TE Bvwg Erkenntnis 2018/8/29 W241 2185161-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 29.08.2018
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Entscheidungsdatum

29.08.2018

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art.133 Abs4

Spruch

W241 2185161-1/4E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Hafner als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 23.11.2017, Zahl 1094203306/151718115/BMI-BFA_NOE_RD, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 18.07.2018 zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 als unbegründet abgewiesen.

II. Gemäß § 8 Abs. 1 Asylgesetz 2005 wird XXXX der Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III. Gemäß § 8 Abs. 4 Asylgesetz 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 29.08.2019 erteilt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

1. Verfahrensgang:

1.1. Die Beschwerdeführerin (in der Folge BF), eine afghanische Staatsangehörige, reiste gemeinsam mit ihren beiden Töchtern und drei Söhnen irregulär in Österreich ein und stellte am 06.11.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (in der Folge AsylG).

1.2. In ihrer Erstbefragung am 07.11.2015 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab die BF im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Farsi im Wesentlichen Folgendes an:

Sie sei Angehörige der Volksgruppe der Hazara, schiitische Muslima und stammte aus der Provinz Bamiyan, Afghanistan. Sie sei vor etwa zwei Jahren mit ihrer Familie in den Iran ausgereist und anschließend über die Türkei, Griechenland, Mazedonien und weitere, ihr unbekannte Länder nach Österreich gelangt.

Als Fluchtgrund gab die BF an, dass ihr Ehemann vor vier Jahren verstorben sei. Die Familie sei vom Bruder des Ehemannes unter Druck gesetzt worden, dieser habe die Grundstücke der Familie an sich genommen. Aufgrund der Drohungen sei die Familie in den Iran geflüchtet. Ein Sohn der BF sei in den Krieg nach Syrien geschickt worden. Ihm sei aber die Flucht gelungen und die Familie sei nach Europa geflüchtet.

1.3. Bei ihrer Einvernahme am 12.05.2016 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge BFA) im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Farsi bestätigte die BF die Richtigkeit ihrer bisher gemachten Angaben.

Die BF gab an, dass eine Tochter mit ihrem Ehemann und den Kindern in Kabul lebe. Sie selbst sei noch nie in Kabul gewesen. Sie leide an Rückenschmerzen und habe im Iran Probleme mit dem Blutdruck und Diabetes gehabt.

Befragt nach ihren Fluchtgründen gab die BF im Wesentlichen Folgendes an (Auszug aus dem Einvernahmeprotokoll, Schreibfehler korrigiert):

"LA: Haben Sie irgendwelche Besitztümer in Ihrem Heimatland?

VP: Das Haus wurde nach unserer Ausreise aus Afghanistan zerstört. Die Grundstücke meines Ehemannes hat sein Bruder an sich genommen. In den 2 Jahren nach dem Tod meines Ehemannes, wurden meine Kinder und ich von ihrem Onkel gequält. Er hat uns gedroht, sodass wir nie wieder die Grundstücke betreten konnten. Wir sind dann in den Iran gegangen, dort hatten wir keine Dokumente und waren illegal dort.

(...)

LA: Sie gaben zuvor an, man hätte nach Ihrer Ausreise aus Afghanistan Ihr Haus zerstört. Von wem wissen Sie das?

VP: Nach unserer Ausreise hat niemand mehr auf unser Haus aufgepasst. Durch die Witterung sind Schäden am Haus entstanden, das hat mir jemand, der aus unserem Heimatdorf stammt, erzählt.

LA: Wo und wann hat man Ihnen das erzählt?

VP: Das war vor einem Jahr. Dieser Dorfbewohner ist in den Iran gekommen und hat uns das erzählt.

LA: Das heißt, das Haus steht jetzt leer. Stimmt das?

VP: Ja.

LA: Aus welchem Grund haben Sie nunmehr Ihren Heimatstaat verlassen? Schildern Sie Ihre Fluchtgründe. Versuchen Sie chronologisch vorzugehen, schildern Sie es so, dass es auch unbeteiligte Personen nachvollziehen können und verzetteln Sie sich nicht zu sehr in Details. Wenn ich etwas näher wissen möchte, frage ich explizit nach.

VP: Wir hatten keine großen Schwierigkeiten, das einzige Problem war, dass uns unsere Grundstücke weggenommen wurden. Wir hatten kein Einkommen. Wir lebten in einem abgelegenen Dorf. Man konnte dort nur Landwirtschaft betreiben, es gab keine andere Arbeit.

LA: Wer hat diese Grundstücke weggenommen?

VP: Der Onkel meiner Kinder.

LA: Wie hat sich dies zugetragen?

VP: Bei den Grundstücken handelte es sich um das Erbe meines Schwiegervaters. Mein Mann ist der jüngere Sohn seines Vaters, daher waren alle Dokumente betreffend die Grundstücke bei seinem älteren Bruder. Mein Schwager war furchtlos und besitzergreifend. Er wollte alles für sich haben. In den 2 Jahren nach dem Ableben meines Ehemannes hat er mich gequält und dann drohte er, uns zu töten, wenn wir die Grundstücke betreten.

(...)

LA: Ihr Schwager ergriff nur den Anspruch auf die Grundstücke, das Haus war für ihn nicht von Bedeutung?

VP: Die Grundstücke waren vom Haus weit entfernt. Er wollte nur die Grundstücke haben. Er hatte ein eigenes Haus und war daher nicht an unserem Haus interessiert.

LA: Sie hatten gesagt, Sie und Ihre Kinder seinen gequält worden. Wie darf man das verstehen?

VP: Er wollte uns loswerden. Er sagte wir hätten keinen Anspruch auf die Grundstücke. Nachgefragt - Wir durften nicht auf die Grundstücke gehen und er wollte das die Bauern nicht mehr die Grundstücke bewirtschaften. Gegen Ende hat er uns dann auch bedroht und das alles war sehr mühsam.

LA: Ihre Söhne waren nicht in der Lage, Sie zu beschützen bzw. sich überhaupt dagegen zu wehren?

VP: Meine Söhne waren klein, sie waren nicht in der Lage die Grundstücke selber zu bewirtschaften. Das ist nämlich keine leichte Aufgabe. Meine Söhne kümmerten sich lediglich um das Vieh. Nachgefragt - die Kinder wurden auch geschlagen.

LA: Wurden Sie bzw. die Kinder bei den Schlägen verletzt?

VP: Nein.

LA: Wie weit war das Grundstück von Ihrem Haus entfernt. Wie lange benötigten Sie für diese Wegstrecke?

VP: Sie waren 500 Meter entfernt.

LA: Hatten Sie die Schläge Ihres Schwagers auch mal zur Anzeige gebracht?

VP: Nein, die Behörden waren sehr weit entfernt und ich konnte die Kinder unmöglich alleine zuhause lassen. Wenn mein Schwager nicht viel Macht hätte, dann wären wir nicht geflüchtet."

1.4. Am 17.05.2016 legte die BF Befunde vor, aus denen hervorgeht, dass sie von 11.11.2015 bis 12.11.2015 wegen einer Lungenentzündung stationär behandelt worden war.

1.5. In einer schriftlichen Stellungnahme vom 25.07.2016 brachte die BF im Wege ihres gewillkürten Vertreters vor, dass die BF und ihre Töchter eine westliche Orientierung angenommen hätten und ein selbstbestimmtes Leben führen würden.

Mit der Stellungnahme legte die BF einen Befund vom 17.03.2016 vor, aus dem hervorgeht, dass sie an Skoliose leidet.

1.6. Nach Durchführung des Ermittlungsverfahrens wies das BFA mit Bescheid vom 23.11.2017 den Antrag der BF auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihr den Status einer Asylberechtigten ebenso wie gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG den Status einer subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan nicht zu (Spruchpunkt II.) Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde ihr nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG in Verbindung mit § 9 BFA-VG wurde eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Es wurde festgestellt, dass die Abschiebung der BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise der BF 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.).

In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person der BF und zur Lage in ihrem Herkunftsstaat. Eine asylrelevante Verfolgung liege nicht vor. Sie habe keine Verfolgung im Sinne des AsylG glaubhaft gemacht und es bestünden keine stichhaltigen Gründe gegen eine Abschiebung der BF nach Afghanistan. Im Falle der Rückkehr drohe ihr keine Gefahr, die eine Erteilung des subsidiären Schutzes rechtfertigen würde.

Der BF erfülle nicht die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG, der Erlassung einer Rückkehrentscheidung stehe sein Recht auf Achtung des Privat- oder Familienlebens angesichts der aufenthaltsbeendenden Maßnahmen gegen die übrigen Familienmitglieder nicht entgegen. Angesichts der abweisenden Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz ergebe sich die Zulässigkeit einer Abschiebung der BF nach Afghanistan. Die Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ergebe sich aus § 55 FPG, da besondere Umstände, die die BF bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen habe, nicht gegeben seien.

Beweiswürdigend führte das BFA (zusammengefasst) aus, dass der BF bezüglich seiner behaupteten Herkunftsregion, Volks- und Staatsangehörigkeit aufgrund seiner Sprach- und Lokalkenntnisse glaubwürdig wäre. Die Feststellungen zur Situation in Afghanistan wären glaubhaft, weil sie verlässlichen, seriösen, aktuellen und unbedenklichen Quellen entstammten, deren Inhalt schlüssig und widerspruchsfrei sei.

Zum Fluchtvorbringen führte das BFA aus, dass eine asylrelevante Verfolgung nicht vorliege, da es sich um eine Bedrohung durch Privatpersonen handle. Bei der BF habe eine westliche Gesinnung nicht festgestellt werden können.

Subsidiärer Schutz wurde ihnen nicht zuerkannt, da im Falle einer Rückkehr der BF in ihren Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 oder 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder 13 zur GFK oder eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt oder im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes nicht gegeben sei.

1.7. Gegen diese Bescheide brachte die BF Schreiben vom 04.12.2017 fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG) wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung sowie Verletzung erheblicher Verfahrensvorschriften ein. Mit dem Schreiben wurde gleichzeitig Beschwerde gegen die Bescheide der Töchter und eines Sohnes der BF vom selben Tag erhoben.

In der Beschwerdebegründung wurde in Bezug auf die BF das bisherige Fluchtvorbringen wiederholt und auf die Sicherheitslage in Afghanistan verwiesen

1.8. Die Beschwerde samt Verwaltungsakten langte am 05.02.2018 beim BVwG ein.

1.9. Das BVwG führte am 18.07.2018 eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Farsi durch, zu der die BF, ihre beiden Töchter und ein Sohn im Beisein ihres gewillkürten Vertreters persönlich erschien. Die belangte Behörde verzichtete auf eine Teilnahme an der Verhandlung.

Dabei legte die BF folgende Schriftstücke vor:

* Empfehlungsschreiben

* Medikamentenverordnungsblatt der BF

* Blutbild der BF

Daraufhin gab die BF auf richterliche Befragung im Wesentlichen Folgendes an (Auszug aus der Verhandlungsschrift):

"RI: Sind die von der belangten Behörde im angefochtenen Bescheid getroffenen Feststellungen zu Ihrem Namen und Geburtsdatum sowie zu Ihrer Staatsangehörigkeit korrekt?

BF: Ja.

RI: Welcher ethnischen Gruppe bzw. Volks- oder Sprachgruppe gehören Sie an?

BF: Farsi/Dari ist unsere Sprache und ich bin Hazara.

RI: Gehören Sie einer Religionsgemeinschaft an, und wenn ja, welcher?

BF: Meine Religion habe ich vergessen. Ich bin shiitischer Moslem.

RI: Wo sind Sie geboren? Wo waren Ihre letzte Aufenthalte vor der Einreise nach Österreich?

BF: Afghanistan. Provinz Bamyan.

RI: Wie lange waren Sie in dieser Provinz aufhältig?

BF: Dort haben wir sehr lange gelebt. Ich bin dort geboren. Ich stamme aus der Provinz Bamyan, aus dem Distrikt XXXX .

RI: Können Sie sich noch erinnern, wann Sie aus Afghanistan ausgereist sind?

BF: Ich habe Afghanistan vor etwa viereinhalb Jahren verlassen. Wir haben ca. zwei Jahre lang im Iran gelebt.

RI: Sind sonst noch Verwandte von Ihnen in Afghanistan?

BF: Ich habe keine Verwandten mehr in Afghanistan. Ich hatte eine Tochter, die in Afghanistan, in Kabul, gelebt hat. Diese Tochter hat ebenfalls Afghanistan verlassen und ist in den Iran gereist.

RI: Wann ist Ihre Tochter in den Iran gereist?

BF: Im fünften oder sechsten Monat. Das Jahr kann ich Ihnen nicht sagen, weil ich ein Analphabet bin.

RI: War es voriges Jahr oder länger her?

BF: Letztes Jahr.

RI: Haben Sie in Afghanistan eine Schul- oder Berufsausbildung absolviert?

BF: Nein, nichts.

RI: Wer ist für Ihren Lebensunterhalt aufgekommen?

BF: Mein Mann hat in der Landwirtschaft gearbeitet. Nach seinem Tod wurden wir von seinem Bruder wegen dem Grundstück bedroht. Er hat die Grundstücke in Besitz genommen. Er hat uns auch mit dem Tod bedroht.

RI: Verstehe ich das richtig, die Grundstücke sind im Besitz des Onkels? Gibt es das Gebäude noch?

BF: Ja, wir hatten ein Haus. Das Haus haben wir zurückgelassen. Das Haus wurde auch zerstört.

RI: Wurde das Haus zerstört oder ist es nur verfallen?

BF: Ja, das Haus war alt und ist eingebrochen, nachdem wir Afghanistan verlassen hatten.

RI: Schildern Sie einen gewöhnlichen Tag, wie Sie damals in Afghanistan waren.

BF: Wir haben auf den Feldern gearbeitet. Es gibt nur dort Landwirtschaft. Wir haben Weizen angebaut. Wir hatten Rinder und auch andere Tiere. Diese Haustiere haben wir dort gefüttert bzw. das Futter kam von unseren Feldern.

RI: Haben Sie auch den Haushalt betrieben?

BF: Ja, ich habe Hausarbeit gemacht, ich habe mich um meine Kinder gekümmert und sie erzogen. Ich habe auch in der Landwirtschaft geholfen.

RI: Wer hat sich um die Einkäufe gekümmert? Sind Sie einkaufen gegangen?

BF: Ja, solange mein Mann gelebt hat, hat er eingekauft. Nach dem Tod meines Mannes war unser Leben nicht sehr leicht. Ich hatte Kinder.

RI: War es Ihren Töchtern damals möglich, in die Schule zu gehen?

BF: Nein, sie durften nicht zur Schule gehen. Abgesehen davon gab es nicht die Möglichkeit für eine Schule.

RI: Haben Sie in einem Dorf gelebt oder haben Sie etwas abgelegen gelebt?

BF: Unser Haus lag abgelegen vom Dorf. Die Frauen durften nicht zur Schule gehen. Ihnen wurde es nicht erlaubt, eine Schule zu besuchen. Ich bin eine Analphabetin.

RI: Wie haben Sie sich gekleidet, wenn Sie zum Beispiel auf den Felder geholfen haben oder einkaufen gegangen sind? Waren Sie gekleidet wie heute?

BF: Ja, ich habe mich so angezogen, wie heute.

RI stellt fest, dass die BF mit einem Kopftuch und einem langen, schwarzen Mantel bekleidet ist. Sie ist nicht geschminkt.

RI: Wie sieht Ihr Tagesablauf in Österreich aus und was hat sich hier geändert zu Ihrem Leben in Afghanistan?

BF: Das Leben in Österreich ist sehr gut bzw. sehr unterschiedlich zu dem Leben, welches ich in Afghanistan hatte. Ich bin sehr glücklich in Österreich und die Gesetze des Landes sind auch sehr gut. Ich fühle mich in Österreich sehr wohl.

RI: Beschreiben Sie dem Gericht einen üblichen Tag hier in Österreich. Was machen Sie?

BF: Ich bin krank, deshalb kann ich nicht viel unternehmen. Meine Kinder gehen arbeiten. Ich habe Ihre Frage nicht verstanden.

RI wiederholt die Frage.

BF: Ja, ich gehe spazieren, wegen den Rückenschmerzen. Ich habe auch Bücher und von diesen lerne ich ein bisschen Deutsch. Das sind Alphabetisierungsbücher. Ich bin vergesslich, kurz danach vergesse ich alles.

RI: So wie Sie heute gekleidet sind, gehen Sie so immer außer Haus?

BF: Ja, ich schon, aber meine Töchter nicht. Das sind meine Kleider.

RI: Gehen Sie in Österreich einkaufen?

BF: Nein, ich kann nicht. Meine Töchter und mein Sohn gehen einkaufen.

RI: Erzählen Sie etwas über Ihre Gesundheit. Wie geht es Ihnen?

BF: Welche Beschwerden meinen Sie? Meinen Sie meine Krankheit?

RI: Ja.

BF: Ich habe hohen Blutdruck. Ich hatte auch Zucker. Das ist besser geworden, aber ich nehme am Tag vier bis fünf Tabletten ein. Ich habe auch Rückenschmerzen.

RI: Hatten Sie diese Beschwerden bereits in Afghanistan?

BF: Nein.

RI: Sie mussten also keine Tabletten in Afghanistan nehmen?

BF: Nein.

RI: Haben Sie österreichische Freunde, Bekannte oder Familien, mit denen Sie sich treffen?

BF: Ja, habe ich. Das sind sehr nette Menschen, die wir mögen.

RI: Haben Sie ein eigenes Handy?

BF: Nein, ich habe keines.

RI: Haben Sie auch in Afghanistan ein Handy besessen?

BF: In Afghanistan besaß ich kein Handy. Wir lebten weit entfernt von der Stadt.

RI: Gibt es noch weitere Angehörige von Ihnen in Österreich, außer den heuten Anwesenden?

BF: Ja, ich habe zwei weitere Söhne in Österreich.

RI: Wie viele Söhne wohnen bei Ihnen an Ihrer Adresse?

BF: Zwei Söhne wohnen bei mir.

RI: Und Ihr dritter Sohn?

BF: XXXX und XXXX leben bei mir. XXXX lebt getrennt.

RI: Sind Sie, Ihre Töchter und Ihre Söhne alle gemeinsam in Österreich eingereist?

BF: Ja.

RI: Ihr Sohn XXXX , hat er immer schon bei Ihnen gelebt?

BF: Ja, aber ein Jahr lang haben wir in XXXX gelebt. Wir waren dort, weil er krank war. Wir haben dort gemeinsam gelebt.

RI ersucht D, die folgenden Fragen nicht zu übersetzen. RI stellt diverse Fragen.

RI: Sprechen Sie Deutsch? Haben Sie mich bis jetzt auch ohne Übersetzung durch den D verstehen können?

BF (mit Übersetzung): Nein, ich kann nicht. Ich habe Ihnen bereits gesagt, dass ich vergesslich bin.

RI stellt fest, dass die BF die zuletzt gestellten und nicht übersetzten Fragen nicht verstanden und nicht auf Deutsch beantwortet hat.

Die Verhandlung wird wieder mit Übersetzung fortgeführt.

BF: Ich hatte einen Unfall. Nach diesem Unfall ging es mir gesundheitlich nicht mehr gut.

RI: War dieser Unfall in Österreich?

BF: Nein, im Iran.

RI: Was ist Ihnen damals passiert?

BF: Ich war auf der Straße zu Fuß unterwegs. Dann wurde ich von einem Minibus angefahren. Dabei habe ich einige Brüche am Kopfschädel erlitten und meine Zähne dabei verloren. Bei diesem Unfall habe ich sieben meiner Zähne verloren.

Zu den Fluchtgründen und zur Situation im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat:

RI: Nennen Sie jetzt bitte abschließend und möglichst umfassend alle Gründe, warum Sie Ihren Herkunftsstaat verlassen haben bzw. warum Sie nicht mehr in Ihren Herkunftsstaat zurückkehren können (Fluchtgründe).

BF: Ich hatte Angst vor unserem Feind, der uns mit dem Tod bedroht hat. Ich wurde von meinem Schwager, vom Bruder meines Ehemannes, geschlagen, mit einer Schaufel. Ich wurde misshandelt, aber dabei habe ich keine Knochenbrüche erlitte. Er sagte, dass er sich eine Waffe besorgt hat. Er würde mich mit dieser Waffe umbringen.

RI: Sie gaben an, dass es dabei um die Grundstücke gegangen ist und dass Ihr Schwager nun die Grundstücke besitzt. Stimmt das?

BF: Ja. Er war ein mächtiger Mann. Er hat viele Söhne. Wir konnten dagegen nichts tun.

RI: Waren die Grundstücke das einzige, was Ihr Schwager von Ihnen verlangt hat?

BF: Ja. Er hat unsere Grundstücke in Besitz genommen. Er hat uns gedroht, dass er uns nicht am Leben lassen wird. Dieser Mann hatte keine Angst vor dem Tod.

RI: Wurden Ihre Kinder auch geschlagen?

BF: Ja. Wir wurden massiv bedroht. Deshalb konnten wir nicht mehr dort leben. Wir hatten vor seinem Schrecken und seiner Brutalität Angst."

2. Beweisaufnahme:

Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:

* Einsicht in den dem BVwG vorliegenden Verwaltungsakt des BFA, beinhaltend die Niederschriften der Erstbefragung am 07.11.2015 und der Einvernahme vor dem BFA am 12.05.2016 sowie die Beschwerde vom 04.12.2017

* Einsicht in Dokumentationsquellen betreffend den Herkunftsstaat der BF im erstbehördlichen Verfahren (Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation)

* Einvernahme der BF im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG am 18.07.2018

* Einsicht in die von der BF vorgelegten Schriftstücke

* Einsicht in die Gerichtsakten der Tochter der BF XXXX , geb. XXXX (W241 2185191-1), der Tochter XXXX , geb. XXXX (W241 2185188-1), des Sohnes der BF XXXX , geb. XXXX (W241 2185185-1), in den erstinstanzlichen Bescheid betreffend den Sohn der BF, XXXX , geb. XXXX (1094205801/151718336 vom 05.04.2018) sowie in einen Auszug des Zentralen Melderegisters betreffend den Sohn XXXX , geb. XXXX .

* Einsichtnahme in folgende in der öffentlichen mündlichen Verhandlung vom BVwG zusätzlich eingebrachte Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF:

o Feststellungen und Berichte über die allgemeine Lage im Herkunftsstaat (Auszüge aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 29.06.2018)

o Zusammenfassung der UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom Mai 2016

o einen Auszug aus den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs Afghanischer Asylsuchender vom April 2016, zur maßgeblichen Situation der Frauen in Afghanistan

3. Ermittlungsergebnis (Sachverhaltsfeststellungen):

Folgende Feststellungen werden aufgrund des glaubhaft gemachten Sachverhaltes getroffen:

3.1.1. Zur Person des BF:

Die BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX , ist Staatsangehörige der Islamischen Republik Afghanistan, Angehörige der Volksgruppe der Hazara und bekennt sich zur schiitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Muttersprache der BF ist Dari bzw. Farsi.

3.1.2. Lebensumstände des BF:

Die BF lebte in Afghanistan im Dorf XXXX , Provinz Bamiyan. Ihr Ehemann bewirtschaftete dort eine Landwirtschaft. Vor etwa sieben Jahren verstarb der Ehemann.

Die BF ist Mutter von sieben Kindern. Eine Tochter lebt in Schweden, eine weitere Tochter hält sich laut Angaben den BF mittlerweile im Iran auf. Zwei Töchter der BF, XXXX , geb. XXXX , (W241 2185191-1), XXXX , geb. XXXX , (W241 2185188-1), und drei Söhne, XXXX , geb. XXXX , (W241 2185185-1), XXXX , geb. XXXX , und XXXX , geb. XXXX , reisten mit ihr gemeinsam nach Österreich und stellten ebenfalls Asylanträge.

Den Töchtern XXXX und XXXX wurde der Status der Asylberechtigten zuerkannt. Die Beschwerde gegen den Bescheid vom 23.11.2017, mit dem der Asylantrag des Sohnes XXXX abgewiesen wurde, wird mit Erkenntnis des BVwG vom heutigen Tag als unbegründet abgewiesen. Der Asylantrag des Sohnes XXXX wurde mit Bescheid des BFA vom 05.04.2018 abgewiesen und befindet sich im Stadium der Beschwerde. Über den Asylantrag des Sohnes XXXX wurde noch nicht entschieden.

Die BF lebt mit ihren Töchtern und den Söhnen XXXX und XXXX in einem gemeinsamen Haushalt.

3.1.3. Die BF verließ nach eigenen Angaben Afghanistan im Jahre 2013 und stellte am 06.11.2015 in Österreich den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

3.1.4. Die BF leidet an Rückenschmerzen, Magenbeschwerden, Bluthochdruck, erhöhtem Cholesterin und Depressionen.

3.2. Zu den Fluchtgründen der BF:

3.2.1. Asylrelevante Gründe der BF für das Verlassen seines Heimatstaates konnten nicht glaubhaft gemacht werden.

3.2.2. Die BF ist Analphabetin, sie hat keine Schulbildung oder Berufsausbildung. Im Heimatland kümmerte sie sich um den Haushalt und half in der Landwirtschaft der Familie. Sie ist in Österreich kein aktives Mitglied in einem Verein oder einer sonstigen Organisation. Sie geht keinen sportlichen oder kulturellen Aktivitäten nach. Sie besucht keine Kurse und spricht nicht Deutsch. Sie geht in Österreich nicht allein einkaufen.

Die BF kleidet sich in Österreich, wie schon in Afghanistan, in einen langen schwarzen Mantel und ein Kopftuch.

Es konnte nicht festgestellt werden, dass die BF während ihres fast drei Jahre währenden Aufenthalts in Österreich eine Lebensweise angenommen hätte, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten bzw. sozialen Normen in Afghanistan und konkret auch ihrer Heimatprovinz darstellen würde. Vielmehr handelt es sich bei der BF um eine Frau, die noch immer mit afghanischen Werten und Traditionen verbunden ist und auch vielfach nach diesen gesellschaftlichen Werten und Traditionen lebt.

Die BF machte den Eindruck einer Frau, die offensichtlich in der Stammesgesellschaft der Hazara sozialisiert worden ist und bisher keine Ansätze für ein nach außen erkennbares gewolltes Führen eines selbstbestimmten Lebens zeigt.

Es kann insgesamt nicht festgestellt werden, dass die BF im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Ansichten von staatlicher Seite oder von Seiten Dritter bedroht wäre.

Es kann insbesondere keine geschlechtsspezifische Verfolgung der BF bzw. eine Verfolgung auf Grund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der "westlich-orientierten Frauen", die selbstbestimmt leben wollen, mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit festgestellt werden.

3.3. Zu einer möglichen Rückkehr der BF in den Herkunftsstaat:

3.3.1. Es konnte von der BF nicht glaubhaft vermittelt werden, dass sie im Falle der Rückkehr in den Herkunftsstaat einer Verfolgung aus asylrelevanten Gründen ausgesetzt wäre.

3.3.2. Der BF würde derzeit bei einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat Afghanistan, ein Eingriff in ihre körperliche Unversehrtheit drohen.

Eine Rückkehr und Ansiedelung in Afghanistan ist der BF aufgrund ihrer Eigenschaft als verwitwete Frau fortgeschrittenen Alters, die zudem an gesundheitlichen Problemen leidet, nicht zumutbar. Eine Erwerbstätigkeit ist ihr nicht möglich. Da den beiden Töchtern der BF der Status der Asylberechtigten zuerkannt und über die Asylanträge der Söhne XXXX und XXXX noch nicht in rechtskräftig entschieden wurde, wäre die BF allein auf die Unterstützung ihres Sohnes XXXX angewiesen. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Sohn der BF, der über keine Schul- oder Berufsausbildung verfügt, bei einer Rückkehr nach Afghanistan in der Lage wäre, sowohl für sich als auch für seine Mutter, die zudem eine Reihe von Medikamenten benötigt, den Lebensunterhalt zu erwirtschaften. Die BF liefe daher in Afghanistan Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose Situation zu geraten.

3.5. Zur Lage im Herkunftsstaat der BF:

Aufgrund der in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des BF getroffen:

3.5.1. Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan ("Gesamtaktualisierung am 29.06.2018", Schreibfehler teilweise korrigiert):

[...]

2. Politische Lage

Nach dem Sturz des Taliban-Regimes im Jahr 2001 wurde eine neue Verfassung ausgearbeitet und im Jahr 2004 angenommen (BFA Staatendokumentation 7.2016; vgl. Casolino 2011). Sie basiert auf der Verfassung aus dem Jahr 1964. Bei der Ratifizierung sah diese Verfassung vor, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA Staatendokumentation 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.01.2004).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015).

Nach den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2014 einigten sich die beiden Kandidaten Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah Mitte 2014 auf eine Regierung der Nationalen Einheit (RNE) (AM 2015; vgl. DW 30.09.2014). Mit dem RNE-Abkommen vom 21.09.2014 wurde neben dem Amt des Präsidenten der Posten des CEO (Chief Executive Officer) eingeführt, dessen Befugnisse jenen eines Premierministers entsprechen. Über die genaue Gestalt und Institutionalisierung des Postens des CEO muss noch eine loya jirga [Anm.: größte nationale Versammlung zur Klärung von wichtigen politischen bzw. verfassungsrelevanten Fragen] entscheiden (AAN 13.02.2015; vgl. AAN o. D.), doch die Einberufung einer loya jirga hängt von der Abhaltung von Wahlen ab (CRS 13.12.2017).

Die afghanische Innenpolitik war daraufhin von langwierigen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Regierungslagern unter Führung von Präsident Ashraf Ghani und dem Regierungsvorsitzenden (Chief Executive Officer, CEO) Abdullah Abdullah geprägt. Kurz vor dem Warschauer NATO-Gipfel im Juli 2016 wurden schließlich alle Ministerämter besetzt (AA 9.2016).

Parlament und Parlamentswahlen

Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus dem Unterhaus, auch wolesi jirga, "Kammer des Volkes", genannt, und dem Oberhaus, meshrano jirga auch "Ältestenrat" oder "Senat" genannt. Das Unterhaus hat 250 Sitze, die sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen verteilen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz im Unterhaus reserviert (AAN 22.01.2017; vgl. USDOS 20.04.2018, USDOS 15.08.2017, CRS 13.12.2017, Casolino 2011). Die Mitglieder des Unterhauses haben ein Mandat von fünf Jahren (Casolino 2011). Die verfassungsmäßigen Quoten gewährleisten einen Frauenanteil von ca. 25% im Unterhaus (AAN 22.01.2017).

Das Oberhaus umfasst 102 Sitze (IPU 27.02.2018). Zwei Drittel von diesen werden von den gewählten Provinzräten vergeben. Das verbleibende Drittel, wovon 50% mit Frauen besetzt werden müssen, vergibt der Präsident selbst. Zwei der vom Präsidenten zu vergebenden Sitze sind verfassungsgemäß für die Kutschi-Minderheit und zwei weitere für behinderte Personen bestimmt. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 20.04.2018; vgl. USDOS 15.08.2017).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist. Zugleich nutzt das Parlament seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die RNE als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leider die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 5.2018).

Die für Oktober 2016 angekündigten Parlamentswahlen konnten wegen ausstehender Wahlrechtsreformen nicht Am geplanten Termin abgehalten werden. Daher bleibt das bestehende Parlament weiterhin im Amt (AA 9.2016; vgl. CRS 12.01.2017). Im September 2016 wurde das neue Wahlgesetz verabschiedet und Anfang April 2018 wurde von der unabhängigen Wahlkommission (IEC) der 20.10.2018 als neuer Wahltermin festgelegt. Gleichzeitig sollen auch die Distriktwahlen stattfinden (AAN 12.04.2018; vgl. AAN 22.01.2017, AAN 18.12.2016).

Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 15.08.2017). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (AE o. D.). Der Terminus "Partei" umfasst gegenwärtig eine Reihe von Organisationen mit sehr unterschiedlichen organisatorischen und politischen Hintergründen. Trotzdem existieren Ähnlichkeiten in ihrer Arbeitsweise. Einer Anzahl von ihnen war es möglich, die Exekutive und Legislative der Regierung zu beeinflussen (USIP 3.2015).

Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen jedoch mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren, denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien. Ethnischer Proporz, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen genießen traditionell mehr Einfluss als politische Organisationen. Die Schwäche des sich noch entwickelnden Parteiensystems ist auf strukturelle Elemente (wie z.B. das Fehlen eines Parteienfinanzierungsgesetzes) zurückzuführen sowie auf eine allgemeine Skepsis der Bevölkerung und der Medien. Reformversuche sind im Gange, werden aber durch die unterschiedlichen Interessenlagen immer wieder gestört, etwa durch das Unterhaus selbst (AA 9.2016). Ein hoher Grad an Fragmentierung sowie eine Ausrichtung auf Führungspersönlichkeiten sind charakteristische Merkmale der afghanischen Parteienlandschaft (AAN 06.05.2018).

Mit Stand Mai 2018 waren 74 Parteien beim Justizministerium (MoJ) registriert (AAN 06.05.2018).

Parteienlandschaft und Opposition

Nach zweijährigen Verhandlungen unterzeichneten im September 2016 Vertreter der afghanischen Regierung und der Hezb-e Islami ein Abkommen (CRS 12.01.2017), das letzterer Immunität für "vergangene politische und militärische" Taten zusichert. Dafür verpflichtete sich die Gruppe, alle militärischen Aktivitäten einzustellen (DW 29.09.2016). Das Abkommen beinhaltete unter anderem die Möglichkeit eines Regierungspostens für den historischen Anführer der Hezb-e-Islami, Gulbuddin Hekmatyar; auch soll sich die afghanische Regierung bemühen, internationale Sanktionen gegen Hekmatyar aufheben zu lassen (CRS 12.01.2017). Tatsächlich wurde dieser im Februar 2017 von der Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates gestrichen (AAN 03.05.2017). Am 04.05.2017 kehrte Hekmatyar nach Kabul zurück (AAN 04.05.2017). Die Rückkehr Hekmatyars führte u.a. zu parteiinternen Spannungen, da nicht alle Fraktionen innerhalb der Hezb-e Islami mit der aus dem Friedensabkommen von 2016 erwachsenen Verpflichtung, sich unter Hekmatyars Führung wiederzuvereinigen, einverstanden sind (AAN 25.11.2017; vgl. Tolonews 19.12.2017, AAN 6.5.2018). Der innerparteiliche Konflikt dauert weiter an (Tolonews 14.03.2018).

Ende Juni 2017 gründeten Vertreter der Jamiat-e Islami-Partei unter Salahuddin Rabbani und Atta Muhammad Noor, der Jombesh-e Melli-ye Islami-Partei unter Abdul Rashid Dostum und der Hezb-e Wahdat-e Mardom-Partei unter Mardom Muhammad Mohaqeq die semi-oppositionelle "Coalition for the Salvation of Afghanistan", auch "Ankara Coalition" genannt. Diese Koalition besteht aus drei großen politischen Parteien mit starker ethnischer Unterstützung (jeweils Tadschiken, Usbeken und Hazara) (AB 18.11.2017; vgl. AAN 06.05.2018).

Unterstützer des weiterhin politisch tätigen ehemaligen Präsidenten Hamid Karzai gründeten im Oktober 2017 eine neue politische Bewegung, die Mehwar-e Mardom-e Afghanistan (The People's Axis of Afghanistan), unter der inoffiziellen Führung von Rahmatullah Nabil, des ehemaligen Chefs des afghanischen Geheimdienstes (NDS). Später distanzierten sich die Mitglieder der Bewegung von den politischen Ansichten Hamid Karzais (AAN 06.05.2018; vgl. AAN 11.10.2017).

Anwarul Haq Ahadi, der langjährige Anführer der Afghan Mellat, eine der ältesten Parteien Afghanistans, verbündete sich mit der ehemaligen Mujahedin-Partei Harakat-e Enqilab-e Eslami-e Afghanistan. Gemeinsam nehmen diese beiden Parteien am New National Front of Afghanistan teil (NNF), eine der kritischsten Oppositionsgruppierungen in Afghanistan (AAN 6.5.2018; vgl. AB 29.05.2017).

Eine weitere Oppositionspartei ist die Hezb-e Kongara-ya Melli-ye Afghanistan (The National Congress Party of Afghanistan) unter der Führung von Abdul Latif Pedram (AB 151.2016; vgl. AB 295.2017).

Auch wurde die linksorientierte Hezb-e-Watan-Partei (The Fatherland Party) wieder ins Leben gerufen, mit der Absicht, ein wichtiges Segment der ehemaligen linken Kräfte in Afghanistan zusammenzubringen (AAN 06.05.2018; vgl. AAN 21.08.2017).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Am 28.02.2018 machte Afghanistans Präsident Ashraf Ghani den Taliban ein Friedensangebot (NYT 11.03.2018; vgl. TS 28.02.2018). Die Annahme des Angebots durch die Taliban würde, so Ghani, diesen verschiedene Garantien gewähren, wie eine Amnestie, die Anerkennung der Taliban-Bewegung als politische Partei, eine Abänderung der Verfassung und die Aufhebung der Sanktionen gegen ihre Anführer (TD 07.03.2018). Quellen zufolge wird die Annahme bzw. Ablehnung des Angebots derzeit in den Rängen der Taliban diskutiert (Tolonews 16.4.2018; vgl. Tolonews 11.4.2018). Anfang 2018 fanden zwei Friedenskonferenzen zur Sicherheitslage in Afghanistan statt: die zweite Runde des Kabuler Prozesses [Anm.: von der afghanischen Regierung ins Leben gerufene Friedenskonferenz mit internationaler Beteiligung] und die Friedenskonferenz in Taschkent (TD 24.03.2018; vgl. TD 07.03.2018, NZZ 28.02.2018). Anfang April rief Staatspräsident Ghani die Taliban dazu auf, sich für die Parlamentswahlen im Oktober 2018 als politische Gruppierung registrieren zu lassen, was von diesen jedoch abgelehnt wurde (Tolonews 16.04.2018). Ende April 2018 kam es in diesem Zusammenhang zu Angriffen regierungsfeindlicher Gruppierungen (hauptsächlich des IS, aber auch der Taliban) auf mit der Wahlregistrierung betraute Behörden in verschiedenen Provinzen (vgl. Kapitel 3. "Sicherheitslage").

Am 19.05.2018 erklärten die Taliban, sie würden keine Mitglieder afghanischer Sicherheitskräfte mehr angreifen, wenn diese ihre Truppen verlassen würden, und gewährten ihnen somit eine "Amnestie". In ihrer Stellungnahme erklärten die Aufständischen, dass das Ziel ihrer Frühlingsoffensive Amerika und ihre Alliierten seien (AJ 19.05.2018).

Am 07.06.2018 verkündete Präsident Ashraf Ghani einen Waffenstillstand mit den Taliban für den Zeitraum 12.06.2018 - 20.06.2018. Die Erklärung erfolgte, nachdem sich Am 04.06.2018 über 2.000 Religionsgelehrte aus ganz Afghanistan in Kabul versammelt hatten und eine Fatwa zur Beendigung der Gewalt aussprachen (Tolonews 07.06.2018; vgl. Reuters 07.06.2018, RFL/RL 05.06.2018). Durch die Fatwa wurden Selbstmordanschläge für ungesetzlich (nach islamischem Recht, Anm.) erklärt und die Taliban dazu aufgerufen, den Friedensprozess zu unterstützen (Reuters 05.06.2018). Die Taliban selbst gingen am 09.06.2018 auf das Angebot ein und erklärten einen Waffenstillstand von drei Tagen (die ersten drei Tage des Eid-Fests, Anm.). Der Waffenstillstand würde sich jedoch nicht auf die ausländischen Sicherheitskräfte beziehen; auch würden sich die Taliban im Falle eines militärischen Angriffs verteidigen (HDN 10.06.2018; vgl. TH 10.06.2018, Tolonews 09.06.2018).

[...]

3. Sicherheitslage

Wegen einer Serie von öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffen in städtischen Zentren, die von regierungsfeindlichen Elementen ausgeführt wurden, erklärten die Vereinten Nationen (UN) im Februar 2018 die Sicherheitslage für sehr instabil (UNGASC 27.02.2018).

Für das Jahr 2017 registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) landesweit 29.824 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahresvergleich wurden von INSO 2016 landesweit 28.838 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert und für das Jahr 2015 25.288. Zu sicherheitsrelevanten Vorfällen zählt INSO Drohungen, Überfälle, direkter Beschuss, Entführungen, Vorfälle mit IEDs (Sprengfallen/ Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung - USBV) und andere Arten von Vorfällen (INSO o.D.)

[...]

Für das Jahr 2017 registrierte die UN insgesamt 23.744 sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan (UNGASC 27.02.2018); für das gesamte Jahr 2016 waren es 23.712 (UNGASC 09.03.2017). Landesweit wurden für das Jahr 2015 insgesamt 22.634 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert (UNGASC 15.03.2016).

[...]

Im Jahr 2017 waren auch weiterhin bewaffnete Zusammenstöße Hauptursache (63%) aller registrierten sicherheitsrelevanten Vorfälle, gefolgt von IEDs (Sprengfallen/ Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung - USBV) und Luftangriffen. Für das gesamte Jahr 2017 wurden 14.998 bewaffnete Zusammenstöße registriert (2016: 14.977 bewaffnete Zusammenstöße) (USDOD 12.2017). Im August 2017 stuften die Vereinten Nationen (UN) Afghanistan, das bisher als "Post-Konflikt-Land" galt, wieder als "Konfliktland" ein; dies bedeute nicht, dass kein Fortschritt stattgefunden habe, jedoch bedrohe der aktuelle Konflikt die Nachhaltigkeit der erreichten Leistungen (UNGASC 10.08.2017).

Die Zahl der Luftangriffe hat sich im Vergleich zum Jahr 2016 um 67% erhöht, die gezielter Tötungen um 6%. Ferner hat sich die Zahl der Selbstmordattentate um 50% erhöht. Östliche Regionen hatten die höchste Anzahl an Vorfällen zu verzeichnen, gefolgt von südlichen Regionen. Diese beiden Regionen zusammen waren von 55% aller sicherheitsrelevanten Vorfälle betroffen (UNGASC 27.02.2018). Für den Berichtszeitraum 15.12.2017 - 15.02.2018 kann im Vergleich zum selben Berichtszeitraum des Jahres 2016, ein Rückgang (-6%) an sicherheitsrelevanten Vorfällen verzeichnet werden (UNGASC 27.02.2018).

[...]

Afghanistan ist nach wie vor mit einem aus dem Ausland unterstützten und widerstandsfähigen Aufstand konfrontiert. Nichtsdestotrotz haben die afghanischen Sicherheitskräfte ihre Entschlossenheit und wachsenden Fähigkeiten im Kampf gegen den von den Taliban geführten Aufstand gezeigt. So behält die afghanische Regierung auch weiterhin Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, die wichtigsten Verkehrsrouten und den Großteil der Distriktzentren (USDOD 12.2017). Zwar umkämpften die Taliban Distriktzentren, sie konnten aber keine Provinzhauptstädte (bis auf Farah-Stadt; vgl. AAN 06.06.2018) bedrohen - ein signifikanter Meilenstein für die ANDSF (USDOD 12.2017; vgl. UNGASC 27.02.2018); diesen Meilenstein schrieben afghanische und internationale Sicherheitsbeamte den intensiven Luftangriffen durch die afghanische Nationalarmee und der Luftwaffe sowie verstärkter Nachtrazzien durch afghanische Spezialeinheiten zu (UNGASC 27.02.2018).

Die von den Aufständischen ausgeübten öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffe in städtischen Zentren beeinträchtigten die öffentliche Moral und drohten das Vertrauen in die Regierung zu untergraben. Trotz dieser Gewaltserie in städtischen Regionen war im Winter landesweit ein Rückgang an Talibanangriffen zu verzeichnen (UNGASC 27.02.2018). Historisch gesehen gehen die Angriffe der Taliban im Winter jedoch immer zurück, wenngleich sie ihre Angriffe im Herbst und Winter nicht gänzlich einstellen. Mit Einzug des Frühlings beschleunigen die Aufständischen ihr Operationstempo wieder. Der Rückgang der Vorfälle im letzten Quartal 2017 war also im Einklang mit vorangegangenen Schemata (LIGM 15.02.2018).

Anschläge bzw. Angriffe und Anschläge auf hochrangige Ziele

Die Taliban und weitere aufständische Gruppierungen wie der Islamische Staat (IS) verübten auch weiterhin "high-profile"-Angriffe, speziell im Bereich der Hauptstadt, mit dem Ziel, eine Medienwirksamkeit zu erlangen und damit ein Gefühl der Unsicherheit hervorzurufen und so die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben (USDOD 12.2017; vgl. SBS 28.02.2018, NZZ 21.03.2018, UNGASC 27.02.2018). Möglicherweise sehen Aufständische Angriffe auf die Hauptstadt als einen effektiven Weg, um das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung zu untergraben, anstatt zu versuchen, Territorium in ländlichen Gebieten zu erobern und zu halten (BBC 21.03.2018).

Die Anzahl der öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffe hatte sich von 01.06. - 20.11.2017 im Gegensatz zum Vergleichszeitraum des Vorjahres erhöht (USDOD 12.2017). In den ersten Monaten des Jahres 2018 wurden verstärkt Angriffe bzw. Anschläge durch die Taliban und den IS in verschiedenen Teilen Kabuls ausgeführt (AJ 24.02.2018; vgl. Slate 22.04.2018). Als Antwort auf die zunehmenden Angriffe wurden Luftangriffe und Sicherheitsoperationen verstärkt, wodurch Aufständische in einigen Gegenden zurückgedrängt wurden (BBC 21.03.2018); auch wurden in der Hauptstadt verstärkt Spezialoperationen durchgeführt, wie auch die Bemühungen der US-Amerikaner, Terroristen zu identifizieren und zu lokalisieren (WSJ 21.03.2018).

Landesweit haben Aufständische, inklusive der Taliban und des IS, in den Monaten vor Jänner 2018 ihre Angriffe auf afghanische Truppen und Polizisten intensiviert (TG 29.01.2018; vgl. BBC 29.01.2018); auch hat die Gewalt Aufständischer gegenüber Mitarbeiter/innen von Hilfsorganisationen in den letzten Jahren zugenommen (The Guardian 24.01.2018). Die Taliban verstärken ihre Operationen, um ausländische Kräfte zu vertreiben; der IS hingegen versucht, seinen relativ kleinen Einflussbereich zu erweitern. Die Hauptstadt Kabul ist in diesem Falle für beide Gruppierungen interessant (AP 30.01.2018).

Angriffe auf afghanische Sicherheitskräfte und Zusammenstöße zwischen diesen und den Taliban finden weiterhin statt (AJ 22.05.2018; AD 20.05.2018).

Registriert wurde auch eine Steigerung öffentlichkeitswirksamer gewalttätiger Vorfälle (UNGASC 27.02.2018), [...]

Angriffe gegen Gläubige und Kultstätten

Registriert wurde eine steigende Anzahl der Angriffe gegen Glaubensstätten, religiöse Führer sowie Gläubige; 499 zivile Opfer (202 Tote und 297 Verletzte) waren im Rahmen von 38 Angriffen im Jahr 2017 zu verzeichnen. Die Anzahl dieser Art Vorfälle hat sich im Gegensatz zum Jahr 2016 (377 zivile Opfer, 86 Tote und 291 Verletzte bei zwölf Vorfällen) verdreifacht, während die Anzahl ziviler Opfer um 32% gestiegen ist (UNAMA 2.2018). Auch verzeichnete die UN in den Jahren 2016 und 2017 Tötungen, Entführungen, Bedrohungen und Einschüchterungen von religiösen Personen - hauptsächlich durch regierungsfeindliche Elemente. Religiösen Führern ist es nämlich möglich, durch ihre Predigten öffentliche Standpunkte zu verändern, wodurch sie zum Ziel von regierungsfeindlichen Elementen werden (UNAMA 07.11.2017). Ein Großteil der zivilen Opfer waren schiitische Muslime. Die Angriffe wurden von regierungsfeindlichen Elementen durchgeführt - hauptsächlich dem IS (UNAMA 07.11.2017; vgl. UNAMA 2.2018). Es wurden aber auch Angriffe auf sunnitische Moscheen und religiöse Führer ausgeführt (TG 20.10.2017; vgl. UNAMA 07.11.2017)

Diese serienartigen und gewalttätigen Angriffe gegen religiöse Ziele haben die afghanische Regierung veranlasst, neue Maßnahmen zu ergreifen, um Gebetsstätten zu beschützen: landesweit wurden 2.500 Menschen rekrutiert und bewaffnet, um 600 Moscheen und Tempel vor Angriffen zu schützen (UNGASC 20.12.2017).

[...]

Angriffe auf Behörden zur Wahlregistrierung:

Seit der Ankündigung des neuen Wahltermins durch den afghanischen Präsidenten Ashraf Ghani im Jänner 2018 haben zahlreiche Angriffe auf Behörden, die mit der Wahlregistrierung betraut sind, stattgefunden (ARN 21.05.2018; vgl. DW 06.05.2018, AJ 06.05.2018, Tolonews 06.05.2018, Tolonews 29.04.2018, Tolonews 220.4.2018).

[...]

Zivilist/innen

[...]

Im Jahr 2017 registrierte die UNAMA 10.453 zivile Opfer (3.438 Tote und 7.015 Verletzte) - damit wurde ein Rückgang von 9% gegenüber dem Vergleichswert des Vorjahres 2016 (11.434 zivile Opfer mit 3.510 Toten und 7.924 Verletzen) festgestellt. Seit 2012 wurde zum ersten Mal ein Rückgang verzeichnet: im Vergleich zum Jahr 2016 ist die Anzahl ziviler Toter um 2% zurückgegangen, während die Anzahl der Verletzten um 11% gesunken ist. Seit 01.01.2009 - 31.12.2017 wurden insgesamt 28.291 Tote und 52.366 Verletzte von der UNAMA registriert. Regierungsfeindliche Gruppierungen waren für 65% aller zivilen Opfer im Jahr 2017 verantwortlich; Hauptursache dabei waren IEDs, gefolgt von Selbstmordangriffen und komplexen Attacken (UNAMA 2.2018). Im Zeitraum 01.01.2018 - 31.03.2018 registriert die UNAMA

2.258 zivile Opfer (763 Tote und 1.495 Verletzte). Die Zahlen reflektieren ähnliche Werte wie in den Vergleichsquartalen für die Jahre 2016 und 2017. Für das Jahr 2018 wird ein neuer Trend beobachtet: Die häufigste Ursache für zivile Opfer waren IEDs und komplexe Angriffe. An zweiter Stelle waren Bodenoffensiven, gefolgt von gezielten Tötungen, Blindgängern (Engl. UXO, "Unexploded Ordnance") und Lufteinsätzen. Die Bewohner der Provinzen Kabul, Helmand, Nangarhar, Faryab und Kandahar waren am häufigsten vom Konflikt betroffen (UNAMA 12.04.2018).

Regierungsfeindlichen Gruppierungen wurden landesweit für das Jahr 2017 6.768 zivile Opfer (2.303 Tote und 4.465 Verletzte) zugeschrieben - dies deutet auf einen Rückgang von 3% im Vergleich zum Vorjahreswert von 7.003 zivilen Opfern (2.138 Tote und 4.865 Verletzte). Der Rückgang ziviler Opfer, die regierungsfeindlichen Gruppierungen zugeschriebe

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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