TE Bvwg Erkenntnis 2018/8/31 G314 2199771-1

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Veröffentlicht am 31.08.2018
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Entscheidungsdatum

31.08.2018

Norm

AsylG 2005 §54 Abs1 Z1
AsylG 2005 §55 Abs1
AsylG 2005 §58 Abs2
B-VG Art.133 Abs4

Spruch

G314 2199771-1/7E

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag.a Katharina BAUMGARTNER über die Beschwerde der XXXX, geboren am XXXX, Staatsangehörigkeit: Bosnien und Herzegowina, vertreten durch die ARGE Rechtsberatung (Diakonie Flüchtlingsdienst gemeinnützige GmbH und Volkshilfe Flüchtlings- und MigrantInnenbetreuung GmbH), gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 28.05.2018,Zl. XXXX, zu Recht:

A) Der Beschwerde wird Folge gegeben und der angefochtene Bescheid

wie folgt abgeändert: "Der Beschwerdeführerin wird gemäß §§ 55 Abs 1 und 58 Abs 2 AsylG eine "Aufenthaltsberechtigung plus" iSd § 54 Abs 1 Z 1 AsylG erteilt."

B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

Verfahrensgang:

Die Beschwerdeführerin (BF) stellte am 29.03.2018 einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Artikel 8 EMRK.

Mit dem oben genannten Bescheid wurde dieser Antrag vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) gemäß § 55 AsylG abgewiesen und gemäß § 10 Abs 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG gegen die BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs 3 FPG erlassen (Spruchpunkt I.), gemäß § 52 Abs 9 FPG festgestellt, dass ihre Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Bosnien und Herzegowina zulässig sei (Spruchpunkt II.), und gemäß § 55 Abs 1 bis 3 FPG eine 14-tägige Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt (Spruchpunkt III.). Die Entscheidung wurde im Wesentlichen damit begründet, dass die BF in Österreich kein schützenswertes Familienleben und lediglich soziale und freundschaftliche Kontakte, die nicht über ein übliches Maß hinausgingen, habe. Ihr privates Interesse an einem Verbleib im Bundesgebiet werde dadurch gemindert, dass sie nach dem Ablauf ihres Aufenthaltstitels in Österreich verblieben sei und dadurch die öffentliche Ordnung, insbesondere das Interesse an einer geordneten Zuwanderung, gefährde.

Dagegen richtet sich die Beschwerde der BF mit den Anträgen, eine mündliche Verhandlung durchzuführen und ihr in Stattgebung der Beschwerde den beantragten Aufenthaltstitel zu erteilen und die Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig zu erklären, in eventu, den angefochtenen Bescheid zu beheben und die Angelegenheit an das BFA zurückzuverweisen.

Die Beschwerde und die Akten des Verwaltungsverfahrens wurden dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) vorgelegt, wo sie am 03.07.2018 einlangten.

Mit Schreiben vom 24.07.2018 gab die BF auftragsgemäß die persönlichen Daten ihres Lebensgefährten bekannt.

Feststellungen:

Die XXXX geborene BF ist bosnisch-herzegowinische Staatsangehörige. Sie ist ledig und kinderlos. Sie wuchs in Bosnien und Herzegowina auf, absolvierte dort die Schule und anschließend an der Universität in XXXX das Studium "Hemijska technologija" (Technische Chemie), das sie mit dem bosnischen akademischen Grad "Bakalaureat/Bachelor inženjer hemije" abschloss. Während des Studiums erhielt die BF ein Stipendium, arbeitete nebenbei und wurde von ihren Eltern finanziell unterstützt. Zuletzt wohnte sie alleine in Sarajevo.

Die Eltern der BF leben nach wie vor in Bosnien und Herzegowina, im Elternhaus der BF. Der Bruder der BF lebt in Deutschland. Die BF hat Verwandte (Onkel, Tante und zwei Cousins) in Österreich. Der jüngere Cousin der BF ist österreichischer Staatsbürger. Die BF hat regelmäßig Kontakt mit ihren in Österreich lebenden Verwandten.

Die BF kam im Juli 2012 nach Österreich, um einen Masterabschluss in Chemie zu erlangen. Seither hält sie sich - abgesehen von regelmäßigen Besuchen bei ihren Eltern in Bosnien und Herzegowina - kontinuierlich in Österreich auf. Seit 17.07.2012 verfügt sie durchgehend über Hauptwohnsitzmeldungen im Bundesgebiet. Davor war sie von 20.02. bis 04.04.2012 war sie mit Nebenwohnsitz im Bundesgebiet gemeldet.

Aufgrund ihres Antrags vom 10.08.2012 wurde der BF erstmals eine Aufenthaltsbewilligung "Studierende" mit einer Gültigkeitsdauer von XXXX.2012 bis XXXX.2013 erteilt, die in der Folge mehrfach verlängert wurde, zuletzt bis 15.03.2018. Seither verfügt sie nicht mehr über einen Aufenthaltstitel.

Die BF hat die allgemeine Universitätsreife. Sie wurde am XXXX.2012 zum Masterstudium "Chemie" an der XXXX unter der Auflage zugelassen, bis zum Sommersemester 2014 die Ergänzungsprüfung für den Nachweis der Kenntnis der deutschen Sprache abzulegen. Von September 2012 bis September 2013 besuchte sie daraufhin den Vorstudienlehrgang der XXXX Universitäten, wo sie am 02.07.2013 die Ergänzungsprüfung "Deutsch" mit der Beurteilung "Gut" ablegte.

Ab Oktober 2013 studierte die BF an der XXXX Chemie im Masterstudium. Bislang hat sie dieses Studium nicht abgeschlossen. Sie strebt den Abschluss des Masterstudiums inzwischen auch nicht mehr an. Zwischen Februar 2015 und April 2016 war sie als studentische Projektmitarbeiterin am Institut für XXXX der XXXX angestellt und hielt sich im Rahmen dieser Tätigkeit von XXXX. bis XXXX.2015 für ein Forschungsprojekt an einer argentinischen Universität auf.

Mit Bescheid des Bundesministers für Wissenschaft und Forschung vom 26.08.2013 wurde der bosnische akademische Grad der BF mit dem österreichischen akademischen Grad "Bachelor of Science", abgekürzt "BSc", aufgrund eines Bachelorstudiums der Technischen Chemie, als voll gleichwertig anerkannt.

Die BF verfügt über sehr gute Kenntnisse der deutschen Sprache, die zumindest dem Sprachniveau B2 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen ("Selbständige Sprachverwendung") entsprechen.

Die BF ist gesund und arbeitsfähig. Vor ihrer Tätigkeit an der XXXX war sie von 10.06.2013 bis 07.02.2015 bei verschiedenen Arbeitgebern - zum Teil mehrfach - geringfügig beschäftigt. Nach dem Ende der Beschäftigung an der XXXX bezog sie von Mai bis September 2016 Arbeitslosengeld, danach bis Ende Mai 2017 und wieder von Juli bis September 2017 Notstands- bzw. Überbrückungshilfe. Zwischen Jänner und Mai 2017 bestand eine geringfügige Beschäftigung, im Juni 2016 eine Pflichtversicherung gemäß § 4 Abs 4 ASVG. Zwischen Oktober 2012 und Juli 2013, im September 2013 und im Jänner 2015 verfügte die BF aufgrund einer Selbstversicherung gemäß § 16 Abs 2 ASVG über eine Krankenversicherung.

Seit Anfang September 2017 steht die BF in einem vollversicherten Beschäftigungsverhältnis als Projektassistentin bei "XXXX". Eine Beschäftigungsbewilligung für diese Tätigkeit wurde für den Zeitraum 04.09.2017 bis 03.09.2018 erteilt. Ihr Arbeitgeber beabsichtigt, sie ab September 2018 weiter zu beschäftigen. Seit Jänner 2018 bezieht die BF ein monatliches Nettoeinkommen von ca. EUR 1.100 (14 Mal jährlich; Beschäftigungsausmaß 30 Wochenstunden).

Die BF führt in Österreich eine Beziehung mit einem irakischen Staatsangehörigen, der sich als Asylwerber im Bundesgebiet aufhält. Sein Antrag auf internationalen Schutz wurde mit Bescheid vom 18.05.2018 abgewiesen und eine Rückkehrentscheidung erlassen; das Beschwerdeverfahren ist beim BVwG anhängig. Die BF lebt allein in einer kleinen Mietwohnung in XXXX; ein gemeinsamer Haushalt zwischen ihr und ihrem Freund besteht nicht. Ihre finanziellen Verhältnisse sind geordnet; es bestehen keine wesentlichen Verbindlichkeiten.

Die BF hat in Österreich einen Freundes- und Bekanntenkreis. Sie engagiert sich ehrenamtlich, beispielsweise beim Österreichischen Roten Kreuz und bei einer Flüchtlingshilfsaktion, und ist aktives Mitglied der Moscheegemeinde "XXXX". Sie besuchte in Österreich diverse Kurse und Seminare, u.a. einen Erste-Hilfe-Kurs und eine Ausbildung zum Peer Leader zum Thema "Sexuelle Belästigung im öffentlichen Raum". Sie verfügt über eine Lenkberechtigung der Klasse B, über Kenntnisse der englischen und italienischen Sprache und über Computer-Anwenderkenntnisse (Microsoft Office, Internet, elektronische Kommunikation). Sie ist strafgerichtlich unbescholten.

Beweiswürdigung:

Der Verfahrensgang ergibt sich widerspruchsfrei aus dem Akteninhalt. Der chronologische Ablauf ist auch im Fremdenregister nachvollziehbar.

Die Feststellungen basieren auf den vorliegenden Beweismitteln, insbesondere auf den plausiblen und schlüssigen Angaben der BF in ihrem verfahrenseinleitenden Antrag, bei ihrer Einvernahme vor dem BFA am 15.05.2018 und in der Beschwerde sowie auf den von ihr vorgelegten Dokumenten. Es liegen kaum entscheidungserhebliche Widersprüche vor.

Die Feststellungen zur Identität sowie zu den persönlichen und familiären Verhältnissen der BF beruhen auf ihren konsistenten Angaben dazu. Ihre Identität wird auch durch den dem BFA vorgelegten Reisepass und die Geburtsurkunde belegt. Die BF gab an, ledig zu sein und keine Sorgepflichten zu haben. Ihre Ausbildung ergibt sich aus den Angaben dazu in ihrem Lebenslauf, die mit den übrigen Beweisergebnissen in Einklang stehen. Der in ihrem Herkunftsstaat erworbene Bachelorabschluss folgt insbesondere aus ihrer Zulassung zum Masterstudium und aus dem Bescheid des Bundesministers für Wissenschaft und Forschung vom 26.08.2013.

Die Feststellungen zu den familiären Anknüpfungspunkten der BF in Österreich sowie in Bosnien und Herzegowina basieren auf ihren Angaben gegenüber dem BFA. Die Feststellung, dass der jüngste Cousin der BF österreichischer Staatsbürger ist, konnte anhand des Zentralen Melderegisters (ZMR) getroffen werden. Als Staatsangehörigkeit des Onkels, der Tante und des älteren Cousins der BF scheint dort Bosnien und Herzegowina auf.

Die Feststellung hinsichtlich der Einreise der BF in das Bundesgebiet ergibt sich aus ihren Angaben, die durch die Wohnsitzmeldungen laut ZMR und den aktenkundigen Auszug aus dem Aufenthaltsakt untermauert werden. Aus dem Zentralen Fremdenregister ergibt sich, dass der BF seit der Erstantragsstellung im August 2012 aufgrund von Verlängerungsanträgen bis zum 15.03.2018 jeweils Aufenthaltstitel als Studierende erteilt wurden. Daraus ist im Zusammenhalt mit ihrer Schilderung und dem Auszug aus dem Aufenthaltsakt darauf zu schließen, dass sie in diesem Zeitraum tatsächlich studiert und den Studienerfolg (die erforderlichen ECTS-Punkte) gegenüber der Niederlassungsbehörde nachgewiesen hat.

Der Besuch des Vorstudienlehrgangs und die Ablegung der vorgeschriebenen Ergänzungsprüfung können anhand des Lebenslaufs der BF und der vorgelegten Zeugnisse festgestellt werden, die Deutschkenntnisse zumindest auf dem Sprachniveau B2 belegen. Mangels Entscheidungserheblichkeit werden keine Feststellungen zum behaupteten Sprachniveau C1 getroffen, zumal nicht bekannt ist, ob die Ergänzungsprüfung auch schon 2013 Deutschkenntnisse auf diesem Sprachniveau voraussetzte. Aus diversen Unterstützungsschreiben ergeben sich ebenfalls fortgeschrittene und sich laufend weiter verbessernde Deutschkenntnisse der BF, die auch dadurch untermauert werden, dass ihre Einvernahme vor dem BFA problemlos auf Deutsch, ohne Beiziehung eines Dolmetschers, geführt wurde.

Die Feststellung, dass die BF den Abschluss des Masterstudiums nicht mehr anstrebt, ergibt sich daraus, dass sie zuletzt mangels eines entsprechenden Studienerfolgs keine weitere Verlängerung ihrer Aufenthaltsbewilligung beantragte, einer Beschäftigung in einem gänzlich anderen Bereich nachging, die sie auch fortsetzen möchte, und gegenüber dem BFA erklärte, sie müsse aufgrund einer irrtümlich falschen Anmeldung wieder von vorne anfangen, was sie aber nicht mehr möchte; aufgrund der Anerkennung ihres Bachelors benötige sie nicht wirklich einen Master. Dem davon abweichenden Beschwerdevorbringen kann mangels entsprechender Beweisergebnisse (z.B. Nachweis der Anmeldung zum Studium oder des zuletzt erzielten Studienerfolgs) nicht gefolgt werden.

Die Erwerbstätigkeit der BF im Bundesgebiet sowie die Zeiten des Bezugs von Arbeitslosengeld, Notstands- bzw. Überbrückungshilfe und der Selbstversicherung ergeben sich aus dem Versicherungsdatenauszug. Das Beschwerdevorbringen, aus dem Versicherungsdatenauszug ginge der Bezug von Arbeitslosengeld oder Notstandshilfe nicht hervor, ist aktenwidrig.

Die Anstellung der BF bei der XXXX ist ebenfalls im Versicherungsdatenauszug dokumentiert, ergibt sich aber auch aus dem Lebenslauf der BF und aus dem aktenkundigen Schreiben von ao. XXXX

Der im Lebenslauf der BF erwähnte Forschungsaufenthalt in Argentinien wird auch durch das (in englische Sprache vorgelegte) Schreiben vom 07.09.2015 belegt.

Aus dem Umstand, dass die BF einen nostrifizierten Bachelor-Abschluss der Universität XXXX hat und an der XXXX zum (ordentlichen) Master-Studium zugelassen wurde, ergibt sich in Zusammenschau mit der abgelegten Ergänzungsprüfung für den Nachweis der deutschen Sprache im Vorstudienlehrgang, dass sie die allgemeine Universitätsreife hat.

Der aktuelle Arbeitsvertrag der BF, Einkommensnachweise, die Beschäftigungsbewilligung und ein Schreiben, aus dem die beabsichtigte Weiterbeschäftigung bei ihrem letzten Arbeitgeber hervorgeht, wurden vorgelegt, ebenso der Mietvertrag der BF. Der Umstand, dass sie in geordneten finanziellen Verhältnissen lebt, kann aufgrund ihres regelmäßigen Erwerbseinkommens und der KSV-Auskunft, in der keine Verbindlichkeiten aufscheinen, festgestellt werden.

Die Feststellungen zur Beziehung der BF werden anhand ihrer Angaben in der Beschwerde und im Schreiben vom 24.07.2018 in Zusammenschau mit den eingeholten Registerauszügen getroffen. Die Angaben zum Stand des Asylverfahrens des Freundes der BF ergeben sich aus dem Zentralen Fremdenregister. Der Umstand, dass kein gemeinsamer Wohnsitz besteht, ergibt sich aus den Wohnsitzmeldungen an unterschiedlichen Anschriften laut ZMR und wird durch den vorgelegten Mietvertrag (BF als alleinige Mieterin; Wohnungsgröße nur 23 m2) untermauert.

Es gibt keine Indizien für gesundheitliche Probleme der BF. Da sie immer wieder erwerbstätig war und auch weiterhin eine Beschäftigung anstrebt, wie sich aus der vorgelegten Einstellungszusage vom 12.03.2018 und ihrem Vorbringen in der Beschwerde ergibt, ist davon auszugehen, dass ihre Arbeitsfähigkeit nicht eingeschränkt ist, zumal sie in einem erwerbsfähigen Alter ist.

Die Feststellung, dass die BF Freunde und Bekannte in Österreich hat, basiert auf den vorgelegten Unterstützungsschreiben. Auch die Dauer ihres Aufenthalts, das Studium und ihre Beschäftigungsverhältnisse in verschiedenen Branchen sprechen dafür, dass sie hier mittlerweile soziale Kontakte geknüpft hat.

Die BF legte diverse urkundliche Nachweise für ihr ehrenamtliches Engagement, das auch aus mehreren Unterstützungsschreiben hervorgeht, und für die in Österreich absolvierten Kurse und Ausbildungen vor. In ihrem Lebenslauf gibt sie - aufgrund ihrer Ausbildung und ihrer Berufserfahrung glaubhaft und nachvollziehbar - weitere Kenntnisse und Fertigkeiten (Führerschein, Sprach- und Computerkenntnisse) an. Aus dem aktuellen Strafregisterauszug ergibt sich, dass sie strafrechtlich unbescholten ist.

Rechtliche Beurteilung:

Zu Spruchteil A):

Die BF ist Staatsangehöriger von Bosnien und Herzegowina und somit Drittstaatsangehörige iSd § 2 Abs 4 Z 10 FPG.

Gemäß § 55 Abs 1 AsylG ist im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine "Aufenthaltsberechtigung plus" zu erteilen, wenn dies gemäß § 9 Abs 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art 8 EMRK geboten ist (Z 1) und der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübt, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze (§ 5 Abs 2 ASVG) erreicht wird (Z 2). Liegt nur die Voraussetzung des § 55 Abs 1 Z 1 AsylG vor, ist gemäß § 55 Abs 2 AsylG eine "Aufenthaltsberechtigung" zu erteilen.

Gemäß § 9 Abs 4 Z 3 Integrationsgesetz (IntG) ist das Modul 1 der Integrationsvereinbarung ua dann erfüllt, wenn der Drittstaatsangehörige über einen Schulabschluss verfügt, der der allgemeinen Universitätsreife im Sinne des § 64 Abs 1 UG oder einem Abschluss einer berufsbildenden mittleren Schule entspricht.

Eine "Aufenthaltsberechtigung plus" berechtigt gemäß § 54 Abs 1 Z 1 AsylG zu einem Aufenthalt im Bundesgebiet und zur Ausübung einer selbständigen und unselbständigen Erwerbstätigkeit gemäß § 17 Ausländerbeschäftigungsgesetz (AuslBG). Eine "Aufenthaltsberechtigung" berechtigt gemäß § 54 Abs 1 Z 2 AsylG zu einem Aufenthalt im Bundesgebiet und zur Ausübung einer selbständigen und einer unselbständigen Erwerbstätigkeit, für die eine entsprechende Berechtigung nach dem AuslBG Voraussetzung ist.

§ 58 AsylG regelt das Verfahren zur Erteilung von Aufenthaltstiteln gemäß §§ 55 ff AsylG.

Gemäß Art 8 Abs 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Gemäß Art 8 Abs 2 EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

Gemäß § 9 Abs 1 BFA-VG ist die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, durch die in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen wird, zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art 8 Abs 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist. Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art 8 EMRK sind gemäß § 9 Abs 2 BFA-VG insbesondere die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war (Z 1), das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens (Z 2), die Schutzwürdigkeit des Privatlebens (Z 3), der Grad der Integration (Z 4), die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden (Z 5), die strafgerichtliche Unbescholtenheit (Z 6), Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts (Z 7), die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren (Z 8) und die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist (Z 9), zu berücksichtigen. Gemäß § 9 Abs 3 BFA-VG ist über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§ 45 oder §§ 51 ff NAG) verfügen, unzulässig wäre.

Bei Beurteilung der Frage, ob die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens iSd Art 8 EMRK geboten ist, ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalls eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an der Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen.

Die Aufenthaltsdauer stellt dabei nur eines von mehreren im Zuge der Interessenabwägung zu berücksichtigenden Kriterien dar, weshalb nicht gesagt werden kann, dass bei Unterschreiten einer bestimmten Mindestdauer des Aufenthalts in Österreich jedenfalls von einem deutlichen Überwiegen der öffentlichen Interessen an der Beendigung des Aufenthalts im Bundesgebiet gegenüber den gegenteiligen privaten Interessen auszugehen ist. Einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren kommt für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die durchzuführende Interessenabwägung zu (VwGH 30.08.2017, Ra 2017/18/0070). Bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt eines Fremden ist regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen. Nur dann, wenn er die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, sind Aufenthaltsbeendigungen ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig anzusehen (VwGH 23.02.2017, Ra 2016/21/0325).

Die Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Sachverhalt ergibt Folgendes:

Die BF lebt seit Juli 2012 durchgehend in Österreich. Davon war ihr Aufenthalt mehr als fünf Jahre lang aufgrund der ihr erteilten Aufenthaltsbewilligungen rechtmäßig; zuletzt hielt sie sich mehrere Monate lang nicht rechtmäßig im Bundesgebiet auf.

Das Interesse der BF an einem Verbleib in Österreich wird dadurch gemindert, dass sie keine Veranlassung hatte, nach Ablauf des zuletzt gültigen Aufenthaltstitels von einer Berechtigung zu einem weiteren bzw. dauernden Aufenthalt auszugehen und dass ihr Privatleben im Bundesgebiet zu einem Zeitpunkt entstand, in dem sie sich ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst war bzw. nur über einen befristeten Aufenthaltstitel verfügte. Dies hat aber vor dem Hintergrund der gebotenen Gesamtbetrachtung nicht zur Konsequenz, dass der während ihres Aufenthalts erlangten Integration überhaupt kein Gewicht beizumessen ist und ein solcherart begründetes privates und familiäres Interesse nie zur Unzulässigkeit einer Aufenthaltsbeendigung führen kann (vgl VwGH 23.02.2017, Ra 2016/21/0325 mwN).

Bis auf den nicht rechtmäßigen Aufenthalt seit Mitte März 2018 sind der BF keine Verstöße gegen die öffentliche Ordnung anzulasten. Der Erwerb von fortgeschrittenen Deutschkenntnissen, das Studium und die Forschungstätigkeit an der XXXX, diverse andere legale Beschäftigungsverhältnisse, ihr Freundes- und Bekanntenkreis im Bundesgebiet, die Kontakte zu hier lebenden (entfernteren) Verwandten, ihr freiwilliges Engagement und die von ihr hier absolvierten Kurse und erworbenen Fähigkeiten sprechen aber dafür, dass die BF die in Österreich verbrachte Zeit nachhaltig zur sprachlichen, sozialen und beruflichen Integration genutzt hat. Sie hat daher ein starkes privates Interesse an einem Verbleib in Österreich.

Die BF verfügt über einen in Österreich anerkannten tertiären Bildungsabschluss einer technischen Fachrichtung und über weitere, am Arbeitsmarkt verwertbare Kenntnisse und Fertigkeiten. Sie beabsichtigt, auch in Zukunft wieder einer Erwerbstätigkeit als Projektassistentin bei ihrem letzten Arbeitgeber nachzugehen; eine entsprechende Einstellungszusage wurde vorgelegt. Es ist daher - trotz des zwischenzeitigen Bezugs von Arbeitslosengeld und Notstandshilfe in der Vergangenheit - von ihrer künftigen Selbsterhaltungsfähigkeit auszugehen, zumal sie schon bisher neben dem Studium immer wieder erwerbstätig war. Sie verfügt auch über eine gesicherte Unterkunft.

Der Beziehung der BF zu ihrem Freund kommt demgegenüber keine für ihre Integration wesentliche Bedeutung zu, zumal kein gemeinsamer Haushalt besteht, der Freund der BF nicht zum dauerhaften Aufenthalt in Österreich berechtigt ist und die Beziehung in Kenntnis des unsicheren Aufenthaltsstatus begründet wurde.

Obwohl noch starke Bindungen der BF zu ihrem Herkunftsstaat bestehen, weil sie dort aufgewachsen ist, die Schule besucht und ein Studium absolviert hat, eine übliche Sprache spricht und ihre Eltern nach wie vor dort leben, werden diese dadurch relativiert, dass sie sich seit mehreren Jahren nur noch zu Besuchszwecken in ihrem Herkunftsstaat aufgehalten hat.

Entscheidungswesentliche, der Behörde anzulastende überlange Verfahrensverzögerungen liegen nicht vor.

Der seit 16.03.2018 unrechtmäßige Aufenthalt der BF fällt vor dem Hintergrund ihres zuvor langjährig rechtmäßigen Aufenthalts in verknüpfter Betrachtung mit ihren Integrationsbemühungen, dem nostrifizierten Bachelor-Abschluss und ihren in Österreich bestehenden sozialen und beruflichen Verbindungen nicht so schwer ins Gewicht, dass er die Erlassung einer Rückkehrentscheidung rechtfertigt. In strafrechtlicher Hinsicht hat sich die BF nichts zuschulden kommen lassen. Im Ergebnis überwiegt somit ihr Interesse an einem Verbleib in Bundesgebiet das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung.

Das BVwG verkennt bei der vorzunehmenden Interessensabwägung nicht, dass dem Schutz der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, insbesondere der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Vorschriften, grundsätzlich ein hoher Stellenwert zukommt, doch ist in diesem konkreten Einzelfall in einer Gesamtschau und in einer gewichteten Abwägung aller Umstände das Interesse an der Fortführung des Privatlebens der BF in Österreich höher zu bewerten als das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung.

Gemäß § 55 Abs 1 Z 2 erster Fall AsylG ist die Erteilung einer "Aufenthaltsberechtigung plus" nur möglich, wenn der im Bundesgebiet aufhältige Drittstaatsangehörige im Entscheidungszeitraum das Modul 1 der Integrationsvereinbarung bereits erfüllt hat. Diese Voraussetzung liegt hier vor, weil sich aus dem in Österreich anerkannten Bachelor-Grad der BF jedenfalls ergibt, dass sie über einen Schulabschluss verfügt, der zum Besuch einer Universität berechtigt (§ 9 Abs 4 Z 3 IntG).

Der BF ist daher in Stattgebung der Beschwerde eine "Aufenthaltsberechtigung plus" gemäß § 54 Abs 1 Z 1 AsylG iVm § 55 Abs 1 AsylG zu erteilen. Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheids ist insoweit abzuändern, Spruchpunkt II. und III. haben als Folge dieser Entscheidung ersatzlos zu entfallen.

Da der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt werden konnte, unterbleibt eine Beschwerdeverhandlung gemäß § 21 Abs 7 BFA-VG, zumal davon keine weitere Klärung dieser Angelegenheit zu erwarten ist.

Zu Spruchteil B):

Die Revision nach Art 133 Abs 4 B-VG war nicht zuzulassen, weil es sich bei der Interessenabwägung gemäß Art 8 EMRK um eine typische Einzelfallbeurteilung handelt. Es waren keine erheblichen, über den Einzelfall hinausreichenden Rechtsfragen zu lösen.

Schlagworte

Aufenthaltsberechtigung plus, Ausbildung, Deutschkenntnisse,
Integrationsvereinbarung, Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig,
Studienabschluss, Studium

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2018:G314.2199771.1.00

Zuletzt aktualisiert am

14.11.2018
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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