TE Bvwg Erkenntnis 2018/9/24 W253 2135066-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 24.09.2018
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Entscheidungsdatum

24.09.2018

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
B-VG Art.133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §55
VwGVG §28 Abs2

Spruch

W253 2135066-1/12E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Jörg C. BINDER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX alias XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, Alser Straße 20/5, 1090 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 05.06.2018 zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger und stellte am 24.05.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Im Zuge seiner Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 26.05.2015 gab der Beschwerdeführer im Wesentlichen an, er sei Paschtune und sunnitischer Moslem. Er stamme aus der Provinz Parwan und sei Analphabet. Der Beschwerdeführer habe zwei Brüder und eine Schwester. Befragt zu seinen Fluchtgründen gab der Beschwerdeführer an, er sei wegen Feinde seines Bruders, die seine Familie und ihn bedroht hätten, aus Afghanistan ausgereist.

[b1]3. Mit Verfahrensanordnung vom 02.09.2015 stellte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl fest, dass es sich beim Beschwerdeführer um eine volljährige Person handelt, und setzte unter Zugrundlegung eines durchgeführten medizinischen Gutachtens als errechnetes fiktives Geburtsdatum den XXXX fest.

4. Im Rahmen seiner niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 18.07.2016 führte der Beschwerdeführer zusammenfassend aus, dass seine Mutter sowie deren Bruder in der Stadt Kabul aufhältig seien. Von seinem Onkel habe er gehört, dass sich sein Vater und sein kleiner Bruder gerade in der Türkei befinden würden. Der Beschwerdeführer wisse nicht, wo sich sein älterer Bruder aufhalte. Derzeit stehe der Beschwerdeführer mit seinen Verwandten in Afghanistan nicht in Kontakt. Betreffend seiner Fluchtgründe führte der Beschwerdeführer im Wesentlichen aus, vor ungefähr drei Jahren sei seine Familie von Mitgliedern der Taliban bedroht worden. Der Grund dafür sei gewesen, dass sein älterer Bruder in ein Mädchen verliebt gewesen sei, welches bereits einen anderen Mann heiraten hätte sollen. Dieser Mann sei sehr mächtig gewesen und habe dieser das Problem mit seinem Nebenbuhler selbst lösen wollen. Der Bruder des Beschwerdeführers sei daher mit diesem Mädchen davongelaufen. Daraufhin hätten Mitglieder der Taliban die Familie ständig schikaniert und mit dem Tod bedroht. Der Beschwerdeführer sei nicht verletzt worden; allerdings sein Vater. Auch die Polizei sei ab und zu dabei gewesen und habe die Familie geschlagen und getreten. Der Beschwerdeführer habe davon eine kleine Narbe im Bereich seines linken Auges davongetragen. Insgesamt seien die Taliban viermal bei seiner Familie zu Hause gewesen. Bis dato hätte sein älterer Bruder keinen Kontakt zur Familie aufgenommen.

5. Mit dem im Spruch bezeichneten Bescheid wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 wurde der Antrag auf Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ihm wurde kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Weiters wurde ausgesprochen, dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt IV.).

Der Begründung des im Spruch bezeichneten Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl ist im Wesentlichen zu entnehmen, dass der Beschwerdeführer keine individuelle persönliche und asylrelevante Bedrohung glaubhaft machen habe können. Er verfüge über ein familiäres Netzwerk in Afghanistan und könne seinen Lebensunterhalt in der Stadt Mazar-e Sharif oder Kabul bestreiten.

Gleichzeitig wurde dem Beschwerdeführer mit Verfahrensanordnung gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht der "Verein Menschenrechte Österreich, Alser Straße 20/5, 1090 Wien" als Rechtsberater amtswegig zur Seite gestellt.

6. Am 15.09.2016 erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde gegen sämtliche Spruchpunkte des gegenständlichen Bescheides und führte im Wesentlichen aus, dass die Verwandten des verlobten Mädchens Taliban seien, weswegen seine Brüder sowie sein Vater geflohen seien. Der Beschwerdeführer habe von einem Freund erfahren, dass vor wenigen Tagen seine in Afghanistan aufhältige Mutter angeschossen worden sei. Sie befinde sich derzeit im Krankenhaus. Mit seinem Onkel stehe der Beschwerdeführer seit acht Monaten nicht in Kontakt. Der Beschwerdeführer rügte weiters, dass die belangte Behörde die Anforderungen gemäß § 39 Abs. 2 AVG im Zuge ihrer Ermittlungen nicht eingehalten habe, weshalb das Verfahren mit Mangelhaftigkeit behaftet sei.

7. Die Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt langten am 19.09.2016 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 20.10.2016 wurde die Rechtssache der Gerichtsabteilung W169 abgenommen und der Gerichtsabteilung W253 neu zugewiesen.

8. Am 05.06.2018 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung im Beisein des Beschwerdeführers, seiner Vertreterin, seiner Lehrlingsausbilderin XXXX und einer Dolmetscherin für die Sprache Farsi/Paschtu statt, in welcher der Beschwerdeführer ausführlich zu seinen Fluchtgründen befragt und ihm Gelegenheit gegeben wurde, diese umfassend darzulegen. Ein Vertreter der belangten Behörde nahm an der Verhandlung nicht teil. Im Rahmen der mündlichen Verhandlung legte der Beschwerdeführer weitere Unterlagen vor und brachte neu vor, dass sein Vater angeschossen worden sei. Der rechtsfreundlichen Vertreterin des Beschwerdeführers wurde eine Frist zur Stellungnahme zu den eingebrachten Länderberichten von zwei Wochen eingeräumt. Eine Stellungnahme langte bis dato nicht ein.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage des erhobenen Antrages auf internationalen Schutz, der Erstbefragung und Einvernahme des Beschwerdeführers durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sowie des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, der Beschwerde gegen den im Spruch genannten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, der, der im Verfahren vorgelegten Dokumente, der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht, der Einsichtnahme in den Bezug habenden Verwaltungsakt, das Zentrale Melderegister, das Fremdeninformationssystem, das Strafregister und das Grundversorgungs-Informationssystem werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:

1. Feststellungen:

1.1. Zum Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer stellte am 24.05.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Mit Verfahrensanordnung vom 02.09.2015 stellte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl fest, dass es sich beim Beschwerdeführer um eine volljährige Person handelt, und setzte unter Zugrundlegung eines durchgeführten medizinischen Gutachtens als errechnetes fiktives Geburtsdatum den XXXX fest. Mit dem im Spruch bezeichneten Bescheid wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 wurde der Antrag auf Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ihm wurde kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Weiters wurde ausgesprochen, dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt IV.). Mit am 15.09.2016 eingelangtem Schreiben erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde gegen sämtliche Spruchpunkte des gegenständlichen Bescheides, woraufhin am 05.06.2018 vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung im Beisein des Beschwerdeführers, seiner Vertreterin, seiner Lehrlingsausbilderin XXXX und einer Dolmetscherin für die Sprache Farsi/Paschtu stattfand, in welcher der Beschwerdeführer ausführlich zu seinen Fluchtgründen befragt und ihm Gelegenheit gegeben wurde, diese umfassend darzulegen.

1.2. Zum Beschwerdeführer:

Vorweg ist festzuhalten, dass die vom Beschwerdeführer in der Beschwerdeverhandlung vorgelegten Fotos (Fotos 1 bis 6) einen Bestandteil der Feststellungen bilden.

Der volljährige Beschwerdeführer führt den Namen XXXX , ist afghanischer Staatsangehöriger und wurde am XXXX in Afghanistan geboren. Er gehört der Volksgruppe der Paschtunen an, ist sunnitischer Moslem und seine Muttersprache ist Paschtu. Der Beschwerdeführer ist ledig und kinderlos.

Der Beschwerdeführer stammt aus der Provinz Parwan, Dorf XXXX . Er verfügt über keine Schulbildung. Der Beschwerdeführer ist im erwerbsfähigen Alter und gesund. Er ist mit der afghanischen Tradition und Lebensweise vertraut.

Die Kernfamilie des Beschwerdeführers besteht aus seinen Eltern, seinen zwei Brüdern und seiner Schwester. In Afghanistan hat seine Familie ihren Lebensunterhalt durch die Bewirtschaftung eigener Grundstücke bestritten. Der Beschwerdeführer hat seinen Vater gelegentlich bei den Tätigkeiten auf den Feldern unterstützt.

Der Beschwerdeführer ist schlepperunterstützt und unrechtmäßig in das Bundesgebiet eingereist. Er befindet sich seit Mai 2015 in Österreich.

Der Vater sowie der jüngere Bruder des Beschwerdeführers sind nach der Flucht des Beschwerdeführers ebenfalls aus Afghanistan geflüchtet; es kann nicht festgestellt werden, wo sie sich derzeit aufhalten. Ebenso kann nicht festgestellt werden, wo sich der ältere Bruder des Beschwerdeführers derzeit aufhält. Die Schwester des Beschwerdeführers lebt mit ihrem Ehemann in Pakistan. Die Mutter des Beschwerdeführers lebt derzeit mit ihrem Bruder in der Stadt Kabul; ebenfalls in Kabul aufhältig sind sein Onkel väterlicherseits sowie einige Cousins des Beschwerdeführers. Sein Onkel mütterlicherseits besitzt in Kabul ein Geschäft, in welchem er Stoffe verkauft. Zusätzlich wird dieser Onkel von seinem in London aufhältigen Bruder unterstützt, welcher der Familie des Beschwerdeführers auch gelegentlich Geld geschickt hat.

Mit einem Freund in Afghanistan steht der Beschwerdeführer nach wie vor in Kontakt; jedoch nicht mit seinem Vater sowie seinem jüngeren Bruder. Es kann nicht festgestellt werden, ob der Beschwerdeführer in Kontakt zum Rest der Kernfamilie steht.

In Österreich ist der Beschwerdeführer seit XXXX 2018 als Lehrling in der Pizzeria XXXX in XXXX beschäftigt und bezieht keine Leistungen aus der Grundversorgung. Der Beschwerdeführer ist nicht Mitglied in einem Verein. Er hat einen Deutschkurs auf dem Niveau A2 besucht, wobei er kaum [l2]Deutsch spricht und versteht.

Es können keine substanziellen Anknüpfungspunkte im Bereich des Privatlebens (wie z.B. intensive Freundschaften, Beziehungen, Lebensgemeinschaften, Kinder) festgestellt werden. Es leben keine nahen Angehörigen des Beschwerdeführers in Österreich.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

1.3. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Bruder des Beschwerdeführers eine verlobte Frau heiraten wollte und mit dieser geflüchtet ist. Ebenfalls kann nicht festgestellt werden, dass die Eltern des Beschwerdeführers angeschossen worden sind. Dass das Haus in seinem Heimatdorf, in dem der Beschwerdeführer mit seiner Familie gelebt hat, von den Taliban zerstört worden ist, kann nicht festgestellt werden.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer in Afghanistan einer individuellen konkreten Verfolgung oder Bedrohung ausgesetzt war. Ebenso wenig kann festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer oder seine Familie von den Taliban, der Polizei oder dem Bräutigam des verlobten Mädchens bedroht bzw. misshandelt worden sind.

1.4. Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Falle der Rückkehr nach Afghanistan (Kabul, Mazar-e Sharif oder Herat[l3][b4]) Gefahr liefe, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.

Insgesamt kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten von staatlicher Seite oder von Seiten Dritter bedroht wäre.

Außergewöhnliche Gründe, die eine Rückkehr des Beschwerdeführers nach Kabul, Mazar-e Sharif oder Herat ausschließen, konnten ebenfalls nicht festgestellt werden. Er kann dort seine Existenz - zumindest anfänglich - mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten sichern und auf die Unterstützung seiner Familie zählen. Es kann nicht festgestellt werden, dass er nicht in der Lage ist, in Kabul, Mazar-e Sharif oder Herat eine einfache Unterkunft zu finden. Kabul, Mazar-e Sharif oder Herat sind über die dort vorhandenen Flughäfen sicher erreichbar.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan nicht von seiner Mutter oder deren Brüder unterstützt werden kann.

1.5. Zur Situation im Herkunftsstaat:

Das Bundesverwaltungsgericht trifft aufgrund der im Beschwerdeverfahren eingebrachten aktuellen Erkenntnisquellen folgende entscheidungsrelevante Feststellungen:

1.5.1. Zusammenfassung des Länderinformationsblattes vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 30.01.2018 (in Folge kurz "LIB"):

1.5.1.1. Zur Sicherheitslage in Afghanistan im Allgemeinen und in der Provinz Parwan:

Nach dem Sturz des Taliban-Regimes im Jahr 2001 wurde eine neue Verfassung erarbeitet und im Jahre 2004 angenommen (LIB S. 40).

Die Sicherheitslage ist beeinträchtigt durch eine tief verwurzelte militante Opposition. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädten und den Großteil der Distriktzentren. Die afghanischen Sicherheitskräfte zeigten Entschlossenheit und steigerten auch weiterhin ihre Leistungsfähigkeit im Kampf gegen den von den Taliban geführten Aufstand. Die Taliban kämpften weiterhin um Distriktzentren, bedrohten Provinzhauptstädte und eroberten landesweit kurzfristig Hauptkommunikationsrouten; speziell in Gegenden von Bedeutung wie zB Kunduz City und der Provinz Helmand. Zu Jahresende haben die afghanischen Sicherheitskräfte (ANDSF) Aufständische in Gegenden von Helmand, Uruzgan, Kandahar, Kunduz, Laghman, Zabul, Wardak und Faryab bekämpft (LIB S. 44).

In den letzten zwei Jahren hatten die Taliban kurzzeitig Fortschritte gemacht, wie z.B. in Helmand und Kunduz, nachdem die ISAF-Truppen die Sicherheitsverantwortung den afghanischen Sicherheits- und Verteidigungskräften (ANDSF) übergeben hatten. Die Taliban nutzen die Schwächen der ANDSF aus, wann immer sie Gelegenheit dazu haben. Der IS (Islamischer Staat) ist eine neue Form des Terrors im Namen des Islam, ähnlich der al-Qaida, auf zahlenmäßig niedrigerem Niveau, aber mit einem deutlich brutaleren Vorgehen. Die Gruppierung operierte ursprünglich im Osten entlang der afghanisch-pakistanischen Grenze und erscheint, Einzelberichten zufolge, auch im Nordosten und Nordwesten des Landes (LIB S. 44).

Mit Stand September 2016 beeinflussen oder kontrollieren die Taliban rund 10% der Bevölkerung. Die afghanischen Verteidigungsstreitkräfte (ANDSF) waren im Allgemeinen in der Lage, große Bevölkerungszentren zu beschützen. Sie hielten die Taliban davon ab, Kontrolle in bestimmten Gegenden über einen längeren Zeitraum zu halten und reagierten auf Talibanangriffe. Den Taliban hingegen gelang es, ländliche Gegenden einzunehmen; sie kehrten in Gegenden zurück, die von den ANDSF bereits befreit worden waren, und in denen die ANDSF ihre Präsenz nicht halten konnten. Sie führten außerdem Angriffe durch, um das öffentliche Vertrauen in die Sicherheitskräfte der Regierung, und deren Fähigkeit, für Schutz zu sorgen, zu untergraben. Berichten zufolge hat sich die Anzahl direkter Schussangriffe der Taliban gegen Mitglieder der afghanischen Nationalarmee (ANA) und afghanischen Nationalpolizei (ANP) erhöht (LIB S. 46).

Die afghanischen Sicherheitskräfte haben Fortschritte gemacht, wenn auch keine dauerhaften. Im Jahr 2016 wurden im Zuge von militärischen Operationen - ausgeführt durch die Polizei und das Militär - landesweit mehr als 18.500 feindliche Kämpfer getötet und weitere 12.000 verletzt. Die afghanischen Sicherheitskräfte versprachen, sie würden auch während des harten Winters gegen die Taliban und den Islamischen Staat vorgehen (LIB S. 46).

Obwohl die afghanischen Sicherheitskräfte alle Provinzhauptstädte sichern konnten, wurden sie von den Taliban landesweit herausgefordert: Intensive bewaffnete Zusammenstöße zwischen Taliban und afghanischen Sicherheitskräften verschlechterten die Sicherheitslage im Berichtszeitraum (16.08.2016 bis 17.11.2016). Den afghanischen Sicherheitskräften gelang es im August 2016, mehrere große Talibanangriffe auf verschiedene Provinzhauptstädte zu vereiteln, und verlorenes Territorium rasch wieder zurückzuerobern (LIB S. 46).

Verstärkte Luftangriffe hatten wesentliche Auswirkungen und führten zu hohen Opferzahlen bei Zivilisten und regierungsfeindlichen Elementen (LIB S. 10). Die Taliban erhöhen ihre Operationen, um ausländische Kräfte zu vertreiben; der IS hingegen versucht seinen relativ kleinen Einflussbereich zu erweitern. Kabul ist in diesem Falle für beide Gruppierungen interessant (LIB S. 6). Im Jänner 2018 fanden in Kabul schwere Anschläge ua auf die Marshal Fahim Militärakademie mit mindestens elf getöteten und weiteren fünfzehn verletzten Soldaten, im Regierungs- und Diplomatenviertel mit mehr als 100 Toten und zumindest weiteren 235 Verletzten, auf die NGO Save the Children, mit zumindest zwei Toten und weiteren zwölf Verletzten und auf das Hotel Intercontinental, mit etwa achtzehn Toten und weiteren zehn Verletzten, statt (LIB S 6. ff).

Die strategisch bedeutsame Provinz Parwan liegt 64 km nördlich von Kabul. Die Provinz Parwan grenzt an die Provinzen (Maidan) Wardak, Bamyan, Baghlan, Panjshir und Kapisa. Charikar ist die Provinzhauptstadt, während Jabal Saraj, Salang, Sayed Khel, Shinwar, Syiah Gird, Shikh Ali, Ghorband und Shurk Parsa zu den restlichen Distrikten zählen. Die Bevölkerungszahl der Provinz wird auf 675.795 geschätzt; die der Provinzhauptstadt Charikar auf 57.746. Rund 70% der Bevölkerung sind ethnische Tadschiken, 18% Pashtunen und 11% Hazara - Turkmenen kommen auf 1%. Ein Abschnitt der Autobahn Kabul-Parwan Highway verbindet die Provinz mit Kabul und weiter mit anderen Provinzen (LIB S. 111).

Im Zeitraum 01.09.2015 - 31.05.2016 wurden in der Provinz Parwan 140 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert. Das Bagram Airfield liegt in der Provinz Parwan. Als eine der sichersten Einrichtungen in Afghanistan ist dieser Flughafen Ziel von high-profile Angriffen durch Taliban und andere Aufständische. Aktiv sind die Taliban unter anderem in dem abgelegenen Dorf Dara Saidan in der Provinz. Militärische Operationen werden in der Provinz durchgeführt. Zusammenstöße zwischen Sicherheitskräften und Taliban finden statt (LIB S. 111 f).

Die Polizei hat in der Vergangenheit große Drogenmengen auf der Route der nördlichen Regionen beschlagnahmt. Etwa 100 Personen wurden in Zusammenhang mit Drogenschmuggel im Norden verhaftet (LIB S. 112).

1.5.1.2. Zur Lage in Kabul:

Die Provinzhauptstadt von Kabul und gleichzeitig Hauptstadt von Afghanistan ist Kabul Stadt. Im Zeitraum 01.09.2015 - 31.05.2016 wurden im Distrikt Kabul 151 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert. Im Zeitraum 01.09.2015 - 31.05.2016 wurden in der gesamten Provinz Kabul 161 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Transitrouten, Provinzhauptstädte und fast alle Distriktzentren (LIB S. 56 f).

Die monatlichen Lebenshaltungskosten in Kabul, für eine Person sind abhängig von den Ausgaben und liegen durchschnittlich zwischen 150-250 USD pro Person. Diese Zahlen beziehen sich nur auf Kleidung, Nahrung und Transport, die Unterbringung (Miete) ist dabei nicht berücksichtigt. Die Haus- oder Wohnungsmiete hängt von der Lage ab. Die Unterbringung im Zentrum der Stadt beträgt für eine Ein-Zimmer Wohnung (Bad und Küche) beginnend von 6.000 AFA (88 USD) bis zu 10.000 AFD (146 USD) pro Monat. In Kabul sowie im Umland und auch anderen Städten stehen eine große Anzahl an Häusern und Wohnungen zur Verfügung. Die Kosten in Kabul City sind jedoch höher als in den Vororten oder auch anderen Provinzen. Private Immobilienhändler bieten Informationen zu Mietpreisen für Häuser, Apartments etc. an. Rückkehrer können bis zu zwei Wochen im IOM Empfangszentrum [l5] untergebracht werden (LIB S. 208 f).

1.5.1.3. Zur Lage in Mazar-e Sharif:

Die Hauptstadt der Provinz Balkh, Mazar-e Sharif, ist eine Art "Vorzeigeprojekt" Afghanistans für wichtige ausländische Gäste. Balkh ist, in Bezug auf Angriffe der Taliban, zentralasiatischer Aufständischer oder IS-Kämpfer die sicherste Provinz in Nordafghanistan. Grund dafür ist das Machtmonopol, das der tadschikisch-stämmige Gouverneur und ehemalige Warlord Atta Mohammed Noor bis in die abgelegensten Winkel der Provinz ausübt. Nichtsdestotrotz ist die Stabilität stark abhängig von den Beziehungen des Gouverneurs zum ehemaligen Warlord und nunmehrigen ersten Vizepräsidenten Abdul Rashid Dostum. Im Juni 2015 haben sich die beiden Rivalen darauf geeinigt, miteinander zu arbeiten, um die Sicherheit in Nordafghanistan wiederherzustellen. Die Stabilität der Provinz Balkh war ein Hauptfokus der NATO-Kräfte. Im Distrikt Balkh wird die Reduzierung von Rebellenaktivitäten der Leistungsfähigkeit der ANSF und des neuen Distriktpolizeichefs zugeschrieben (LIB S. 65 f).

Bei einem Angriff auf das deutsche Konsulat in Mazar-e Sharif waren am 10.11.2016 sechs Menschen getötet und fast 130 weitere verletzt worden. Nach Polizeiangaben attackierte am späten Abend ein Selbstmordattentäter mit seinem Auto das Gelände des deutschen Generalkonsulats in Mazar-e Sharif. Die Autobombe sei gegen 23:10 Uhr Ortszeit am Tor der diplomatischen Einrichtung explodiert, sagte der Sicherheitschef der Provinz Balkh. Bei den Toten soll es sich um Afghanen handeln. Alle deutschen Mitarbeiter des Generalkonsulats seien bei dem Angriff unversehrt geblieben. Das Gebäude selbst wurde in Teilen zerstört. Der überlebende Attentäter wurde dem Bericht zufolge wenige Stunden später von afghanischen Sicherheitskräften festgenommen (LIB S. 66).

Außerhalb von Mazar-e Sharif, in der Provinz Balkh, existiert ein Flüchtlingscamp - auch für Afghan/innen - die Schutz in der Provinz Balkh suchen. Mehr als 300 Familien haben dieses Camp zu ihrem temporären Heim gemacht (LIB S. 66).

Im Jahr 2013 wurde der internationale Maulana Jalaluddin Balkhi Flughafen in Mazar-e Sharif, der Hauptstadt der Provinz Balkh eröffnet (LIB S. 136).

1.5.1.4. Zur Lage in Herat:

Herat ist eine der größten Provinzen Afghanistans und liegt im Westen des Landes. Herat grenzt im Norden an die Provinz Badghis und Turkmenistan, im Süden an die Provinz Farah, im Osten an die Provinz Ghor und im Westen an den Iran. Provinzhauptstadt ist Herat City, mit etwa 477.452 Einwohner/innen. Die Bevölkerungszahl der Provinz wird auf 1.928.327 geschätzt (LIB S. 83).

Herat ist eine vergleichsweise entwickelte Provinz im Westen des Landes. Sie ist auch ein Hauptkorridor menschlichen Schmuggels in den Iran - speziell was Kinder betrifft. Im Zeitraum 01.09.2015 - 31.05.2016 wurden in der Provinz Herat 496 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert (LIB S. 83 f).

Herat wird als einer der relativ friedlichen Provinzen gewertet, dennoch sind Aufständische in abgelegenen Distrikten der Provinz aktiv. Regierungsfeindliche Aufständische greifen regelmäßig heilige Orte wie Moscheen an. In den letzten Monaten haben eine Anzahl von Angriffen, gezielt gegen schiitische Muslime, in Hauptstädten, wie Kabul und Herat stattgefunden. In der Provinz werden militärische Operationen durchgeführt um manche Gegenden von Aufständischen zu befreien. Zusammenstöße zwischen Sicherheitskräften und Aufständischen finden statt (LIB S. 84).

Das afghanische Institut für strategische Studien (AISS) hat die alljährliche Konferenz "Herat Sicherheitsdialog" (Herat Security Dialogue - HSD) zum fünften Mal in Herat abgehalten. Die zweitägige Konferenz wurde von hochrangigen Regierungsbeamten, Botschafter/innen, Wissenschaftlern, Geschäftsleuten und Repräsentanten verschiedener internationaler Organisationen, sowie Mitgliedern der Presse und der Zivilgesellschaft besucht (LIB S. 84).

Im Jahr 2012 wurde der neue Terminal des internationalen Flughafens von Herat eröffnet (LIB S. 137).

1.5.1.5. Zur Lage der Paschtunen in Afghanistan:

Ethnische Paschtunen sind die größte Ethnie Afghanistans. Sie sprechen Paschtu/Pashto; die meisten ihrer Regierungsvertreter sprechen auch Dari. Die Paschtunen haben viele Sitze in beiden Häusern des Parlaments - nicht mehr als 50% der Gesamtsitze. Die Paschtunen sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 44% in der Afghan National Army (ANA) und der Afghan National Police (ANP) repräsentiert. Paschtunen siedeln sich in einem halbmondförmigen Gürtel an, der sich von Nordwestafghanistan über den gesamten Süden und die Gebiete östlich von Kabul bis in den Nordwesten Pakistans erstreckt. Kleinere Gruppen sind über das gesamte Land verstreut, auch im Norden des Landes, wo Paschtunen Ende des 19. Jahrhunderts speziell angesiedelt wurden, und sich seitdem auch selbst angesiedelt haben (LIB S. 171).

Grundlage des paschtunischen Selbstverständnisses sind ihre genealogischen Überlieferungen und die darauf beruhende Stammesstruktur. Eng mit der Stammesstruktur verbunden ist ein komplexes System von Wertvorstellungen und Verhaltensrichtlinien, die häufig unter dem Namen Pashtunwali zusammengefasst werden und die besagen, dass es für einen Paschtunen nicht ausreicht, Paschtu zu sprechen, sondern dass man auch die Regeln dieses Ehren- und Verhaltenskodex befolgen muss. Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stammlinienverband bedeutet viele Verpflichtungen, aber auch Rechte, weshalb sich solche Verbände als Solidaritätsgruppen verstehen lassen (LIB S. 171).

1.5.1.6. Zur Lage der Sunniten in Afghanistan:

Etwa 99,7% der Bevölkerung sind Muslime, davon sind 84,7-89,7% Sunniten (LIB S. 161). Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten sind in Afghanistan selten (LIB S. 164).

1.5.1.7. Zur Lage von Rückkehrern: [l6]

Aufgrund der komplexen Situation in Afghanistan, die die Region als Ganzes betrifft, haben die Islamischen Republiken Iran, Afghanistan und Pakistan mit Unterstützung von UNHCR 2011 einen vierseitigen Konsultationsprozess initiiert, um langfristige Lösungen für afghanische Flüchtlinge in der Region festzustellen und umzusetzen. Auf Grundlage dieses Prozesses entstand die "Solutions Strategy for Afghan Refugees to Support Voluntary Repatriation, Sustainable Reintegration and Assistance for Host Countries" (SSAR), die ein umfassendes und integriertes Rahmenwerk für gemeinsame Maßnahmen bietet mit dem Ziel, Asylraum für afghanische Flüchtlinge in den Nachbarländern zu erhalten und die nachhaltige Integration für Afghanen zu unterstützen, die sich freiwillig für eine Rückkehr nach Afghanistan entscheiden. Vor allem Letzteres ist im Licht der Tatsache wichtig, dass Berichten zufolge in den vergangenen Jahren die Wiedereingliederungsversuche vieler Rückkehrer scheiterten, was zu erneuter Vertreibung - hauptsächlich in Städte - im erheblichen Ausmaß führte. Zu den Problemen für Binnenvertriebene und rückkehrende Flüchtlinge gehören die andauernde Unsicherheit in ihren Herkunftsgebieten, der Verlust von Lebensgrundlagen und von Vermögen, der mangelnde Zugang zu medizinischer Versorgung und zu Bildung sowie Schwierigkeiten bei der Rückforderung von Land und Eigentum (UNHCR-Richtlinien vom 19.04.2016 S 35 f).

1.5.2. Auszug aus der Schnellrecherche der SFH Länderanalyse vom 07.06.2017 zu Blutrache und Blutfehde:

"[...]

Ehre und Vergeltung bei Ehrverletzungen (badal) spielen eine zentrale Rolle im paschtunischen Ehrenkodex (Paschtunwali). In den Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19. April 2016 weist UNHCR mit Bezug auf verschiedene Quellen darauf hin, dass Vergeltung durch Blutrache auf einem traditionellen Verständnis von Verhalten und Ehre beruht. Eine Blutfehde besteht zwischen zwei Familien, wobei Mitglieder der einen Familie solche der anderen zur Vergeltung einer Tat töten. Die Blutrache sei hauptsächlich eine paschtunische Tradition und im paschtunischen Ehrenkodex (Paschtunwali) verankert, werde aber auch von anderen ethnischen Gruppen praktiziert. Auslöser einer Blutfehde könne ein Mord oder eine ungelöste Streitigkeit sein.

Gemäß einem in den UNHCR-Richtlinien zitierten Landinfo-Bericht vom 1. November 2011, der sich auf eine Publikation von Thomas Barfield, Anthropologe mit Schwerpunkt Afghanistan an der Boston University, aus dem Jahr 2003 beruft, ist Vergeltung (badal) bei verletzter Ehre eine zentrale Institution des Paschtunwali. Thomas Ruttig, Kodirektor des Afghanistan Analysts Network in Kabul, gab am 23. Februar 2017 gegenüber dem Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (ACCORD) an, bei badal handele es sich um einen Austausch zwischen zwei Familien infolge einer Ehrverletzung. Das Prinzip des badal entspreche dem qesas/quisas-Prinzip der Scharia. Laut einem Bericht der Afghanistan Research and Evaluation Unit (AREU) vom Januar 2016 steht der Begriff badal für Austausch und kann sich beispielsweise auch auf den Austausch von zwei Frauen zwischen zwei Familien beziehen, indem eine Tochter aus jeder Familie mit einem Mann aus der jeweils anderen Familie verheiratet wird.

Das Recht auf Rache und die Erwartung einer Vergeltung ist gemäß dem Landinfo-Bericht zentral für das nichtstaatliche Rechtssystem des Paschtunwali. Die Verantwortung für die Bestrafung von immoralischem Verhalten wie Diebstahl, Vergewaltigung oder Mord liege nicht bei der Gemeinschaft, sondern beim Opfer, und Rache sei eine akzeptable Reaktion. Die Grenzen der Legitimität der Rache würden durch lokale Traditionen, die öffentliche Meinung und den Paschtunwali bestimmt. Wird keine Rache ausgeübt, könne dies als moralische Schwäche ausgelegt werden, die auf ganze Familienverbände bezogen werden könne. Sowohl das Anzeigen eines Mordes bei den staatlichen Behörden als auch Verhandlungen über finanzielle Entschädigung mit der Täterfamilie können als Schwäche und als Zeichen ausgelegt werden, dass die Familie nicht stark genug ist, ihre Ehre zu verteidigen. Der Familienverband des Opfers habe eine kollektive Verantwortung, Vergeltung zu üben und die Ehre wiederherzustellen. Laut Angaben eines Vertreters der Peace Training & Research Organization (PTRO) in Kabul gegenüber der SFH vom 1. Juni 2017 ist die Ausübung von Vergeltung auch ein Signal an andere, dass die betroffene Familie stark ist und sich verteidigen kann. Dies gelte unabhängig von der ethnischen Zugehörigkeit.

Blutrache wird überall in Afghanistan sowie von und zwischen allen Volksgruppen praktiziert. Thomas Ruttig, Kodirektor des Afghanistan Analysts Network in Kabul, gab gegenüber der SFH am 30. Mai 2017 folgendes an: Blutrache sei in Afghanistan kein ausschließlich ländliches Phänomen, sondern überall und auch zwischen allen Ethnien möglich. Die kriegsbedingten großen Wanderungsbewegungen vom Land in die Städte hätten dazu beigetragen, dass Gebräuche wie Blutrache auch in den Städten praktiziert würden. Noah Coburn, Anthropologe mit Schwerpunkt Afghanistan am Bennington College, bestätigte am 31. Mai 2017 gegenüber der SFH, dass Blutrache in Afghanistan sowohl auf dem Land als auch in den Städten einschließlich Kabul verbreitet ist und zwischen verschiedenen Ethnien, beispielsweise einer paschtunischen und einer tadschikischen Familie, vorkommen kann. Gemäß Angaben von Thomas Barfield vom 30. Mai 2017 gegenüber der SFH ist Blutrache in ländlichen Gebieten eher üblich, kann jedoch wegen der großen Zahl der vom Land zugewanderten Stadtbewohner auch in Städten vorkommen. Die ethnische Zugehörigkeit spiele bezüglich Blutrache keine zentrale Rolle, und sie könne daher auch zwischen Angehörigen verschiedener ethnischer Gruppen ausgeübt werden. In solchen Fällen könne eine Beilegung jedoch schwieriger sein als in Fällen von Blutrache zwischen Angehörigen derselben ethnischen Gruppe, da es weniger Ansatzpunkte für eine Mediation gebe. Gemäß PTRO (1. Juni 2017) ist Blutrache sowohl in den Städten wie auch auf dem Land üblich. Mächtige Familien übten bei einer Ehrverletzung normalerweise Vergeltung, während weniger mächtige und arme Familien in der Regel Verhandlungen und eine Versöhnung durch Älteste oder eine Bestrafung durch die Regierung akzeptierten.

Keine festen Regeln wie beispielsweise Mindestalter; Blutrache kann auch nach Jahren oder Jahrzehnten ausgeübt werden. Laut Thomas Barfield (30. Mai 2017) zielt eine Blutrache hauptsächlich auf diejenige Person ab, die einer Tat wie beispielsweise eines Mordes bezichtigt wird, unabhängig von ihrem Alter. Unter bestimmten Bedingungen könne gemäß dem Landinfo-Bericht aber auch die Tötung des Bruders des Täters oder eines anderen Verwandten der väterlichen Linie eine Alternative darstellen. Thomas Ruttig (30. Mai 2017) gab an, es gebe keine klaren Regeln für die Ausübung von Blutrache, wie beispielsweise ein Mindestalter, ab dem eine Person Ziel einer Blutrache werden könne. Wenn eine Familie Rache üben wolle, würde sie nach einer Gelegenheit dafür suchen. Gemäß Noah Coburn (31. Mai 2017) kann ein männliches Familienmitglied im frühen Teenageralter Ziel einer Blutrache werden, möglicherweise aber auch bereits im Alter von neun oder zehn Jahren. Eine Blutfehde kann gemäß Thomas Ruttig und Thomas Barfield (30. Mai 2017) auch nach Jahren oder Jahrzehnten einsetzen oder Jahre oder Jahrzehnte dauern. Laut UNHCR (19. April 2016) kann eine Blutrache auch in solchen Fällen erst Jahre oder Jahrzehnte nach der ursprünglichen Tat einsetzen, wenn sich eine Opferfamilie nicht sofort in der Lage fühlt, Rache auszuüben. Landinfo zitiert unter Berufung auf Barfield (2003) ein paschtunisches Sprichwort, das die geringe Bedeutung der Zeit in diesem Zusammenhang ausdrückt: "Ein Mann übte nach hundert Jahren Rache, bedauerte jedoch, übereilt gehandelt zu haben".

Staatliche Prozesse und traditionelle Bräuche wie Blutrache laufen unabhängig voneinander ab; ein Urteil eines staatlichen Gerichts beendet eine Blutrache nicht. Bei staatlichen Prozessen und traditionellen Bräuchen wie der Blutrache handelt es sich gemäß Angaben von Thomas Ruttig (30. Mai 2017) um "zwei völlig verschiedene Welten". Laut Thomas Barfield (30. Mai 2017) hat Blutrache keinen Zusammenhang mit formalen rechtlichen Abläufen, sondern ist illegal. Ein Freispruch durch ein Gericht kann gemäß Angaben von Thomas Barfield und Noah Coburn eine Blutrache nicht beenden. Für eine Tat inhaftierte Personen bleiben laut Thomas Barfield (30. Mai 2017) daher über die Inhaftierung hinaus Ziel einer Blutrache, da es nach ihrer Freilassung möglich sei, sie anzugreifen. Eine Blutrache könne durch die Tötung einer Person beendet werden, wobei eine solche Tötung andererseits auch einen neuen Racheakt der Gegenseite auslösen könne. Üblicherweise ende eine Blutrache, wenn beide Seiten einer förmlichen Beendigung durch einen Versöhnungsprozess zustimmten, bei dem Blutgeld gezahlt würde. Gemäß UNHCR (19. April 2016) können Akte der Blutrache auch dann ausgeübt werden, wenn ein Täter bereits im Rahmen des staatlichen Rechtssystems bestraft wurde. Laut Landinfo (1. November 2011) schließt eine Entscheidung im Rechtssystem der Regierung das Risiko einer gewaltsamen Vergeltung nicht notwendigerweise aus. Von der Opferfamilie könne immer noch erwartet werden, dass sie den Mörder nach seiner Entlassung tötet, außer die Fehde sei beigelegt worden. Eine lokale Gemeinschaft betrachte eine Tötung aus Rache, die durch die Tradition legitimiert ist, nicht als ein Verbrechen.

[...]

Schutz durch den Staat

Weit verbreitete Straflosigkeit und Korruption bei den Behörden; Bürgerinnen und Bürger misstrauen der Polizei und fürchten sie. Gemäß den UNHCR-Richtlinien vom 19. April 2016 ergeben sich Afghanistans schwache rechtsstaatliche Strukturen unter anderem aus der sehr weit verbreiteten Korruption und einer Kultur der Straflosigkeit. Urheber von Menschenrechtsverletzungen werden kaum bestraft, und Angehörige von staatlichen Institutionen wie der afghanischen nationalen und der afghanischen lokalen Polizei begehen selbst Menschenrechtsverletzungen, ohne dafür verurteilt zu werden. Staatliche Behörden und Institutionen einschließlich Polizei und Justiz sind auf allen Ebenen von Korruption betroffen. Ein Bericht des Congressional Research Service vom 19. Mai 2017 hebt hervor, dass der Zustand der afghanischen nationalen Polizei von unabhängiger Seite negativ beurteilt wird. Die Korruption habe ein solches Ausmaß erreicht, dass Bürgerinnen und Bürger der Polizei misstrauen und sie fürchten. Unter anderem sei diese auch oft in lokale Streitigkeiten verwickelt. USDOS (3. März 2017) berichtet ebenfalls von Korruption bei staatlichen Behörden, die straflos bleibt. Durch Zahlung von Bestechungsgeldern würden Gefängnisstrafen reduziert, Untersuchungen abgebrochen oder Anklagen zurückgenommen. Polizeiangehörige verlangten Bestechungsgelder für Entlassungen aus dem Gefängnis oder Vermeidung von Festnahmen. Ein Vertreter der Peace Training & Research Organization (PTRO) in Kabul gab am 1. Juni 2017 gegenüber der SFH ebenfalls an, dass Gerichten in Afghanistan kein Vertrauen geschenkt würde. Durch Bestechung könnten sie nämlich dazu gebracht werden, die Dauer von Gefängnisstrafen zu verkürzen oder die Art der Bestrafung zu ändern.

Staatliche Institutionen bieten kaum Schutz vor Blutrache; Zugang zu staatlichem Schutz hängt von finanziellen Mitteln und vom Einfluss der betroffenen Familie ab. Staatliche Gerichte und die Polizei in Afghanistan können gemäß Thomas Ruttig (30. Mai 2017) wegen der oben beschriebenen weit verbreiteten Straflosigkeit und Korruption eine Blutrache nicht verhindern oder beenden und seien oft auch nicht willens, dies zu tun. Es sei sogar möglich, dass auch Richter und Polizeiangehörige "eine Blutrache als ein legitimes - weil "traditionelles" - Vorgehen betrachteten". Noah Coburn gab am 31. Mai 2017 gegenüber der SFH an, der Zugang zu staatlichem Schutz hänge von den finanziellen Mitteln und dem Einfluss der betroffenen Familie ab. Wenn die Familie für genügend bedeutend erachtet würde oder ausreichende Bestechungsgelder zahlen könne, könnten die Behörden sich unter Umständen für den Fall interessieren. Generell könne die Polizei von einer Blutrache betroffene Personen jedoch nicht wirksam schützen.

Staatlicher Schutz ist äußerst unwahrscheinlich, wenn Polizeiangehörige in Blutrache verwickelt sind. In Fällen, in denen ein Polizist in eine Blutrache verwickelt ist, muss man laut Thomas Ruttig (30. Mai 2017) damit rechnen, dass aus Gründen des "Korpsgeistes" andere Polizeiangehörige und Behördenvertreter nicht gegen ihn vorgehen werden. Dies sei umso wahrscheinlicher, je höher die Position des Polizisten sei. Laut Thomas Barfield (30. Mai 2017) ist die Polizei in Fällen von Blutrache kaum hilfreich, und man kann sich nicht auf sie verlassen. Dies sei umso mehr der Fall, wenn ein Behörden- oder Polizeiangehöriger in die Blutrache verwickelt sei und mit Rache drohe, außer wenn die bedrohte Familie ihrerseits Verbindungen zu noch mächtigeren Personen habe. Gemäß Noah Coburn (31. Mai 2017) ist es unwahrscheinlich, dass eine bedrohte Familie staatlichen Schutz erhält, wenn ein Polizeiangehöriger auf der Seite der anderen Familie in die Blutrache verwickelt ist."

1.5.3. Auszug aus der Anfragebeantwortung vom 19.11.2015 a-9394-1 (Informationen zur Blutrache/Blutfehden):

"[...]

Mohammad Aziz Rahjo, ehemaliger Mitarbeiter von UNHCR Afghanistan, hält in dem im November 2007 von ACCORD und UNHCR veröffentlichten COI-Seminar-Bericht zu Afghanistan fest, dass Blutfehden unter anderem aus Streitigkeiten und Tötungen in Zusammenhang mit Eigentum und der Ehre von Frauen hervorgehen würden. In Afghanistan werde dabei das Wort "namus" verwendet, das sowohl mit "Ehre" als auch mit "Eigentum" übersetzt werden könne. Gemäß dem traditionellen Sprichwort "zan, zar, zamin" ("Frauen, Gold, Land") würde der Begriff "Eigentum" ("namus") neben Eigentum und dem Recht auf Wasser bzw. Land auch Ehefrauen bzw. die Ehre der weiblichen Familienmitglieder umfassen. Wenn ein Element des "namus" verletzt werde, würden Blutfehde und Rache jedenfalls zu einem Thema.

[...]

Die männlichen Verwandten der Frau (oder der Ehemann, falls die Frau verheiratet sei) könnten [...] dem Täter nach dem Leben trachten. Laut Coburn könne jede Handlung, die als die Unantastbarkeit des Zuhauses, das auch Frauen umfasse, verletzend wahrgenommen werden, zu einem gewaltsamen Streit führen. Dies reiche vom Ehebruch bis hin zum Vorwurf, die Frau eines anderen angestarrt zu haben.

[...]

In seinem [...] Bericht von 2003 erläutert Barfield, dass die paschtunische Tradition sexuelles Fehlverhalten so ernst nehme, dass der Familie eines Opfers im Falle von Ehebruch, Entführung oder Vergewaltigung das Recht zugestanden werde, sieben Mitglieder der Familie des Täters zu töten.

[...]

Können weibliche Familienmitglieder Ziel von Blutrache werden?

Laut dem weiter oben bereits zitierten ACCORD/UNHCR-COI-Seminar-Bericht vom November 2007 habe Mohammad Aziz Rahjo angegeben, dass Personen, die als Täter/Täterin einer Handlung betrachtet würden, das Hauptziel von Blutrache seien. Weitere Personengruppen, die von Blutrache betroffen sein könnten, seien unter anderem nahe Verwandte solcher Personen, darunter Brüder und Cousins. Kinder würden erst zum Ziel, wenn sie die Volljährigkeit erreicht hätten. Verwandte, die den Täter/die Täterin unterstützt hätten, könnten ebenfalls zum Ziel von Blutrache werden.

[...]

In einem im März 2011 vom Afghanistan Analysts Network (AAN) veröffentlichten Bericht über das Paschtunwali, den Ehrenkodex der Paschtunen, schreibt Lutz Rzehak, Privatdozent am Zentralasien-Seminar des Instituts für Asien- und Afrikawissenschaften der Humboldt- Universität zu Berlin, dass Rache von den patrilinearen Verwandten der verletzten, getöteten oder auf andere Weise geschädigten oder entehrten Person verübt werden könne. Dabei könne sich die Rache gegen den Täter selbst oder gegen einen seiner patrilinearen Verwandten richten.

[...]

Thomas Barfield schreibt in seinem 2003 veröffentlichten Bericht, dass Mord zur stärksten Forderung nach persönlicher Blutrache führe. Die Rache solle sich bestenfalls nur gegen den Mörder selbst richten, allerdings sehe das Paschtunwali unter bestimmten Voraussetzungen vor, dass Brüder und andere patrilineare Verwandte zu legitimen Ersatzzielen der Rache werden. Frauen und Kinder kämen unter keinen Umständen als Ziele in Frage.

[...]

Laut dem weiter oben bereits angeführten CORI-Bericht vom Februar 2014 habe Barfield auch in einem im Jänner 2014 mit ihm geführten Interview angegeben, dass Frauen, Mädchen und Jungen bei Blutfehden nicht als Ziele in Frage kommen würden.

[...]

Der an der London School of Economics and Political Science (LSE) tätige Afghanistan-Experte Antonio Giustozzi hält in seinen "Afghanistan Notes" vom Juni 2006 hingegen fest, dass bei einer Blutfehde normalerweise der ranghöchste Mann zum Ziel werde, sie sich aber auch bis hin zu den Töchtern ausdehnen könne.

[...]

In einer E-Mail-Antwort an ACCORD vom 6. Mai 2009 gab Giustozzi auf die Frage, ab welchem Alter eine Person Opfer von Blutrache werden könne, folgende Auskunft: Blutrache werde dann zu einem ernsthaften Problem, wenn ein Junge zu einem Mann werde, d.h. im Alter von 13 bis 14 Jahren, und damit fähig werde, Waffen zu tragen. Gelegentlich könnten auch jüngere männliche Kinder oder sogar Mädchen zu Opfern von Gewalt werden - dies komme jedoch selten vor, da es in Widerspruch zu den dominierenden kulturellen Mustern stehe (Giustozzi, 6. Mai 2009).

Der finnische Einwanderungsdienst (Finnish Immigration Service, FIS) erwähnt im Abschnitt zu "Blutfehden und Ehrenmorde" ihres im Mai 2007 veröffentlichten Berichts zu einer Fact- Finding-Mission nach Afghanistan im September 2006, dass der jahrzehntelange Krieg das allgemeine Verständnis dafür verändert habe, was "normal" sei. So habe ein Vertreter einer afghanischen Menschenrechtsorganisation einen Fall geschildert, in dem die Mutter und der Bruder eines verurteilten Vergewaltigers getötet worden seien.

[...]

Die Nachrichtenagentur Reuters berichtet in einem Artikel vom Jänner 2012, dass in der Provinz Kundus bei der Explosion eines Sprengsatzes, der in einem Heizgerät platziert worden sei, eine Frau und eine zwölfjährige Tochter getötet und zwei weitere Töchter sowie ein Sohn verletzt worden seien. Laut Behörden sei der Anschlag das Werk einer rivalisierenden Familie gewesen, die mit der betroffenen Familie im Streit gelegen habe. Der Grund für die Familienfehde sei unbekannt. [...]"

1.5.4. Auszug aus dem Dossier der Staatendokumentation Grundlagen der Stammes- und Clanstruktur:

"[...]

Paschtunen

[...]

Es lässt sich nur vermuten, dass ca. die Hälfte der Bevölkerung zu den Paschtunen zu rechnen sind. Paschtunen siedeln in einem halbmondförmigen Gürtel, der sich von Nordwest-Afghanistan über den gesamten Süden und die Gebiete östlich von Kabul bis in den Nordwesten Pakistans erstreckt. Kleinere Gruppen sind über das gesamte Land verstreut, auch im Norden des Landes, wo Paschtunen Ende des 19. Jahrhunderts speziell angesiedelt wurden und sich seitdem auch selbst angesiedelt haben. Sie werden dort als naqelin "Übersiedler" bezeichnet.

Die Eigenbezeichnung lautet je nach Region und Dialekt pashtun oder pakhtun. Ihre Sprache bezeichnen sie dementsprechend als pashto oder pakhto. Die in der Literatur ebenfalls anzutreffende Bezeichnung pathan ist eine Fremdbezeichnung, die im südasiatischen Raum verbreitet ist und über die Vermittlung britischer Kolonisatoren Eingang ins Englische gefunden hat. Vertreter anderer Völkerschaften in Afghanistan bezeichnen die Paschtunen oft als afghan oder aughan "Afghane", in den letzten Jahren vermehrt auch als pashtozaban "Paschto-Sprecher". Eine solche Gleichsetzung von "Afghane" und "Paschtune" ist wichtig für das Selbstverständnis der Paschtunen als staatstragende oder zumindest namensgebende Völkerschaft Afghanistans. Die in der Verfassung postulierte Bedeutung von "Afghane" als Staatsbürger Afghanistans entspricht also nicht immer dem tatsächlichen Sprachgebrauch.

[...]

Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stammlinienverband bedeutet viele Verpflichtungen, aber auch Rechte, weshalb sich solche Verbände als Solidaritätsgruppen verstehen lassen. Wenn zwei Paschtunen sich zum ersten Mal begegnen, kann es sein, dass sie zuerst Minuten lang über ihre Stammeszugehörigkeit sprechen. Wenn sie auf irgendeiner Ebene gemeinsame Vorfahren entdecken, kann es sein, dass aus einer Zufallsbekanntschaft schnell eine Beziehung mit weitreichenden Verpflichtungen und Hilfsangeboten wird.

[...]

Traditionell waren die Paschtunen nomadisierende oder halbnomadische Viehzüchter, Ackerbauern und Händler. Seit langer Zeit sind sie in Städten ansässig geworden, wo sie verschiedensten Tätigkeiten nachgehen. Paschtunische Stämme waren stets die militärische Stütze des afghanischen Königshauses und wurden dafür mit einigen Privilegien (Steuervergünstigungen, weitgehende Autonomie in inneren Angelegenheiten u.a.) versehen. [...]"

1.5.5. Auszug aus den UNHCR-Richtlinien betreffend die Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19.04.2016:

"[...] Bei der Prüfung der Relevanz einer internen Schutzalternative für afghanische Antragsteller müssen die folgenden Aspekte erwogen werden:

(i) Der instabile, wenig vorhersehbare Charakter des bewaffneten Konflikts in Afghanistan hinsichtlich der Schwierigkeit, potenzielle Neuansiedlungsgebiete zu identifizieren, die dauerhaft sicher sind, und

(ii) die konkreten Aussichten auf einen sicheren Zugang zum vorgeschlagenen Neuansiedlungsgebiet unter Berücksichtigung von Risiken im Zusammenhang mit dem landesweit verbreiteten Einsatz von improvisierten Sprengkörpern und Landminen, Angriffen und Kämpfen auf Straßen und von regierungsfeindlichen Kräften auferlegte Einschränkungen der Bewegungsfreiheit von Zivilisten.

[...] Im Lichte der verfügbaren Informationen über schwerwiegende und weit verbreitete Menschenrechtsverletzungen durch regierungsfeindliche Kräfte [...] in von ihnen kontrollierten Gebieten sowie der Unfähigkeit des Staates, für Schutz gegen derartige Verletzungen in diesen Gebieten zu sorgen, ist nach Ansicht von UNHCR eine interne Schutzalternative in Gebieten des Landes, die sich unter tatsächlicher Kontrolle regierungsfeindlicher Kräfte [...] befinden, nicht gegeben; es sei denn in Ausnahmefällen, in denen Antragsteller über zuvor hergestellte Verbindungen zur Führung der regierungsfeindlichen Kräfte [...] im vorgeschlagenen Neuansiedlungsgebiet verfügen. UNHCR geht davon aus, dass eine interne Schutzalternative in den vom aktiven Konflikt betroffenen Gebieten unabhängig davon, von wem die Verfolgung ausgeht, nicht gegeben ist.

[...]

Ob eine interne Schutzalternative zumutbar ist, muss anhand einer Einzelfallprüfung unter vollständiger Berücksichtigung der Sicherheits-, Menschenrechts- und humanitären Lage im voraussichtlichen Neuansiedlungsgebiet zum Zeitpunkt der Entscheidung festgestellt werden. Insbesondere stellen die schlechten Lebensbedingungen sowie die prekäre Menschenrechtssituation von Afghanen, die derzeit innerhalb des Landes vertrieben wurden, relevante Erwägungen dar, die bei der Prüfung der Zumutbarkeit einer vorgeschlagenen internen Schutzalternative berücksichtigt werden müssen. UNHCR ist der Auffassung, dass eine vorgeschlagene interne Schutzalternative nur dann zumutbar ist, wenn der Zugang zu (i) Unterkunft, (ii) grundlegender Versorgung wie sanitärer Infrastruktur, Gesundheitsdiensten und Bildung und zu (iii) Erwerbsmöglichkeiten gegeben ist. Ferner ist UNHCR der Auffassung, dass eine interne Schutzalternative nur dann zumutbar sein kann, wenn betroffene Personen Zugang zu einem traditionellen Unterstützungsnetzwerk durch Mitglieder ihrer (erweiterten) Familie oder durch Mitglieder ihrer größeren ethnischen Gruppe im vorgeschlagenen Neuansiedlungsgebiet haben und davon ausgegangen werden kann, dass diese willens und in der Lage sind, den Antragsteller tatsächlich zu unterstützen.

Die einzigen Ausnahmen von dieser Anforderung der externen Unterstützung stellen nach Auffassung von UNHCR alleinstehende leistungsfähige Männer und verheiratete Paare im berufsfähigen Alter ohne festgestellten besonderen Schutzbedarf dar. Diese Personen können unter bestimmten Umständen ohne Unterstützung von Familie und Gemeinschaft in urbanen und semiurbanen Umgebungen leben, die die notwendige Infrastruktur sowie Erwerbsmöglichkeiten zur Sicherung der Grundversorgung bieten und unter tatsächlicher staatlicher Kontrolle stehen. Angesichts des Zusammenbruchs des traditionellen sozialen Gefüges der Gesellschaft aufgrund jahrzehntelang währender Kriege, der massiven Flüchtlingsströme und der internen Vertreibung ist gleichwohl eine einzelfallbezogene Analyse notwendig. [...]"

2. Beweiswürdigung:

Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgebenden Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht sowie durch Einsichtnahme in den Akt der belangten Behörde unter zentraler Berücksichtigung der niederschriftlichen Angaben des Beschwerdeführers in der Erstbefragung und vor der belangten Behörde, im bekämpften Bescheid und im Beschwerdeschriftsatz, in die vorgelegten Urkunden sowie in den diesem Erkenntnis zugrunde gelegten Länderinformationsblatt vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 30.01.2018, der Schnellrecherche der SFH Länderanalyse vom 07.06.2017 zu Blutrache und Blutfehde, dem Dossier der Staatendokumentation Grundlagen der Stammes- und Clanstruktur, der Anfragebeantwortung vom 19.11.2015 a-9394-1 (Informationen zur Blutrache/Blutfehden) und dem Glossar zu Blutrache und Ehrenmorde sowie den UNHCR-Richtlinien betreffend die Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19.04.2016. Der Beweiswürdigung liegen folgende maßgebende Erwägungen zu Grunde:

2.1. Zum Verfahrensgang:

Der oben angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unbedenklichen und unzweifelhaften Akteninhalt des vorgelegten Verwaltungsaktes des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl und des Gerichtsaktes des Bundesverwaltungsgerichtes.

2.2. Zum Beschwerdeführer:

Die Feststellungen zur Staats- und Volksgruppenangehörigkeit des Beschwerdeführers und seiner Ausreise gründen sich auf dessen diesbezüglichen glaubhaften Angaben. Der erkennende Richter hat keine Veranlassung, an diesen - im gesamten Verfahren gleich gebliebenen und sich mit den Länderberichten zu Afghanistan deckenden - Aussagen des Beschwerdeführers zu zweifeln.

Die Feststellungen zur Identität des Beschwerdeführers ergeben sich aus seinen Angaben vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl sowie im Beschwerdeverfahren. Die Feststellung zum Geburtsdatum des Beschwerdeführers stützt sich auf das unbedenkliche medizinische Sachverständigengutachten vom XXXX (AS 81 ff). Daraus ergibt sich zum XXXX ein Mindestalter des Beschwerdeführers von XXXX Jahren.

Die Feststellung, dass der Beschwerdeführer sunnitischer Moslem ist, ergibt sich aus seinen diesbezüglichen unbedenklichen Angaben vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl sowie im Beschwerdeverfahren. Gleiches gilt für die Feststellung, dass der Beschwerdeführer kinderlos und ledig sowie seine Muttersprache Paschtu ist.

Dass der Beschwerdeführer gesund und arbeitsfähig ist, ergibt sich aus seinen diesbezüglich gleichbleibenden und glaubhaften Angaben. Betreffend seine Arbeitsfähigkeit ist außerdem auf die vorgelegten unbedenklichen Unterlagen, insbesondere die Arbeitsbestätigung der Pizzeria XXXX in XXXX , zu verweisen.

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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