TE Bvwg Erkenntnis 2018/9/12 W182 2205004-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 12.09.2018
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Entscheidungsdatum

12.09.2018

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §18 Abs1 Z4
BFA-VG §9
B-VG Art.133 Abs4
FPG §52
FPG §55

Spruch

W182 2205004-1/2E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. PFEILER über die Beschwerde von XXXX alias XXXX , geb. XXXX , StA. Volksrepublik China, vertreten durch RA DR. Lennart BINDER LL.M., gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 03.08.2018, Zl. IFA-Zahl: 1199276106 - VZ 180673409 - EAST Ost, nach § 28 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG), BGBI. I. Nr 33/2013 idgF, zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerde wird gemäß §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1, 10 Abs. 1 Z 3, 57 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005 idgF, §§ 9, 18 Abs. 1 Z 4 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG), BGBl. I Nr. 87/2012 idgF, und §§ 52, 55 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG), BGBl. I Nr. 100/2005 idgF, als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz

(B-VG), BGBl. I Nr. 1/1930 idgF, nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1.1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF) ist Staatsangehöriger der Volksrepublik China, gehört der Volksgruppe der Han an, ist Buddhist, reiste illegal im Dezember 2016 ins Bundesgebiet ein und stellte am 17.02.2018 einen Antrag auf internationalen Schutz.

In einer Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 17.07.2018 gab der BF zu seinen Fluchtgründen befragt an: "Ich möchte im Ausland Geld verdienen, da ich in China ein Kind habe. In China kostet ein Kind sehr viel, um ihm eine gute Ausbildung zu geben. Das war mein einziger Fluchtgrund, warum ich China verlassen habe." Bei einer Rückkehr ins Herkunftsland befürchte er "nichts". Der BF habe in China 9 Jahre Schule absolviert und zuletzt als Stahlarbeiter gearbeitet. Im Herkunftsland würden seine Eltern, seine Frau und sein etwa 10-jähriger Sohn leben. Der BF habe im Herkunftsland in einer Stadt in der Provinz XXXX gelebt. Die Kosten für seine Ausreise hätten umgerechnet ungefähr € 10.000 betragen. Sein Reisepass sei ihm bei seiner Ankunft in Österreich von seinem Schlepper abgenommen worden. Der BF konnte keine Personaldokumente vorlegen.

In der Einvernahme beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: Bundesamt) am 27.07.2018 brachte er zu seinen Fluchtgründen befragt vor: "Die Ausbildung meines Kindes kostet sehr viel, deshalb habe ich China verlassen. Ich bin ein Mann, ich bin verantwortlich für meine Familie. Ich habe gehört, dass Österreich ein gutes Land ist und deshalb bin ich hierher gekommen, um hier zu arbeiten und Geld zu verdienen. Leider hat sich herausgestellt, dass ich gar nicht hier arbeiten darf." Er sei nie im Gefängnis oder in Polizeihaft gewesen und habe auch keine persönlichen Probleme mit heimatlichen Behörden gehabt und werde von diesen auch nicht gesucht. Er sei bei seinem Militärdienst verletzt worden und diesbezüglich zwei Mal bei der Behörde wegen einer Entschädigung gewesen, habe aber keine erhalten. Nach dem Militärdienst sei er 1998 vom Dorf, wo seine Eltern wohnen, in die Stadt verzogen. Auf Nachfragen verneinte der BF ausdrücklich Probleme im Herkunftsland. Er sei gesund. Er habe im Herkunftsland 11 Jahre als Stahlarbeiter gearbeitet. Seine Eltern leben von einer staatlichen Pension und seine Frau arbeite. Geschwister habe er keine. Eine Tante wohne ebenfalls in der Heimatstadt des BF. Der BF habe etwa einmal in der Woche telefonischen Kontakt zu seiner Frau und seinem Kind. Er habe seine Arbeit verloren und sei deshalb ins Ausland gereist. Er habe in China bei mehreren Betrieben gearbeitet. Er habe auch Koch gelernt und als Hilfskoch in Gelegenheitsjobs gearbeitet. Er habe knapp den Lebensunterhalt bestreiten können, doch seitdem sie das Kind gehabt hätten, hätten sie viele Ausgaben gehabt. Er habe sogar Anfang des Schuljahres den Lehrer seines Kindes beschenken müssen. Der Verdienst mit seinen Arbeiten habe nicht gereicht. Er habe in China aufgrund der hohen Kosten des Kindes nicht wirklich weiterleben können. Er habe im Dezember 2016 China von Peking aus verlassen. In Österreich habe er von der Unterstützung durch Landsleute gelebt, wobei er zu diesen keine Angaben machen könne. Als keiner von diesen mehr bereit gewesen sei, ihn in Österreich zu unterstützen, habe er hier kein Essen und keine Unterkunft mehr gehabt und habe deshalb den gegenständlichen Antrag gestellt. Jetzt beziehe er Grundversorgung. Auf die Frage, ob er in Österreich jemals berufstätig gewesen sei, gab er an, dass er "abgewaschen und den Boden gewischt" und dafür Essen bekommen habe. Er spreche gar nicht Deutsch, könne nur einzelne Worte wie "Guten Morgen" oder "Tschüs" sagen. In Österreich würden sich keine Verwandten aufhalten und lebe er auch nicht in einer familienähnlichen Gemeinschaft. Er könne keine identitätsbezeugenden Dokumente vorlegen. Sein im Jahr 2016 von den Sicherheitsbehörden seiner Heimatstadt ausgestellter Reisepass sei ihm bei seiner Ankunft in Österreich von einem Chinesen, der ihn abgeholt habe, abgenommen worden.

1.2. Mit dem nunmehr angefochtenen oben angeführten Bescheid des Bundesamtes wurde der Antrag auf internationalen Schutz des BF gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat VR China (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Gemäß § 57 AsylG 2005 wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt (Spruchpunkt III.) und gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen, wobei gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt wurde, dass die Abschiebung des BF gemäß § 46 FPG nach China zulässig sei (Spruchpunkt IV.). Unter Spruchpunkt V. und VI. wurde einer Beschwerde gegen diese Entscheidung gemäß § 18 Abs. 1 Z 4 BFA-VG idgF, die aufschiebende Wirkung aberkannt und ausgesprochen, dass gemäß § 55 Abs. 1a FPG keine Frist für die freiwillige Ausreise bestehe.

Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der BF seinen eigenen Angaben zufolge das Herkunftsland aus rein wirtschaftlichen Gründen verlassen habe, wobei sein diesbezügliches Vorbringen zum Gegenstand des Bescheides erhoben werde. Diesem Vorbringen sei jegliche Asylrelevanz abzusprechen. Eine konkret gegen seine Person gerichtete Verfolgung, sei es durch staatliche Stellen oder private Dritte, habe er nicht behauptet. Zur allgemeinen Lage in China wurden entsprechend aktuelle Feststellungen getroffen. Es seien keine Umstände amtsbekannt, dass in der VR China derzeit eine solche extreme Gefährdungslage bestünde, dass gleichsam jeder, der dorthin zurückkehre, einer Gefährdung im Sinne des Art. 2 und 3 EMRK ausgesetzt wäre, oder eine derartige humanitäre Katastrophe vorherrsche, dass das Überleben der dort lebenden Personen mangels Nahrung und Wohnraum tatsächlich in Frage gestellt wäre. Der BF sei ein gesunder und arbeitsfähiger Mann und verfüge in China über familiäre Anknüpfungspunkte. Eine elementare Grundversorgung sei im Herkunftsland gewährleistet. Es sei davon auszugehen, dass er im Herkunftsland in der Lage sein werde, die dringendsten Lebensbedürfnisse zu befriedigen und nicht über anfängliche Schwierigkeiten hinaus in eine dauerhaft aussichtslose Lage geraten würde. Der BF sei spätestens im Juli 2018 nach Österreich eingereist, ein Aufenthalt seit Dezember 2016 habe vom BF nicht belegt werden können. Er verfüge in Österreich über keine familiären Anknüpfungspunkte oder nennenswerte soziale Kontakte, sei nicht berufstätig und beziehe Grundversorgung. Eine besondere Integrationsverfestigung habe nicht festgestellt werden können. Eine Interessensabwägung nach Art 8 EMRK sei deshalb zugunsten des öffentlichen Interesses an einem geordneten Fremdenwesen und der Einhaltung der fremdenrechtlichen Bestimmungen und zu Lasten der privaten Interessen des BF an einem Verbleib im Bundesgebiet ausgefallen. Da der BF auch keine Verfolgungsgründe vorgebracht habe und die sofortige Umsetzung der aufenthaltsbeendenden Maßnahme im Interesse eines geordneten Fremdenwesens geboten gewesen sei, sei einer Beschwerde die aufschiebende Wirkung abzuerkennen gewesen.

Mit Verfahrensanordnung vom 03.08.2018 wurde dem BF gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG ein Rechtsberater amtswegig zur Seite gestellt.

1.3. Gegen den Bescheid wurde seitens des Vertreters des BF binnen offener Frist Beschwerde erhoben. Darin wurde der gegenständliche Bescheid in vollem Umfang, somit in seinen Spruchpunkten I., II., III. und IV. angefochten und unrichtige Feststellungen, Mangelhaftigkeit des Verfahrens und unrichtige rechtliche Beurteilung geltend gemacht. Dazu wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der BF Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe bzw. aus politischen Gründen angegeben habe. Er habe im Herkunftsstaat jegliche Existenzgrundlage verloren. Er sei während des Militärdienstes verletzt worden, aber sei ihm eine Entschädigung von den kommunistischen Behörden verweigert worden, und habe er nicht ausreichend Geld verdienen können, um seine Familie versorgen zu können. Im Falle einer Abschiebung bestehe daher die intensive Gefahr, dass er in eine existentielle Notlage geraten würde. Der BF habe daher aus begründeter Furcht vor Verfolgung nach Österreich flüchten müssen. Das Bundesamt begründe seine abweisende Entscheidung damit, dass das Fluchtvorbringen des BF nicht asylrelevant wäre, implizierend, dass deshalb auf eine konkrete inhaltliche Beurteilung seiner Befürchtung hinsichtlich einer Rückkehr nach China verzichtet werden könnte. Die Erklärung des Bundesamtes, wie es zu dieser Ansicht gelange, sei jedoch nicht nachvollziehbar und die Beweiswürdigung bestehe fast ausschließlich aus dem Protokoll und Textbausteinen. Einen erkennbaren Begründungswert hätten die Vorwürfe des Bundesamtes daher nicht, insbesondere da das Bundesamt scheinbar einen großen Teil der Aussagen des BF nicht zu Kenntnis nehme, sondern nur selektiv, in tendenziöser Weise die Aussagen herausklaube, die der Argumentation des Bundesamtes zuträglich erscheine. Zum Vorwurf beispielsweise, der BF hätte keine ausreichend genauen Angaben über seine Probleme in der VR China gemacht, sei festzustellen, dass der BF dies in der Einvernahme ausführlich erklärt habe. Außerdem sei er in seinen Wahrnehmungen aufgrund der Unübersichtlichkeit der Ereignisse überfordert, zumal dies natürlich auch traumatisierend gewesen sei. Weiters gehe aus dem Protokoll der Transkription der Aussagen des BF hervor, dass die Behörden ihm gegenüber schutzunwillig und schutzunfähig seien, wobei das Bundesamt sich nicht mit der Frage der Schutzwilligkeit der kommunistischen Behörden dem BF gegenüber auseinandergesetzt habe. Dazu wurden in weiterer Folge die im Bescheid getroffenen Feststellungen zum Herkunftsland zitiert. Weiters wurde ausgeführt, dass der BF über keine innerstaatliche Fluchtalternative im Herkunftsland verfüge. Bei einer Abschiebung in die VR China wäre der BF in realistischer Gefahr, in eine existenzbedrohende Lage zu geraten. Die Bewertung seitens des Bundesamtes hinsichtlich der Gefährdung, der der BF bei einer Rückkehr ausgesetzt wäre, und ob er in China eine zumutbare Existenz führen könne, sei falsch. Die Rückkehrbefürchtungen des BF seien wohl begründet. Auch hinsichtlich des Privat- und Familienlebens des BF sei nur eine unzureichende Behandlung mit seinem Vorbringen erfolgt. Der BF sei seit zwei Jahren in Österreich aufhältig und sei in der Lage, sich auf Deutsch zu verständigen, auch wenn er in der Stresssituation der Einvernahmen nur bedingt auf Deutsch kommunizieren habe können. Er habe sich ein umfangreiches Netz an sozialen Kontakten aufgebaut. Überdies sei er ebenso arbeitswillig wie arbeitsfähig und würde im Falle der Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung keine Belastung für eine Gebietskörperschaft darstellen. Zur Aberkennung der aufschiebenden Wirkung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der BF keine Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit darstelle, und die Behauptung des Bundesamtes, dass der BF keine Fluchtgründe vorgebracht habe, sei nicht verständlich. Es wurde u.a. beantragt, eine Beschwerdeverhandlung anzuberaumen und der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Aufgrund der der Entscheidung zugrunde liegenden Akten des Bundesamtes samt Beschwerdeschrift sowie des Bundesverwaltungsgerichtes steht nachstehender entscheidungswesentlicher Sachverhalt als erwiesen fest:

Der BF ist Staatsangehöriger der Volksrepublik China, gehört der Volksgruppe der Han an und ist Buddhist. Seine Identität steht nicht fest. Er stellte nach seiner illegalen Einreise am 17.02.2018 im Bundesgebiet einen Antrag auf internationalen Schutz. Wann der BF ins Bundesgebiet eingereist ist, kann nicht festgestellt werden.

Der 41-jährige und gesunde BF ist arbeitsfähig. Er hat eine Grundschulbildung sowie eine Kochausbildung absolviert und blickt u. a. auf eine langjährige Berufserfahrung als Metallarbeiter zurück. Er verfügt im Herkunftsstaat über familiäre Anknüpfungspunkte in Form seiner Eltern, die Pension beziehen, seiner Gattin, die arbeitet, und seines Kindes.

In Österreich halten sich keine Familienangehörigen oder Verwandten des BF auf.

Der unbescholtene BF konnten keinen abgeschlossenen Deutsch-Sprachkurs nachweisen. Er bezieht Grundversorgung und ist bisher keiner legalen Erwerbstätigkeit nachgegangen.

Der BF begründete seinen Antrag ausschließlich mit wirtschaftlichen Motiven. Es liegen keine begründeten Anhaltspunkte dafür vor, dass der BF bei einer Rückkehr hinsichtlich seiner Grundbedürfnisse (Nahrung, Unterkunft) im Herkunftsland einer existenzbedrohenden Notsituation ausgesetzt wäre.

1.2. Zur Situation im Herkunftsland wird von den zutreffenden Feststellungen des Bundesamtes im angefochtenen Bescheid ausgegangen. Die Situation im Herkunftsland hat sich seit dem Zeitpunkt der angefochtenen Entscheidung in den gegenständlich relevanten Punkten nicht entscheidungswesentlich verändert, sodass ein neuerlicher Vorhalt im Beschwerdeverfahren unterbleiben konnte.

Zur Situation im Herkunftsland wird von folgenden Feststellungen ausgegangen:

Neueste Ereignisse - Integrierte Kurzinformationen

Yu Wensheng, ein regierungskritischer Anwalt, wurde nach Angaben seiner Frau am Morgen des 19.1.2018 festgenommen, als er mit seinem Sohn zur Schule ging (The Guardian 19.1.2018). Wenige Stunden vor seiner Verhaftung forderte Yu Wensheng von Präsident Xi Jinping in einem offenen Brief Verfassungsreformen (DW 19.1.2018).

International bekannt wurde der prominente Kritiker, als er 2017 gemeinsam mit fünf anderen Anwälten versuchte, die Regierung seines Landes wegen des gesundheitsschädlichen Smogs zu verklagen (DZ 29.1.2018). Als Anwalt hat Yu mehrere andere Menschenrechtsanwälte und Demonstranten aus Hongkong vertreten, die dort für mehr Demokratie auf die Straße gegangen sind und festgenommen worden waren (DW 1.2.2018). Im Oktober vergangenen Jahres wurde Yu Wensheng vorübergehend inhaftiert, weil er in einem offenen Brief Chinas Partei- und Staatschef Xi Jinping wegen dessen Stärkung des Totalitarismus als für das Amt nicht geeignet bezeichnet hatte (NZZ 1.2.2018).

Der Verbleib von Yu Wensheng war zunächst unklar (DP 19.1.2018); nach Angaben von Amnesty International übernahm die Polizei von Xuzhou in der ostchinesischen Provinz Jiangsu den Fall. Der Anwalt werde derzeit unter "Hausarrest an einem ausgesuchten Ort festgehalten, ohne dass dieser Ort bekannt wäre, so Amnesty International (DZ 29.1.2018).

Gemäß Amnesty International sei der chinesische Menschenrechtsanwalt der "Anstiftung zur Untergrabung der Staatsgewalt" beschuldigt worden (DP 19.1.2018). Der Vorwurf der Subversion ist eine schwerwiegende Anklage, die eine Haftstrafe von bis zu 15 Jahren bedeuten kann. Im vergangenen Dezember war etwa der regierungskritische Blogger Wu Gan deswegen zu acht Jahren Gefängnis verurteilt worden (DZ 29.1.2018).

Der kritische Jurist ist das jüngste Opfer der seit mehr als zwei Jahren anhaltenden Verfolgungswelle gegen Anwälte, Mitarbeitern von Kanzleien, Aktivisten und deren Familienmitgliedern. Mehr als 300 wurden nach Angaben von Menschenrechtsgruppen seit Juli 2015 inhaftiert, verhört, unter Hausarrest gestellt oder an der Ausreise gehindert. Vier wurden verurteilt, 16 warten noch auf ihren Prozess (DP 19.1.2018). Mindestens eine Person aus der angeführten Gruppe sei verschwunden (BBC 16.1.2018).

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Quellen:

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BBC News (16.1.2018): China rights lawyer Yu Wensheng loses licence, http://www.bbc.com/news/world-asia-china-42702731, Zugriff 22.1.2018

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DP - Die Presse (19.1.2018): Haft für Anwalt: China setzt Verfolgungswelle gegen Kritiker fort, https://diepresse.com/home/ausland/aussenpolitik/5356682/Haft-fuer-Anwalt_China-setzt-Verfolgungswelle-gegen-Kritiker-fort, Zugriff 19.1.2018

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DW - Deutsche Welle (1.2.2018): China weist deutsche Kritik an Festnahme von Menschenrechtsanwalt zurück, http://www.dw.com/de/china-weist-deutsche-kritik-an-festnahme-von-menschenrechtsanwalt-zur%C3%BCck/a-42403119, Zugriff 2.2.2018

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DW - Deutsche Welle (19.1.2018): Chinesischer Bürgerrechtsanwalt Yu Wensheng festgenommen,

http://www.dw.com/de/chinesischer-b%C3%BCrgerrechtsanwalt-yu-wensheng-festgenommen/a-42214185, Zugriff 22.1.2018

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DZ - Die Zeit (29.1.2018):China beschuldigt Menschenrechtsanwalt der Subversion,

http://www.zeit.de/politik/ausland/2018-01/yu-wensheng-buergerrechtsanwalt-peking-anklage-haftstrafe, 30.1.2018

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NZZ - Neue Züricher Zeitung (1.2.2018): Ein kämpferischer Geist in den Fängen der chinesischen Behörden, https://www.nzz.ch/international/ein-kaempferischer-geist-in-den-faengen-der-chinesischen-behoerden-ld.1352463, Zugriff 1.2.2018

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The Guardian (19.1.2018): Outspoken Chinese human rights lawyer Yu Wensheng held by police

https://www.theguardian.com/world/2018/jan/19/outspoken-chinese-human-rights-lawyer-yu-wensheng-arrested , Zugriff 22.1.2018

Politische Lage

Die Volksrepublik China ist mit geschätzten 1,374 Milliarden Einwohnern (Stand Juli 2016) und einer Fläche von 9.596.960 km² der bevölkerungsreichste Staat der Welt (CIA 26.7.2017).

China ist in 22 Provinzen, die fünf Autonomen Regionen der nationalen Minderheiten Tibet, Xinjiang, Innere Mongolei, Ningxia und Guangxi, sowie vier regierungsunmittelbare Städte (Peking, Shanghai, Tianjin, Chongqing) und zwei Sonderverwaltungsregionen (Hongkong, Macau) unterteilt. Nach dem Grundsatz "Ein Land, zwei Systeme", welcher der chinesisch-britischen "Gemeinsamen Erklärung" von 1984 über den Souveränitätsübergang im Jahr 1997 zugrunde liegt, kann Hongkong für 50 Jahre sein bisheriges Gesellschaftssystem aufrecht erhalten und einen hohen Grad an Autonomie genießen. Trotz starker öffentlicher Kritik in Hongkong hält die chinesische Regierung bezüglich einer möglichen Wahlrechtsreform für eine allgemeine Wahl des Hongkonger Regierungschefs (Chief Executive) an den Vorgaben fest, die der Ständige Ausschuss des Pekinger Nationalen Volkskongresses 2014 zur Vorabauswahl von Kandidaten gemacht hat. Dies hat in Hongkong zur Blockade der vorgesehenen Reform geführt und zu einem Erstarken von Bestrebungen nach größerer Autonomie, vereinzelt sogar zu Rufen nach Unabhängigkeit, auf die Peking scharf reagiert. Nach einem ähnlichen Abkommen wurde Macau am 20. Dezember 1999 von Portugal an die Volksrepublik China zurückgegeben. Die Lösung der Taiwanfrage durch friedliche Wiedervereinigung bleibt eines der Hauptziele chinesischer Politik (AA 4.2017a).

Gemäß ihrer Verfassung ist die Volksrepublik China ein "sozialistischer Staat unter der demokratischen Diktatur des Volkes, der von der Arbeiterklasse geführt wird und auf dem Bündnis der Arbeiter und Bauern beruht" (AA 4.2017a). China ist ein autoritärer Staat, in dem die Kommunistische Partei (KP) verfassungsmäßig die höchste Autorität ist. Beinahe alle hohen Positionen in der Regierung sowie im Sicherheitsapparat werden von Mitgliedern der KP gehalten (USDOS 3.3.2017). Die KP ist der entscheidende Machtträger. Nach dem Parteistatut wählt der alle fünf Jahre zusammentretende Parteitag das Zentralkomitee (376 Mitglieder, davon 205 mit Stimmrecht), das wiederum das Politbüro (25 Mitglieder) wählt. Ranghöchstes Parteiorgan und engster Führungskern ist der zurzeit siebenköpfige "Ständige Ausschuss" des Politbüros. Dieser gibt die Leitlinien der Politik vor. Die Personalvorschläge für alle diese Gremien werden zuvor im Konsens der Parteiführung erarbeitet (AA 4.2017a; vgl. USDOS 3.3.2017).

An der Spitze der Volksrepublik China steht der Staatspräsident, der gleichzeitig Generalsekretär der KP und Vorsitzender der Zentralen Militärkommission ist und somit alle entscheidenden Machtpositionen auf sich vereinigt. Der Ministerpräsident (seit März 2013 Li Keqiang) leitet den Staatsrat, die eigentliche Regierung. Er wird von einem "inneren Kabinett" aus vier stellvertretenden Ministerpräsidenten und fünf Staatsräten unterstützt. Der Staatsrat fungiert als Exekutive und höchstes Organ der staatlichen Verwaltung. Alle Mitglieder der Exekutive sind gleichzeitig führende Mitglieder der streng hierarchisch gegliederten Parteiführung (Ständiger Ausschuss, Politbüro, Zentralkomitee), wo die eigentliche Strategiebildung und Entscheidungsfindung erfolgt (AA 4.2017a).

Der 3.000 Mitglieder zählende Nationale Volkskongress (NVK) wird durch subnationale Kongresse für fünf Jahre gewählt. Er wählt formell den Staatspräsidenten für fünf Jahre und bestätigt den Premierminister, der vom Präsidenten nominiert wird (FH 1.2017a). Der NVK ist formal das höchste Organ der Staatsmacht. NVK-Vorsitzender ist seit März 2013 Zhang Dejiang (AA 4.2017a). Der NVK ist jedoch vor allem eine symbolische Einrichtung. Nur der Ständige Ausschuss trifft sich regelmäßig, der NVK kommt einmal pro Jahr für zwei Wochen zusammen, um die vorgeschlagene Gesetzgebung anzunehmen (FH 1.2017a). Eine parlamentarische oder sonstige organisierte Opposition gibt es nicht. Die in der sogenannten Politischen Konsultativkonferenz organisierten acht "demokratischen Parteien" sind unter Führung der KP Chinas zusammengeschlossen; das Gremium hat lediglich eine beratende Funktion (AA 4.2017a).

Beim 18. Kongress der KP China im November 2012 wurde, nach einem Jahrzehnt, ein Führungswechsel vollzogen (AI 23.5.2013). Bei diesem Parteitag wurden die Weichen für einen Generationswechsel gestellt und für die nächsten fünf Jahre ein neues Zentralkomitee, Politbüro und ein neuer Ständiger Ausschuss bestimmt (AA 4.2017a). Xi Jinping wurde zum Generalsekretär der KP und zum Vorsitzenden der Zentralen Militärkommission gekürt. Seit dem 12. Nationalen Volkskongress im März 2013 ist Xi Jinping auch Präsident Chinas (AA 4.2017a; vgl. FH 1.2017a). Er hält damit die drei einflussreichsten Positionen (USDOS 3.3.2017). Die neue Staatsführung soll - wenngleich die Amtszeit offiziell zunächst fünf Jahre beträgt - mit der Möglichkeit einer Verlängerung durch eine zweite, ebenfalls fünfjährige, Amtsperiode bis 2022 (und möglicherweise auch darüber hinaus) an der Macht bleiben (HRW 12.1.2017). Vorrangige Ziele der Regierung sind eine weitere Entwicklung Chinas und Wahrung der politischen und sozialen Stabilität durch Machterhalt der KP. Politische Stabilität gilt als Grundvoraussetzung für wirtschaftliche Reformen. Äußere (u.a. nachlassende Exportkonjunktur) und innere (u.a. alternde Gesellschaft, Umweltschäden, Wohlfahrtsgefälle) Faktoren machen weitere Reformen besonders dringlich. Die Rolle der Partei in allen Bereichen der Gesellschaft soll gestärkt werden. Gleichzeitig laufen Kampagnen zur inneren Reformierung und Stärkung der Partei. Prioritäten sind Kampf gegen die Korruption und Verschwendung, Abbau des zunehmenden Wohlstandsgefälles, Schaffung nachhaltigeren Wachstums, verstärkte Förderung der Landbevölkerung, Ausbau des Bildungs- und des Gesundheitswesens, Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und insbesondere Umweltschutz und Nahrungsmittelsicherheit. Urbanisierung ist und bleibt Wachstumsmotor, bringt aber gleichzeitig neue soziale Anforderungen und Problemlagen mit sich. Erste Ansätze für die zukünftige Lösung dieser grundlegenden sozialen und ökologischen Entwicklungsprobleme sind sichtbar geworden, haben deren Dimension aber zugleich deutlich aufgezeigt (AA 4.2017a).

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Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (4.2017a): China - Innenpolitik, http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/China/Innenpolitik_node.html#doc334570bodyText5, Zugriff 2.8.2017

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AI - Amnesty International (23.5.2013): Amnesty International Annual Report 2013 - China,

http://www.refworld.org/docid/519f51a96b.html, Zugriff 2.8.2017

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CIA - Central Intelligence Agency (26.7.2017): The World Factbook

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China,

https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/ch.html, Zugriff 2.8.2017

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FH - Freedom House (1.2017a): Freedom in the World 2017 - China, http://www.ecoi.net/local_link/339947/483077_de.html, Zugriff 2.8.2017

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HRW - Human Rights Watch (12.1.2017): World Report 2017 - China, http://www.ecoi.net/local_link/334766/476520_de.html, Zugriff 28.8.2017

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USDOS - US Department of State (3.3.2017): Country Reports on Human Rights Practices 2016 - China (includes Tibet, Hong Kong, and Macau), http://www.ecoi.net/local_link/337277/480051_de.html, Zugriff 2.8.2017

Rechtsschutz/Justizwesen

Die Führung unternimmt Anstrengungen, das Rechtssystem auszubauen. Dem steht jedoch der Anspruch der Kommunistischen Partei (KP) auf ungeteilte Macht gegenüber. Gewaltenteilung und Mehrparteiendemokratie werden ausdrücklich abgelehnt. Von der Verwirklichung rechtsstaatlicher Normen und einem Verfassungsstaat ist China noch weit entfernt. Im Alltag sind viele Chinesen weiterhin mit Willkür und Rechtlosigkeit konfrontiert (AA 4.2017a). Eine unabhängige Strafjustiz existiert in China folglich nicht. Strafrichter und Staatsanwälte unterliegen der politischen Kontrolle von staatlichen Stellen und Parteigremien (AA 15.12.2016). Die Kontrolle der Gerichte durch politische Institutionen ist ein verfassungsrechtlich verankertes Prinzip (ÖB 11.2016). Die KP dominiert das Rechtssystem auf allen Ebenen und erlaubt Parteifunktionären, Urteile und Verurteilungen zu beeinflussen. Die Aufsicht der KP zeigt sich besonders in politisch heiklen Fällen durch die Anwendung sog. "Leitlinien". Während Bürger in nicht-politischen Fällen ein gewisses Maß an fairer Entscheidung erwarten können, unterliegen diejenigen, die politisch sensible Fragen oder die Interessen mächtiger Gruppen berühren, diesen "Leitlinien" der politisch-juristischen Ausschüsse (FH 1.2017a). Seit dem vierten Jahresplenum des 18. Zentralkomitees 2014 betont die Führung die Rolle des Rechts und ergriff Maßnahmen zur Verbesserung der Qualität gerichtlicher Verfahren und zum Aufbau eines "sozialistisches Rechtssystem chinesischer Prägung" unter dem Motto "yi fa zhi guo", wörtlich "den Gesetzen entsprechend das Land regieren". Echte Rechtsstaatlichkeit im Sinne der Achtung des Legalitätsprinzips in der Verwaltung und der Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit wird dabei aber dezidiert abgelehnt. Das in den Beschlüssen reflektierte Verständnis von Recht soll die Macht des Staates, dh. der Partei, keinesfalls einschränken, sondern vielmehr stärken (ÖB 11.2016).

Die wichtigste Einrichtung der KP zur Kontrolle des Rechtssystems ist die Kommission des Zentralkomitees für Politik und Recht (ZKPR). Das ZKPR ist in unterschiedlichen Unter-Formaten auf jeder gerichtlichen Ebene verankert, wobei die jeweiligen Ebenen der übergeordneten Ebene verantwortlich sind. Die Macht des Komitees, das auf allen Ebenen auf Verfahren Einfluss nimmt, wurde auch seit den Beschlüssen des Vierten Plenums der KP im Oktober 2014 bewusst nicht angetastet (ÖB 11.2016).

Die Richter-Ernennung erfolgt auf Provinzebene durch Rechtskomitees, welchen hochrangige Partei-Funktionäre angehören und welche von einem KP-Inspektorat überwacht werden. Richter sind verpflichtet, über Einflussnahmen seitens lokaler Politiker auf Verfahren Bericht zu erstatten. Es ist für Richter schwierig, zwischen "Unabhängigkeit" von lokalen politischen Einflüssen, und Loyalität zur KP-Linie (welche regelmäßig miteinander und mit einflussreichen Wirtschafts- und Privatinteressen verbunden sind) zu navigieren. Trotz laufender Reformbemühungen gibt es - vor allem auf unterer Gerichtsebene - noch immer einen Mangel an gut ausgebildeten Richtern (ÖB 11.2016).

Ein umfassender Regelungsrahmen unterhalb der gesetzlichen Ebene soll "Fehlverhalten" von Justizbeamten und Staatsanwälten in juristischen Prozessen unterbinden. Das Oberste Volksgericht (OVG) unter seinem als besonders "linientreu" geltenden Präsidenten und die Oberste Staatsanwaltschaft haben in ihren Berichten an den Nationalen Volkskongress im März 2014 in erster Linie gefordert, "Falschurteile" der Gerichte zu verhindern, die Richterschaft an das Verfassungsverbot von Folter und anderen Zwangsmaßnahmen bei Vernehmungen zu erinnern und darauf hinzuweisen, dass Verurteilungen sich nicht allein auf Geständnisse stützen dürfen. Die Regierung widmet sowohl der juristischen Ausbildung als auch der institutionellen Stärkung von Gerichten und Staatsanwaltschaften seit mehreren Jahren große Aufmerksamkeit (AA 15.12.2016).

Das umstrittene System der "Umerziehung durch Arbeit" ("laojiao") wurde aufgrund entsprechender Beschlüsse des 3. Plenums des ZK im November 2013 offiziell am 28.12.2013 abgeschafft. Es liegen Erkenntnisse vor, wonach diese Haftanstalten lediglich umbenannt wurden, etwa in Lager für Drogenrehabilitation, rechtliche Erziehungszentren oder diese als schwarze Gefängnisse weiter genutzt werden (AA 15.12.2016).

Mit der letzten großen Novellierung 2013 sieht die Strafprozessordnung genaue Regeln für Festnahmen vor, führt den "Schutz der Menschenrechte" an und verbietet Folter und Bedrohung bzw. Anwendung anderer illegaler Methoden zur Beweisermittlung. Es besteht jedoch eine teilweise erhebliche Divergenz zwischen den Rechtsvorschriften und deren Umsetzung, und werden diese zum Zwecke der Unterdrückung von politisch unliebsamen Personen instrumentalisiert. Laut Strafprozessordnung müssen auch im Falle einer Festnahme wegen Terrorismus, der Gefährdung der Staatssicherheit oder der schwerwiegenden Korruption die Angehörigen von in Untersuchungshaft sitzenden Personen innerhalb von 24 Stunden über die Festnahme informiert werden, nicht jedoch über den Grund der Festnahme oder über den Aufenthaltsort. Zudem besteht diese Informationspflicht nicht, wenn durch diese Information die Ermittlungen behindert würden - in diesen Fällen müssen Angehörige erst nach 37 Tagen informiert werden. Was eine "Behinderung der Ermittlung" bedeutet, liegt im Ermessen der Polizei, es gibt kein Rechtsmittel dagegen. Da Verdächtige sich formell in Untersuchungshaft befindet, muss der Ort der Festhaltung laut Gesetz auch in diesen Fällen eine offizielle Einrichtung sein. Der Aufenthaltsort kann auch außerhalb offizieller Einrichtungen liegen. Diese Möglichkeit wurde mit der Strafprozessnovelle 2012 eingeführt und von Rechtsexperten wie dem Rapporteur der UN-Working Group on Enforced or Involuntary Disappearances wegen des inhärenten Folterrisikos als völkerrechtswidrig kritisiert (ÖB 11.2016; vgl. AI 22.2.2017).

Willkürliche Verhaftungen oder Hausarrest ("soft detention") ohne gerichtliche Verfahren kommen häufig vor. Die Staatsorgane griffen verstärkt auf den "Hausarrest an einem festgelegten Ort" zurück - eine Form der geheimen Inhaftierung ohne Kontakt zur Außenwelt, die es der Polizei erlaubt, eine Person für die Dauer von bis zu sechs Monaten außerhalb des formellen Systems, das die Inhaftierung von Personen regelt, und ohne Zugang zu einem Rechtsbeistand der eigenen Wahl, zu Familienangehörigen oder anderen Personen der Außenwelt festzuhalten. Dadurch wurden diese Personen der Gefahr ausgesetzt, gefoltert oder anderweitig misshandelt zu werden. Diese Inhaftierungspraxis dient dazu, die Tätigkeit von Menschenrechtsverteidigern - einschließlich der von Rechtsanwälten, politisch engagierten Bürgern und Angehörigen von Religionsgemeinschaften - zu unterbinden (ÖB 11.2016; vgl. AA 15.12.2016, AI 22.2.2017).

Im Zusammenhang mit verwaltungsstrafrechtlich bewehrten rechtswidrigen Handlungen kann die Polizei zudem "Verwaltungsstrafen" verhängen. Diese Strafen reichen von Ermahnungen über Geldbußen bis hin zu einer "Verwaltungshaft" (ohne richterliche Entscheidung) von bis zu 15 Tagen. Der Aufenthalt in den offiziell nicht existenten "black jails" kann zwischen wenigen Tagen und in einigen Fällen langjährigen Haftaufenthalten variieren (AA 15.12.2016).

Das 2013 in Kraft getretene revidierte Strafverfahrensgesetz verbessert v.a. die Stellung des Verdächtigen/Angeklagten und der Verteidigung im Strafprozess; die Umsetzung steht aber in der Praxis in weiten Teilen noch aus. Auch der Zeugenschutz wird gestärkt. Chinesische Experten gehen davon aus, dass die Durchsetzung dieser Regeln viele Jahre erfordern wird (AA 15.12.2016). Der Schutz jugendlicher Straftäter wurde erhöht (ÖB 11.2014).

2014 wurden schrittweise weitere Reformen eingeleitet, darunter die Anordnung an Richter, Entscheidungen über ein öffentliches Onlineportal zugänglich zu machen sowie ein Pilotprojekt in sechs Provinzen um die Aufsicht über Bestellungen und Gehälter auf eine höhere bürokratische Ebene zu verlagern. Beim vierten Parteiplenum im Oktober 2014 standen Rechtsreformen im Mittelpunkt. Die Betonung der Vorherrschaft der Partei über das Rechtssystem und die Ablehnung von Aktionen, die die Unabhängigkeit der Justiz erhöhen würden, wurde jedoch beibehalten. Dies führte zu Skepsis hinsichtlich der tatsächlichen Bedeutung der Reform (FH 1.2015a).

Das chinesische Strafgesetz hat die früher festgeschriebenen "konterrevolutionären Straftaten" abgeschafft und im Wesentlichen durch Tatbestände der "Straftaten, welche die Sicherheit des Staates gefährden" (Art. 102-114 chin. StG) ersetzt. Danach können vor allem Personen bestraft werden, die einen politischen Umsturz/Separatismus anstreben oder das Ansehen der VR China beeinträchtigen. Gerade dieser Teil des Strafgesetzes fällt durch eine Vielzahl unbestimmter Rechtsbegriffe auf (AA 15.12.2016). Die Regierung hat weitere Gesetze zur nationalen Sicherheit ausgearbeitet und verabschieden lassen, die eine ernste Gefahr für den Schutz der Menschenrechte darstellen. Das massive landesweite Vorgehen gegen Menschenrechtsanwälte und politisch engagierte Bürger hielt das ganze Jahr über an (AI 22.2.2017). Prozesse, bei denen die Anklage auf Terrorismus oder "Verrat von Staatsgeheimnissen" lautet, werden unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt. Was ein Staatsgeheimnis ist, kann nach chinesischer Gesetzeslage auch rückwirkend festgelegt werden. Angeklagte werden in diesen Prozessen weiterhin in erheblichem Umfang bei der Wahrnehmung ihrer Rechte beschränkt. U.a. wird dem Beschuldigten meist nicht erlaubt, Verteidiger seiner Wahl zu beauftragen; nur in seltenen Ausnahmefällen wird vom Gericht überhaupt eine Verteidigung bestellt (AA 15.12.2016).

Auch 2016 setzten sich die Übergriffe der Behörden auf Menschenrechtsanwälte das ganze Jahr hindurch mit Verhaftungen und strafrechtlichen Verfolgungen fort (FH 1.2017a). Rechtsanwälte, die in kontroversen Fällen tätig wurden, mussten mit Drangsalierungen und Drohungen seitens der Behörden rechnen, und in einigen Fällen wurde ihnen die weitere berufliche Tätigkeit verboten. Dies hatte zur Konsequenz, dass der Zugang der Bürger zu einem gerechten Gerichtsverfahren sehr stark eingeschränkt war. Mangelhafte nationale Gesetze und systemische Probleme im Strafrechtssystem hatten weitverbreitete Folter und anderweitige Misshandlungen sowie unfaire Gerichtsverfahren zur Folge (AI 22.2.2017).

Seit der offiziellen Abschaffung der administrativen "Umerziehung durch Arbeit" im Jänner 2014 werden Menschenrechtsaktivisten vermehrt auf Basis der Strafrechtstatbestände der Unruhestiftung oder des Separatismus verurteilt und somit in Strafhaft gesperrt, wobei aufgrund der vagen Tatbestände ein strafrechtsrelevanter Sachverhalt relativ leicht kreiert werden kann (ÖB 11.2016). Häufig wurden Anklagen wegen "Untergrabung der staatlichen Ordnung", "Untergrabung der Staatsmacht", "Anstiftung zum Separatismus" "Anstiftung zu Subversion" oder "Weitergabe von Staatsgeheimnissen", sowie "Weitergabe nachrichtendienstlicher Informationen an das Ausland" erhoben und langjährige Gefängnisstrafen verhängt (ÖB 11.2016; vgl. AI 22.2.2017).

Wegen der mangelnden Unabhängigkeit der Justiz wählen viele Betroffene von Behördenwillkür den Weg der Petition bei einer übergeordneten Behörde (z.B. Provinz- oder Zentralregierung). Petitionen von Bürgern gegen Rechtsbrüche lokaler Kader in den Provinzen nehmen zu. Allein in Peking versammeln sich täglich Hunderte von Petenten vor den Toren des staatlichen Petitionsamts, um ihre Beschwerde vorzutragen. Chinesischen Zeitungsberichten zufolge werden pro Jahr landesweit ca. 10 Mio. Eingaben eingereicht. Petenten aus den verschiedenen Provinzen werden häufig von Schlägertrupps im Auftrag der Provinzregierungen aufgespürt und in ihre Heimatregionen zurückgebracht. Zwischen Februar und April 2014 wurden verschiedene Reformen des Petitionssystems verabschiedet, die eine schnellere Bearbeitung und Umstellung auf mehr Online-Plattformen beinhaltet. Das 4. Plenum des Zentralkomitees der KP hat im Oktober 2014 weitere Schritte zur Regelung des Petitionswesens getroffen, deren Umsetzung aber noch aussteht. Diese Reformen werden von Beobachtern dafür kritisiert, dass sie die Effektivität der Bearbeitung der Petitionen kaum steigern, sondern vor allem dazu dienen, Petitionäre von den Straßen Pekings fernzuhalten (AA 15.12.2016).

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Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (4.2017a): China - Innenpolitik, http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/China/Innenpolitik_node.html#doc334570bodyText5, Zugriff 2.8.2017

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AA - Auswärtiges Amt (15.12.2016): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Volksrepublik China

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AI - Amnesty International (22.2.2017): Amnesty International Report 2016/17 - The State of the World's Human Rights - China, http://www.ecoi.net/local_link/336465/479116_de.html, Zugriff am 18.8.2017

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FH - Freedom House (1.2017a): Freedom in the World 2017 - China, https://freedomhouse.org/report/freedom-world/2017/china, Zugriff 17.8.2017

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FH - Freedom House (1.2015a): Freedom in the World 2015 - China, http://www.ecoi.net/local_link/295269/430276_de.html, Zugriff 20.8.2015

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ÖB Peking (11.2016): Asylländerbericht Volksrepublik China

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ÖB Peking (11.2014): Asylländerbericht Volksrepublik China

Sicherheitsbehörden

Sicherheitsbehörden sind das Ministerium für Staatssicherheit, das Ministerium für Öffentliche Sicherheit, und die Bewaffnete Volkspolizei (BVP) der Volksbefreiungsarmee. Das Ministerium für Staatssicherheit soll vor Staatsfeinden, Spionen und konterrevolutionären Aktivitäten zur Sabotage oder dem Sturz des chinesischen sozialistischen Systems schützen. In die Zuständigkeit dieses Ministeriums fallen auch der Inlands- und Auslandsgeheimdienst. Die BVP ist in 45 Divisionen unterteilt, bestehend aus Innensicherheitspolizei, Grenzüberwachung, Regierungs- und Botschaftsbewachung, sowie Funk- und Kommunikationsspezialisten. Ein wesentlicher Anteil der in den letzten Jahren vorgenommenen Truppenreduktionen in der Volksbefreiungsarmee war in Wahrheit eine Umschichtung von den Linientruppen zur BVP. Darüber hinaus beschäftigen zahlreiche lokale Kader u.a. entlassene Militärangehörige in paramilitärischen Schlägertrupps. Diese Banden gehen häufig bei Zwangsaussiedlung im Zuge von Immobilienspekulation durchaus auch im Zusammenspiel mit der BVP gegen Zivilisten vor. Das Ministerium für Öffentliche Sicherheit beaufsichtigt alle innerstaatlichen Aktivitäten der zivilen Sicherheitsbehörden (außer derjenigen, die in die Zuständigkeit des Staatssicherheitsministeriums fallen), sowie die BVP. Konkret umfassen seine Aufgaben innere Sicherheit, Wirtschaft und Kommunikationssicherheit, neben der Zuständigkeit für Polizeieinsätze und Gefängnisverwaltung. Die Organisationseinheit auf niedrigster Ebene sind die lokalen Polizeikommissariate, die für den alltäglichen Umgang mit der Bevölkerung verantwortlich sind und die Aufgaben von Polizeistationen erfüllen. Darüber hinaus besteht ein enges Netz an lokalen Partei-Büros welche mittels freiwilliger "Blockwarte" die Bewegungen der Bewohner einzelner Viertel überwachen und mit der Polizei zusammenarbeiten (ÖB 11.2016).

Die Behörde für Staatssicherheit kann seit Mitte April 2017 Beträge zwischen 10.000 und 500.000 Yuan (etwa 68.000 Euro) für nützliche Hinweise an Informanten auszahlen, welche durch ihre Mitarbeit bei der Enttarnung von ausländischen Spionen helfen. Informationen können über eine speziell eingerichtete Hotline, Briefe oder bei einem persönlichen Besuch bei der Behörde gegeben werden. So sich die Hinweise als zweckdienlichen herausstellen, soll der Informant das Geld erhalten (FAZ 11.4.2017).

Zivile Behörden behalten die Kontrolle über Militär- und Sicherheitskräfte bei (USDOS 3.3.2017). Die Zentrale Militärkommission (ZMK) der Partei leitet die Streitkräfte des Landes (AA 15.12.2016). Nach dem Gesetz zur Landesverteidigung von 1997 sind die Streitkräfte nicht dem Staatsrat, sondern der Partei unterstellt (AA 4.2017a).

Für die innere Sicherheit sind zuständig sind (1) Polizei und Staatsanwaltschaften, die Rechtsverstöße des Normalbürgers verfolgen; (2) Disziplinar-Kontrollkommission der KPCh, die gegen Verstöße von KP-Mitgliedern einschreitet; (3) Einheiten des Ministeriums für Verwaltungskontrolle, die für Pflichtverletzungen im Amt zuständig sind; (4) Staatsschutz (Guobao) für die Beobachtung und Verfolgung politischer bzw. als potentiell staatsgefährdend wahrgenommener Aktivitäten von Bürgern und Ausländern (AA 15.12.2016).

Für den Bereich der Gefahrenabwehr ist primär das dem Staatsrat unterstehende Ministerium für Öffentliche Sicherheit mit seinen Polizeikräften verantwortlich, das daneben auch noch für Strafverfolgung zuständig ist und in Teilbereichen mit nachrichtendienstlichen Mitteln arbeitet. Aufgaben der Polizei sind sowohl die Gefahrenabwehr als auch die Strafverfolgung, bei der ihr u. a. die Anordnung von Administrativhaft als Zwangsmaßnahme zur Verfügung steht. Im Bereich der Strafverfolgung ist sie für die Durchführung von strafrechtlichen Ermittlungsverfahren originär zuständig. Bei Delikten, die von Polizisten aufgrund ihrer Amtsstellung begangen werden, ermittelt die Staatsanwaltschaft selbst, während sie sonst primär die Tätigkeit der polizeilichen Ermittlungsorgane beaufsichtigt und auf Grundlage deren Empfehlung über die Erhebung der Anklage entscheidet (AA 15.12.2016).

Das Ministerium für Staatssicherheit (MSS) ist u.a. zuständig für die Auslandsaufklärung sowie für die Überwachung von Auslandschinesen und von Organisationen oder Gruppierungen, welche die Sicherheit der VR China beeinträchtigen könnten. Es überwacht die Opposition im eigenen Land, betreibt aber auch Spionageabwehr und beobachtet hierbei vielfach auch die Kontakte zwischen ausländischen Journalisten und chinesischen Bürgern. Darüber hinaus verfügen auch die Streitkräfte über einen eigenen, sorgfältig durchstrukturierten Nachrichtendienst, die 2. Hauptverwaltung im Generalstab. Zudem sind viele Arbeitseinheiten parallel mit der Beschaffung von Informationen bzw. mit Überwachungsaufgaben von in- und ausländischen Bürgern befasst. Vor allem das Internationale Verbindungsbüro unter der politischen 1. Hauptverwaltung des Generalstabs ist zuständig für Informationen aus dem Ausland, für die Entsendung von Agenten in Auslandseinsätze, meist unter diplomatischer "Tarnung", und für die Überwachung des eigenen diplomatischen Personals. Zahlreiche "Think tanks" sind für die Beschaffung von Auslandsinformationen zuständig (AA 15.12.2016).

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Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (4.2017a): China - Innenpolitik, http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/China/Innenpolitik_node.html%20-%20doc334570bodyText5, Zugriff 9.8.2017

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AA - Auswärtiges Amt (15.12.2016): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Volksrepublik China

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FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung (11.4.2017): Peking belohnt Bürger für Enttarnung ausländischer Spione, http://www.faz.net/aktuell/politik/china-bezahlt-buerger-f

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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