus dieser fehlerhaften Belehrung ein unbefristetes Rücktrittsrecht, welches mangels Kenntnis weder verjährt noch rechtsmissbräuchlich sei. Es sei nicht bloß der Rückkaufswert auszuzahlen. Ein Abzug von Versicherungssteuer oder Risikokosten sei zufolge der nach §§ 1000, 1333 ABGB vorzunehmenden Pauschalierung der Nutzungsentschädigung nicht geboten.
Die Beklagte wandte ein, die Belehrung sei zutreffend und gesetzeskonform erfolgt, die 30-tägige Rücktrittsfrist des § 165a VersVG sei abgelaufen, das Rücktrittsrecht sei verjährt und werde rechtsmissbräuchlich geltend gemacht. Im Falle des Rücktritts stünde nur der Rückkaufswert nach § 176 VersVG zu, was mit der RL 2002/83/EG vereinbar sei. Keinesfalls stehe dem Kläger die Rückzahlung der Versicherungssteuer (dies mangels Bereicherung der Beklagten), der Risikokosten für den gewährten Versicherungsschutz oder eine pauschale 4%ige Verzinsung der Prämien zu; mehr als drei Jahre rückwirkend wären Bereicherungszinsen zudem verjährt. Vom Klagebegehren sei der Rückkaufswert abzuziehen.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab.
Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung und bewertete den Entscheidungsgegenstand als 5.000 EUR, nicht jedoch 30.000 EUR übersteigend. Es ließ die ordentliche Revision zu, weil zur Frage, ob infolge einer Belehrung des Versicherers, dass der Versicherungsnehmer seine Rücktrittserklärung nach § 165a VersVG schriftlich abzugeben habe, diesem ein unbefristetes Rücktrittsrecht zustehe, keine höchstgerichtliche Rechtsprechung vorliege, und die Entscheidung des Berufungsgerichts im Widerspruch zu 7 Ob 107/15h stehen könne.
Dagegen richtet sich die ordentliche Revision des Klägers mit dem Antrag, der Klage stattzugeben; hilfsweise wird die Aufhebung und Zurückverweisung beantragt.
Die Beklagte beantragt, die Revision abzuweisen.
Rechtliche Beurteilung
Das Revisionsverfahren ist zu unterbrechen:
In seinem Vorabentscheidungsersuchen vom 12. Juli 2018, GZ 13 C 738/17z-12, legte das Bezirksgericht für Handelssachen Wien zu mehreren zum Teil vergleichbaren Sachverhalten dem Gerichtshof der Europäischen Union folgende Fragen zur Vorabentscheidung vor (Rechtssache C-479/18, U***** ua):
„1. Sind Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 90/619/EWG in Verbindung mit Art. 31 der Richtlinie 92/96/EWG bzw. Art. 35 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 36 Abs. 1 der Richtlinie 2002/83/EG bzw. Art. 185 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 186 Abs. 1 der Richtlinie 2009/138/EG dahin auszulegen, dass – im Falle fehlender nationaler Regelungen über die Wirkungen einer fehlerhaften Belehrung über das Rücktrittsrecht vor Vertragsabschluss – die Frist für die Ausübung des Rücktrittsrechts nicht zu laufen beginnt, wenn das Versicherungsunternehmen in der Belehrung angibt, dass die Ausübung des Rücktritts in schriftlicher Form zu erfolgen hat, obwohl der Rücktritt nach nationalem Recht formfrei möglich ist?
2. (für den Fall der Bejahung der ersten Frage):
Ist Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 90/619/EWG in Verbindung mit Art. 31 der Richtlinie 92/96/EWG dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, wonach im Falle einer unterlassenen oder fehlerhaften Belehrung über das Rücktrittsrecht vor Vertragsabschluss die Frist für die Ausübung des Rücktrittsrechts zu jenem Zeitpunkt zu laufen beginnt, in dem der Versicherungsnehmer – auf welchem Weg auch immer – von seinem Rücktrittsrecht Kenntnis erlangt hat?
3. Ist Art. 35 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 36 Abs. 1 der Richtlinie 2002/83/EG dahin auszulegen, dass – im Falle fehlender nationaler Regelungen über die Wirkungen einer unterlassenen oder fehlerhaften Belehrung über das Rücktrittsrecht vor Vertragsabschluss – das Recht des Versicherungsnehmers auf Rücktritt vom Vertrag spätestens erlischt, nachdem ihm auf Grund seiner Kündigung des Vertrages der Rückkaufswert ausbezahlt wurde und damit die Vertragspartner die sich aus dem Vertrag ergebenden Pflichten vollständig erfüllt haben?
4. (für den Fall der Bejahung der ersten und/oder der Verneinung der dritten Frage):
Sind Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 90/619/EWG bzw. Art. 35 Abs. 1 der Richtlinie 2002/83/EG bzw. Art. 186 Abs. 1 der Richtlinie 2009/138/EG dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, wonach dem Versicherungsnehmer im Falle der Ausübung seines Rücktrittsrechts der Rückkaufswert (der nach den anerkannten Regeln der Versicherungsmathematik berechnete Zeitwert der Versicherung) zu erstatten ist?
5. (für den Fall, dass die vierte Frage zu behandeln war und bejaht wurde):
Sind Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 90/619/EWG bzw. Art. 35 Abs. 1 der Richtlinie 2002/83/EG bzw. Art. 186 Abs. 1 der Richtlinie 2009/138/EG dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, wonach im Falle der Ausübung des Rücktrittsrechts der Anspruch auf eine pauschale Verzinsung der rückerstatteten Prämien wegen Verjährung auf jenen Anteil beschränkt werden kann, der den Zeitraum der letzten drei Jahre vor Klagserhebung umfasst?“
Die Beantwortung dieser Fragen – abgesehen von Frage 3. – ist auch für das vorliegende Verfahren maßgeblich, in dem die Auslegung der im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses geltenden (vgl 7 Ob 107/15h) Bestimmungen des Art 35 Abs 1 iVm Art 36 Abs 1 der Richtlinie 2002/83/EG im Zusammenhalt mit den nationalen Regelungen des § 5b VersVG (idF BGBl I 2004/131), der §§ 165a und 176 VersVG (jeweils idF BGBl I 2006/95) sowie des § 9a VAG (idF BGBl 1996/447) und des § 18b VAG (idF BGBl I 2006/95) geboten ist.
Da der Oberste Gerichtshof auch in Rechtssachen, in denen er nicht unmittelbar Anlassfallgericht ist, von einer allgemeinen Wirkung der Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union auszugehen und diese auch für andere als die unmittelbaren Anlassfälle anzuwenden hat, ist das vorliegende Verfahren aus prozessökonomischen Gründen zu unterbrechen (RIS-Justiz RS0110583 mwH).
Textnummer
E123217European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2018:0070OB00124.18P.0926.000Im RIS seit
22.11.2018Zuletzt aktualisiert am
29.04.2019