TE Bvwg Erkenntnis 2018/9/13 W262 2170297-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 13.09.2018
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Entscheidungsdatum

13.09.2018

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §34 Abs3
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art.133 Abs4

Spruch

W262 2170294-1/11E

W262 2170297-1/11E

W262 2170298-1/10E

W262 2170299-1/10E

W262 2189535-1/6E

SCHRIFTLICHE AUSFERTIGUNG DER AM 14.08.2018 MÜNDLICH VERKÜNDETEN

ERKENNTNISSE

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Julia JERABEK als Einzelrichterin über die Beschwerden von 1. XXXX , 2. XXXX , 3. XXXX , 4. XXXX , 5. XXXX , alle Staatsangehörigkeit Afghanistan, alle vertreten durch den MigrantInnenverein St. Marx, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl zu 1) bis 4) vom 22.08.2017, Zahlen XXXX sowie zu 5) vom 26.02.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 14.08.2018 zu Recht erkannt:

A)

I. Die Beschwerden gegen Spruchpunkt I. der angefochtenen Bescheide werden gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

II. Den Beschwerden gegen Spruchpunkt II. der angefochtenen Bescheide wird stattgegeben und mj. XXXX , mj. XXXX und mj. XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 sowie XXXX und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 iVm § 34 Abs. 3 AsylG 2005 der Status von subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird mj. XXXX , mj. XXXX , mj. XXXX , XXXX und XXXX jeweils eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 14.08.2019 erteilt.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG (jeweils) nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Die Beschwerdeführer, ein Ehepaar und seine drei minderjährigen Kinder, sind afghanische Staatsangehörige. Sie stellten (mit Ausnahme der in Österreich nachgeborenen Fünftbeschwerdeführerin) am 30.07.2015 Anträge auf internationalen Schutz in Österreich. Für die Fünftbeschwerdeführerin (BF5) wurde am 23.01.2018 ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt.

2. Die Erstbeschwerdeführerin (BF1) gab bei ihrer Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 31.07.2015 im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari an, dass sie am XXXX in der Provinz Ghazni geboren worden sei. Sie sei afghanische Staatsangehörige, gehöre der Volksgruppe der Hazara an und bekenne sich zum schiitisch-islamischen Glauben. Ihre Muttersprache sei Dari. Sie sei mit dem Zweitbeschwerdeführer traditionell und standesamtlich verheiratet und habe zwei Söhne.

Der Zweitbeschwerdeführer (BF2) gab bei seiner Erstbefragung vor Organen des öffentlichen am 31.07.2015 im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari an, dass er am XXXX in der Provinz Ghazni geboren worden sei. Er sei afghanischer Staatsangehöriger, gehöre der Volksgruppe der Hazara an und bekenne sich zum schiitisch-islamischen Glauben. Seine Muttersprache sei Dari. Er sei mit der BF1 traditionell und standesamtlich verheiratet und habe zwei Söhne.

3. Zu den Fluchtgründen befragt brachten die Beschwerdeführer vor, dass der Bruder des BF2 bei einem Selbstmordanschlag getötet worden sei. Aus Angst, dass der Familie dasselbe widerfahre, haben sie Afghanistan verlassen. BF2 möchte seiner Familie ein besseres Leben ermöglichen.

4. Im Zuge der niederschriftlichen Einvernahme am 15.03.2017 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Kärnten, Außenstelle Klagenfurt (in Folge: BFA oder belangte Behörde) bestätigte BF1 ihr bisherigen Angaben im Verfahren und führte weiter aus, dass sie Hausfrau gewesen sei und keine schulische Ausbildung erhalten habe. Ihr Ehemann habe ein Haus und ein Grundstück besessen und Tiere gehalten. Ihre Familie lebe weiterhin in der Provinz Ghazni.

Zu ihren Fluchtgründen befragt sagte BF1 zusammengefasst aus, dass ihr Schwiegervater und Schwager auf dem Weg in Krankenhaus gewesen seien, als es zu einer Autoexplosion gekommen sei, bei welcher diese starben. Zwei oder drei Tage später seien schwarz gekleidete Personen zu ihnen nach Hause gekommen und haben sie, ihren Ehemann und die Schwiegermutter geschlagen. Als sie wieder zu sich gekommen sei, seien alle Wertgegenstände gestohlen gewesen. Weitere zwei bis drei Tage später habe die Familie einen Brief einer Person namens "Omar" bekommen. Der Onkel ihres Ehemannes habe diesen übersetzt und ihnen geraten, Afghanistan zu verlassen. Der Brief sei auf der Flucht verloren gegangen. Über Nachfrage gab BF1 an, dass Ihre Kinder keine eigenen Fluchtgründe haben.

Auch BF2 bestätigte seine bisherigen Angaben im Verfahren und führte darüber hinaus aus, dass er als Hilfsarbeiter auf Baustellen sowie in der Landwirtschaft gearbeitet habe. Für den Eigenbedarf habe er Schafe und Kühe gehalten. Seine Mutter und sein Onkel leben nach wie vor in Afghanistan, seine Schwester lebe im Iran.

Zu seinen Fluchtgründen befragt gab BF2 zusammengefasst an, dass sein Vater und Bruder durch eine Autoexplosion getötet worden seien. Es sei Sprengstoff am Auto angebracht worden. Er sei zuhause gewesen, als er die Explosion gehört habe. Zwei Stunden später habe er sie begraben. Drei Tage später seien vier fremde maskierte Personen in sein Haus eingedrungen und haben ihn, seine Ehefrau und Mutter geschlagen und alle Wertgegenstände mitgenommen. Er wisse nicht, ob es zwischen der Explosion und dem Überfall einen Zusammenhang gebe, er habe jedoch einen Drohbrief erhalten, welcher durch das Fenster geworfen worden sei. Man habe ihm mit dem Tod gedroht. Am Ende des Briefes sei der Name "Omar Khan" gestanden, er wisse jedoch nicht, wer diese Person sei.

5. Mit den nunmehr angefochtenen Bescheiden des BFA vom 22.08.2017 bzw. 26.02.2018 wurden die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz vom 31.07.2015 bzw. vom 23.01.2018 hinsichtlich der Zuerkennung des Status von Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde den Beschwerdeführern gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurden gegen die Beschwerdeführer Rückkehrentscheidungen nach § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen. Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung der Beschwerdeführer nach Afghanistan gemäß 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt III.). Schließlich wurde ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise der Beschwerdeführer gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidungen beträgt (Spruchpunkt IV.).

Die belangte Behörde traf Feststellungen zu den Beschwerdeführern, zu den Gründen für das Verlassen ihres Herkunftsstaates, zur Situation im Falle ihrer Rückkehr sowie zur Lage in Afghanistan.

Beweiswürdigend führte das BFA im Wesentlichen aus, dass die Identität der Beschwerdeführer mangels Vorlage von unbedenklichen Identitätsdokumenten nicht feststehe. Die Feststellungen zu Staatsangehörigkeit, Herkunft, Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, Familienstand sowie Gesundheitszustand würden sich aus den glaubhaften Angaben der BF1 und des BF2 ergeben.

Die vorgebrachten Fluchtgründe seien im Ergebnis weder glaubhaft, noch asylrelevant. Unter Zugrundelegung des Fluchtvorbringens sei ein Verfolgungsinteresse an der Familie nicht nachvollziehbar. Eine allfällige Gefahr bestünde zudem nicht in ganz Afghanistan. Die Kinder hätten keine eigenen Fluchtgründe geltend gemacht.

Eine Rückkehr nach Ghazni komme aufgrund der volatilen Sicherheitslage in dieser Provinz nicht in Betracht. Es liege aber eine innerstaatliche Fluchtalternative - etwa in Kabul - vor. Die Beschwerdeführer seien gesund; der Zweitbeschwerdeführer sei arbeitsfähig und verfüge über Berufserfahrung. Es sei nicht wahrscheinlich, dass den Beschwerdeführern in Afghanistan ein Entzug der Lebensgrundlage drohe, zumal die Beschwerdeführer bei einer Rückkehr auf das bestehende familiäre und soziale Netzwerk zurückgreifen und von den in Afghanistan lebenden Verwandten Unterstützung erhalten können.

Die Aussagen der Beschwerdeführer zu ihrem Privatleben in Österreich wurden vom BFA für glaubhaft befunden. Die Beschwerdeführer würden sich erst kurz im Bundesgebiet aufhalten und abgesehen von der Kernfamilie über keine familiären Anknüpfungspunkte in Österreich verfügen. Die Familien der Beschwerdeführer würden weiterhin in Afghanistan leben. Die BF1 und der BF2 würden zwar Deutschkurse besuchen. Dennoch würden sie nur über geringe Deutschkenntnisse verfügen. Der Drittbeschwerdeführer (BF3) besuche die Schule. Eine ausgeprägte Integration in Österreich liege trotz gewisser Integrationsbemühungen nicht vor.

Im Anschluss unterzog die belangte Behörde den von ihr festgestellten Sachverhalt unter Bezugnahme auf die einzelnen Spruchpunkte der Bescheide einer rechtlichen Beurteilung.

6. Gegen diese Bescheide des BFA richten sich die fristgerecht erhobenen Beschwerden, mit denen die Bescheide wegen Rechtswidrigkeit infolge der Verletzung von Verfahrensvorschriften, insbesondere wegen Mangelhaftigkeit des Ermittlungsverfahrens bzw. mangelhafter Beweiswürdigung und unrichtiger rechtlicher Beurteilung angefochten wurden. Im Wesentlichen wurden die bereits vorgebrachten Fluchtgründe wiederholt. Es liege eine Verfolgung aus politischen Gründen bzw. aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, aufgrund von Verfolgungshandlungen durch die Taliban sowie aufgrund der Zugehörigkeit zur Volkgruppe der Hazara vor. BF1 werde darüber hinaus aufgrund geschlechterspezifischer Gründe verfolgt; als westlich orientierte Frau könne sie keinen Schutz der Behörden erwarten. Bei ihrer Rückkehr würde sie zusätzlich mit Einschränkungen ihrer fundamentalen Menschenrechte konfrontiert werden.

Die Beschwerdeführer beantragten, das Bundesverwaltungsgericht möge eine mündliche Verhandlung anberaumen, den angefochtenen Bescheid aufheben und ihnen den Status von Asylberechtigten zuerkennen. In eventu wurde beantragt, den Beschwerdeführern den Status von subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen oder die Bescheide aufzuheben und zur Erlassung neuer Bescheide an das BFA zurückzuverweisen.

7. Die Beschwerden und die Verwaltungsakten langten am 11.09.2017 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

8. Am 14.08.2018 führte das Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der die Beschwerdeführer und ihr Rechtsvertreter teilnahmen und der ein Dolmetscher für die Sprache Dari beigezogen wurde. Die belangte Behörde entschuldigte sich unter Verweis auf dienstliche und personelle Gründe für die Nichtteilnahme an der Verhandlung und beantragte schriftlich die Abweisung der Beschwerden sowie die Übersendung des Verhandlungsprotokolls. Die Niederschrift der mündlichen Verhandlung wurde dem BFA im Anschluss an die Verhandlung übermittelt.

BF1 und BF2 wurden vom erkennenden Gericht eingehend zu ihrer Identität, Herkunft, zu den persönlichen Lebensumständen, zu ihren Fluchtgründen sowie zu ihrem Privat- und Familienleben in Österreich befragt.

Im Zuge der Verhandlung wurden vom erkennenden Gericht auch die Berichte über die allgemeine Lage im Herkunftsstaat der Beschwerdeführer in das Verfahren eingebracht. Den Beschwerdeführern wurden gemeinsam mit den Ladungen Länderfeststellungen zur Situation in Afghanistan übermittelt. Die Beschwerdeführer legten eine schriftliche Stellungnahme vom 07.08.2018 zu den Länderberichten vor. Betreffend ihre Integration in Österreich legten die Beschwerdeführer diverse Unterlagen vor; betreffend BF2 wurde ein ärztliches Attest vom 21.03.2017 betreffend Einschränkungen der Halswirbelsäule vorgelegt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Auf Grundlage der Niederschriften über die Erstbefragungen der BF1 und des BF2, der Niederschriften über die weiteren Einvernahmen der BF1 und des BF2 durch die belangte Behörde, des Beschwerdevorbringens, der mündlichen Beschwerdeverhandlung sowie der Länderberichte zur Lage in Afghanistan, der dazu erstatteten Stellungnahme der Beschwerdeführer und der von ihnen vorgelegten Unterlagen werden folgende Feststellungen getroffen:

1.1. Zur Identität und zum sozialen Hintergrund der Beschwerdeführer:

Die Beschwerdeführer führen den jeweils im Spruch angeführten Namen und sind afghanische Staatsangehörige. Sie sind der Volksgruppe der Hazara und dem schiitischen Glauben zugehörig. Die Muttersprache der Beschwerdeführer ist Dari.

BF1 und BF2 sind verheiratet und sind die leiblichen Eltern des am XXXX geborenen BF3, des am XXXX geborenen Viertbeschwerdeführers (BF4) und der am XXXX in Österreich geborenen BF5.

BF1 und BF 2 stammen aus dem Dorf XXXX in der Provinz Ghazni in Afghanistan, wo sie bis zu ihrer Ausreise lebten.

BF1 verfügt über keine Schul- und Berufsausbildung und kümmerte sich im Herkunftsstaat um den Haushalt.

BF2 verfügt über keine Schul- oder Berufsausbildung und hat im Herkunftsstaat im Baubereich und in der Landwirtschaft gearbeitet.

Die Eltern, zwei Brüder und eine Schwester der BF1 leben im Dorf XXXX in der Provinz Ghazni in Afghanistan; ein Bruder lebt im Iran. Der Onkel mütterlicherseits der BF1 lebt im Dorf XXXX in der Provinz Ghazni in Afghanistan und kümmert sich um das Haus und das Grundstück der Beschwerdeführer.

Die Schwester und der Onkel von BF2 leben im Iran.

Es kann nicht festgestellt werden, ob die Mutter von BF2 noch in Afghanistan lebt; die Schwester und der Onkel von BF2 leben im Iran.

1.2. Zum Leben der Beschwerdeführer in Österreich:

Die Beschwerdeführer stellten in Österreich am 31.07.2018 einen Antrag auf internationalen Schutz. Die in Österreich nachgeborene BF5 stellte am 23.01.2018 einen Antrag auf internationalen Schutz.

BF1 erhält privaten Deutschunterricht, geht keiner Arbeit nach, besucht einen Schwimmkurs und macht Gymnastik. Die BF1 verfügt über rudimentäre Deutschkenntnisse.

BF2 arbeitet ehrenamtlich bei der Gemeinde als Gärtner und besucht einen Deutschkurs. Er verfügt über keine Deutschkenntnisse.

Der minderjährige BF3 besucht in XXXX die Volkschule und geht in einen Fußballverein.

Die Beschwerdeführer leiden an keinen schwerwiegenden Krankheiten und sind unbescholten, die Kinder sind strafunmündig. BF2 leidet an einem ausgeprägten Schaden an der Halswirbelsäule.

1.3. Zum Fluchtvorbringen der Beschwerdeführer:

1.3.1. Die Beschwerdeführer begründeten ihre Anträge auf internationalen Schutz bei den Einvernahmen im Asylverfahren und in den Beschwerden damit, dass der Bruder und Vater des BF2 bei einer Explosion ums Leben kamen, einige Tage später die Familie zu Hause überfallen und beraubt wurde und wiederum einige Tage später ein Brief die Familie erreichte, in dem eine Todesdrohung gegen BF1 ausgesprochen wurde.

Im Zuge der mündlichen Beschwerdeverhandlung schilderte die BF1 ihre Fluchtgründe wie folgt:

"Mein Schwiegervater war krank und mein Schwager hat ihn ins Krankenhaus gebracht. Mein Schwiegervater und mein Schwager waren mit dem Auto Richtung Krankenhaus unterwegs, weil mein Schwiegervater Schmerzen am Bein hatte. Unterwegs ist ihr Auto durch eine Bombe explodiert. Mein Mann hat die Leichen geholt und sie begraben. Nach einigen Tagen, es war drei Uhr in der Früh, ich war damals auch schwanger. Ich habe auch sehr starken Zucker gehabt. Es kamen drei oder vier Personen zu uns ins Haus und haben uns geschlagen. Die Wirbelsäule meines Mannes ist im Halsbereich gebrochen. Ich bin im Kinn-, Hals- und Gesichtsbereich verletzt worden und war zwei Stunden bewusstlos. Sie haben meine Schwiegermutter auch geschlagen. Die vier Personen haben alles mitgenommen, was wir zu Hause hatten. Unsere Nachbarn haben unseren Onkel informiert, dieser ist gekommen und hat meinen Mann zum Arzt gebracht. Nachdem habe ich immer Kopfschmerzen, im Gesicht habe ich auch an zwei Stellen noch immer die Narben. Mein Mann hat immer Schmerzen an der Wirbelsäule. Früher hat er zwei Tabletten täglich genommen, jetzt nimmt er nur eine. Ich habe selber immer Kopfschmerzen, weil ich damals stark auf den Kopf geschlagen wurde. Ich war zu Hause, nach drei Tagen haben wir einen Brief auf Paschtu bekommen, den hat jemand bei uns zu Hause eingeworfen. Mein Mann konnte nicht lesen, er hat den Brief zu seinem Onkel ms. gebracht. Der Onkel hat den Brief gelesen, unten am Ende stand ‚von Omar Khan'. Sein Onkel hat übersetzt, dass im Brief steht: ‚Ich habe deinen Vater und deinen Bruder ermordet und ich will dich auch töten.' Dann hat der Onkel ms. von meinem Mann uns nach Kabul gebracht, von dort sind wir in den Iran gegangen. Von Kabul sind wir in den Iran geflogen. Vom Iran dann sind wir in die Türkei gekommen, drei Monate waren wir in der Türkei, nach drei Monaten sind wir nach Österreich gekommen".

Der BF2 fasste seine Fluchtgründe in der Verhandlung wie folgt zusammen:

"Mein Leben war in Gefahr. Mein Vater und mein Bruder wurden ermordet durch eine Bombe. Ich war in der Nähe von unserem Haus, als das Auto durch die Bombe explodiert ist. Dann mit der Hilfe der Nachbarn haben wir sie begraben. Drei Tage danach sind Leute zu uns nach Hause um drei in der Früh gekommen. Sie haben geklopft und sind hereingekommen und haben uns mit den Füßen getreten und uns mit den Kalaschnikows geschlagen. Ich bin bewusstlos geworden und sie haben auch meine Frau geschlagen. Ihr Kinn ist gebrochen, sie wurde auch bewusstlos. Sie haben meine alte Mutter auch geschlagen, aber nicht so viel. Unsere Wertgegenstände haben sie mitgenommen. Nach drei Tagen haben sie einen Brief bei uns zu Hause eingeworfen. Mein Sohn hat den Brief gesehen und den Brief seiner Mutter gebracht. Meine Frau kam mit dem Brief zu mir und hat gefragt, was das für ein Brief ist. Ich brachte den Brief zu meinem Onkel, er hat ihn uns vorgelesen. In dem Brief stand: ‚Ich habe deinen Vater und Bruder ermordet, dich habe ich geschlagen, aber du hast nicht kapiert.' Am Ende ist gestanden ‚Von Omar Khan'".

Die Frage des erkennenden Gerichtes, ob die Kinder eigene Fluchtgründe geltend machen, verneinten BF1, BF2 und der Rechtsvertreter.

1.3.2. Zu den geltend gemachten Fluchtgründen wird vom erkennenden Gericht Folgendes festgehalten:

Es konnte nicht festgestellt werden, dass der BF2 und seine Familie im Herkunftsstaat einer individuellen gegen sie gerichteten Verfolgung - etwa durch Taliban oder Omar Khan oder andere Personen - ausgesetzt waren oder im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan einer solchen ausgesetzt wären.

Insbesondere konnte weder festgestellt werden, dass der Vater und Bruder des BF2 gezielt von Taliban getötet wurden, noch dass der BF2 und seine Familie von den Taliban bzw. Omar Khan ausgeraubt bzw. bedroht worden sind.

Die Beschwerdeführer hätten im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan auch keine Verfolgung durch den Staat zu befürchten.

Die Beschwerdeführer sind in ihrem Herkunftsstaat nicht vorbestraft (BF3, BF4 und BF5 sind noch nicht strafmündig). Die BF1 und der BF2 haben sich im Herkunftsstaat nicht politisch betätigt, waren nicht Mitglied einer politischen Partei oder Bewegung und hatten keine Probleme mit den Behörden im Herkunftsstaat. Insbesondere konnte nicht festgestellt werden, dass der Bruder des BF2 sich politisch betätigt hat (vgl. dazu die Beweiswürdigung).

Weiters konnte nicht festgestellt werden, dass die Beschwerdeführer ohne Hinzutreten weiterer wesentlicher individueller Merkmale mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine gegen sie gerichtete Verfolgung oder Bedrohung durch staatliche Organe oder (von staatlichen Organen geduldet:) durch Private, sei es vor dem Hintergrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit (Hazara), ihrer Religion (schiitischer Islam), Nationalität (Afghanistan), Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Gesinnung zu erwarten hätten.

Die weiblichen Beschwerdeführerinnen (BF1 und BF5) wären im Herkunftsstaat alleine aufgrund ihres Geschlechts keiner asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt.

Bei der BF1 handelt es sich nicht um eine auf Eigen- und Selbstständigkeit bedachte Frau, die in ihrer persönlichen Wertehaltung und in ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als "westlich" bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist. Die Erstbeschwerdeführerin hat bisher nicht erfolgreich eine Deutschprüfung abgelegt. Sie verfügte zum Zeitpunkt der Verhandlung kaum über Deutschkenntnisse, in der Schule oder bei Arztbesuchen übersetzt der 2009 geborene Sohn. Sie kümmert sich in Österreich überwiegend um den Haushalt und ihre drei Kinder. Ihr Ehemann unterstützt sie dabei. In ihrer Freizeit geht sie (auch alleine) spazieren, einkaufen oder zur Gymnastik. Die BF1 zeigte sich an dem Beruf (Pizza)Köchin interessiert, hat aber keine konkreten Schritte unternommen, um sich über eine allfällige Ausbildung und Einstiegsmöglichkeiten (ausgenommen der Tatsache, dass es einer Aufenthaltsberechtigung bedarf) zu informieren. Sie nimmt in Österreich kaum am sozialen Leben Teil, ist nicht Mitglied in einem Verein und übernimmt keine ehrenamtlichen Tätigkeiten. Sie weiß nichts über die in Österreich gewährleisteten Grundrechte. Der wesentliche Unterschied zwischen ihrem Alltag in Afghanistan und ihrem Alltag in Österreich besteht darin, dass sie in Österreich auch ohne (männliche) Begleitung das Haus verlässt.

In der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht erschien die BF1 zwar modern gekleidet und bemühte sich, einen möglichst selbstständigen und motivierten Eindruck zu machen. Bei der BF1 war jedoch letztlich keine derart fortgeschrittene Persönlichkeitsentwicklung zu erkennen, aufgrund derer eine Verinnerlichung eines "westlichen Verhaltens" oder eine "westliche Lebensführung" als wesentlicher Bestandteil ihrer Identität angenommen werden kann.

Hinsichtlich der BF5 ist aufgrund ihres jungen und anpassungsfähigen Alters von neun Monaten keine derart fortgeschrittene Persönlichkeitsentwicklung abzusehen, aufgrund derer eine Verinnerlichung eines "westlichen Verhaltens" oder eine "westlichen Lebensführung" als wesentlicher Bestandteil ihrer Identität angenommen werden könnte.

Die BF5 wäre in Afghanistan aufgrund ihres Geschlechts auch nicht von der Inanspruchnahme von Bildungsmöglichkeiten (insbesondere Schulbesuch) ausgeschlossen oder maßgeblich beschränkt. In Afghanistan besteht Schulpflicht. Auch faktisch ist, insbesondere in den Städten, ein Schulangebot für Mädchen (und Jungen) vorhanden. Vor diesem Hintergrund ist auch keine asylrelevante Verfolgung der minderjährigen BF5 für den Fall zu befürchten, dass die Eltern ihr bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine grundlegende Bildung zukommen lassen wollten. Die BF1 und BF2 befürworten aktuell eine künftige schulische Ausbildung ihrer Tochter (und auch der anderen Kinder). Seitens der Beschwerdeführer wurde im Zuge des Verfahrens auch nicht geltend gemacht, dass der BF5 in Afghanistan ein (künftiger) Schulbesuch faktisch verwehrt bliebe. Es ist im Übrigen nicht ersichtlich, dass Mädchen in den urbanen Zentren Afghanistans - wie etwa in Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif - durch regierungsfeindliche Gruppierungen oder sonstige Privatpersonen gewaltsam am Besuch von allgemeinen Bildungseinrichtungen gehindert werden.

Schließlich konnte nicht festgestellt werden, dass BF3, BF4 und BF5 alleine aufgrund ihres Alters bzw. vor dem Hintergrund der Situation von Kindern in Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit physische und/oder psychische Gewalt asylrelevanter Intensität drohen würde.

1.4. Eine Rückkehr der Beschwerdeführer in ihre Herkunftsprovinz Ghazni scheidet aus, weil ihnen dort aufgrund der vorherrschenden Sicherheitslage ein Eingriff in ihre körperliche Unversehrtheit drohen würde, zumal die Erreichbarkeit der Provinz (etwa von Kabul aus) auf sicherem Weg nicht gewährleistet werden kann.

Bei BF3, BF4 und BF5 handelt es sich um unmündige Minderjährige im Alter von neun und drei Jahren sowie neun Monaten, die im Familienverband mit ihren Eltern leben und weder über eigenes Vermögen noch über eine eigene Möglichkeit der Existenzsicherung verfügen. In Afghanistan besteht eine hohe Zahl an minderjährigen zivilen Opfern. Vor allem Kinder sind zudem besonders von Unterernährung betroffen. Ungefähr zehn Prozent der Kinder sterben vor ihrem fünften Geburtstag. Auch bestünde für die minderjährigen Beschwerdeführer die Gefahr, dass sie Kinderarbeit leisten müssen, falls der BF2 zu wenig verdienen würde, um die gesamte Familie zu erhalten. In Anbetracht der festgestellten individuellen und familiären Situation der Beschwerdeführer und der besonderen Schutzbedürftigkeit von minderjährigen Kindern war seitens des Bundesverwaltungsgerichtes im Lichte einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, der hohen Zahl an minderjährigen Opfern auch in zentralen Regionen und Städten, der dadurch eingeschränkten Bewegungsfreiheit der minderjährigen Beschwerdeführer sowie der schwierigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für ihre erforderliche Versorgung im Herkunftsstaat festzustellen, dass BF3, BF4 und BF5 bei einer Ansiedelung nach Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif einem realen Risiko ausgesetzt wären, in eine existenzbedrohende (Not-)Lage zu geraten. Daran vermag auch der Umstand nichts zu ändern, dass eine isolierte Beurteilung der Rückkehrsituation (nur) der Eltern allenfalls zu einem anderen Ergebnis führen könnte.

1.5. Zur Lage in Afghanistan

1.5.1. Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan vom 29.06.2018:

"2. Politische Lage

Nach dem Sturz des Taliban-Regimes im Jahr 2001 wurde eine neue Verfassung ausgearbeitet und im Jahr 2004 angenommen (BFA Staatendokumentation 7.2016; vgl. Casolino 2011). Sie basiert auf der Verfassung aus dem Jahr 1964. Bei der Ratifizierung sah diese Verfassung vor, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA Staatendokumentation 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015).

Nach den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2014 einigten sich die beiden Kandidaten Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah Mitte 2014 auf eine Regierung der Nationalen Einheit (RNE) (AM 2015; vgl. DW 30.9.2014). Mit dem RNE-Abkommen vom 21.9.2014 wurde neben dem Amt des Präsidenten der Posten des CEO (Chief Executive Officer) eingeführt, dessen Befugnisse jenen eines Premierministers entsprechen. Über die genaue Gestalt und Institutionalisierung des Postens des CEO muss noch eine loya jirga [Anm.: größte nationale Versammlung zur Klärung von wichtigen politischen bzw. verfassungsrelevanten Fragen] entscheiden (AAN 13.2.2015; vgl. AAN o. D.), doch die Einberufung einer loya jirga hängt von der Abhaltung von Wahlen ab (CRS 13.12.2017).

Die afghanische Innenpolitik war daraufhin von langwierigen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Regierungslagern unter Führung von Präsident Ashraf Ghani und dem Regierungsvorsitzenden (Chief Executive Officer, CEO) Abdullah Abdullah geprägt. Kurz vor dem Warschauer NATO-Gipfel im Juli 2016 wurden schließlich alle Ministerämter besetzt (AA 9.2016).

Parlament und Parlamentswahlen

Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus dem Unterhaus, auch wolesi jirga, 'Kammer des Volkes', genannt, und dem Oberhaus, meshrano jirga auch 'Ältestenrat' oder 'Senat' genannt. Das Unterhaus hat 250 Sitze, die sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen verteilen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz im Unterhaus reserviert (AAN 22.1.2017; vgl. USDOS 20.4.2018, USDOS 15.8.2017, CRS 13.12.2017, Casolino 2011). Die Mitglieder des Unterhauses haben ein Mandat von fünf Jahren (Casolino 2011). Die verfassungsmäßigen Quoten gewährleisten einen Frauenanteil von ca. 25% im Unterhaus (AAN 22.1.2017).

Das Oberhaus umfasst 102 Sitze (IPU 27.2.2018). Zwei Drittel von diesen werden von den gewählten Provinzräten vergeben. Das verbleibende Drittel, wovon 50% mit Frauen besetzt werden müssen, vergibt der Präsident selbst. Zwei der vom Präsidenten zu vergebenden Sitze sind verfassungsgemäß für die Kutschi-Minderheit und zwei weitere für behinderte Personen bestimmt. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 20.4.2018; vgl. USDOS 15.8.2017).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist. Zugleich nutzt das Parlament seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z. T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die RNE als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leider die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 5.2018).

Die für Oktober 2016 angekündigten Parlamentswahlen konnten wegen ausstehender Wahlrechtsreformen nicht am geplanten Termin abgehalten werden. Daher bleibt das bestehende Parlament weiterhin im Amt (AA 9.2016; vgl. CRS 12.1.2017). Im September 2016 wurde das neue Wahlgesetz verabschiedet und Anfang April 2018 wurde von der unabhängigen Wahlkommission (IEC) der 20. Oktober 2018 als neuer Wahltermin festgelegt. Gleichzeitig sollen auch die Distriktwahlen stattfinden (AAN 12.4.2018; vgl. AAN 22.1.2017, AAN 18.12.2016).

Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 15.8.2017). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (AE o. D.). Der Terminus 'Partei' umfasst gegenwärtig eine Reihe von Organisationen mit sehr unterschiedlichen organisatorischen und politischen Hintergründen. Trotzdem existieren Ähnlichkeiten in ihrer Arbeitsweise. Einer Anzahl von ihnen war es möglich, die Exekutive und Legislative der Regierung zu beeinflussen (USIP 3.2015).

Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen jedoch mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren, denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien. Ethnischer Proporz, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen genießen traditionell mehr Einfluss als politische Organisationen. Die Schwäche des sich noch entwickelnden Parteiensystems ist auf strukturelle Elemente (wie z.B. das Fehlen eines Parteienfinanzierungsgesetzes) zurückzuführen sowie auf eine allgemeine Skepsis der Bevölkerung und der Medien. Reformversuche sind im Gange, werden aber durch die unterschiedlichen Interessenlagen immer wieder gestört, etwa durch das Unterhaus selbst (AA 9.2016). Ein hoher Grad an Fragmentierung sowie eine Ausrichtung auf Führungspersönlichkeiten sind charakteristische Merkmale der afghanischen Parteienlandschaft (AAN 6.5.2018).

Mit Stand Mai 2018 waren 74 Parteien beim Justizministerium (MoJ) registriert (AAN 6.5.2018).

Parteienlandschaft und Opposition

Nach zweijährigen Verhandlungen unterzeichneten im September 2016 Vertreter der afghanischen Regierung und der Hezb-e Islami ein Abkommen (CRS 12.1.2017), das letzterer Immunität für 'vergangene politische und militärische' Taten zusichert. Dafür verpflichtete sich die Gruppe, alle militärischen Aktivitäten einzustellen (DW 29.9.2016). Das Abkommen beinhaltete unter anderem die Möglichkeit eines Regierungspostens für den historischen Anführer der Hezb-e-Islami, Gulbuddin Hekmatyar; auch soll sich die afghanische Regierung bemühen, internationale Sanktionen gegen Hekmatyar aufheben zu lassen (CRS 12.1.2017). Tatsächlich wurde dieser im Februar 2017 von der Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates gestrichen (AAN 3.5.2017). Am 4.5.2017 kehrte Hekmatyar nach Kabul zurück (AAN 4.5.2017). Die Rückkehr Hekmatyars führte u.a. zu parteiinternen Spannungen, da nicht alle Fraktionen innerhalb der Hezb-e Islami mit der aus dem Friedensabkommen von 2016 erwachsenen Verpflichtung sich unter Hekmatyars Führung wiederzuvereinigen, einverstanden sind (AAN 25.11.2017; vgl. Tolonews 19.12.2017, AAN 6.5.2018). Der innerparteiliche Konflikt dauert weiter an (Tolonews 14.3.2018).

Ende Juni 2017 gründeten Vertreter der Jamiat-e Islami-Partei unter Salahuddin Rabbani und Atta Muhammad Noor, der Jombesh-e Melli-ye Islami-Partei unter Abdul Rashid Dostum und der Hezb-e Wahdat-e Mardom-Partei unter Mardom Muhammad Mohaqeq die semi-oppositionelle 'Coalition for the Salvation of Afghanistan', auch 'Ankara Coalition' genannt. Diese Koalition besteht aus drei großen politischen Parteien mit starker ethnischer Unterstützung (jeweils Tadschiken, Usbeken und Hazara) (AB 18.11.2017; vgl. AAN 6.5.2018).

Unterstützer des weiterhin politisch tätigen ehemaligen Präsidenten Hamid Karzai gründeten im Oktober 2017 eine neue politische Bewegung, die Mehwar-e Mardom-e Afghanistan (The People's Axis of Afghanistan), unter der inoffiziellen Führung von Rahmatullah Nabil, des ehemaligen Chefs des afghanischen Geheimdienstes (NDS). Später distanzierten sich die Mitglieder der Bewegung von den politischen Ansichten Hamid Karzais (AAN 6.5.2018; vgl. AAN 11.10.2017).

Anwarul Haq Ahadi, der langjährige Anführer der Afghan Mellat, eine der ältesten Parteien Afghanistans, verbündete sich mit der ehemaligen Mujahedin-Partei Harakat-e Enqilab-e Eslami-e Afghanistan. Gemeinsam nehmen diese beiden Parteien am New National Front of Afghanistan teil (NNF), eine der kritischsten Oppositionsgruppierungen in Afghanistan (AAN 6.5.2018; vgl. AB 29.5.2017).

Eine weitere Oppositionspartei ist die Hezb-e Kongara-ya Melli-ye Afghanistan (The National Congress Party of Afghanistan) unter der Führung von Abdul Latif Pedram (AB 15.1.2016; vgl. AB 29.5.2017).

Auch wurde die linksorientierte Hezb-e-Watan-Partei (The Fatherland Party) wieder ins Leben gerufen, mit der Absicht, ein wichtiges Segment der ehemaligen linken Kräfte in Afghanistan zusammenzubringen (AAN 6.5.2018; vgl. AAN 21.8.2017).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Am 28. Februar 2018 machte Afghanistans Präsident Ashraf Ghani den Taliban ein Friedensangebot (NYT 11.3.2018; vgl. TS 28.2.2018). Die Annahme des Angebots durch die Taliban würde, so Ghani, diesen verschiedene Garantien gewähren, wie eine Amnestie, die Anerkennung der Taliban-Bewegung als politische Partei, eine Abänderung der Verfassung und die Aufhebung der Sanktionen gegen ihre Anführer (TD 7.3.2018). Quellen zufolge wird die Annahme bzw. Ablehnung des Angebots derzeit in den Rängen der Taliban diskutiert (Tolonews 16.4.2018; vgl. Tolonews 11.4.2018). Anfang 2018 fanden zwei Friedenskonferenzen zur Sicherheitslage in Afghanistan statt: die zweite Runde des Kabuler Prozesses [Anm.: von der afghanischen Regierung ins Leben gerufene Friedenskonferenz mit internationaler Beteiligung] und die Friedenskonferenz in Taschkent (TD 24.3.2018; vgl. TD 7.3.2018, NZZ 28.2.2018). Anfang April rief Staatspräsident Ghani die Taliban dazu auf, sich für die Parlamentswahlen im Oktober 2018 als politische Gruppierung registrieren zu lassen, was von diesen jedoch abgelehnt wurde (Tolonews 16.4.2018). Ende April 2018 kam es in diesem Zusammenhang zu Angriffen regierungsfeindlicher Gruppierungen (hauptsächlich des IS, aber auch der Taliban) auf mit der Wahlregistrierung betraute Behörden in verschiedenen Provinzen (vgl. Kapitel 3. 'Sicherheitslage').

Am 19.5.2018 erklärten die Taliban, sie würden keine Mitglieder afghanischer Sicherheitskräfte mehr angreifen, wenn diese ihre Truppen verlassen würden, und gewährten ihnen somit eine 'Amnestie'. In ihrer Stellungnahme erklärten die Aufständischen, dass das Ziel ihrer Frühlingsoffensive Amerika und ihre Alliierten seien (AJ 19.5.2018).

Am 7.6.2018 verkündete Präsident Ashraf Ghani einen Waffenstillstand mit den Taliban für den Zeitraum 12.6.2018 - 20.6.2018. Die Erklärung erfolgte, nachdem sich am 4.6.2018 über 2.000 Religionsgelehrte aus ganz Afghanistan in Kabul versammelt hatten und eine Fatwa zur Beendigung der Gewalt aussprachen (Tolonews 7.6.2018; vgl. Reuters 7.6.2018, RFL/RL 5.6.2018). Durch die Fatwa wurden Selbstmordanschläge für ungesetzlich (nach islamischem Recht, Anm.) erklärt und die Taliban dazu aufgerufen, den Friedensprozess zu unterstützen (Reuters 5.6.2018). Die Taliban selbst gingen am 9.6.2018 auf das Angebot ein und erklärten einen Waffenstillstand von drei Tagen (die ersten drei Tage des Eid-Fests, Anm.). Der Waffenstillstand würde sich jedoch nicht auf die ausländischen Sicherheitskräfte beziehen; auch würden sich die Taliban im Falle eines militärischen Angriffs verteidigen (HDN 10.6.2018; vgl. TH 10.6.2018, Tolonews 9.6.2018).

3. Sicherheitslage

Wegen einer Serie von öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffen in städtischen Zentren, die von regierungsfeindlichen Elementen ausgeführt wurden, erklärten die Vereinten Nationen (UN) im Februar 2018 die Sicherheitslage für sehr instabil (UNGASC 27.2.2018).

Für das Jahr 2017 registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) landesweit 29.824 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahresvergleich wurden von INSO 2016 landesweit 28.838 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert und für das Jahr 2015 25.288. Zu sicherheitsrelevanten Vorfällen zählt INSO Drohungen, Überfälle, direkter Beschuss, Entführungen, Vorfälle mit IEDs (Sprengfallen/ Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung - USBV) und andere Arten von Vorfällen (INSO o.D.).

Für das Jahr 2017 registrierte die UN insgesamt 23.744 sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan (UNGASC 27.2.2018); für das gesamte Jahr 2016 waren es 23.712 (UNGASC 9.3.2017). Landesweit wurden für das Jahr 2015 insgesamt 22.634 sicherheitsrelevanter Vorfälle registriert (UNGASC 15.3.2016).

Im Jahr 2017 waren auch weiterhin bewaffnete Zusammenstöße Hauptursache (63%) aller registrierten sicherheitsrelevanten Vorfälle, gefolgt von IEDs (Sprengfallen/ Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung - USBV) und Luftangriffen. Für das gesamte Jahr 2017 wurden 14.998 bewaffnete Zusammenstöße registriert (2016: 14.977 bewaffnete Zusammenstöße) (USDOD 12.2017). Im August 2017 stuften die Vereinten Nationen (UN) Afghanistan, das bisher als 'Post-Konflikt-Land' galt, wieder als 'Konfliktland' ein; dies bedeute nicht, dass kein Fortschritt stattgefunden habe, jedoch bedrohe der aktuelle Konflikt die Nachhaltigkeit der erreichten Leistungen (UNGASC 10.8.2017).

Die Zahl der Luftangriffe hat sich im Vergleich zum Jahr 2016 um 67% erhöht, die gezielter Tötungen um 6%. Ferner hat sich die Zahl der Selbstmordattentate um 50% erhöht. Östlichen Regionen hatten die höchste Anzahl an Vorfällen zu verzeichnen, gefolgt von südlichen Regionen. Diese beiden Regionen zusammen waren von 55% aller sicherheitsrelevanten Vorfälle betroffen (UNGASC 27.2.2018). Für den Berichtszeitraum 15.12.2017 - 15.2.2018 kann im Vergleich zum selben Berichtszeitraum des Jahres 2016, ein Rückgang (-6%) an sicherheitsrelevanten Vorfällen verzeichnet werden (UNGASC 27.2.2018).

Afghanistan ist nach wie vor mit einem aus dem Ausland unterstützten und widerstandsfähigen Aufstand konfrontiert. Nichtsdestotrotz haben die afghanischen Sicherheitskräfte ihre Entschlossenheit und wachsenden Fähigkeiten im Kampf gegen den von den Taliban geführten Aufstand gezeigt. So behält die afghanische Regierung auch weiterhin Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, die wichtigsten Verkehrsrouten und den Großteil der Distriktzentren (USDOD 12.2017). Zwar umkämpften die Taliban Distriktzentren, sie konnten aber keine Provinzhauptstädte (bis auf Farah-Stadt; vgl. AAN 6.6.2018) bedrohen - ein signifikanter Meilenstein für die ANDSF (USDOD 12.2017; vgl. UNGASC 27.2.2018); diesen Meilenstein schrieben afghanische und internationale Sicherheitsbeamte den intensiven Luftangriffen durch die afghanische Nationalarmee und der Luftwaffe sowie verstärkter Nachtrazzien durch afghanische Spezialeinheiten zu (UNGASC 27.2.2018).

Die von den Aufständischen ausgeübten öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffe in städtischen Zentren beeinträchtigten die öffentliche Moral und drohten das Vertrauen in die Regierung zu untergraben. Trotz dieser Gewaltserie in städtischen Regionen war im Winter landesweit ein Rückgang an Talibanangriffen zu verzeichnen (UNGASC 27.2.2018). Historisch gesehen gehen die Angriffe der Taliban im Winter jedoch immer zurück, wenngleich sie ihre Angriffe im Herbst und Winter nicht gänzlich einstellen. Mit Einzug des Frühlings beschleunigen die Aufständischen ihr Operationstempo wieder. Der Rückgang der Vorfälle im letzten Quartal 2017 war also im Einklang mit vorangegangenen Schemata (LIGM 15.2.2018).

Anschläge bzw. Angriffe und Anschläge auf hochrangige Ziele

Die Taliban und weitere aufständische Gruppierungen wie der Islamische Staat (IS) verübten auch weiterhin 'high-profile'-Angriffe, speziell im Bereich der Hauptstadt, mit dem Ziel, eine Medienwirksamkeit zu erlangen und damit ein Gefühl der Unsicherheit hervorzurufen und so die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben (USDOD 12.2017; vgl. SBS 28.2.2018, NZZ 21.3.2018, UNGASC 27.2.2018). Möglicherweise sehen Aufständische Angriffe auf die Hauptstadt als einen effektiven Weg, um das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung zu untergraben, anstatt zu versuchen, Territorium in ländlichen Gebieten zu erobern und zu halten (BBC 21.3.2018).

Die Anzahl der öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffe hatte sich von 1.6. - 20.11.2017 im Gegensatz zum Vergleichszeitraum des Vorjahres erhöht (USDOD 12.2017). In den ersten Monaten des Jahres 2018 wurden verstärkt Angriffe bzw. Anschläge durch die Taliban und den IS in verschiedenen Teilen Kabuls ausgeführt (AJ 24.2.2018; vgl. Slate 22.4.2018). Als Antwort auf die zunehmenden Angriffe wurden Luftangriffe und Sicherheitsoperationen verstärkt, wodurch Aufständische in einigen Gegenden zurückgedrängt wurden (BBC 21.3.2018); auch wurden in der Hauptstadt verstärkt Spezialoperationen durchgeführt, wie auch die Bemühungen der US-Amerikaner, Terroristen zu identifizieren und zu lokalisieren (WSJ 21.3.2018).

Landesweit haben Aufständische, inklusive der Taliban und des IS, in den Monaten vor Jänner 2018 ihre Angriffe auf afghanische Truppen und Polizisten intensiviert (TG 29.1.2018; vgl. BBC 29.1.2018); auch hat die Gewalt Aufständischer gegenüber Mitarbeiter/innen von Hilfsorganisationen in den letzten Jahren zugenommen (The Guardian 24.1.2018). Die Taliban verstärken ihre Operationen, um ausländische Kräfte zu vertreiben; der IS hingegen versucht, seinen relativ kleinen Einflussbereich zu erweitern. Die Hauptstadt Kabul ist in diesem Falle für beide Gruppierungen interessant (AP 30.1.2018).

Angriffe auf afghanische Sicherheitskräfte und Zusammenstöße zwischen diesen und den Taliban finden weiterhin statt (AJ 22.5.2018; AD 20.5.2018).

Registriert wurde auch eine Steigerung öffentlichkeitswirksamer gewalttätiger Vorfälle (UNGASC 27.2.2018), von denen zur Veranschaulichung hier auszugsweise einige Beispiele wiedergegeben werden sollen (Anmerkung der Staatendokumentation: Die folgende Liste enthält öffentlichkeitswirksame (high-profile) Vorfälle sowie Angriffe bzw. Anschläge auf hochrangige Ziele und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit).

• Selbstmordanschlag vor dem Ministerium für ländliche Rehabilitation und Entwicklung (MRRD) in Kabul: Am 11.6.2018 wurden bei einem Selbstmordanschlag vor dem Eingangstor des MRRD zwölf Menschen getötet und 30 weitere verletzt. Quellen zufolge waren Frauen, Kinder und Mitarbeiter des Ministeriums unter den Opfern (AJ 11.6.2018). Der Islamische Staat (IS) bekannte sich zum Angriff (Reuters 11.6.2018; Gandhara 11.6.2018).

• Angriff auf das afghanische Innenministerium (MoI) in Kabul: Am 30.5.2018 griffen bewaffnete Männer den Sitz des MoI in Kabul an, nachdem vor dem Eingangstor des Gebäudes ein mit Sprengstoff geladenes Fahrzeug explodiert war. Bei dem Vorfall kam ein Polizist ums Leben. Die Angreifer konnten nach einem zweistündigen Gefecht von den Sicherheitskräften getötet werden. Der Islamische Staat (IS) bekannte sich zum Angriff (CNN 30.5.2018; vgl. Gandhara 30.5.2018)

• Angriff auf Polizeistützpunkte in Ghazni: Bei Taliban-Anschlägen auf verschiedene Polizeistützpunkte in der afghanischen Provinz Ghazni am 21.5.2018 kamen mindestens 14 Polizisten ums Leben (AJ 22.5.2018).

• Angriff auf Regierungsbüro in Jalalabad: Nach einem Angriff auf die Finanzbehörde der Provinz Nangarhar in Jalalabad kamen am 13.5.2018 mindestens zehn Personen, darunter auch Zivilisten, ums Leben und 40 weitere wurden verletzt (Pajhwok 13.5.2018; vgl. Tolonews 13.5.2018). Die Angreifer wurden von den Sicherheitskräften getötet (AJ 13.5.2018). Quellen zufolge bekannte sich der Islamische Staat (IS) zum Angriff (AJ 13.5.2018).

• Angriff auf Polizeireviere in Kabul: Am 9.5.2018 griffen bewaffnete Männer jeweils ein Polizeirevier in Dasht-e-Barchi und Shar-i-Naw an und verursachten den Tod von zwei Polizisten und verwundeten sechs Zivilisten. Auch wurden Quellen zufolge zwei Attentäter von den Sicherheitskräften getötet (Pajhwok 9.5.2018). Der IS bekannte sich zum Angriff (Pajhwok 9.5.2018; vgl. Tolonews 9.5.2018).

• Selbstmordangriff in Kandahar: Bei einem Selbstmordanschlag auf einen Konvoi der NATO-Truppen in Haji Abdullah Khan im Distrikt Daman der Provinz Kandahar sind am 30.4.2018 elf Kinder ums Leben gekommen und 16 weitere Menschen verletzt worden; unter den Verletzten befanden sich u.a. rumänische Soldaten (Tolonews 30.4.2018b; vgl. APN 30.4.2018b, Focus 30.4.2018, IM 30.4.2018). Weder der IS noch die Taliban reklamierten den Anschlag für sich (Spiegel 30.4.2018; vgl. Tolonews 30.4.2018b).

• Doppelanschlag in Kabul: Am 30.4.2018 fand im Bezirk Shash Derak in der Hauptstadt Kabul ein Doppelanschlag statt, bei dem Selbstmordattentäter zwei Explosionen verübten (AJ 30.4.2018; vgl. APN 30.4.2018a). Die erste Detonation erfolgte in der Nähe des Sitzes des afghanischen Geheimdienstes (NDS) und wurde von einem Selbstmordattentäter auf einem Motorrad verübt; dabei wurden zwischen drei und fünf Menschen getötet und zwischen sechs und elf weitere verletzt (DZ 30.4.2018; vgl. APN 30.4.2018b); Quellen zufolge handelte es sich dabei um Zivilisten (Focus 30.4.2018). Die zweite Detonation ging von einem weiteren Selbstmordattentäter aus, der sich, als Reporter getarnt, unter die am Anschlagsort versammelten Journalisten, Sanitäter und Polizisten gemischt hatte (DZ 30.4.2018; vgl. APN 30.4.2018b, Pajhwok 30.4.2018, Tolonews 30.4.2018a). Dabei kamen u.a. zehn Journalisten ums Leben, die bei afghanischen sowie internationalen Medien tätig waren (TI 1.5.2018; vgl. AJ 30.4.2018, APN 30.4.2018a,). Bei den beiden Anschlägen sind Quellen zufolge zwischen 25 und 29 Personen ums Leben gekommen und 49 verletzt worden (AJ 30.4.2018; vgl. APN 30.4.2018a, DZ 30.4.2018, Tolonews 30.4.2018a). Der IS bekannte sich zu beiden Angriffen (DZ 30.4.2018; vgl. APN 30.4.2018a). Quellen zufolge sind Geheimdienstmitarbeiter das Ziel des Angriffes gewesen (DZ 30.4.2018; vgl. APN 30.4.2018a).

• Angriff auf die Marshal Fahim Militärakademie: Am 29.1.2018 attackierten fünf bewaffnete Angreifer einen militärischen Außenposten in der Nähe der Marshal Fahim Militärakademie (auch bekannt als Verteidigungsakademie), die in einem westlichen Außendistrikt der Hauptstadt liegt. Bei dem Vorfall wurden mindestens elf Soldaten getötet und 15 weitere verletzt, bevor die vier Angreifer getötet und ein weiterer gefasst werden konnten. Der IS bekannte sich zu dem Vorfall (Reuters 29.1.2018; vgl. NYT 28.1.2018).

• Bombenangriff mit einem Fahrzeug in Kabul: Am 27.1.2018 tötete ein Selbstmordattentäter der Taliban mehr als 100 Menschen und verletzte mindestens 235 weitere (Reuters 27.1.2018; vgl. TG 28.1.2018). Eine Bombe - versteckt in einem Rettungswagen - detonierte in einem schwer gesicherten Bereich der afghanischen Hauptstadt (TG 27.1.2018; vgl. TG 28.1.2018) - dem sogenannten Regierungs- und Diplomatenviertel (Reuters 27.1.2018).

• Angriff auf eine internationale Organisation (Save the Children - SCI) in Jalalabad: Am 24.1.2018 brachte ein Selbstmordattentäter ein mit Sprengstoff beladenes Fahrzeug am Gelände der Nichtregierungsorganisation (NGO) Save The Children in der Provinzhauptstadt Jalalabad zur Explosion. Mindestens zwei Menschen wurden getötet und zwölf weitere verletzt; der IS bekannte sich zu diesem Vorfall (BBC 24.1.2018; vgl. Reuters 24.1.2018, TG 24.1.2018).

• Angriff auf das Hotel Intercontinental in Kabul: Am 20.1.2018 griffen fünf bewaffnete Männer das Luxushotel Intercontinental in Kabul an. Der Angriff wurde von afghanischen Truppen abgewehrt, nachdem die ganze Nacht um die Kontrolle über das Gebäude gekämpft worden war (BBC 21.1.2018; vgl. DW 21.1.2018). Dabei wurden mindestens 14 Ausländer/innen und vier Afghan/innen getötet. Zehn weitere Personen wurden verletzt, einschließlich sechs Mitglieder der Sicherheitskräfte (NYT 21.1.2018). 160 Menschen konnten gerettet werden (BBC 21.1.2018). Alle fünf Angreifer wurden von den Sicherheitskräften getötet (Reuters 20.1.2018). Die Taliban bekannten sich zu dem Angriff (DW 21.1.2018).

• Selbstmordattentat mit einem mit Sprengstoff beladenen Tanklaster:

Am 31.5.2017 kamen bei einem Selbstmordattentat im hochgesicherten Diplomatenviertel Kabuls mehr als 150 Menschen ums Leben, mindestens 300 weitere wurden schwer verletzt (FAZ 6.6.2017; vgl. AJ 31.5.2017, BBC 31.5.2017; UN News Centre 31.5.2017). Der IS bekannte sich zu diesem Vorfall (FN 7.6.2017).

Angriffe gegen Gläubige und Kultstätten

Registriert wurde eine steigende Anzahl der Angriffe gegen Glaubensstätten, religiöse Führer sowie Gläubige; 499 zivile Opfer (202 Tote und 297 Verletzte) waren im Rahmen von 38 Angriffen im Jahr 2017 zu verzeichnen. Die Anzahl dieser Art Vorfälle hat sich im Gegensatz zum Jahr 2016 (377 zivile Opfer, 86 Tote und 291 Verletzte bei 12 Vorfällen) verdreifacht, während die Anzahl ziviler Opfer um 32% gestiegen ist (UNAMA 2.2018). Auch verzeichnete die UN in den Jahren 2016 und 2017 Tötungen, Entführungen, Bedrohungen und Einschüchterungen von religiösen Personen - hauptsächlich durch regierungsfeindliche Elemente. Religiösen Führern ist es nämlich möglich, durch ihre Predigten öffentliche Standpunkte zu verändern, wodurch sie zum Ziel von regierungsfeindlichen Elementen werden (UNAMA 7.11.2017). Ein Großteil der zivilen Opfer waren schiitische Muslime. Die Angriffe wurden von regierungsfeindlichen Elementen durchgeführt - hauptsächlich dem IS (UNAMA 7.11.2017; vgl. UNAMA 2.2018). Es wurden aber auch Angriffe auf sunnitische Moscheen und religiöse Führer ausgeführt (TG 20.10.2017; vgl. UNAMA 7.11.2017)

Diese serienartigen und gewalttätigen Angriffe gegen religiöse Ziele, haben die afghanische Regierung veranlasst, neue Maßnahmen zu ergreifen, um Gebetsstätten zu beschützen: landesweit wurden 2.500 Menschen rekrutiert und bewaffnet, um 600 Moscheen und Tempel vor Angriffen zu schützen (UNGASC 20.12.2017).

Zur Veranschaulichung werden im Folgenden auszugsweise einige Beispiele von Anschlägen gegen Gläubige und Glaubensstätten wiedergegeben (Anmerkung der Staatendokumentation: Die folgende Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit)

• Angriff auf Treffen der Religionsgelehrten in Kabul: Am 4.6.2018 fand während einer loya jirga zwischen mehr als 2.000 afghanischen Religionsgelehrten, die durch eine Fatwa zur Beendigung der Gewalt aufriefen, ein Selbstmordanschlag statt. Bei dem Angriff kamen 14 Personen ums Leben und weitere wurden verletzt (Tolonews 7.6.2018; vgl. Reuters 5.6.2018). Quellen zufolge bekannte sich der IS zum Angriff (Reuters 5.6.2018; vgl. RFE/RL 5.6.2018).

• Angriff auf Kricket-Stadion in Jalalabad: Am 18.5.2018, einem Tag nach Anfang des Fastenmonats Ramadan, kamen bei einem Angriff während eines Kricket-Matchs in der Provinzhauptstadt Nangarhars Jalalabad mindestens acht Personen ums Leben und mindestens 43 wurden verletzt (TRT 19.5.2018; vgl. Tolonews 19.5.2018, TG 20.5.2018). Quellen zufolge waren das direkte Ziel dieses Angriffes zivile Zuschauer des Matchs (TG 20.5.2018; RFE/RL 19.5.2018), dennoch befanden sich auch Amtspersonen unter den Opfern (TNI 19.5.2018). Quellen zufolge bekannte sich keine regierungsfeindliche Gruppierung zum Angriff (RFE/RL 19.5.2018); die Taliban dementierten ihre Beteiligung an dem Anschlag (Tolonews 19.5.2018; vgl. TG 20.5.2018) .

• Selbstmordanschlag während Nowruz-Feierlichkeiten: Am 21.3.2018 (Nowruz-Fest; persisches Neujahr) kam es zu einem Selbstmordangriff in der Nähe des schiitischen Kart-e Sakhi-Schreins, der von vielen afghanischen Gemeinschaften - insbesondere auch der schiitischen Minderheit - verehrt wird. Sie ist ein zentraler Ort, an dem das Neujahrsgebet in Kabul abgehalten wird. Viele junge Menschen, die tanzten, sangen und feierten, befanden sich unter den 31 getöteten; 65 weitere wurden verletzt (BBC 21.3.2018). Die Feierlichkeiten zu Nowruz dauern in Afghanistan mehrere Tage und erreichen ihren Höhepunkt am 21. März (NZZ 21.3.2018). Der IS bekannte sich auf seiner Propaganda Website Amaq zu dem Vorfall (RFE/RL 21.3.2018).

• Angriffe auf Moscheen: Am 20.10.2017 fanden sowohl in Kabul, als auch in der Provinz Ghor Angriffe auf Moscheen statt: während des Freitagsgebets detonierte ein Selbstmordattentäter seine Sprengstoffweste in der schiitischen Moschee, Imam Zaman, in Kabul. Dabei tötete er mindestens 30 Menschen und verletzte 45 weitere. Am selben Tag, ebenso während des Freitagsgebetes, griff ein Selbstmordattentäter eine sunnitische Moschee in Ghor an und tötete 33 Menschen (Telegraph 20.10.2017; vgl. TG 20.10.2017).

• Tötungen in Kandahar: Im Oktober 2017 bekannten sich die afghanischen Taliban zu der Tötung zweier religiöser Persönlichkeiten in der Provinz Kandahar. Die Tötungen legitimierten die Taliban, indem sie die Getöteten als Spione der Regierung bezeichneten (UNAMA 7.11.2017).

• Angriff auf schiitische Moschee: Am 2.8.2017 stürmten ein Selbstmordattentäter und ein bewaffneter Schütze während des Abendgebetes die schiitische Moschee Jawadia in Herat City; dabei wurden mindestens 30 Menschen getötet (BBC 3.8.2017; vgl. Pajhwok 2.8.2017). Insgesamt war von 100 zivilen Opfer die Rede (Pajhwok 2.8.2017). Der IS bekannte sich zu diesem Vorfall (BBC 3.8.2017).

• Entführung in Nangarhar: Die Taliban entführten und folterten einen religiösen Gelehrten in der Provinz Nangarhar, dessen Söhne Mitglieder der ANDSF waren - sie entließen ihn erst, als Lösegeld für ihn bezahlt wurde (UNAMA 7.11.2017).

• In der Provinz Badakhshan wurde ein religiöser Führer von den Taliban entführt, da er gegen die Taliban predigte. Er wurde gefoltert und starb (UNAMA 7.11.2017).

Angriffe auf Behörden zu

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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