Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Univ.-Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Grohmann sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Andrea Schulte (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Josef Putz (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei J*****, vertreten durch Dr. Thomas Majoros, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, wegen Ausgleichszulage, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 27. Juli 2018, GZ 10 Rs 16/18y-12, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.
Text
Begründung:
Die 1966 geborene Klägerin ist slowakische Staatsbürgerin und war ab 1990 durch einige Jahre in Österreich berufstätig. Seit 1. 9. 2011 bezieht sie von der beklagten Pensionsversicherungsanstalt eine Invaliditätspension, deren Höhe im Jahr 2017 monatlich 571,59 EUR (inklusive Kinderzuschuss für ihren 2002 geborenen Sohn) betrug. Mit Bescheid vom 25. 9. 2008 war über die Klägerin im Hinblick auf vielfach verübte Straftaten und eine mehrjährige Freiheitsstrafe ein achtjähriges Aufenthaltsverbot verhängt worden. Nach Ablauf des Aufenthaltsverbots kehrte die Klägerin am 3. 11. 2016 nach Österreich zurück und beantragte am 11. 11. 2016 die Ausgleichszulage. Aufgrund eidesstättiger Erklärungen ihrer in Österreich lebenden Tochter und des Vaters ihres Sohnes erhielt sie am 30. 3. 2017 eine Aufenthaltsbescheinigung für EWR-Bürger nach § 51 Abs 1 Z 2 NAG. Die Klägerin bezieht zusätzlich zu ihrer Invaliditätspension eine ausländische Rente in Höhe von 72,30 EUR monatlich und österreichisches Pflegegeld der Stufe 3 in Höhe von 451,80 EUR monatlich. Sie verfügt in Österreich über einen aufrechten Krankenversicherungsschutz. Zum Zeitpunkt der Ausstellung der Anmeldebescheinigung stand der Klägerin ein von ihrer Tochter eingeräumtes Konto mit einem Guthaben von 6.000 EUR zur Verfügung. Diesen Betrag hat die Tochter der Klägerin zwischenzeitig mit deren Wissen und Einverständnis für andere Zwecke als den Lebensunterhalt der Klägerin verwendet. Die Klägerin lebt mit ihrem 2002 geborenen Sohn, nicht aber mit dessen Vater im gemeinsamen Haushalt. An den Wohnungskosten wie Miete (726 EUR monatlich), Warmwasser, Strom und Heizung beteiligt sich der Vater des Sohnes (im Hinblick auf seine Unterhaltspflichten gegenüber dem Sohn) zur Hälfte, er kommt auch für die Kleidung des Sohnes auf.
Die beklagte Partei wies mit Bescheid vom 30. 6. 2017 den Antrag auf Gewährung der Ausgleichszulage ab.
In ihrer dagegen gerichteten Klage brachte die Klägerin vor, sie sei nicht nach Österreich gekommen, um Sozialleistungen in Anspruch zu nehmen. Ihre Eigenmittel von monatlich 991,43 EUR (Invaliditätspension zuzüglich Pflegegeld) seien zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts ausreichend.
Die beklagte Partei wendete ein, dass die Klägerin mit ihrem Einkommen nicht ohne Bezug von Sozialleistungen in Österreich leben könne, habe sie doch schon kurz nach ihrer Einreise nach Österreich den Antrag auf Ausgleichszulage gestellt. Das Pflegegeld sei bei der Beurteilung des Vorhandenseins ausreichender Eigenmittel nicht zu berücksichtigen, weil es kein Einkommen zur Deckung des allgemeinen Lebensbedarfs darstelle.
Das Erstgericht sprach der Klägerin (dem Grunde nach) die Ausgleichszulage zu. Rechtlich ging es davon aus, die Klägerin erfülle die in Art 7 lit b der RL 2004/38/EG (Unionsbürger-Richtlinie) normierten Voraussetzungen des Vorhandenseins ausreichender Existenzmittel und eines umfassenden Krankenversicherungsschutzes. Nach der Lebenserfahrung könne davon ausgegangen werden, dass die Klägerin das Pflegegeld nicht nur zur Abdeckung von Pflegekosten, sondern auch zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts aufwende. Die Klägerin falle demnach nicht in die Kategorie der Armutszuwanderung.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei Folge und wies das Klagebegehren ab. Abzüglich des Pflegegelds, das nur zur Abgeltung pflegebedingter Mehraufwendungen diene und kein Einkommen zur Abdeckung allgemeiner Lebensbedürfnisse darstelle, stehe der Klägerin monatlich ein Betrag von durchschnittlich 640 EUR zur Verfügung, der weit unter dem für sie maßgeblichen Ausgleichszulagenrichtsatz liege. Sie verfüge daher nicht über ausreichende Existenzmittel iSd Art 7 Abs 1 lit b der Unionsbürger-RL. Für das Ausgleichszulagenrecht sei ihr Aufenthalt in Österreich deshalb als nicht rechtmäßig anzusehen.
Das Berufungsgericht ließ die Revision nicht zu.
Rechtliche Beurteilung
Die außerordentliche Revision der Klägerin ist mangels einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig.
1.1 Gemäß § 292 Abs 1 ASVG hat der Pensionsberechtigte Anspruch auf Ausgleichszulage, solange er seinen rechtmäßigen gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich hat.
1.2 Nach Art 7 Abs 1 lit a der Unionsbürger-RL steht das Recht auf Aufenthalt wirtschaftlich nicht aktiven Personen zu, die sich länger als drei Monate (aber nicht mehr als fünf Jahre) im Aufenthaltsmitgliedstaat aufhalten und die die Voraussetzungen des Art 7 Abs 1 lit b der Unionsbürger-RL erfüllen, also über ausreichende Existenzmittel und einen Krankenversicherungsschutz verfügen, sodass sie während ihres Aufenthalts für sich und ihre Angehörigen keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen (RIS-Justiz RS0130764).
1.3 Da sich eine Anmeldebescheinigung für EWR-Bürger nur auf das Aufenthaltsrecht bezieht, hat diese Bescheinigung keinen Einfluss auf den Sozialleistungsanspruch (10 ObS 15/16b, SSV-NF 30/34 = ZAS 2017/58, 305 [Niksova]). Das Gericht muss im Rahmen der Beurteilung eines Anspruchs eines EWR-Bürgers auf Ausgleichszulage daher selbständig prüfen, ob die für die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts in Österreich notwendigen Voraussetzungen vorliegen.
2.1 Ob die Klägerin die Voraussetzungen des Art 7 Abs 1 lit b der Unionsbürger-RL erfüllt oder ob dies nicht der Fall ist, kann immer nur aufgrund der Umstände des konkreten Einzelfalls beurteilt werden (RIS-Justiz RS0130764 [T2]). Dass dem Berufungsgericht dabei eine vom Obersten Gerichtshof aufzugreifende Fehlbeurteilung unterlaufen wäre, zeigt die Revision nicht auf:
2.2 Beide Parteien gehen davon aus, dass das Aufenthaltsverbot den zuvor bestehenden rechtmäßigen Aufenthalt im Inland beendet hat und die Klägerin für einen drei Monate übersteigenden Aufenthalt in Österreich wieder die Voraussetzungen des Art 7 Abs 1 lit b der RL 2004/38/EG (Unionsbürger-RL) zu erfüllen hat, also über ausreichende Existenzmittel (für sich und ihren Sohn) und über einen Krankenversicherungsschutz verfügen muss.
2.3 Eine individuelle Prüfung der wirtschaftlichen Situation des einzelnen Betroffenen wurde vom EuGH unter Hinweis darauf als nicht notwendig erachtet, dass in bestimmten Fallgestaltungen das in der Unionsbürger-RL vorgesehene abgestufte System selbst verschiedene Faktoren berücksichtige, die ihrerseits persönliche Umstände der antragstellenden Person widerspiegeln (EuGH C-67/14, Alimanovic, Rz 59 ff; EuGH C-299/14, Garcia-Nieto ua). Demnach können aufgrund des Unionsrechts EU-Bürger, die nicht erwerbstätig und nur zum Zweck eines Leistungsbezugs mobil sind und damit in die Kategorie der „Armutszuwanderung“ fallen, keine Ansprüche auf Leistungen wie die Ausgleichszulage geltend machen (10 ObS 160/17b mwN).
3.1 Die Revisionswerberin nimmt den Standpunkt ein, ihre Situation sei anders, weil sie vor Inkrafttreten des Aufenthaltsverbots mehrere Jahre in Österreich erwerbstätig gewesen sei und ihr noch minderjähriger Sohn in Österreich lebe. Dem hielt das Berufungsgericht entgegen, dass auch eine individuelle Prüfung der konkreten wirtschaftlichen Situation – wie sie der EuGH noch in der Rs Dano C-333/13, Rz 76, für erforderlich gehalten hat – auf unionsrechtlicher Grundlage nicht dazu führe, den Anspruch auf Ausgleichszulage zu bejahen.
3.2 Die im Rahmen dieser Beurteilung vertretene Ansicht des Berufungsgerichts, die Klägerin verfüge nicht über ausreichende Existenzmittel, weil das Pflegegeld kein Einkommen zur Abdeckung allgemeiner Lebenshaltungskosten darstelle, ist nicht korrekturbedürftig:
3.3 Nach § 1 BPGG hat das Pflegegeld den Zweck in Form eines Beitrags pflegebedingte Mehraufwendungen pauschaliert abzugelten, um pflegebedürftigen Personen soweit wie möglich die notwendige Betreuung und Hilfe zu sichern sowie die Möglichkeiten zu verbessern, ein selbstbestimmtes, bedürfnisorientiertes Leben zu führen. Das Pflegegeld dient also nicht zur Erhöhung des Einkommens, sondern soll ausschließlich dazu beitragen, Pflegeleistungen „einkaufen“ zu können und es den Betroffenen ermöglichen, die erforderlichen Pflegemaßnahmen selber zu organisieren (10 ObS 121/07b, SSV-NF 21/85). Dass die Klägerin ihren Pflegeaufwand deshalb nicht zu finanzieren hätte, weil ihr im gemeinsamen Haushalt lebender minderjähriger Sohn sämtliche Pflegeleistungen unentgeltlich erbringt und ihr deshalb das Pflegegeld in voller Höhe zur Abdeckung allgemeiner Lebensbedürfnisse zur Verfügung steht, ist den Feststellungen der Tatsacheninstanzen nicht zu entnehmen. Diese erstmals in der Revision in den Raum gestellte Möglichkeit stellt eine unzulässige Neuerung dar.
3.4 Nach der vom Erstgericht (wenngleich disloziert im Rahmen der Beweiswürdigung) getroffenen Feststellung leistet der Vater die Zahlungen für Wohn- und Betriebskosten nicht als Zuwendungen an die Klägerin, um deren Lebensbedarf zu mindern, sondern zur teilweisen Abdeckung der seinem Sohn gegenüber gegebenen Unterhaltspflicht. Von dieser Feststellung entfernt sich die Klägerin, wenn sie in ihrer Revision vorbringt, diese Zahlungen seien als ihr (eigenes) Einkommen anzusehen, das bei der Beurteilung, ob sie über ausreichende Eigenmittel verfüge, zu berücksichtigen gewesen wäre.
4. Die Ansicht des Berufungsgerichts, die Klägerin als nicht erwerbstätige Unionsbürgerin verfüge mit einem Einkommen von 640 EUR monatlich für sich und ihren minderjährigen Sohn nicht über ausreichende Existenzmittel, weshalb ihr hinsichtlich des Zugangs zur Ausgleichszulage keine Gleichbehandlung mit Inländern zustehe, hält sich im Rahmen der bisherigen Rechtsprechung (RIS-Justiz RS0130764). Der in der Revision zitierten Entscheidung 10 ObS 160/17b lag ein Einkommen der dortigen Klägerin von knapp 500 EUR monatlich zugrunde, wobei keine Sorgepflicht für ein Kind bestand; auch in diesem Fall war eine „Armutszuwanderung“ bejaht worden.
Die außerordentliche Revision ist daher zurückzuweisen.
Textnummer
E123174European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2018:010OBS00106.18P.1023.000Im RIS seit
19.11.2018Zuletzt aktualisiert am
22.06.2020