Index
27 RechtspflegeNorm
EMRK Art10Leitsatz
Keine Verletzung der Meinungsäußerungsfreiheit durch Verhängung einer Disziplinarstrafe über einen Rechtsanwalt wegen Verlesung der Strafregisterauskunft eines ihm aus einer vormaligen Verteidigung bekannten Zeugen; keine Bedenken gegen die Interpretation der anwaltlichen Verschwiegenheitspflicht im vorliegenden FallSpruch
Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid weder in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht noch wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in seinen Rechten verletzt worden.
Die Beschwerde wird abgewiesen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
1.1. Der Beschwerdeführer ist Rechtsanwalt in Wien. Mit Erkenntnis des Disziplinarrates der Rechtsanwaltskammer Wien vom 19. Jänner 1996 wurde er von dem Vorwurf freigesprochen, er habe als Verteidiger des T Z in einer näher bezeichneten Strafsache des Landesgerichtes für Strafsachen Wien in der Hauptverhandlung am 22. September 1993 zur Widerlegung der Glaubwürdigkeit des Zeugen W K eine letzteren betreffende Strafregisterauskunft, die ihm aufgrund einer vormaligen Verteidigung dieses Zeugen bekannt war, ohne dessen Einwilligung dem Gericht vorgelegt.
1.2. Gegen dieses Erkenntnis wurde vom Kammeranwalt der Rechtsanwaltskammer Wien Berufung an die Oberste Berufungs- und Disziplinarkommission für Rechtsanwälte und Rechtsanwaltsanwärter (im folgenden: OBDK) erhoben. Mit Erkenntnis der OBDK vom 16. Dezember 1996 wurde dieser Berufung Folge gegeben und das angefochtene Erkenntnis aufgehoben. In der Sache selbst erkannte die OBDK den Beschwerdeführer für schuldig, das ihm angelastete Verhalten (vgl. 1.1.) begangen und hiedurch die Disziplinarvergehen der Berufspflichtenverletzung und der Beeinträchtigung von Ehre und Ansehen des Standes begangen zu haben. Der Beschwerdeführer wurde zur Tragung der Kosten des Verfahrens beider Instanzen verpflichtet. Von der Verhängung einer Zusatzstrafe wurde unter Bedachtnahme auf die Bestimmungen der §§31 und 40 StGB und auf zwei näher bezeichnete Vorverurteilungen abgesehen.
Die OBDK begründete ihre Entscheidung im wesentlichen wie folgt:
"Auszugehen ist davon, daß es zu den wesentlichsten Pflichten eines Rechtsanwaltes gehört, die ihm nach Gesetz, Richtlinien und seit Jahrzehnten gefestigter Standesauffassung (§9 RAO, §§2, 10 RL-BA 1977 und die zu §9 RAO in Manz 5. Auflage zu RAO umfangreich zitierte Literatur sowie die zahlreichen zu §9 RAO veröffentlichten Erkenntnisse der OBDK im AnwBl.) auferlegte Verschwiegenheits- und Treuepflicht zu beachten und einzuhalten, wobei überdies festzuhalten ist, daß die Treuepflicht des Anwaltes gegenüber seinem Klienten auch über die Zeit nach Beendigung des Mandatsverhältnisses hinausgeht und auch der Anschein einer Verletzung der Treuepflicht durch den Anwalt vermieden werden muß. Eine Entbindung von der Verschwiegenheitspflicht kann überhaupt nur in Einzelfällen und dies auch nur nach ausdrücklicher wissentlich gegebener Zustimmung durch den (ehemaligen) Klienten in Betracht kommen (AnwBl 80/116, AnwBl 91/313).
Im vorliegenden Fall kann sich der Beschuldigte auch nicht auf §9 (Abs1 und Abs2) RAO beziehen, da Abs1 des §9 RAO die Verpflichtung zur Einhaltung der Treuepflicht ohne jede Einschränkung anordnet. Die im Satz 2 des Abs1 einem Rechtsanwalt gestatteten Verteidigungsmittel finden jedenfalls durch die im Satz 1 auferlegte Treuepflicht ihre Grenzen. Die Verschwiegenheitspflicht ist im Abs2 des §9 RAO, Satz 1, erster Satzteil, ebenfalls ohne jede Einschränkung festgeschrieben, wozu ergänzend die Standesrichtlinien (§§2 und 10) heranzuziehen und zu beachten sind. Aufgrund der vom Disziplinarrat getroffenen Feststellungen ergibt sich, daß der Beschuldigte mehrfach gegen fundamentalste Pflichten und Berufsausübungsvorschriften eines Rechtsanwaltes verstoßen hat, weshalb eine Anwendung des §3 DSt - wie vom Disziplinarrat in Verkennung der Rechtslage angenommen - nicht in Frage kommen kann. Das Verschulden des Beschuldigten ist im Hinblick auf die festgestellte Verletzung besonders zu beachtender Verhaltens- und Rechtsvorschriften keinesfalls geringfügig sondern im Gegenteil als besonders schwer zu qualifizieren. Auch die Anzeige des verfahrensführenden Richters dokumentiert dies deutlich.
Der Disziplinarbeschuldigte hat sohin eine Verletzung von Berufspflichten zu verantworten, im Hinblick auf sein Fehlverhalten in einer öffentlichen Verhandlung und dem Umstand, daß dieses Verhalten auch weiten Kreisen in der Öffentlichkeit zur Kenntnis gelangt ist, auch gegen Ehre und Ansehen des Standes verstoßen. Als eine Beeinträchtigung der Würde und des Ansehens des Standes ist jedes schuldhafte Verhalten anzusehen, durch das die Wertschätzung und das Ansehen, die der Stand als solcher und jeder Rechtsanwalt vermöge seiner Zugehörigkeit zu beanspruchen befugt sind, gefährdet werden. Dringt der Verstoß eines Rechtsanwaltes zur Kenntnis weiterer Kreise und ist der Inhalt geeignet, den gesamten Stand in Mißkredit zu bringen, dann ist die Standesehre jedenfalls beeinträchtigt, selbst wenn es sich bei dem Verstoß in erster Linie um einen solchen gegen die Berufspflicht gehandelt haben sollte (siehe dazu OBDK 9.11.1992, AnwBl 1993 S 681 u.a.)."
2. Gegen diesen Bescheid wendet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des bekämpften Bescheides begehrt wird.
Der Beschwerdeführer erachtet sich insbesondere im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung verletzt; hiezu bringt er im wesentlichen vor:
"Entgegen dem von der MRK verwendeten materiellen Gesetzesbegriff folgt aus Art60 MRK iVm Art13 StGG, daß der Eingriff in einem Gesetz im formellen Sinn vorgesehen sein muß.
...
...
Der bekämpfte Bescheid stützt sich auf die, dem Rechtsanwalt
'nach Gesetz, Richtlinien und seit Jahrzehnten gefestigter
Standesauffassung ... auferlegte Verschwiegenheits- und
Treuepflicht...' ... .
Da jedoch Richtlinien und Standesauffassungen ... nicht dem
formellen Gesetzesbegriff des Art13 StGG entsprechen, können sie lediglich der Auslegung dienen, niemals aber per se die Rechtsgrundlage für einen Eingriff in das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf freie Meinungsäußerung bilden.
...
Auf einfachgesetzlicher Stufe normiert §9 Abs2 RAO, daß der Rechtsanwalt zur Verschwiegenheit über die ihm anvertrauten Angelegenheiten und die ihm sonst in seiner beruflichen Eigenschaft bekanntgewordenen Tatsachen, deren Geheimhaltung im Interesse seiner Partei gelegen ist, verpflichtet ist.
Daß die Worte '...sonst in seiner beruflichen Eigenschaft
bekanntgewordene Tatsachen, deren Geheimhaltung im Interesse
seiner Partei gelegen ist...' auslegungsbedürfig sind erscheint
mir unbestreitbar ... .
Erscheint ein Gesetzestext in verschiedener Weise auslegbar,
so engt sich die Wahl auf jene Auslegung ein, die das Gesetz
verfassungskonform erscheinen (läßt) ... .
...
Somit muß das Wort 'Tatsachen' in §9 Abs2 RAO gemäß Art10 Abs2 MRK im Sinne von 'vertraulichen Nachrichten' bzw. vertraulichen Tatsachen verstanden werden.
...
Bei korrekter Interpretation gebietet daher §9 Abs2 RAO eine Verschwiegenheitspflicht der Rechtsanwälte lediglich für ihm anvertraute Angelegenheiten oder ihm sonst bekanntgewordene vertrauliche Tatsachen.
Vertraulich bedeutet: Nicht für die Öffentlichkeit bestimmt; mit Diskretion zu behandeln; geheim (Duden, Universalwörterbuch, 2. Auflage).
Die Strafregisterauskunft des ... wurde bereits in einer früheren Hauptverhandlung verlesen. Diese Hauptverhandlung war öffentlich.
Die Strafregisterauskunft ist seit diesem Zeitpunkt bereits öffentlich bekannt und kann daher nicht mehr als vertraulich qualifiziert werden.
Die Öffentlichkeit des Verfahrens ist im Sinne einer Volksöffentlichkeit zu verstehen (Mayer, B-VG (1994) Art90 B-VG I). Dem Begriff der Volksöffentlichkeit entspricht es, daß über die in der Verhandlung vorgebrachten Behauptungen und Fakten berichtet werden kann und darf.
Wegen des begrifflichen Gegensatzes zwischen öffentlich bekannter (Art90 B-VG) und vertraulicher Tatsachen (Art10 Abs2 MRK) verlieren die in einer Strafregisterauskunft enthaltenen Vorstrafen durch deren öffentliche Verlesung in einem füheren Verfahren die Qualifikation als vertrauliche Tatsachen iSd §9 Abs2 RAO iVm Art10 Abs2 MRK.
Die belangte Behörde geht jedoch offenbar unzutreffenderweise davon aus, daß sich die Verschwiegenheitspflicht des Rechtsanwaltes auch auf öffentlich bekannte Tatsachen bezieht.
Diese Interpretation der OBDK unterstellt jedoch der Bestimmung des §9 Abs2 RAO einen dem Art10 der Menschenrechtskonvention widersprechenden Inhalt.
...
Nach Auffassung der Judikatur bedeutet die Wendung 'in einer demokratischen Gesellschaft notwendig' (bzw. unentbehrlich), daß der Eingriff einem 'zwingendem sozialen Bedürfnis' und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen muß (z.B. EGMR 25.3.1983 Silver, EuGRZ 1984,151; VfSlg 10700, 10737, 11044, 12103).
Bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung ist insbesondere auf die Schwere des Eingriffs und dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Interessen bedacht zu nehmen und beide Elemente, im Sinne einer Wertentscheidung, gegeneinander abzuwägen.
...
Als im öffentlichen Interesse gelegene Ziele sieht §9 RAO folgendes an:
a.) Die Pflicht, 'die Rechte seiner Partei gegen jedermann mit Eifer, Treue und Gewissenhaftigkeit zu vertreten', sowie 'alles, was er nach dem Gesetz zur Vertretung seiner Partei für dienlich erachtet, unumwunden vorzubringen, ihre Angriffs- und Verteidigungsmittel in jeder Weise zu gebrauchen, welche seiner Vollmacht, seinem Gewissen und den Gesetzen nicht widerstreiten.'
b.) Die Verschwiegenheitspflicht bezüglich der ihm anvertrauten Angelegenheiten und der ihm sonst in seiner beruflichen Eigenschaft bekanntgewordenen Tatsachen, deren Geheimhaltung im Interesse seiner Partei gelegen ist.
...
Im vorliegenden Fall stehen sich bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit somit
die Treue- und Verschwiegenheitspflicht,
sowie die verhängte Disziplinarstrafe
einerseits und die
Verpflichtung, meine Partei gegenüber jedermann mit Eifer, Treue und Gewissenhaftigkeit zu vertreten,
sowie die Freiheit der Meinungsäußerung
andererseits gegenüber.
Es entspricht der Judikatur des Verfassungsgerichtshofes bei der Prüfung einer Meinungsäußerung unter dem Raster der Eingriffszulässigkeit nach Art10 Abs2 MRK zu berücksichtigen, ob die inkriminierte Äußerung zur Wahrung der Interessen seiner Partei dienlich waren oder nicht (VfGH 26.2.1996, B2089/95 bzw. dazu AnwBl 1996/7 Seite 465 Anmerkung Stringl).
Wie bereits im Sachverhalt ausgeführt, befand sich mein Mandant zu dem Zeitpunkt, als ich die Verteidigung übernommen habe, in einem kritischen Zustand. Zur Erschütterung der Glaubwürdigkeit des Belastungszeugen legte ich dem Gericht die gegenständliche Strafregisterauskunft vor und erreichte dadurch den Freispruch eines unbescholtenen Bürgers.
Die Vorlage der Strafregisterauskunft war daher eindeutig zur Wahrung der Interessen meiner Partei dienlich.
Auf der anderen Seite entstand dem Zeugen und ehemaligen Klienten durch mein Verhalten kein Nachteil, da seine Strafregisterauskunft bereits in einer frühreren öffentlichen Verhandlung verlesen wurde und es sich somit nicht mehr um eine vertrauliche Information handelte.
...
Es würde in der gegebenen Konfliktsituation zwischen 'unumwundene Vorbringen' und 'Verwiegenheitspflicht' jedenfalls unverständlich sein, warum ein Klient auf eine bestmögliche Verteidigung (und einen Freispruch vom Vorwurf der Veruntreuung) deshalb verzichten sollte, weil dem von ihm zu Rate gezogenen Rechtsanwalt dabei durch sein Standesrecht Grenzen gezogen wären (ähnlich auch König, AnwBl 1992/1,8)."
3. Die OBDK als belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt, auf die Erstattung einer Gegenschrift jedoch verzichtet.
4. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:
4.1. Die belangte Behörde stützt ihre Entscheidung materiellrechtlich auf §9 RAO. Die Abs1 und 2 dieser Bestimmung lauten wie folgt:
"§9. (1) Der Rechtsanwalt ist verpflichtet, die übernommenen Vertretungen dem Gesetz gemäß zu führen und die Rechte seiner Partei gegen jedermann mit Eifer, Treue und Gewissenhaftigkeit zu vertreten. Er ist befugt, alles, was er nach dem Gesetz zur Vertretung seiner Partei für dienlich erachtet, unumwunden vorzubringen, ihre Angriffs- und Verteidigungsmittel in jeder Weise zu gebrauchen, welche seinem Auftrag, seinem Gewissen und den Gesetzen nicht widerstreiten.
(2) Der Rechtsanwalt ist zur Verschwiegenheit über die ihm anvertrauten Angelegenheiten und die ihm sonst in seiner beruflichen Eigenschaft bekannt gewordenen Tatsachen, deren Geheimhaltung im Interesse seiner Partei gelegen ist, verpflichtet. Er hat im gerichtlichen und sonstigen behördlichen Verfahren nach Maßgabe der verfahrensrechtlichen Vorschriften das Recht auf diese Verschwiegenheit."
4.2. Der Verfassungsgerichtshof ist in seiner bisherigen ständigen Rechtsprechung von der verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit der Abs1 und 2 des §9 RAO ausgegangen (vgl. zu §9 Abs1 RAO zB VfSlg. 11302/1987, 12328/1990, 12796/1991, 13122/1992, 13612/1993 und 13762/1994, zu §9 Abs2 RAO VfSlg. 6694/1972 und 13565/1993). Auch aus der Sicht des vorliegenden Beschwerdefalles sind verfassungsrechtliche Bedenken gegen die genannten Normen, deren Verfassungswidrigkeit im übrigen auch vom Beschwerdeführer nicht behauptet wird, beim Verfassungsgerichtshof nicht entstanden: Der Gerichtshof hat bereits im Erkenntnis VfSlg. 13565/1993 ausgeführt, daß er keine Bedenken hegt,
"wenn die anwaltliche Verschwiegenheitspflicht auch über das vertragliche Vertretungsverhältnis hinaus als beachtlich und den betreffenden Anwalt grundsätzlich bindend angesehen wird. Denn
allein dadurch wird den ... Rechtsschutzerfordernissen Rechnung
getragen ... . Auch wenn die belangte Behörde anderwärts
allenfalls schon öffentlich erörterte Angelegenheiten als der Verschwiegenheitspflicht der Rechtsanwälte unterliegend wertete, bestehen dagegen keine verfassungsrechtliche Bedenken."
Der Verfassungsgerichtshof hält an dieser Rechtsprechung weiterhin fest. Insbesondere hegt der Gerichtshof keinen Zweifel daran, daß die durch §9 Abs2 RAO Rechtsanwälten auferlegte Verschwiegenheitspflicht zum Schutz des guten Rufes und der Rechte anderer - namentlich der ehemaligen Klienten - unentbehrlich ist. Das zu einer zweckentsprechenden Rechtsverfolgung erforderliche Vertrauensverhältnis zwischen Mandant und Rechtsanwalt würde auf das Schwerste erschüttert, wenn der Mandant damit rechnen müßte, daß sein Rechtsanwalt alle im Rahmen öffentlicher Verhandlungen getätigten Äußerungen und vorgelegten Informationen nach Prozeßende in einer Weise verwenden könnte, die seinen Interessen widerstreitet.
Vor dem Hintergrund dieser Erwägungen vermag der Verfassungsgerichtshof der Ansicht des Beschwerdeführers, wonach zufolge einer im Hinblick auf Art10 EMRK verfassungskonformen Interpretation entgegen dem Wortlaut des §9 Abs2 RAO nur "vertrauliche Tatsachen" von der Verschwiegenheitspflicht dieser Bestimmung erfaßt sind, nicht beizutreten.
4.3. Der Beschwerdeführer behauptet, durch den bekämpften Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung verletzt worden zu sein.
4.3.1. Nach Art10 Abs1 EMRK hat jedermann Anspruch auf freie Meinungsäußerung. Vom Schutzumfang dieser Bestimmung, die das Recht der Freiheit der Meinung und der Freiheit zum Empfang und zur Mitteilung von Nachrichten und Ideen ohne Eingriffe öffentlicher Behörden einschließt, werden sowohl reine Meinungskundgaben als auch Tatsachenäußerungen, aber auch Werbemaßnahmen erfaßt. Art10 Abs2 EMRK sieht allerdings im Hinblick darauf, daß die Ausübung dieser Freiheit Pflichten und Verantwortung mit sich bringt, die Möglichkeit von Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen vor, wie sie in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse der nationalen Sicherheit, der territorialen Unversehrtheit oder der öffentlichen Sicherheit, der Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verbrechensverhütung, des Schutzes der Gesundheit und der Moral, des Schutzes des guten Rufes und der Rechte anderer, zur Verhinderung der Verbreitung von vertraulichen Nachrichten oder zur Gewährleistung des Ansehens und der Unparteilichkeit der Rechtsprechung notwendig sind.
Ein verfassungsrechtlich zulässiger Eingriff in die Freiheit der Meinungsäußerung muß sohin, wie auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ausgesprochen hat (Fall Sunday Times v 26.4.1979, EuGRZ 1979, 390; Fall Barthold v 25.3.1985, EuGRZ 1985, 173),
a)
gesetzlich vorgesehen sein,
b)
einen oder mehrere der in Art10 Abs2 EMRK genannten rechtfertigenden Zwecke verfolgen und
c) zur Erreichung dieses Zweckes oder dieser Zwecke "in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" sein (vgl. VfSlg 12886/1991).
4.3.2. Das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung wird durch §9 Abs2 RAO begrenzt, wonach der Rechtsanwalt zur Verschwiegenheit über die ihm anvertrauten Angelegenheiten und die ihm sonst in seiner beruflichen Eigenschaft bekanntgewordenen Tatsachen, deren Geheimhaltung im Interesse seiner Partei gelegen ist, verpflichtet wird.
Im vorliegenden Beschwerdefall ist es unbestritten, daß der Beschwerdeführer den Zeugen, dessen Strafregisterauskunft er im Rahmen der Verteidigung seines Mandanten vor Gericht verlesen hat, in seiner Eigenschaft als Rechtsanwalt in einem früheren Verfahren vertreten hatte. Es wird vom Beschwerdeführer nicht bestritten, daß ihm die Strafregisterauskunft seines ehemaligen Mandanten in seiner beruflichen Eigenschaft bekannt geworden ist. Der Verfassungsgerichtshof vermag der belangten Behörde unter verfassungsrechtlichen Aspekten nicht entgegenzutreten, wenn diese davon ausgeht, daß die Geheimhaltung der in der Strafregisterauskunft enthaltenen Vorstrafen im Interesse des ehemaligen Mandanten und späteren Zeugen gelegen war; der Verfassungsgerichtshof kann der Auffassung der belangten Behörde aber auch nicht entgegentreten, daß die in der Strafregisterauskunft enthaltenen Informationen ihre Eigenschaft als der Verschwiegenheitspflicht unterliegende Tatsachen im Sinne des §9 Abs2 RAO nicht im Hinblick darauf verloren haben, daß die Strafregisterauskunft bereits in einem früheren Gerichtsverfahren verlesen wurde und dadurch einem kleinen Personenkreis bekannt geworden ist.
4.3.3. Die behauptete Verletzung des Beschwerdeführers im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung liegt somit nicht vor. Die behauptete Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte hat sohin nicht stattgefunden.
4.4. Das Verfahren hat auch nicht ergeben, daß der Beschwerdeführer in sonstigen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten verletzt wurde. Angesichts der Unbedenklichkeit der angewendeten Rechtsgrundlagen ist es auch ausgeschlossen, daß er in seinen Rechten wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm verletzt wurde.
4.5. Ob der angefochtene Bescheid in jeder Hinsicht dem Gesetz entspricht, ist vom Verfassungsgerichtshof nicht zu prüfen, und zwar auch dann nicht, wenn sich die Beschwerde - wie im vorliegenden Fall - gegen die Entscheidung einer Kollegialbehörde nach Art133 Z4 B-VG richtet, die beim Verwaltungsgerichtshof nicht bekämpft werden kann (vgl. zB VfSlg. 8309/1978, 9454/1982, 10659/1985, 12697/1991 und 13762/1994).
Die Beschwerde war daher abzuweisen.
4.6. Dies konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.
Schlagworte
Rechtsanwälte, Berufsrecht Rechtsanwälte, Meinungsäußerungsfreiheit, Disziplinarrecht RechtsanwälteEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:1997:B702.1997Dokumentnummer
JFT_10029071_97B00702_00