TE Bvwg Beschluss 2018/9/24 W254 2204495-1

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Veröffentlicht am 24.09.2018
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Entscheidungsdatum

24.09.2018

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
B-VG Art.133 Abs4
VwGVG §28 Abs3 Satz2

Spruch

W254 2144434-1/8E

W254 2169732-1/6E

W254 2204495-1/2E

BESCHLUSS

Das Bundesverwaltungsgericht beschließt durch die Richterin Dr.in Tatjana CARDONA als Einzelrichterin über die Beschwerden von 1. XXXX , geboren am XXXX , 2. XXXX , geboren am XXXX und 3. XXXX , geboren am XXXX , alle StA. Somalia, 1. und 2. vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich und den MigrantInnenverein St. Marx, 3. gesetzlich vertreten durch 1., gegen jeweils die Spruchpunkte I. der Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 1. 23.11.2016, 2. 30.06.2017 und 3. 01.08.2018, 1. Zl. XXXX , 2. Zl. XXXX und 3. Zl. XXXX :

A) In Erledigung der Beschwerden werden die Spruchpunkte I. der

angefochtenen Bescheide aufgehoben und die Angelegenheiten gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG zur Erlassung von neuen Bescheiden an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

BEGRÜNDUNG:

I. Verfahrensgang und Sachverhalt:

Die Erstbeschwerdeführerin, eine somalische Staatsangehörige, stellte am 11.08.2014 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005). XXXX , der Vater der Zweitbeschwerdeführerin, stellte für eben diese am 09.02.2017 ebenfalls einen Antrag auf internationalen Schutz und verneinte zugleich eigene Fluchtgründe der Zweitbeschwerdeführerin. Im Fall des Drittbeschwerdeführers wurde am 11.07.2018 ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt und das Vorliegen eigener Fluchtgründe verneint. Die Erstbeschwerdeführerin ist die Mutter und gesetzliche Vertreterin der Zweitbeschwerdeführerin und des Drittbeschwerdeführers. Die Erstbeschwerdeführerin ist mit dem Vater der Zweitbeschwerdeführerin und des Drittbeschwerdeführers lediglich traditionell verheiratet.

Im Zuge der am 12.08.2014 erfolgten Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes führte die Erstbeschwerdeführerin zu ihren Fluchtgründen befragt zusammenfassend aus, Somalia aufgrund von Bedrohungen durch die Abgaal verlassen zu haben.

Die Erstbeschwerdeführerin wurde am 28.09.2016 von der belangten Behörde einvernommen. Dabei führte diese - sofern hier wesentlich - aus, derzeit schwanger und von ihrem ersten Mann in Somalia mittlerweile geschieden zu sein. Seit XXXX 2015 sei sie traditionell mit XXXX verheiratet, wobei ihr bewusst sei, dass diese Hochzeit in Österreich nicht gültig sei. Im Übrigen wurde die Erstbeschwerdeführerin zu ihrem Vorbringen betreffend eine Bedrohung durch die Abgaal befragt. Am 27.04.2017 wurde die Erstbeschwerdeführerin gemeinsam mit XXXX von der belangten Behörde zum Antrag der Zweitbeschwerdeführerin auf internationalen Schutz einvernommen. In dieser Einvernahme kam hervor, dass die Eltern der Zweitbeschwerdeführerin einer Beschneidung von Frauen ablehnend gegenüberstehen. Eigene Fluchtgründe betreffend Somalia wurden dabei verneint. Eine niederschriftliche Einvernahme zum Antrag des Drittbeschwerdeführers auf internationalen Schutz unterblieb.

Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 23.11.2016 wies die belangte Behörde den Antrag der Erstbeschwerdeführerin auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I.), der Status der subsidiär Schutzberechtigten wurde ihr dagegen zuerkannt (Spruchpunkt II.) und eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 23.11.2017 erteilt (Spruchpunkt III). Begründend führte die belangte Behörde - sofern hier wesentlich - aus, dass die Übergriffe des Hawiye/Abgaal Clans gegenüber der Familie der Erstbeschwerdeführerin sehr bedauerlich, die Motivation hinter diesen kriminellen Aktivitäten allerdings wirtschaftlicher Natur sei. Die Abgaal hätten die Landwirtschaft des Vaters der Erstbeschwerdeführerin aufgrund des guten Standortes in Besitz nehmen wollen. Eine persönliche Absicht gegenüber der Erstbeschwerdeführerin habe nicht bestanden. Da die Landwirtschaft vom Abgaal Clan bereits in Beschlag genommen worden sei, sei mit keinen weiteren Belästigungen zu rechnen. Eine generelle Verfolgung von Minderheiten finde in Somalia nicht statt.

Gegen Spruchpunkt I. des Bescheides vom 23.11.2016 erhob die Erstbeschwerdeführerin, vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, mit Schriftsatz vom 21.12.2016 fristgerecht Beschwerde. Darin wird im Wesentlichen die inhaltliche Rechtswidrigkeit und die Verletzung von Verfahrensvorschriften moniert.

Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 30.06.2017 wies die belangte Behörde den Antrag der Zweitbeschwerdeführerin auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I.), der Status der subsidiär Schutzberechtigten wurde ihr dagegen zuerkannt (Spruchpunkt II.) und eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 23.11.2017 erteilt (Spruchpunkt III). Begründend führte die belangte Behörde - sofern hier wesentlich - aus, dass die Zweitbeschwerdeführerin keine eigenen Fluchtgründe betreffend ihren Herkunftsstaat Somalia habe, da sie in Österreich geboren sei. Auch aus der Einvernahme ihrer Eltern seien - nachgefragt - keine Asylgründe erkenntlich gewesen. Eine Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex der weiblichen Genitalverstümmelung fand durch die belangte Behörde nicht statt.

Mit Schreiben vom 11.07.2017 wurden dem Bundesverwaltungsgericht neue Meldedaten der Erst- und Zweitbeschwerdeführerin bekanntgegeben.

Gegen Spruchpunkt I. des Bescheides vom 30.06.2017 erhob die Zweitbeschwerdeführerin, gesetzlich vertreten durch die Erstbeschwerdeführerin, diese vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, mit Schriftsatz vom 31.08.2017 fristgerecht Beschwerde. Darin wird im Wesentlichen die inhaltliche Rechtswidrigkeit, mangelhafte bzw. unrichtige Bescheidbegründung sowie die Verletzung von Verfahrensvorschriften moniert.

Mit Schreiben vom 23.04.2018 wurde das Bundesverwaltungsgericht um eine positive Entscheidung gebeten und bekanntgegeben, dass die Erst- und Zweitbeschwerdeführerin vom MigrantInnenverein St. Marx rechtsfreundlich vertreten werde.

Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 01.08.2018 wies die belangte Behörde den Antrag des Drittbeschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I.), der Status der subsidiär Schutzberechtigten wurde ihm dagegen zuerkannt (Spruchpunkt II.) und eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 23.11.2019 erteilt (Spruchpunkt III). Begründend führte die belangte Behörde - sofern hier wesentlich - aus, dass für den Drittbeschwerdeführer keine eigenen Fluchtgründe betreffend den Herkunftsstaat Somalia vorgebracht worden seien.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen

Die zu treffenden Feststellungen entsprechen der Darstellung des Sachverhalts im Verfahrensgang, auf die verwiesen wird. Dieser Sachverhalt wird der Entscheidung als Sachverhaltsfeststellung zu Grunde gelegt.

2. Beweiswürdigung

Der Sachverhalt und der Verfahrensgang ergeben sich aus dem unbestrittenen Akteninhalt.

Rechtliche Beurteilung:

Zu Spruchpunkt A)

Gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen, wenn die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen hat. Diese Vorgangsweise setzt nach § 28 Abs. 2 Ziffer 2 voraus, dass die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht nicht im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.

In seinem Erkenntnis vom 26.06.2014, Zl. Ro 2014/03/0063, hielt der Verwaltungsgerichtshof fest, dass eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG insbesondere dann in Betracht kommen wird, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhaltes lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden (vgl. auch VwGH 25.01.2017, Zl. Ra 2016/12/0109, Rz 18ff.).

Gemäß § 18 AsylG 2005 hat die Behörde in allen Stadien des Verfahrens von Amts wegen darauf hinzuwirken, dass die für die Entscheidung erheblichen Angaben gemacht oder lückenhafte Angaben über die zur Begründung des Antrages geltend gemachten Umstände vervollständigt, die Bescheinigungsmittel für die Angaben bezeichnet oder die angebotenen Bescheinigungsmittel ergänzt und überhaupt alle Aufschlüsse gegeben werden, welche zur Begründung des Antrages notwendig erscheinen. Erforderlichenfalls sind Bescheinigungsmittel auch von Amts wegen beizuschaffen.

Gemäß § 19 Abs. 1 AsylG 2005 ist ein Fremder, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes nach Antragstellung oder im Zulassungsverfahren zu befragen. Diese Befragung dient insbesondere der Ermittlung der Identität und der Reiseroute des Fremden und hat sich nicht auf die näheren Fluchtgründe zu beziehen. Diese Einschränkung gilt nicht, wenn es sich um einen Folgeantrag (§ 2 Abs. 1 Z 23) handelt.

Gemäß § 19 Abs. 2 AsylG 2005 ist ein Asylwerber vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, soweit er nicht auf Grund von in seiner Person gelegenen Umständen nicht in der Lage ist, durch Aussagen zur Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes beizutragen, zumindest einmal im Zulassungsverfahren und - soweit nicht bereits im Zulassungsverfahren über den Antrag entschieden wird - zumindest einmal nach Zulassung des Verfahrens einzuvernehmen. Steht der entscheidungsrelevante Sachverhalt fest und hat sich der Asylwerber dem Verfahren entzogen, so steht gemäß § 24 Abs. 3 AsylG 2005 die Tatsache, dass der Asylwerber vom Bundesamt oder vom Bundesverwaltungsgericht bisher nicht einvernommen wurde, einer Entscheidung nicht entgegen.

Gemäß § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG 2005 ist Familienangehöriger, wer Elternteil eines minderjährigen Kindes, Ehegatte oder zum Zeitpunkt der Antragstellung minderjähriges lediges Kind eines Asylwerbers oder eines Fremden ist, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten oder des Asylberechtigten zuerkannt wurde, sofern die Ehe bei Ehegatten bereits vor der Einreise des subsidiär Schutzberechtigten oder des Asylberechtigten bestanden hat, sowie der gesetzliche Vertreter der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, wenn diese minderjährig und nicht verheiratet ist, sofern dieses rechtserhebliche Verhältnis bereits vor der Einreise des subsidiär Schutzberechtigten oder des Asylberechtigten bestanden hat; dies gilt weiters auch für eingetragene Partner, sofern die eingetragene Partnerschaft bereits vor der Einreise des subsidiär Schutzberechtigten oder des Asylberechtigten bestanden hat.

Gemäß § 34 Abs. 4 AsylG 2005 hat die Behörde Anträge von Familienangehörigen eines Asylwerbers gesondert zu prüfen; die Verfahren sind unter einem zu führen; unter den Voraussetzungen der Abs. 2 und 3 erhalten alle Familienangehörigen den gleichen Schutzumfang. Entweder ist der Status des Asylberechtigten oder des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wobei die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten vorgeht, es sei denn, alle Anträge wären als unzulässig zurückzuweisen oder abzuweisen. Jeder Asylwerber erhält einen gesonderten Bescheid. Ist einem Fremden der faktische Abschiebeschutz gemäß § 12a Abs. 4 AsylG 2005 zuzuerkennen, ist dieser auch seinen Familienangehörigen zuzuerkennen. Gemäß § 34 Abs. 5 AsylG 2005 gelten die Bestimmungen der Abs. 1 bis 4 sinngemäß für das Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht. Die Materialien zum AsylG 2005 gehen davon aus, dass Ziel der Bestimmungen des § 34 AsylG sei, Familienangehörigen den gleichen Schutz zu gewähren, ohne ihnen ein Verfahren im Einzelfall zu verwehren. Wenn einem Familienmitglied der Status eines Asylberechtigten zuerkannt werde, solle "dieser allen anderen Familienmitgliedern - im Falle von offenen Verfahren zur gleichen Zeit von der gleichen Behörde - zuerkannt werden" (Erläuterungen zur RV 952 BlgNR XXII. GP).

Gemäß § 34 Abs. 6 Z 2 AsylG sind die Bestimmungen des § 34 AsylG nicht anzuwenden auf Familienangehörige eines Fremden, dem der Status des Asylberechtigten oder der Status des subsidiär Schutzberechtigten im Rahmen eines Verfahrens nach diesem Abschnitt zuerkannt wurde, es sei denn es handelt sich bei dem Familienangehörigen um ein minderjähriges lediges Kind.

Zur Zweitbeschwerdeführerin und zum Drittbeschwerdeführer:

Verfahrensgegenständlich hat es das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl unterlassen, den entscheidungswesentlichen Sachverhalt zu ermitteln und darüber hinaus den mangelhaft ermittelten Sachverhalt in wesentlichen Teilen nicht in den Entscheidungen berücksichtigt.

Die angefochtenen Bescheide sind aus mehreren Gründen in Bezug auf die Zweitbeschwerdeführerin, aber auch in Bezug auf den Drittbeschwerdeführer mangelhaft:

Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.

Im Rahmen der Einvernahme zum Antrag der Zweitbeschwerdeführerin auf internationalen Schutz brachten die Eltern der Zweitbeschwerdeführerin vor, dass sie einer Beschneidung von Frauen ablehnend gegenüberstünden. Dennoch unterließ es die belangte Behörde, die Eltern der Zweitbeschwerdeführerin eingehend und ausführlich zu diesem Themenkomplex zu befragen. Der belangten Behörde hätte es aufgrund ihres Amtswissens bekannt sein müssen, dass die weibliche Genitalverstümmelung in Somalia weit verbreitet ist und nicht beschnittenen Mädchen und Frauen eine solche bei einer Rückkehr aufgrund des sozialen Drucks drohen könnte. Wie auch der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. VwGH vom 24.06.2010, Zl. 2007/01/1199) zu entnehmen ist, kann weibliche Genitalverstümmelung sehr wohl unter Umständen als asylrelevante Verfolgung qualifiziert werden.

Vor dem Hintergrund der obigen Rechtsprechung war die belangte Behörde daher von sich aus verpflichtet, Ermittlungen zu einer sich daraus ergebenden allfälligen Bedrohung in Somalia durchzuführen und die diesbezüglichen Ermittlungsergebnisse einer nachvollziehbaren Prüfung zu unterziehen. Das Bundesamt hätte von sich aus die Situation rückkehrender minderjähriger Mädchen nach Somalia, die nicht beschnitten sind, jedenfalls näher beleuchten und dahingehende Ermittlungen - auch durch entsprechende Befragung der gesetzlichen Vertreterin - tätigen müssen. Die belangte Behörde ist dieser Verpflichtung nicht ausreichend nachgekommen. Zwar finden sich im angefochtenen Bescheid der Zweitbeschwerdeführerin - die im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation enthaltenen allgemeinen - Ausführungen zur Situation von Frauen in Somalia. Jedoch fand weder eine ausführliche Befragung der gesetzlichen Vertreterin der Zweitbeschwerdeführerin dazu statt, noch wurden (ausreichende) Ermittlungen und darauf basierende substantiierte Feststellungen zur Situation von Frauen in Somalia und insbesondere auch zum Thema Genitalverstümmelung und den damit verbundenen Problemen für den Fall einer Rückkehr getroffen. Die gesetzliche Vertreterin wurde lediglich in der Einvernahme gefragt, wie sie zur Genitalverstümmelung stehe. Auch ihre Antwort, dass sie die Genitalverstümmelung ablehne, veranlasste die Behörde nicht, hierzu weitere Fragen zu stellen und sich mit dem Thema näher zu befassen. Dem folgend fehlt auch eine weitere Auseinandersetzung mit diesem Themenkomplex in der Beweiswürdigung und in der rechtlichen Beurteilung der angefochtenen Bescheide. Die belangte Behörde hat die notwendigen Ermittlungen zur Feststellung des in diesem Punkt entscheidungsrelevanten Sachverhalts unterlassen und ist die Gefahr der Beschneidung der Zweitbeschwerdeführerin völlig übergangen.

Letztlich ist der belangten Behörde aber auch vorzuwerfen, dass im Rahmen der Einvernahme der Eltern der Zweitbeschwerdeführerin am 27.04.2017 trotz der Frage über die Einstellung zum Thema der Genitalverstümmelung, die Mutter nicht über die Möglichkeit der Heranziehung eines gleichgeschlechtlichen Organwalters gemäß § 20 AsylG belehrt wurde, da es sich bei der Genitalverstümmelung um einen Eingriff in die sexuelle Selbstbestimmung handelt. Ebenso hätte die Mutter der Beschwerdeführerin darauf hingewiesen werden müssen, dass die Beiziehung einer weiblichen Dolmetscherin möglich gewesen wäre.

Die belangte Behörde wird daher im fortgesetzten Verfahren angehalten, sich mit dem Themenbereich der weiblichen Genitalverstümmelung eingehend auseinanderzusetzen und dazu konkrete Ermittlungsschritte, sei es durch eine gezielte Befragung, durch Einholung von entsprechenden Länderberichten oder durch weitere sich daraus ergebender Maßnahmen, zu setzen. Aufgrund des zu behandelnden Themenbereichs der weiblichen Genitalverstümmelung wird die Einvernahme von einer weiblichen Organwalterin der belangten Behörde unter Beiziehung einer weiblichen Dolmetscherin durchzuführen sein.

In Bezug auf den Drittbeschwerdeführer ist zunächst auszuführen, dass es sich bei dem gegenständlichen Verfahren um ein Familienverfahren iSd § 34 AslyG 2005 handelt. Das Bundesverwaltungsgericht hat daher nicht nur über die Beschwerde der Erst- und Zweitbeschwerdeführerin abzusprechen, sondern gelten gemäß § 16 Abs. 3 BFA-VG auch die Bescheide aller anderen Familienmitglieder, gegenständlich auch der Bescheid des nachgeborenen Drittbeschwerdeführers, als mitangefochten. Lediglich der Vollständigkeit halber wird darauf hingewiesen, dass der Drittbeschwerdeführer ein minderjähriges lediges Kind ist, weshalb die Bestimmungen des § 34 AsylG 2005 jedenfalls auch auf ihn anzuwenden sind.

Bereits aus § 34 Abs. 1 AsylG 2005 ergibt sich, dass jeder Antrag eines Familienangehörigen - anders als nach dem Asylerstreckungsverfahren nach dem AsylG 1997 in der Fassung BGBl. I 101/2003 - ex lege als "Antrag auf Gewährung desselben Schutzes" gilt. Die Behörde hat somit bei einem Antrag eines Familienangehörigen in jedem Fall die Bestimmungen des Familienverfahrens anzuwenden. Dies ändert jedoch nichts daran, dass jeder Antrag eines Familienangehörigen gesondert zu prüfen und über jeden mit gesondertem Bescheid abzusprechen ist (§ 34 Abs. 4 AsylG 2005). Unabhängig von der konkreten Formulierung ist jeder Antrag eines Familienangehörigen überdies in erster Linie auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gerichtet. Es sind daher für jeden Antragsteller allfällige eigene Fluchtgründe zu ermitteln. Nur wenn solche - nach einem ordnungsgemäßen, also den gesetzlichen Vorgaben entsprechenden, Ermittlungsverfahren - nicht hervorkommen, ist dem Antragsteller jener Schutz zu gewähren, der bereits einem anderen Familienangehörigen gewährt wurde (vgl. Putzer/Rohrböck, Asylrecht, Rz 522 ff; Frank/Anerinhofer/Filzwieser, AsylG 2005, K 13 f zu § 34; Feßl/Holzschuster, Asylgesetz 2005, 496 f; Schrefler-König/Szymanski, Fremdenpolizei- und Asylrecht, Anm. 8 zu § 34 AsylG 2005; vgl. zur gesonderten Prüfung der Anträge von Familienangehörigen nach § 34 Abs. 4 AsylG 2005 etwa VwGH 21.10.2010, 2007/01/0164).

Der Verwaltungsgerichtshof verlangt in seiner Rechtsprechung eine ganzheitliche Würdigung des individuellen Vorbringens eines Asylwerbers unter dem Gesichtspunkt der Konsistenz der Angaben, der persönlichen Glaubwürdigkeit des Asylwerbers und der objektiven Wahrscheinlichkeit seines Vorbringens, wobei Letzteres eine Auseinandersetzung mit (aktuellen) Länderberichten verlangt (VwGH 26.11.2003, 2003/20/0389).

Im behördlichen Verfahren des Drittbeschwerdeführers fand keine Befragung der gesetzlichen Vertreterin zum Asylantrag des Drittbeschwerdeführers statt, weshalb diese mangels Gelegenheit bzw. mangels eingeräumter Möglichkeit kein Vorbringen erstatten konnte, welches unter Umständen im Hinblick auf § 3 AsylG 2005 asylrelevant wären. Beim Asylantragsformular handelte es sich um einen Vordruck, bei dem der Punkt: "Das Kind hat keine eigenen Fluchtgründe, bzw. Rückkehrbefürchtungen, der Antrag bezieht sich ausschließlich auf die Gründe des Vaters bzw. Mutter.", bereits vorgedruckt ist, weshalb nicht davon ausgegangen werden kann, dass diese Angaben die belangte Behörde von der amtswegigen Ermittlung eventueller Schutzgründe von vornherein zu befreien in der Lage wäre.

Da keine der gesetzlich normierten Ausnahmen vorliegt und die Anträge im Familienverfahren gemäß § 34 Abs. 4 AsylG 2005 gesondert zu prüfen sind, hätte es zur notwendigen Sachverhaltsklärung betreffend den Drittbeschwerdeführer jedenfalls einer Befragung bzw. Einvernahme der gesetzlichen Vertreterin bedurft; eine solche wurde von der belangten Behörde jedoch nicht durchgeführt.

Im fortgesetzten Verfahren wird die belangte Behörde die gesetzliche Vertreterin des Drittbeschwerdeführers niederschriftlich befragen und den entscheidungswesentlichen Sachverhalt durch allfällige weitere Ermittlungen zu erheben haben.

Die belangte Behörde hat es daher - entgegen ihrer in § 18 AsylG 2005 normierten Ermittlungspflicht - insgesamt unterlassen, sich mit den von den Beschwerdeführern geltend gemachten bzw. im Verfahren hervorgekommenen Fluchtgründen eingehend zu befassen. Der Sachverhalt ist somit in wesentlichen Punkten umfassend ergänzungsbedürftig geblieben, weshalb im Hinblick auf diese besonders gravierenden Ermittlungslücken eine Zurückverweisung erforderlich und auch gerechtfertigt ist (vgl. etwa VwGH 20.10.2015, Zl. Ra 2015/09/0088, wonach bei Nichtfeststellung des entscheidungswesentlichen Sachverhalts eine Zurückverweisung zulässig ist).

Eine Nachholung des durchzuführenden Ermittlungsverfahrens und eine erstmalige Ermittlung und Beurteilung des maßgeblichen Sachverhaltes durch das Bundesverwaltungsgericht kann nicht im Sinne des Gesetzes liegen. Denn die belangte Behörde ist als Spezialbehörde im Rahmen der Staatendokumentation gemäß § 5 BFA-Einrichtungsgesetz für die Sammlung relevanter Tatsachen zur Situation in den betreffenden Staaten samt den Quellen zuständig. Überdies soll eine ernsthafte Prüfung des Antrages nicht erst beim Bundesverwaltungsgericht beginnen und zugleich enden.

Unter Wahrung des Grundsatzes der amtwegigen Ermittlungspflicht und des Parteiengehörs wird die belangte Behörde auch aktuelle Länderfeststellungen zum Herkunftsstaat treffen, das Vorbringen der gesetzlichen Vertreterin vor dem Hintergrund der aktuellen Lage im Herkunftsstaat würdigen und schließlich die rechtlichen Konsequenzen daraus ziehen müssen.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die belangte Behörde aus den oben angeführten Erwägungen in entscheidenden Punkten jegliche Ermittlungstätigkeit unterlassen und daher die Spruchpunkte I. der angefochtenen Bescheide mit Rechtswidrigkeit belastet hat, sodass die nunmehrige Durchführung des Verfahrens durch das Bundesverwaltungsgericht einer Neudurchführung des Verfahrens gleichkommt. Sohin liegen verfahrensgegenständlich jedenfalls die in der eingangs zitierten Judikatur des Verwaltungsgerichtshofs genannten krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken vor.

Durch die mangelhaft geführten Ermittlungsverfahren hat das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Vornahme weiterer Ermittlungen bzw. überhaupt die Durchführung wesentlicher Teile der Asylverfahren auf das Bundesverwaltungsgericht verlagert, weshalb im Einklang mit den Erkenntnissen des VwGH zu § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG, Zlen. Ro 2014/03/0063 und Ra 2014/08/0005, die angefochtenen Bescheide in ihren Spruchpunkten I. zu beheben und die Angelegenheiten zur Erlassung neuer Bescheide an das Bundesamt zurückzuverweisen waren.

Dass eine unmittelbare weitere Beweisaufnahme durch das Bundesverwaltungsgericht "im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden" wäre, ist - auch angesichts des mit dem bundesverwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren als Mehrparteienverfahren verbundenen erhöhten Aufwandes - nicht ersichtlich.

Die Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 VwGVG sind daher im gegenständlichen Beschwerdefall nicht gegeben. Folglich war das Verfahren zur neuerlichen Entscheidung an die belangte Behörde zurückzuverweisen.

Zur Erstbeschwerdeführerin:

Gemäß § 34 Abs. 4 AsylG 2005 hat die Behörde Anträge von Familienangehörigen eines Asylwerbers gesondert zu prüfen; die Verfahren sind unter einem zu führen; unter den Voraussetzungen der Abs. 2 und 3 erhalten alle Familienangehörigen den gleichen Schutzumfang.

Es handelt sich bei der Erstbeschwerdeführerin um eine Familienangehörige im Sinne des § 2 Abs. 2 Z 22 AsylG 2005. Da das die Zweitbeschwerdeführerin und den Drittbeschwerdeführer betreffende Verfahren hinsichtlich der Gewährung des Status von Asylberechtigten wieder bei der belangten Behörde anhängig ist und gemäß § 34 Abs. 4 AsylG Verfahren von Familienangehörigen "unter einem" zu führen sind, war der Spruchpunkt I. des Bescheides der Erstbeschwerdeführerin ebenso aufzuheben (siehe dazu VwGH 30.06.2011, 2011/23/0098; VwGH 25.11.2009, 2007/01/1153; VwGH 26.06.2007, 2007/20/0281, ua).

Eine mündliche Verhandlung konnte im vorliegenden Fall gemäß § 24 Abs. 2 Z 1 VwGVG unterbleiben, weil bereits aufgrund der Aktenlage feststand, dass die angefochtenen Bescheide "aufzuheben" waren. Dieser Tatbestand ist auch auf Beschlüsse zur Aufhebung und Zurückverweisung anwendbar (vgl. zur gleichartigen früheren Rechtslage Hengstschläger/Leeb, AVG [2007] § 67d Rz 22).

Zu Spruchpunkt B)

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist unzulässig, weil keine Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG zu beurteilen war, der grundsätzliche Bedeutung zukommt: Dass eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG insbesondere dann in Betracht kommt, wenn die Verwaltungsbehörde bloß ansatzweise bzw. unzureichend ermittelt, entspricht der oben zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes.

Schlagworte

Behebung der Entscheidung, Ermittlungspflicht, Familienverfahren,
Kassation, mangelnde Sachverhaltsfeststellung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2018:W254.2204495.1.00

Zuletzt aktualisiert am

14.11.2018
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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