TE Bvwg Erkenntnis 2018/9/5 W237 2195583-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 05.09.2018
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Entscheidungsdatum

05.09.2018

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
BFA-VG §9
B-VG Art.133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55
VwGVG §28 Abs2

Spruch

W237 2195583-1/11E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Martin WERNER über die Beschwerde der XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 23.04.2018, Zl. 1176402909-171384017, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 23.07.2018 zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird gemäß § 28 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 33/2013 idF BGBl. I Nr. 57/2018, iVm § 3 Abs. 1, 8 Abs. 1 Z 1 Asylgesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 idF BGBl. I Nr. 56/2018 (im Folgenden: AsylG 2005), § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz, BGBl. I Nr. 100/2005 idF BGBl. I Nr. 56/2018 (im Folgenden: FPG), und § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 87/2012 idF BGBl. I Nr. 56/2018 (im Folgenden: BFA-VG), § 52 Abs. 9 iVm § 46 und § 55 FPG als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Die Beschwerdeführerin reiste illegal nach Österreich ein und stellte am 12.12.2017 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Dabei gab sie an, Staatsangehörige der Russischen Föderation und muslimischen Glaubens zu sein sowie der tschetschenischen Volksgruppe anzugehören.

2. Am nächsten Tag fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung der Beschwerdeführerin statt. Dabei brachte sie vor, in Grosny geboren worden zu sein und in Tschetschenien die Grund- und Berufsschule besucht zu haben; sie habe dort als Krankenschwester gearbeitet, zuletzt sei sie jedoch Pensionistin gewesen. Ihr Sohn lebe seit dem Jahr 2003 in Österreich und besitze einen Konventionspass, in Belgien würden zwei ihrer Schwestern leben, die beide die belgische Staatsbürgerschaft hätten. Sie leide an keinen Krankheiten und könne der Einvernahme ohne Probleme folgen. Sie habe bereits vor einigen Jahren den Entschluss zur Ausreise gefasst, nach Österreich sei sie wegen ihres Sohnes gekommen. Sie sei am 09.12.2017 illegal von Tschetschenien über die Ukraine und ihr unbekannte Länder gereist, ehe sie in Österreich am 12.12.2017 angekommen sei. Zu ihren Fluchtgründen befragt führte sie an, ihr Sohn sei psychisch krank und habe sie ständig mit der Bitte angerufen, dass sie zu ihm nach Österreich kommen solle. Bei einer Rückkehr in ihre Heimat würde sie nichts befürchten.

3. Am 23.03.2018 wurde die Beschwerdeführerin vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Beisein eines Dolmetschers für die russische Sprache niederschriftlich einvernommen. Dabei erklärte sie zunächst, dass sie in nächster Zeit einige ärztliche Termine wahrzunehmen habe, sie müsse zum Psychotherapeuten, zum Psychologen und einem Internisten wegen Darm-, Herz-, Leber- und Nierenproblemen. Sie müsse Tabletten gegen ihren hohen Blutdruck und ihre Herzprobleme sowie andere Medikamente einnehmen. In Österreich sei sie bereits im Jahr 2015 gewesen; sie sei damals mit einem italienischen Visum eingereist, weil ihr Sohn gewollt habe, dass sie zu ihm komme. Er habe seit sechs oder sieben Jahren psychische Probleme wegen des Krieges. Er sei Journalist gewesen und habe sich gegen Ungerechtigkeiten eingesetzt und diese publiziert, weshalb Russen ihn mehrmals stark auf den Kopf geschlagen hätten. Er sei davon bewusstlos geworden und habe seither psychische Probleme. Ihr Sohn sei in den Jahren 2001, 2002 und 2003 auch mehrmals inhaftiert worden; einmal habe er Fotos von russischen Militärkampfmaschinen gemacht, während diese Menschen zerquetscht hätten. In Österreich sei ihr Sohn bereits seit 14 Jahren; da er auch fünf Jahre bei einer Baufirma gearbeitet habe, bekomme er nun wegen seines Zustands die Mindestsicherung. In Russland lebten ihre beiden Töchter, die bereits verheiratet seien, sowie ihr Bruder und ihre Schwester. Ihre beiden anderen Schwestern seien in Belgien und hätten die belgische Staatsbürgerschaft. Die Beschwerdeführerin stehe mit ihren Familienangehörigen in Kontakt. Seit 2007 sei sie von ihrem Ehemann geschieden, sie habe jedoch regelmäßig Kontakt zu ihm wegen der gemeinsamen Kinder. Befragt, wie ihr Alltag in Österreich aussehe, gab die Beschwerdeführerin an, dass sie so oft wie möglich ihren Sohn besuche, also drei bis vier Mal die Woche. Ihr Sohn könne nur einschlafen, wenn sie ihn besuche, dies hätten auch die Mitarbeiter der Caritas bemerkt. Er würde sie täglich 10 bis 20 Mal anrufen und fragen, wann sie zu ihm komme. Er bekomme Panikattacken, wenn er alleine sei. Ihr Sohn erhalte Beruhigungsmedikamente und benötige rund um die Uhr Pflege, sie könne als ausgebildete Krankenschwester auf ihn aufpassen. Als die Beschwerdeführerin noch in Tschetschenien gewesen sei, habe ihr Sohn sie täglich angerufen und gesagt, dass er sie brauche. Es sei nicht leicht gewesen, alles zurückzulassen, schließlich sei sie aber doch wegen ihres Sohns nach Österreich gekommen.

Auch sie habe vieles erlebt, habe jahrelang mit Bombenexplosionen leben und sich oft im Keller verstecken müssen. Ihr Sohn habe bis zu seiner Ausreise im August 2003 bei ihr im Haus gelebt, sie habe seine Ausreise unterstützt. Die Beschwerdeführerin besuche in Österreich einen Deutschkurs und wolle ihre Kenntnisse vertiefen, weshalb sie auch mit ihrem Sohn lerne, der sehr gut Deutsch spreche. In der Russischen Föderation habe die Beschwerdeführerin acht Jahre lang die Pflichtschule besucht, ehe sie eine vierjährige Ausbildung zur Krankenschwester absolviert und drei Jahre lang an einem medizinischen Institut studiert habe; das Studium habe sie aber nicht abgeschlossen. Sie habe bis zum Krieg zehn oder zwölf Jahre als Krankenschwester gearbeitet, auch danach habe sie diesen Beruf noch ausgeübt, allerdings nicht im Krankenhaus. Auf Nachfrage führte die Beschwerdeführerin an, dass sie selbst keine Probleme gehabt habe, jedoch bewaffnete Männer mehrmals bei ihr daheim gewesen seien und nach ihrem Sohn gefragt hätten, wo sich dieser aufhalte, ob er noch im Ausland und ob er nach Syrien gefahren sei. Seit dem Syrienkrieg seien drei Mal Männer in schwarzer Uniform bei ihr gewesen und hätten nach dem Verbleib ihres Sohnes gefragt. Es sei üblich, dass Hausdurchsuchungen in Tschetschenien durchgeführt würden. Sie habe bereits viel früher zu ihrem Sohn reisen wollen, ihre Visaanträge seien jedoch immer abgelehnt worden. Schließlich habe sie ein Ehepaar getroffen, das nach Österreich gefahren sei und sie sei mitgefahren. Ihr Sohn und sie bräuchten sich gegenseitig, sie könne sich ein Leben ohne ihn nicht vorstellen. Die Beschwerdeführerin habe hohen Blutdruck und Arteriosklerose, außerdem leide sie unter Schilddrüsenproblemen und Gallensteinen; sie sei auch bereits im Heimatland in medizinischer Behandlung gestanden. Zuletzt habe sie in Tschetschenien eine Pension bezogen, sie sei alt und könne nicht mehr arbeiten. Wenn sie zurück nach Tschetschenien gehe, werde sie Probleme mit den Behörden haben und man würde sie fragen, warum sie ausgereist sei und in einem anderen Land um Asyl angesucht habe.

Die Beschwerdeführerin legte in diesem Zusammenhang folgende Schreiben vor:

-

Arbeitsmedizinisches Gutachten betreffend ihren Sohn vom XXXX unter Berücksichtigung sonstiger fachärztlicher und psychologischer Gutachten: aufgrund der vorliegenden psychischen (Unruhezustände, Aufmerksamkeits- und Konzentrationsdefizite) und körperlichen (herabgesetzte allgemeine Belastbarkeit) Beeinträchtigungen bei laufender Drogenersatztherapie sei die Arbeits- und Kursfähigkeit des Sohnes von XXXX bis XXXX nicht gegeben, Diagnosen: Psychische und Verhaltensstörungen durch Opiodide, Abhängigkeitssyndrom, gegenwärtige Teilnahme an einem ärztlich überwachten Ersatzdrogenprogramm, Posttraumatische Belastungsstörung, Nikotinmissbrauch, die Fortsetzung der Betreuung beim Verein Dialog werde empfohlen;

-

Unterstützungsschreiben vom 16.02.2018;

-

Kopie der Scheidungsurkunde in russischer Sprache;

-

Kopie der Heiratsurkunde in russischer Sprache;

-

Kopie des Krankenschwesterdiploms in russischer Sprache;

-

Kopie des Inlandspasses.

4. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wies mit Bescheid vom 23.04.2018 den Antrag der Beschwerdeführerin auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 idF BGBl. I Nr. 145/2017, (Spruchpunkt I.) als auch bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 leg.cit. (Spruchpunkt II.) ab, erkannte ihr einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 leg.cit. nicht zu (Spruchpunkt III.), erließ im Sinne des § 10 Abs. 1 Z 3 leg.cit. iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 87/2012 idF BGBl. I Nr. 145/2017, eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 idF BGBl. I Nr. 145/2017, (Spruchpunkt IV.) und stellte gemäß § 52 Abs. 9 leg.cit. fest, dass ihre Abschiebung gemäß § 46 leg.cit. in die Russische Föderation zulässig sei (Spruchpunkt V.); schließlich hielt die Behörde fest, dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 leg.cit. die Frist für die freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.).

4.1. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl traf dabei umfassende herkunftsstaatsbezogene Feststellungen zur allgemeinen Lage in der Russischen Föderation, insbesondere zu Tschetschenien, und begründete die abweisende Entscheidung im Wesentlichen damit, dass die Beschwerdeführerin ausschließlich wegen ihres Sohnes nach Österreich gereist und in ihrem Heimatland keiner Gefährdung oder Verfolgung ausgesetzt gewesen sei. Die Beschwerdeführerin verfüge in ihrem Heimatland über familiäre und verwandtschaftliche Anknüpfungspunkte und finde dort auch Unterstützungs- und Unterkunftsmöglichkeiten vor. Aufgrund ihrer Schulbildung und Arbeitsfähigkeit sei ihr Lebensunterhalt gewährleistet. Alle weiteren Angehörigen würden sich in ihrem Herkunftsstaat aufhalten, in Österreich lebe nur ihr volljähriger Sohn. Es habe keine verfestigte Integration der Beschwerdeführerin festgestellt werden können, sie besuche einen Deutschkurs und befinde sich in Grundversorgung. Als einzigen Grund für die Stellung ihres Antrages habe sie geltend gemacht, dass sie ihr Heimatland wegen ihres Sohns verlassen habe und sie ihn in Österreich wegen seiner psychischen Probleme pflegen wolle. Eine Gefährdungslage für den Fall der Rückkehr sei nicht genannt worden. Die Beschwerdeführerin sei mit den kulturellen Rahmenbedingungen der Russischen Föderation vertraut, weil sie ihr ganzes Leben dort verbracht habe. Zudem verfüge sie über gute Schulbildung und viel Berufserfahrung, was ihr die Auszahlung einer Alterspension ermöglichen werde. Darüber hinaus sei davon auszugehen, dass ihre Familie sie finanziell unterstützen werde. Die Beschwerdeführerin verneinte, persönliche Bedrohungen oder Verfolgungen erlebt zu haben. Aus den Länderfeststellungen gehe auch hervor, dass für Rückgeführte in der Russischen Föderation keine Gefährdungen bestehen würden. Es wären keine Anhaltspunkte hervorgekommen, die für die Erteilung einer "Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz" sprächen.

4.2. Mit Verfahrensanordnung gemäß § 63 Abs. 2 AVG vom 23.04.2018 wurde der Beschwerdeführerin gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG der Verein Menschenrechte Österreich als Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht zur Seite gestellt. Mit Verfahrensordnung vom selben Tag wurde die Beschwerdeführerin über die Verpflichtung zur Ausreise informiert und sie darüber belehrt, dass es auch die Möglichkeit einer freiwilligen Ausreise gebe, wofür ihr der Verein Menschenrechte Österreich und die Caritas Rückkehrhilfe als Kontaktstellen genannt wurden.

5. Die Beschwerdeführerin erhob gegen den angeführten Bescheid vollinhaltlich Beschwerde, welche am 11.05.2018 beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl einlangte. Darin führte sie zur Lage der Volksgruppe der Tschetschenen aus, dass aus dem Jahresbericht von Amnesty International, Berichtszeitraum 2017/2018, zu entnehmen sei, dass sich die Lage in Tschetschenien weiterhin verschlechtert habe und es im Nordkaukasus zu schweren Menschenrechtsverletzungen komme. Auch das US Department of State habe in seinem Länderbericht zur Russischen Föderation vom 20.04.2018 berichtet, dass es im Zeitraum 2017 im Nordkaukasus aufgrund von Konflikten zwischen der Regierung und islamistischen Kämpfern zu schweren Menschenrechtsverletzungen wie Folter, physischer Gewalt und politisch motivierten Entführungen gekommen sei. Familienmitglieder seien regelmäßig bestraft worden, wenn ihre Verwandten eines Vergehens oder Verbrechens beschuldigt worden seien. Darüber hinaus sei Gewalt gegen Frauen in der Region ein zentrales Thema und stelle sich die Situation für Frauen im Allgemeinen sehr schwierig dar. Die Behörde verkenne, dass mehrmals bewaffnete Männer zur Beschwerdeführerin nach Hause gekommen seien und nach dem Verbleib ihres Sohnes gefragt hätten. Die Behörde habe es unterlassen, die Beschwerdeführerin zu diesem Vorfall genauer zu befragen und in der Beweiswürdigung darauf einzugehen. Die Beschwerdeführerin sei von diesen Männern bedroht worden und habe Angst vor Verfolgung durch diese Männer. Aus den Länderfeststellungen ergebe sich, dass die Lage der alleinstehenden Frauen in Tschetschenien sehr problematisch sei. Die Beschwerdeführerin habe stets am Verfahren mitgewirkt und alle an sie gestellten Fragen umfassend beantwortet. Die Behörde hätte daher zum Schluss kommen müssen, dass der Beschwerdeführerin der Status der Asylberechtigten, jedenfalls aber der Status einer subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation zuerkannt werde.

6. Die gegenständliche Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt wurden vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vorgelegt und sind am 17.05.2018 beim Bundesverwaltungsgericht eingelangt.

6.1. Mit Schreiben vom 19.06.2018 wurden die Beschwerdeführerin und das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zu einer mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 23.07.2018 unter gleichzeitiger Übermittlung der aktuellen Länderberichte zur Lage in der Russischen Föderation, insbesondere Tschetschenien, geladen.

6.2. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 23.07.2018 in Anwesenheit einer Dolmetscherin für die russische Sprache und im Beisein des Rechtsvertreters der Beschwerdeführerin eine öffentliche mündliche Verhandlung durch. Der Niederschrift dieser Verhandlung sind folgende entscheidungswesentliche Passagen zu entnehmen:

"[...]

R: Wie geht es Ihnen gesundheitlich (sowohl in psychischer als auch in physischer Hinsicht [die Begriffe werden mit dem BF abgeklärt, sodass ihm diese geläufig sind]): Sind Sie insbesondere in ärztlicher Behandlung, befinden Sie sich in Therapie, nehmen Sie Medikamente ein?

BF: Ja. Ich habe einen zu hohen Blutdruck. Mein Arzt hat mir gesagt, dass das aufgrund der psychischen Anspannung und meiner angespannten Nerven so ist. Ich befinde mich auch in ärztlicher Behandlung und besuche eine Psychotherapie. Ich habe diesbezüglich eine Bestätigung.

BF legt ein Schreiben der CARITAS vor, das in Kopie als Anlage ./A zum Akt genommen wird.

R: Wie oft besuchen Sie die Psychotherapie?

BF: Alle 10 Tage für jeweils eine Stunde. Mein Psychiater hat mir gesagt, dass ich unter ärztlicher Supervision bleiben soll. Ich bin froh, dass ich mich noch auf den Beinen halten kann mit dem, was wir alles mitgemacht haben, und dem, was jetzt passiert.

R: Das heißt, Sie leiden unter Bluthochdruck und einem psychischen Leiden. Gibt es noch andere gesundheitliche Probleme?

BF: Nun, in meinem Alter gibt es schon noch andere Probleme, unter denen ich leide, zum Beispiel mit dem Herz und der Leber. Auf Nachfrage gebe ich an, Medikamente wegen meines Blutdrucks und Herz-Medikamente zu nehmen. Weiters habe ich Steine in der Gallenblase. Die Ärzte haben mir allerdings gesagt, dass halb Österreich mit solchen Steinen unterwegs ist.

R: Nehmen Sie deswegen auch Medikamente?

BF: Wenn ich eine Kolik bekomme, soll ich etwas einnehmen.

R: Leben Sie in Österreich alleine oder mit jemandem zusammen?

BF: Derzeit lebe ich in einer Pension in XXXX in Niederösterreich. Ich wurde dorthin von Traiskirchen überstellt. Mein Sohn lebt in Wien. Ich bemühe mich, ihn so oft wie möglich zu besuchen. Er lebt in einer Unterkunft XXXX . Dort gibt es ein Büro. Die Leute, die dieses leiten, wissen, in welchem Zustand sich mein Sohn befindet. Die Leute haben bemerkt, dass, wenn ich mich 2-3 Tage bei ihm befinde, er ruhiger wird. Er hat nächtliche Panikattacken.

R: Haben Sie in Österreich oder in anderen Staaten außerhalb Ihres Herkunftsstaats noch Verwandte?

BF: Wie gesagt, mein Sohn lebt da. In Belgien leben meine beiden Schwestern. Sie haben bereits die belgische Staatsbürgerschaft und sind während des Krieges ausgereist.

R: Gibt es noch andere Verwandte außerhalb Russlands?

BF: Nein.

R: Seit wann befindet sich ihr Sohn in Österreich?

BF: Er ist 2003 ausgereist. Er war damals in Gefahr und musste deswegen wegfahren.

R: Kam er sofort nach Österreich?

BF: Genau kann ich es nicht sagen. Er war, glaube ich, zuerst in Tschechien, dann in Deutschland, so genau weiß ich es nicht. Aber ich weiß, dass er seinen Asylantrag zuerst in Österreich gestellt hat.

R: Haben Sie in Ihrem Herkunftsstaat noch Verwandte?

BF: In Tschetschenien habe ich Verwandte. Und zwar einen Bruder und eine Schwester. Es sind Halbgeschwister. Wir haben den gleichen Vater, aber eine andere Mutter. Zwei Töchter von mir leben auch dort. Sie sind verheiratet, leben in Russland, aber nicht in Tschetschenien.

R: Wo leben denn die beiden Töchter?

BF: Sie leben beide im Gebiet Wolgograd in der Ortschaft XXXX .

R: Beide haben eine eigene Familie?

BF: Eine hat Kinder, die andere nicht. Sie haben geheiratet und wohnen in der Nähe voneinander. Bei uns daheim gibt es keine Arbeit. Ihre Männer hatten zudem Probleme in Tschetschenien, weshalb sie beschlossen, Tschetschenien zu verlassen.

R: Wo leben denn Ihr Bruder und Ihre Schwester?

BF: Sie leben beide in Tschetschenien in einem Dorf.

R: Wie heißt das Dorf?

BF: XXXX .

R: Haben Sie zu diesen noch Kontakt?

BF: Ich habe mich vor 10 Jahren vom Vater meiner Kinder scheiden lassen. Er lebt in XXXX . Sein Vater ist gelähmt und er kümmert sich um ihn.

R: Haben Sie zu allen Ihren Familienmitgliedern telefonischen Kontakt?

BF: Ja, aber selten, aber ich habe jedenfalls Kontakt mit dem Vater meiner Kinder. Das soll so sein aufgrund unserer Gebräuche. Ich telefoniere ungefähr einmal in der Woche mit ihm.

R: Sprechen Sie deutsch? Haben Sie ein Deutschzeugnis?

BF: Bei uns in der Pension gibt es Deutschkurse, aber da wir Russisch sprechen, bekommen wir keine anderen Kurse. Aus welchem Grund auch immer. Ich bemühe mich, selbst Deutsch zu lernen. Ich gehe hin und bemühe mich, so gut es geht.

R: (ohne Dolmetscher) Was haben Sie gestern gemacht?

BF versteht die Frage nicht.

BF: Wir machen nur grundlegende Sachen im Kurs. Ich versuche, auch mit meinem Sohn zu lernen. Ich habe um einen Kurs in XXXX gebeten, habe aber keinen bekommen.

R: Sind Sie selbsterhaltungsfähig (Frage wird erklärt)?

BF: Nein. Ich lebe in der Pension. Wenn ich die Möglichkeit hätte, würde ich durchaus etwas tun, um nicht verrückt zu werden. Tschetschenen sind ein fleißiges Volk.

R: Wie bestreiten Sie Ihren Lebensunterhalt in Österreich?

BF: Ich bekomme 40,- € pro Monat und das Essen. Wenn ich zu meinem Sohn fahre, dann nehme ich die Lebensmittel mit, die wir dort bekommen. Mein Sohn bezieht eine Pension. Wir bemühen uns, zusammenzuhalten. Meine Hilfe besteht darin, dass ich meinen Sohn bei der XXXX besuche. Die Leute im Büro haben gemerkt, dass es meinem Sohn durch meine Besuche bessergeht. Wir haben Geld für eine Wohnung für meinen Sohn gesammelt. In der Pension bekommen wir alle sechs Monate 800,- €. Wir haben gespart, schon 1500,- € auf die Seite gelegt und ich möchte, dass mein Sohn einmal eine Gemeindewohnung bezieht. Wissen Sie, er ist in so einem Zustand, dass er das Geld zum Beispiel verschenkt. Ich habe einen guten Einfluss auf ihn. Er schläft in der Nacht praktisch gar nicht. Und dann koche ich für ihn und gebe ihm Arzneimittel. Er wird dann ruhiger. Er braucht mich und ich brauche ihn.

R: Haben Sie versucht (sei es erfolgreich oder erfolglos) Ihre Selbsterhaltungsfähigkeit herzustellen?

BF: Dort, wo ich jetzt lebe, geht das nicht. Ich kann von dort nicht wegfahren - nicht nach Wien und nicht wo anders hin. Dort gibt es keine Arbeit. Ich hätte mich auch bemüht. Ich habe im medizinischen Bereich gearbeitet, deswegen kann ich meinem Sohn auch gut helfen.

R: Wie würden Sie Ihren Lebensunterhalt in Österreich bestreiten, wenn Sie ein Aufenthaltsrecht bekämen?

BF: Ich könnte als Krankenschwester arbeiten und kann eigentlich jede Arbeit annehmen. Ich werde Österreich auch Steuern zahlen, wenn Sie mich bei meinem Sohn lassen, mache ich das. Ich werde um kein Geld bitten. Generell möchte ich sagen, dass ich so dankbar bin, dass Österreich meinen Sohn aufgenommen hat und behandelt. Ich habe nur diesen einen Sohn.

R: Haben Sie Ausbildungen in Österreich absolviert?

BF: Ich würde gerne Ausbildungen oder Kurse besuchen, aber so etwas wird mir nicht angeboten. Einmal in der Woche findet in der Pension ein Deutsch-Kurs statt, den ich auch besuche. Ich lerne dort viel und schreibe mir auch alles auf. Ich werde jedenfalls Deutsch lernen.

R: Wie nehmen Sie am sozialen Leben in Österreich teil (Mitgliedschaft bei Vereinen, Organisationen, ehrenamtliches Engagement, etc.)?

BF: Ich kenne eine Österreicherin. Sie hat mir auch ein Schreiben gegeben. Ich bemühe mich, so gut es geht, mit Österreichern zu sprechen. Mein Sohn hat eigentlich nur mit den Österreichern Kontakt. Er hat auch eine österreichische Freundin.

BF legt ein Empfehlungsschreiben vor, dass in Kopie als Anlage ./B zum Akt genommen wird.

R: Wer ist denn Frau XXXX ?

BF: Wir reden oft miteinander. Ich kann Ihnen auch ihre Telefonnummer geben.

R: Wie kann ich mir das vorstellen?

BF: Sie ist eine Zeugin Jehovas und wir sind im ständigen Kontakt. Ich lerne über Gott Jahwe. Wir stehen seit ca. einem Jahr in Kontakt.

R: Hatten Sie mit Ihr schon Kontakt, bevor Sie aus Russland ausgereist sind?

BF: Nein, ich habe Sie hier kennengelernt. Wir stehen seit ca. einem Jahr in Kontakt.

R: Treffen Sie sie oder telefonieren Sie miteinander?

BF: Wir treffen uns, aber sprechen auch per Telefon. Nachgefragt gebe ich an, dass wir uns etwa einmal in der Woche sehen.

R: Sind Sie strafrechtlich verurteilt?

BF: Nein.

R: Ist Ihnen bekannt, dass Sie illegal nach Österreich einreisten?

BF: Ja, das weiß ich.

R: Das ho. Gericht kann sich nunmehr ein Bild über ihre privaten und familiären Bindungen in Österreich machen und erscheinen hierzu seitens des ho. Gerichts keine weiteren Fragen offen. Wollen Sie sich noch weitergehend zu Ihren privaten und familiären Bindungen in Österreich bzw. der Integration äußern?

BF: Ich möchte mich integrieren. Ich habe nicht vor, zurückzukehren. Ich möchte hier bleiben bis zum Ende meines Lebens. Ich möchte bei meinem Sohn sein, wir brauchen uns gegenseitig. In Tschetschenien war ich einer direkten Gefahr ausgesetzt. Ich werde dort bedroht.

RV: Sie haben gesagt, Ihr Sohn sei Invalide. Bezieht er Invaliditätspension?

BF: Ich weiß nicht, ob das Invalidität ist oder nicht, aber ich weiß, dass er alle sechs Monate 800,- € bekommt, zusätzlich zu seiner gewöhnlichen Sozialhilfe. Er geht auch immer wieder zum Arzt und bekommt viele Tabletten verschrieben.

RV: Sie sind Krankenschwester. Könnten Sie sich vorstellen, in einem Altersheim zu helfen?

BF: Ja, ich habe auch zuhause allen kostenlos geholfen. Ich kann sogar um drei Uhr in der Nacht jemandem zu Hilfe kommen. Ich habe mein Diplom auch vorgelegt.

R: Wo haben Sie in Ihrem Herkunftsstaat gelebt, bevor Sie ausgereist sind?

BF: Das ist die Wohnung meines Ex-Mannes. Aber er lebt ständig im Dorf. Aufgrund unserer Gebräuche kann ich in seiner Wohnung leben.

R: Wo ist denn diese Wohnung?

BF: In Grozny, in der XXXX . Die Straßennamen wurden später geändert. Ich weiß nicht, wie die Straße jetzt heißt.

R: Das war eine Wohnung?

BF: Ja, es war die Wohnung meines Ex-Mannes.

R: Mit wem haben Sie zusammengewohnt, bevor Sie ausgereist sind?

BF: Ich habe alleine gewohnt. Auf Nachfrage gebe ich an, in den letzten Jahren schon alleine gewohnt zu haben. Mein Haus wurde ja zerstört. Seit vier Jahren lebt mein Ex-Mann bei seinem Vater im Dorf. Meine zweite Tochter hat auch eine Zeit lang bei mir gelebt, bis Sie geheiratet hat. Dann sind Sie weggefahren. Jetzt haben Sie ein eigenes Leben.

R: Waren Sie ganz alleine oder hat Ihnen jemand im Alltag geholfen?

BF: Ich habe dort eine Pension bekommen, deswegen habe ich keine Hilfe gebraucht.

R: Was haben Sie in Ihrem Herkunftsstaat gearbeitet, bevor Sie ausgereist sind?

BF: Vor meiner Ausreise habe ich nicht gearbeitet. Ich habe nur bis zum Krieg als Krankenschwester gearbeitet. Im Krieg wurde alles zerstört und ich habe alles zurückgelassen. Aber ich helfe immer. Ich habe auch zuhause anderen Personen geholfen, Injektionen und Infusionen gelegt.

R: Sie hatten also schon Kontakt mit ihren Nachbarn und Freunden?

BF: Ja, sicher. Ich habe vergessen zu sagen, dass ich in meinem Wohnhaus auch als Liftbegleiterin gearbeitet habe. Ich habe mich um den Aufzug gekümmert, das hat nur wenig Geld gebracht, aber es hat ansonsten keine Arbeit gegeben.

R: Heißt das, dass man Sie in Ihrem Haus kennt?

BF: Ja, natürlich kennt man mich.

R: Warum haben Sie Ihren Herkunftsstaat verlassen?

BF: 1993 hat Tschetschenien die Unabhängigkeit erklärt. Zu dem Zeitpunkt wurde in Moskau auf das Weiße Haus geschossen. Jelzin hat die Macht übernommen. 1994 haben bei uns erste Kriegshandlungen begonnen. Wir haben damals in Grosny gelebt. Die ganze Familie, alle zusammen, haben an der Ul. Rabociaja gelebt. Dann wurden wir bombardiert. Man hat uns 48 Stunden gegeben, dass wir die Stadt verlassen. Wir sind von dort in die umliegenden Dörfer geflohen, genauer gesagt nach XXXX . Mein Sohn war damals 16 Jahre alt. Er hat geholfen, so wie er konnte. Er hat die Kämpfer in XXXX , das ist in der Nähe von XXXX , unterstützt. Dort haben die Kämpfer Schützengräben ausgehoben. Mein Sohn ist dorthin gekommen und hat ihnen Waffen und Munition gebracht. Damals hieß der Verteidigungsminister Graciow. Der Minister hat gesagt, dass er binnen drei Stunden Tschetschenien völlig vernichten werde. Aber er hat sich geirrt. Das ganze Volk hat das Land verteidigt, sogar Frauen und Kinder. Alle haben das Land verteidigt. Mein Sohn hat auch geholfen, er war auch dabei. Ich habe Angst um ihn gehabt - ich bin ja seine Mutter. Ich wollte ihn davon abbringen. Ein- oder zweimal habe ich ihn von dort herausgeholt. Anfang 1995, das war im Februar oder März, begannen die Menschen auf Umwegen zurück in die Stadt Grosny zu kommen. Alles, was wir hatten, wurde zerstört. Es ist nur ein Raum geblieben, der halb kaputt war, das war eine Art Küche. Wir haben dort begonnen zu leben. Wir sind auch zurückgekehrt.

Dann kam das Jahr 1996. Damals gab es dort russische Militärangehörige. Mein Sohn hat damals mit dem Studium an der Erdöluniversität begonnen. 1996 begann der zweite Krieg. Es begannen wieder Kriegshandlungen. Wir waren alle in den Kellern, um uns vor den Bomben zu schützen. Die Stadt wurde den Kämpfern übergeben, ohne das geschossen worden ist. Die Kämpfer waren unsere Leute, die das Land beschützt haben. Wir waren damals alle in den Kellern. Dann hat sich die Lage verändert. Man hat uns gesagt, dass wir die Stadt Grosny verlassen müssen. Meine Tochter war damals vier Jahre alt. Mein Sohn nahm sie auf die Hände und wir gingen aus dem Keller. Mein Sohn war ca. 18 Jahre alt. Das war 1996. Wir alle haben den Keller verlassen wie in einer Kolonne, das war die Flüchtlingskolonne. So haben wir die Stadt verlassen. Es begannen dann die Bombardierungen, es wurde auf uns geschossen.

R: Diese Ereignisse sind 22 Jahre her. Mich würde interessieren, warum Sie sich konkret im Jahr 2017 zur Ausreise entschlossen haben.

BF: Ich wollte dazu kommen, dass mein Sohn 1999, 2001 und 2002 ein nicht angestellter Korrespondent war. Er hat sehr gerne aufgenommen. Alles, was passiert ist, hat er aufgenommen, also alle Gesetzesübertretungen, etc. Er hat diese Zeugnisse an eine UNO-Organisation übergeben und auch eine örtliche Rechtsorganisation hat dies erhalten. Wir sind 2001 nach Groszny zurückgekommen. An allen Kontrollposten waren russische Militärangehörige und auch die tschetschenische Polizei. Das war gemischt. Dort waren russische Soldaten. Sie haben alles zerstört. Wir sind trotzdem zurückgekommen, auch wenn unser Haus zerstört war. Mein Sohn hat also alles aufgenommen. Am Minutka-Platz, das ist eine Haltestelle, hat er etwas aufgenommen: Dort ist ein Auto gestanden, in dem Auto andere Personen saßen. Von hinten kam ein Schützenpanzerwagen und überfuhr das Auto. Mein Sohn hat diese Aufzeichnungen übergeben, damit die Leute wissen, welche Willkür bei uns herrscht.

Einmal ist mein Sohn ausgegangen und nicht zurückgekommen. In der Kommandantur zwei Straßen weiter waren Sicherheitskräfte und Söldner, die meinen Sohn gefangen hielten, folterten und schlugen. Man hat mir gesagt, dass ich Geld für die Freilassung meines Sohnes zahlen müsse. Man habe ihn vorgewarnt, dass er sich mit dieser Tätigkeit nicht mehr beschäftigen dürfe. Ich kann mich jetzt nicht mehr genau erinnern, wie viel Geld ich damals gezahlt habe. Das hat vielleicht umgerechnet 100,- € ausgemacht. Mein Sohn wurde freigelassen, aber hat mit der Tätigkeit nicht aufgehört. Wir mussten ja irgendwie leben. Ich zum Beispiel habe Benzin auf der Straße verkauft. Ich habe die Kanister angefüllt und dann Benzin verkauft. Wir wollten ja irgendwie überleben. Dann wurde mein Sohn wieder mitgenommen. Er wurde furchtbar zugerichtet, geschlagen und hat geblutet. Dann kam ein Schützenpanzer und er wurde aus dem Panzer geworfen. Er war voll Blut. Ich habe zuerst gedacht, dass er tot sei. Ich bin ja Krankenschwester, also habe ich seinen Puls gefühlt; er schlug langsam. Wir haben ihn nach Hause gebracht. Ich habe mich bemüht, ihm zu helfen, doch er wurde immer wieder bewusstlos.

BF beginnt zu weinen und vermag die Verhandlung nicht fortzusetzen. Die Verhandlung wird für einige Minuten unterbrochen.

R (nach Wiedererscheinen der BF): Ihr Sohn hat wegen der angeführten Probleme Asyl erhalten. Was ist Ihnen aber konkret passiert?

BF: Ja, wir haben ihn weggeschickt. Bei uns werden die Menschenrechte nicht eingehalten und es verschwinden immer mehr junge Leute. Einige von den Verschwundenen kann ich sogar nennen. Die Militärangehörigen sind auch zu mir gekommen und fragten nach meinem Sohn. Sie sagten mir, dass sie wüssten, wo sich mein Sohn befinde. Sie sagten sogar, sie wüssten, dass er im zwölften Bezirk wohne, und fragten, warum er in den 14 Jahren nicht einmal nach Tschetschenien gekommen sei. Sie sagten, sie wüssten, womit er sich beschäftigt habe und sie mich mitnehmen würden, weil er dann zurückkommen würde.

R: Wer ist da gekommen und wann war das?

BF: Im Jahr 2017 war das öfter der Fall. Im August oder September 2017 kamen sie das letzte Mal. Sie haben mich bedroht. Sie haben Unterlagen gefordert, Aufnahmen von meinem Sohn während der Kriegshandlungen. Sie wollten seine Telefonnummer und sagten, dass ich anrufen solle. Ich habe gesagt, dass ich seine Telefonnummer nicht kenne, weil er sein Handy immer abschalte.

R: Wie oft kamen diese Leute?

BF: Bis zum Jahr 2017 selten. Sie haben nur gefragt, wo mein Sohn sei. Sie kamen einmal alle zwei Monate, das war bis August.

R: Wie oft insgesamt?

BF: Ich weiß es nicht mehr. Im September und August drei Mal.

R: Ich dachte, die Männer seien einmal alle zwei Monate bis August gekommen?

BF: Im Sommer 2017 und im August und im September sind sie drei Mal gekommen. Sie hatten schwarze Uniformen an und waren maskiert.

R: Wie viele Männer waren das?

BF: Es waren drei Männer. Sie waren groß und stark. Bei uns gibt es viele verschiedene Gruppierungen. Ich weiß nicht, zu welcher Gruppierung sie gehört haben.

R: Wann sind die Männer zum ersten Mal gekommen?

BF: Das erste Mal im Februar oder März 2017.

R: Können Sie mir erklären, wieso diese Männer 14 Jahre, nachdem ihr Sohn ausgereist war, zu Ihnen kommen und nach Ihrem Sohn fragen sollten?

BF: In letzter Zeit ist totales Chaos. Es kommt immer öfter vor. Die Leute kommen ja auch vom Ausland zurück und einige werden auch festgenommen. Einer war aus Deutschland, er wurde festgenommen und man hat Geld von ihm verlangt.

R: Wurde Ihnen genau gesagt, warum nach Ihrem Sohn gesucht wird?

BF: Sie haben gesagt, sie wüssten, womit sich mein Sohn beschäftigt und was er im Asylverfahren gesagt habe.

R: Aber warum sollten die Männer nach 14 Jahren zu Ihnen kommen? Das macht für mich nicht wirklich Sinn.

BF: Ich erkläre es Ihnen gerade. Vielleicht wollen die Leute mich einschüchtern und Geld von mir fordern. Aber man hat mir gesagt, dass man mich mitnehmen werde, wenn mein Sohn nicht zurückkomme. Man hat mich auch gefragt, ob er von hier nach Syrien gefahren sei. Sie haben gesagt, dass mein Sohn etwas gegen die tschetschenische Republik mache. Sie haben Unterlagen von mir gewollt.

R: Welche Unterlagen?

BF: Die Zeugnisse, die er früher aufgenommen hat. Sie wollten wissen, ob ich sie noch habe. Ich habe gesagt, dass ich es nicht wisse, und stand unter Schock. Ich wusste nicht, woher die Leute erfahren haben, womit er sich beschäftigt hat. Es verging viel Zeit. Ich habe meinen Sohn angerufen, habe gesagt, dass Männer nach ihm und alten Aufnahmen fragen würden. Mein Sohn verfiel in Panik und sagte, ich solle von dort wegfahren. Bei uns werden viele Frauen mitgenommen und sie verschwinden auch unter beliebigem Vorwand. Man könnte mir vorwerfen, dass ich ein Drogenhändler bin. Man kann jemanden verleumden und mitnehmen. Es verschwinden die Frauen und das wissen Sie auch. Ich habe Angst, über die Lage in Tschetschenien zu sprechen.

R: Weswegen konkret sind Sie nach Österreich gekommen: Hatten Sie Angst vor diesen Männern oder wollten Sie Ihrem Sohn helfen?

BF: Sowohl als auch.

R: Aber Ihr Sohn hat ja 14 Jahre alleine in Österreich gut gelebt.

BF: Seine Krankheit hat sich seit 2 oder 3 Jahren verschlechtert. Er rief mich in der Nacht an und bat mich, zu kommen. Als ich von meinen Problemen erzählte, wirkte sich das auf seine Krankheit aus. Man hat mir ein Visum verweigert. Ich habe beschlossen, auf irgendeinem Weg nach Österreich zu kommen. Der Präsident hat überall erklärt, dass man für die Tschetschenen keine Visas ausstellen solle. Ich bin dann mit einem Ehepaar gemeinsam ausgereist, diese hatten einen Schlepper organisiert.

R: Was für gesundheitliche Probleme hat Ihr Sohn?

BF: Er hat eine psychische Störung. Er leidet unter Panikattacken. Wenn ich bei ihm bin, dann ist er etwas ruhiger. Ich helfe ihm, so gut wie ich kann. Sehr geehrter Richter, ich habe nur einen Sohn. Ich kann ihn doch nicht alleine lassen. Ich bin die Mutter. Ich kann nicht zurück nach Tschetschenien, weil ich Angst habe. Und wenn ich zurückgehe, wird es noch schlimmer, weil sie wissen, dass ich ausgereist bin. Es hat doch keinen Sinn, zurückzukehren.

R: Ihr Sohn hat eine Freundin, richtig?

BF: Ja, er trifft sich mit einer Österreicherin. Er sagt, dass er solange nicht heiraten werde, bis er gesund sei. Ich bin aber die Person, die ihm vorwiegend hilft.

R: Wie lange ist er mit dieser Freundin schon zusammen?

BF: Genau kann ich es nicht sagen. Ich kann nicht lügen. Sie treffen sich, dann streiten sie wieder. Ich weiß, dass sie Daniela heißt.

R: Wie hat der Kontakt zu Ihrem Sohn vor Ihrer Ausreise ausgesehen?

BF: Er hat fast jede Nacht angerufen und geweint: "Mama, ich brauche dich". Ich hatte sowieso keine Ruhe und dann haben mich die Leute noch eingeschüchtert. Mein Sohn erlitt nochmal Panikattacken, als er hörte, dass die Leute kommen.

R: Sie sind aber auch jetzt nicht täglich bei ihm.

BF: Ich habe mich bemüht, nach Wien verlegt zu werden. Wenn ich nicht dort bin, spreche ich mit ihm per Telefon. Ich bemühe mich, drei bis viermal pro Woche bei ihm zu sein. Alle wissen Bescheid, dass mein Sohn krank ist, und kommen mir entgegen.

R: Erzählen Sie mir genau vom letzten Vorfall, als diese Männer bei Ihnen gewesen sind.

BF: Das war im Oktober. Das war das zweite Mal im Oktober. Die Vorfälle waren im August, im September und Oktober, drei Monate lang. Man hat geklopft. Das erste Mal wusste ich nicht, wer das ist und habe die Tür aufgemacht. Als ich die Leute gesehen habe, bekam ich Angst. Es waren uniformierte Männer. Dann dachte ich, dass vielleicht irgendwo eine Veranstaltung stattfinde, weil dann die Leute kommen und die Häuser überprüfen. Sie haben mich gleich gefragt, wo mein Sohn ist. Ich sagte, er sei im Ausland. Sie haben grob mit mir gesprochen und fragten, warum er so lange nicht zu Hause war. Sie sagten, sie wüssten, dass er in den 14 Jahren kein einziges Mal in Tschetschenien gewesen sei. Ich habe gesagt, dass ich weiß, dass er nicht nach Tschetschenien zurückwolle. Das war im August. Sie meinten, ich solle ihm das mitteilen. Ich wollte die Leute fragen, warum sie nach meinem Sohn suchen, aber sie hörten nicht zu, waren grob, haben sich umgedreht und sind weggegangen.

Das zweite Mal war im September, am 12. oder 13., ich kann mich nicht genau erinnern. Der Größe nach glaube ich, dass das andere Leute waren. Ein oder zwei waren genau so groß, aber der Dritte hatte eine andere Größe. Sie sagten, dass ich meinem Sohn sagen solle, er möge zurückkommen, weil ich in Gefahr sei. Sie wollten, dass er nachhause kommt. Ich habe gesagt, dass mein Sohn mich anruft und nicht ich ihn, weil er sein Handy immer abschalte. Sie haben gefragt, ob noch Aufzeichnungen, Unterlagen oder Aufnahmen, die er 2002 und 2003 gemacht habe, existierten. Ich stand unter Schock, wusste nicht, was die Leute wissen, und habe gesagt, ich wisse nicht, welche Unterlagen und Aufzeichnungen gemeint seien. Sie meinten, dass sie mich mitnehmen könnten und mein Sohn dann zurückkommen würde. Dann meinten Sie, dass sie wüssten, wo er sich befinde.

R: Wenn diese Männer gesagt haben, dass Sie wüssten, wo sich Ihr Sohn befinde, warum sollten sie Sie dann noch bedrohen?

BF: Damit er nachhause kommt.

R: Was würde Sie im Falle einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat konkret erwarten?

BF: Nichts Gutes. Ich möchte nicht hinfahren und werde nicht hinfahren. Es gibt dort keinen Lebenssinn, man hat mich dort bedroht und ich habe Angst.

R gibt der RV die Gelegenheit Fragen zu stellen.

RV: Sie wollen Ihrem Sohn helfen, haben aber selbst gesundheitliche Probleme. Wenn Sie zurückkehren, würden Sie dann alleine in Ihrer Wohnung wohnen?

BF: Ja, werde ich wohl müssen - aber ich werde nicht zurückfahren.

RV: Haben Sie jemanden, der Sie unterstützt, falls es Ihnen schlecht geht?

BF: Ich weiß es nicht. Die Nachbarn gibt es.

RV: Und in Ihrem familiären Umfeld?

BF: Ich habe erklärt, dass ich dort keine Familie habe.

R: Gemeinsam mit der Ladung wurden Ihnen Feststellungen zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in ihrem Herkunftsstaat übermittelt. Bisher ging hierzu keine Stellungnahme ein. Wollen Sie sich nunmehr hierzu äußern?

BF: Alles was dort geschrieben steht, entspricht der Wahrheit. Die Lage ist wirklich so in Tschetschenien.

R fragt die Vertreterin um ihre Stellungnahmen zu dieser Beurteilung.

RV: Ich beziehe mich auf den Beschwerdeschriftsatz.

R: Ich habe zu ihrem Verfahren keine weiteren Fragen. Wollen Sie noch etwas angeben oder Anträge stellen?

BF: Nein. Im Internet steht, dass unser Präsident alles über die Flüchtlinge im Ausland wisse. Ich habe mir das auch selbst aufgeschrieben (BF legt ein Schreiben vor, das als Anlage ./C zum Akt genommen wird). Ich bitte Sie wirklich, mich bei meinem Sohn zu lassen. Wir brauchen uns gegenseitig. Ich werde ihm bei allem helfen. Seine Ärztin, seine Psychologin, hat gesagt, dass sie etwas schreiben werde. Sie wollte schreiben, dass mein Sohn meine Hilfe brauche. Aber jetzt ist die Frau auf Urlaub. Sie hat es nicht geschafft, zu schreiben. Ich habe auch im medizinischen Bereich gearbeitet. Ich verlange auch kein Geld, um mich um ihn zu kümmern.

RV: Ich beantrage die Stattgabe der Beschwerde. Die BF gehört zur sozialen Gruppe der alleinstehenden Frauen und würde bei einer Rückkehr in eine ausweglose Situation geraten - dies vor allem, weil Sie an ihren Sohn gebunden ist.

BF legt weitere Dokumente vor, die in Kopie als Anlage ./D zum Akt genommen werden.

R räumt BF eine zweiwöchige Frist zur Vorlage ergänzender Dokumente ein.

R fragt die BF, ob sie die Dolmetscherin gut verstanden hat.

BF: Ja.

R: Die Dolmetscherin wird Ihnen jetzt die gesamte Verhandlungsschrift rückübersetzen. Bitte passen Sie gut auf, ob alle Ihre Angaben korrekt protokolliert wurden. Sollten Sie einen Fehler bemerken oder sonst einen Einwand haben, sagen Sie das bitte.

BF: Ja, danke.

R fragt die BF, ob sie die Dolmetscherin gut verstanden hat.

BF: Ja.

[...]"

Im Rahmen der mündlichen Verhandlung legte die Beschwerdeführerin folgende Unterlagen vor:

-

Aus einem Schreiben der Caritas vom XXXX geht hervor, dass die Beschwerdeführerin regelmäßig Psychotherapie "auf Grund der diversen massiven Beeinträchtigungen" in Anspruch nehme.

-

Einem Unterstützungsschreiben einer Freundin vom 09.07.2018 ist zu entnehmen, dass diese die Beschwerdeführerin bereits seit einem Jahr kenne, die Beschwerdeführerin bemüht sei, sich in Österreich zu integrieren, und einen Deutschkurs besuche. Der Sohn der Beschwerdeführerin leide unter einem psychischen Trauma, weshalb er ständiger Betreuung bedürfe und es wichtig sei, dass sie in Österreich bleiben könne.

-

Einem handschriftlichen Schreiben, das einen youtube-Link zitiert und aus dem Russischen übersetzt wurde, ist inhaltsgemäß zu entnehmen, dass Personen, die "aus Europa rausgeschmissen" würden, bei einer Rückkehr keine Heimat mehr vorfänden. Man werde für alles Antworten verlangen und Konsequenzen daraus ziehen. Jedes Netzwerk dieser Personen sei bekannt. Es sei heute kein Problem, das alles herauszufinden und/oder einen Menschen aufzuspüren.

-

Laut einem Bestätigungsschreiben einer Psychiaterin des XXXX " vom

XXXX suchte der Sohn der Beschwerdeführerin die Einrichtung an diesem Tag für ein Behandlungsgespräch auf. Er stehe bereits seit

XXXX in der dortigen Einrichtung in medizinischer Betreuung. Es seien die Diagnosen "F62.0, Andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung" und "F41.1, Generalisierte Angststörung" gestellt worden. Auf Grund der Schwere der Erkrankungen sei für die psychische Stabilisierung des Patienten eine Wohnmöglichkeit in einer Wohnung der Kategorie A dringend notwendig.

6.3. Dem Bundesverwaltungsgericht wurde am XXXX ein Bericht der Stadtpolizei Baden übermittelt, wonach die Beschwerdeführerin dringend verdächtig sei, am XXXX im Verkaufsraum der Filiale einer Parfümerie-Kette ein Damenparfum in ihrer Handtasche versteckt und dieses ohne zu zahlen an der Kassenzone vorbei geschleust zu haben. Sie habe das Parfum herausgegeben, als sie beim Verlassen des Geschäfts gestellt worden sei. Die Beschwerdeführerin habe sich geständig gezeigt und angegeben, den Diebstahl im Zuge psychischer Probleme getätigt zu haben.

6.4. Mit Schreiben vom XXXX legte die Beschwerdeführerin ein Bestätigungsschreiben des XXXX " vom selben Tag vor, wonach ihr Sohn massiv unter den Folgen seiner traumatischen Erlebnisse durch Folter in seiner Heimat leide. Auf Grund der Schwere der Erkrankung sei für seine psychische Stabilisierung eine Wohnmöglichkeit gemeinsam mit seiner Mutter dringend notwendig. Die Beschwerdeführerin sei in Österreich, um ihren Sohn zu betreuen. Laut ihrem Sohn sei sie die einzige Person, der er vertraue und die es schaffe, ihn zu beruhigen.

II. Das Bundesverwaltu

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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