TE OGH 2018/10/31 7Ob198/18w

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Veröffentlicht am 31.10.2018
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Hon.-Prof. Dr. Höllwerth, Dr. E. Solé, Mag. Malesich und MMag. Matzka als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj J***** R*****, geboren am ***** 2013, wegen Obsorge, Vater Dr. K***** Y*****, vertreten durch Lughofer, Moser & Partner, Rechtsanwälte in Traun, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Mutter Dr. K***** R*****, vertreten durch Prutsch & Partner, Rechtsanwälte in Graz, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz als Rekursgericht vom 29. August 2018, GZ 1 R 201/18p-178, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Graz-West vom 4. Juli 2018, GZ 163 Ps 6/16x-163, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass der Beschluss des Erstgerichts wie folgt zu lauten hat:

„Der Antrag des Vaters, vorläufig und mit sofortiger Verbindlichkeit auszusprechen, dass der mj. J***** R***** ab sofort im Haushalt des Vaters hauptsächlich betreut wird, wird abgewiesen.“

Text

Begründung:

Die Eltern des fünfjährigen Kindes haben im Oktober 2012 die Ehe geschlossen. Die Obsorge kommt beiden Eltern zu. Das Kind lebte zunächst im gemeinsamen Haushalt der Eltern und nach deren Trennung Anfang 2016 bei der Mutter, wobei der Vater regelmäßige Besuchskontakte wahrnahm.

Das Verfahren über wechselseitige Anträge der Eltern auf alleinige Obsorge bzw auf hauptsächliche Betreuung endete zunächst mit einem am 22. 3. 2017 geschlossenen Vergleich, nach dem die Obsorge beider Eltern aufrecht blieb, die hauptsächliche Betreuung im Haushalt der Mutter festgelegt und ein Kontaktrecht des Vaters vereinbart wurde. Am 5. 4. 2017 wurde die Ehe der Eltern einvernehmlich geschieden und hinsichtlich Obsorge, Aufenthalt und Kontaktrecht die zuvor vereinbarte Regelung beibehalten.

Der Vater beantragte am 13. 9. 2017, ihm die hauptsächliche Betreuung und die alleinige Obsorge für das Kind vorläufig und sodann endgültig zu übertragen. Er begründete diese im Wesentlichen damit, dass ihm die Mutter zu Unrecht anlaste, er missbrauche und misshandle das Kind, sei bindungsintolerant und bringe das Kind in Loyalitätskonflikte. Das Kind habe sich zuletzt schlecht entwickelt, sei verhaltensauffällig und dessen Wohl sei akut gefährdet.

Die Mutter beantragte Antragsabweisung und wandte ein, dass der Vater das Kindeswohl gefährde, indem er sie dem Kind gegenüber schlecht mache, dieses in einen Loyalitätskonflikt bringe und ihm ohne kinderärztliche Anordnung gefährliche Medikamente verabreiche.

Das Erstgericht übertrug unter Beibehaltung der Obsorge beider Eltern dem Vater vorläufig die hauptsächliche Betreuung und räumte der Mutter vorläufig näher festgelegte Kontaktrechte ein. Es traf – zusammengefasst – folgende Feststellungen:

Die Mutter äußerte beginnend mit ihrem Auszug aus dem gemeinsamen Haushalt erstmals den Verdacht des sexuellen Missbrauchs des Sohnes durch den Vater. Weitere solche Verdächtigungen und ein Misshandlungsverdacht folgten im Laufe des Jahres 2017. Damals wurden auch behördliche Erhebungen durchgeführt. Weitere Verdächtigungen des sexuellen Missbrauchs folgten bis zum Ende des diagnostischen oder Begleitungsprozesses der Familie durch ein Kinderschutzzentrum und die Mutter wiederholte einen solchen Vorwurf in einer Tagsatzung vor dem Erstgericht am 4. 7. 2018 insofern, als sie angab, sie halte es ernstlich für möglich, dass der Vater pädophil sei. Es bestehen allerdings keinerlei Hinweise auf einen sexuellen Missbrauch des Kindes oder auf Gewaltanwendung durch den Vater. Vielmehr steht fest, dass die von der Mutter behaupteten Übergriffe tatsächlich nicht stattgefunden haben.

Die Bindungstoleranz der Mutter ist insoweit insuffizient, als immer wieder Ankündigungen erfolgen, die dazu angetan sind, den Vater, was seine Betreuungstätigkeit und auch was ein allfälliges Gefährdungspotential betrifft, zumindest beim Kind in ein schlechtes Licht zu rücken. Das Risiko besteht darin, dass, sollten solche Anschuldigungen wiederholt werden oder auch in Zukunft auftreten, es dem Kind zumindest sehr erschwert sein könnte, zum Vater tatsächlich dauerhaft sichere Bindungen zu entwickeln.

Die Mutter hat den Vater viel vehementer in ganz vitalen Aspekten seines Verhaltens und seiner Persönlichkeit kritisiert, weil sie ihm offensichtlich über einen längeren Zeitraum hinweg zutraut, dass er sein Kind missbraucht und misshandelt. Dem gegenüber sind beim Vater der Mutter gegenüber keine vergleichbar dramatischen Kritiken erkennbar und bezüglich der psychischen Erkrankung der Mutter ist die Kritik des Vaters nicht als irreal einzustufen, während die Vorwürfe der Mutter dem Vater gegenüber als irreal zu bezeichnen sind. Die dadurch bedingten Auswirkungen auf das Kind sind bedeutsam und gefährlich für das Wohl des Kindes, wobei es unerheblich ist, aus welchen Motiven und welchen Gründen die Mutter so handelt. Es ist jedenfalls nicht davon auszugehen, dass sich diese grundlegende Überzeugung der Mutter bzw die dazu passende Skepsis innerhalb eines Jahres ändern wird lassen.

Daneben weist die Mutter aber auch noch dabei Defizite auf, dem Kind kontinuierlich Grenzen zu setzen und diesem eine passende Struktur zu geben. Diese Defizite sind dafür verantwortlich, dass das Kind Verhaltensauffälligkeiten zeigt. Zum aktuellen Zeitpunkt ist es für das Kind somit günstiger, vom Vater hauptbetreut zu werden.

Rechtlich führte das Erstgericht aus, es sei nach § 107 Abs 2 AußStrG zur Förderung des Kindeswohls geboten, bereits vor endgültiger Entscheidung vorläufig die hauptsächliche Betreuung des Kindes durch den Vater festzulegen.

Das Rekursgericht teilte die Rechtsansicht des Erstgerichts und gab daher dem gegen dessen Entscheidung erhobenen Rekurs der Mutter nicht Folge. Es sprach aus, dass angesichts des Einzelfallcharakters der Entscheidung der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig sei.

Gegen den Beschluss des Rekursgerichts richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs der Mutter mit dem Antrag auf Abänderung dahin, dass der Antrag des Vaters abgewiesen werde. Hilfsweise stellt die Mutter auch einen Aufhebungsantrag.

Der Vater erstattete eine Revisionsrekursbeantwortung mit dem Antrag, den Revisionsrekurs zurückzuweisen, hilfsweise diesem nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist zulässig und berechtigt.

1. Nach § 107 Abs 2 AußStrG (idF KindNamRÄG 2013, BGBl I 2013/15) hat das Gericht die Obsorge und die Ausübung des Rechts auf persönliche Kontakte nach Maßgabe des Kindeswohls, insbesondere zur Aufrechterhaltung der verlässlichen Kontakte und zur Schaffung von Rechtsklarheit, auch vorläufig einzuräumen oder zu entziehen.

2. Nach dem Willen des Gesetzgebers hat das Gericht nach § 107 Abs 2 AußStrG (idgF) schon dann eine vorläufige Entscheidung zu treffen, wenn zwar für die endgültige Regelung noch weitergehende Erhebungen, etwa die Einholung oder Ergänzung eines Sachverständigengutachtens, notwendig sind, aber eine rasche Regelung der Obsorge oder der persönlichen Kontakte für die Dauer des Verfahrens Klarheit schafft und dadurch das Kindeswohl fördert. Die Voraussetzungen für die Erlassung vorläufiger Maßnahmen sind in dem Sinn reduziert, dass diese nicht mehr erst bei akuter Gefährdung des Kindeswohls, sondern bereits zu dessen Förderung erfolgen dürfen (9 Ob 61/16k; RIS-Justiz RS0129538).

3. Allerdings trägt die Möglichkeit einer vorläufigen Entscheidung nach § 107 Abs 2 AußStrG einer gewissen Eilbedürftigkeit Rechnung, die es im Einzelfall zur Förderung des Kindeswohls geboten erscheinen lässt, diese vor Aufnahme sämtlicher relevanten Beweise zu erlassen (vgl RIS-Justiz RS0006999). Dem steht die Problematik gegenüber, dass mit einer vorläufigen Entscheidung nicht ohne sachlich überzeugenden Grund, der endgültigen Endscheidung vorgegriffen werden sollte (vgl RIS-Justiz RS0007012). Beispielhaft nennt daher § 107 Abs 2 AußStrG als Gründe für eine vorläufige Entscheidung den Bedarf nach Aufrechterhaltung der verlässlichen Kontakte und nach Schaffung von Rechtsklarheit. Die damit vom Gesetz verlangte sachliche Notwendigkeit der vom Erstgericht getroffenen vorläufigen Entscheidung ist im vorliegenden Fall nicht zu erkennen:

4. Die Vorinstanzen berufen sich besonders auf von der Mutter geäußerte, unbegründete Missbrauchs- und Misshandlungsvorwürfe, die sie im Verhältnis zwischen Eltern dem vorliegenden Sachverständigengutachten folgend als „die dramatischsten Aspekte (ansehen), die man jemandem in seiner pädagogischen Kompetenz, allenfalls in seinen Vorlieben und vor dem Hintergrund einer allenfalls vorhandenen sexuellen Devianz zuordnen kann“. Der deshalb angeordnete vorläufige Wechsel in der hauptsächlichen Betreuung ist allerdings in keiner Weise geeignet, die Mutter künftig von derartigen Anschuldigungen abzuhalten. Das Erstgericht trifft zu diesen Vorwürfen der Mutter zwar auch die „Feststellung“, dass „die dadurch bedingten Auswirkungen auf das Kind (…) bedeutsam und gefährlich für das Wohl des Kindes (sind)“, doch handelt es sich dabei um bloße Behauptungen, die durch kein konkretes Tatsachensubstrat dahin unterlegt sind, welche Auswirkungen das sein sollen und wann gegebenenfalls mit solchen zu rechnen sei.

5. Dass zwischen Eltern nach deren Trennung in gewissem Umfang Misstrauen herrscht und das Erziehungsverhalten des jeweils anderen Elternteils bisweilen auch dem gemeinsamen Kind gegenüber in Frage gestellt wird, ist ein recht häufiges Phänomen, das noch keine vorläufige Entscheidung zu rechtfertigen vermag. Auf Dauer kann zwar ein solches Verhalten ebenso wie Defizite der Mutter, dem Kind Grenzen zu setzen, dem Kindeswohl ernsthaft nachteilig sein; für solche zeitnahen Folgen liegen derzeit allerdings – nicht zuletzt deshalb, weil der gerichtliche Sachverständige im Erziehungsverhalten der Mutter auch Verbesserungen erkennen konnte – keine Anhaltspunkte vor und der Vater hat seinen Obsorgeantrag auch bereits vor mehr als einem Jahr eingebracht, sodass wohl mit einer baldigen endgültigen Entscheidung zu rechnen ist, was deren Vorwegnahme durch eine vorläufige Entscheidung in diesem Verfahrensstadium ebenfalls nicht sinnvoll erscheinen lässt.

6. Schließlich ist auch nicht zu erkennen, warum im vorliegenden Fall eine vorläufige Entscheidung zu den im Gesetz ausdrücklich genannten Zwecken, nämlich etwa der Aufrechterhaltung der verlässlichen Kontakte oder zur Schaffung von Rechtsklarheit, erforderlich sein sollte.

7. Im Ergebnis folgt daher: Selbst wenn man mit den Vorinstanzen davon ausgeht, dass auch (allein) die hauptsächliche Betreuung Gegenstand einer vorläufigen Entscheidung nach § 107 Abs 2 AußStrG sein kann, dann besteht im derzeitigen Verfahrensstadium keine Eilbedürftigkeit und keine überzeugende Notwendigkeit für ein solches, der endgültigen Entscheidung vorgreifendes Vorgehen. In Stattgebung des Revisionsrekurses war daher der Antrag des Vaters abzuweisen.

Textnummer

E123097

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2018:0070OB00198.18W.1031.000

Im RIS seit

12.11.2018

Zuletzt aktualisiert am

12.07.2019
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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