Entscheidungsdatum
02.07.2018Norm
AsylG 2005 §10Spruch
W174 2126102-1/17E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Viktoria MUGLI-MASCHEK, als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX alias XXXX , geboren am XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die ARGE Rechtsberatung - Diakonie Flüchtlingsdienst, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 13.04.2016, Zl 1029568106/14905364, nach einer mündlichen Verhandlung am 16.04.2018 zu Recht erkannt:
A)
Die Beschwerde wird gemäß §§ 3, 8, 10, 55 und 57 AsylG 2005, § 9 BFA-VG sowie §§ 52 und 55 FPG als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Der (damals minderjährige) Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 23.08.2014 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2. Im Rahmen seiner Erstbefragung vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 24.08.2014 gab der Beschwerdeführer im Wesentlichen an, moslemischen Glaubens zu sein, der Volksgruppe der Paschtunen anzugehören und aus Jalalabad zu stammen. In der Heimat habe er seine Eltern, drei Brüder und fünf Schwestern.
Zu seinem Fluchtgrund aus Afghanistan erklärte er, Probleme mit den Taliban zu haben, die gedroht hätten, ihn umzubringen. Die Ausreise habe sein Vater mit einem Schlepper organisiert.
3. Mit am 18.09.2014 datiertem Schreiben langte beim Bundesamt eine Korrektur zur Erstbefragung des Beschwerdeführers ein, in der dieser vorbrachte, Probleme bei der Artikulation zu haben, weshalb es zu einigen Fehlern gekommen wäre. Der Beschwerdeführer sei 15 - nicht
17 - Jahre alt, wisse nicht, durch welche Länder er nach Österreich
gereist sei, die im Protokoll angegebene Route sei unrichtig und ihm wäre keine Möglichkeit gegeben worden, Näheres zu seinem Fluchtgrund vorzubringen. Der Beschwerdeführer habe in Afghanistan in einer Fleischerei gearbeitet und die Taliban hätten ihn dazu bringen wollen, dass zu verkaufende Fleisch mit Gift zu versetzen. Da er sich geweigert habe, hätte er fliehen müssen.
4. Am 30.04.2015 langten beim Bundesamt Ambulanzberichte einer Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie in Kopie ein, laut denen der Beschwerdeführer von einem depressiven Zustandsbild berichte. Er stottere seit jeher und sei diesbezüglich in seiner Heimat beim Arzt gewesen.
5. Am 29.06.2015 wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt niederschriftlich einvernommen.
Dabei erklärte er im Wesentlichen, man habe ihm aus der Heimat Dokumente per Post geschickt, die er jedoch nicht erhalten habe. Es handle sich um seine Tazkira, einen Liefervertrag mit der Regierung sowie Drohbriefe. Die Tazkira habe er sich vor zwei Jahren ausstellen lassen, um seine Identität nachzuweisen.
Der Beschwerdeführer sei afghanischer Staatsbürger, Paschtune und Moslem. In Afghanistan habe er ca. vier Jahre lang die Schule besucht und diese dann abgebrochen. Gewohnt habe er in einem Dorf, das ca. 30 bis 35 Autominuten von Jalalabad entfernt liege. Dort habe er noch seine Mutter, seine Schwester und einen Onkel väterlicherseits, die Familie besitze ein kleines Haus. Ca. ein bis zweimal monatlich telefoniere er mit ihr. Zudem gebe es weitere Verwandte in Afghanistan, der Beschwerdeführer wisse jedoch nicht genau, wo. Sein Vater sei verstorben. Warum er in der Einvernahme von mehreren Schwestern und Brüdern erzählt habe, wisse er nicht, er habe mit der Dolmetscherin nicht richtig kommunizieren können, weil sie Farsi gesprochen habe. Zudem habe er noch einen Bruder, der sich seit ca. drei oder vier Jahren in Belgien aufhalte. Dessen Fluchtgrund kenne der Beschwerdeführer nicht, er sei damals ca. 14 Jahre alt gewesen.
Zu seinen Fluchtgründen gab er an, aus einer Fleischerfamilie zu stammen und in der Heimat selbst Fleischer gewesen zu sein und schon als kleines Kind seinem Vater geholfen zu haben. Die Familie habe einen Vertrag mit der afghanischen Regierung gehabt und Fleisch an die Grenzpolizei geliefert. Eines Tages hätten die Taliban seinen Vater kontaktiert und ihn aufgefordert mit ihnen zusammen zu arbeiten. Sie würden ihm Gift bringen, das er in das Fleisch mischen solle, welches er zur Polizei bringe. Da er keinen Ausweg gesehen habe, habe der Vater dies akzeptiert. Ein paar Tage später sei er auf dem Weg, um die Schlachttiere zu holen, spurlos verschwunden. Dies sei ca. eineinhalb Jahre her. Ein paar Tage später hätten die Taliban die Familie des Beschwerdeführers aufgesucht und ihr mitgeteilt, sie hätten den Vater getötet.
Danach habe der Beschwerdeführer auf das Geschäft aufpassen müssen und mit dem Mitarbeiter weiter diesen Beruf ausgeübt. Eines Tages sei auch er von den Taliban aufgefordert worden, das Fleisch zu vergiften. Sie seien am späten Nachmittag zu ihm gekommen, hätten ihn angesprochen und einen Bart und einen Turban getragen. Der Beschwerdeführer sei aufgefordert worden, ihnen zu helfen und sie hätten ihm gedroht, auch ihn so wie seinen Vater zu töten. Sie hätten ihm gesagt, er solle es sich überlegen und seien dann gegangen. Als er seiner Mutter davon erzählt habe, habe sie ihm berichtet, dass die Taliban das Gleiche auch von seinem Vater verlangt hätten und sehr gefährlich seien.
Etwas später sei der Beschwerdeführer schriftlich damit bedroht worden, wie sein Vater umgebracht zu werden, wenn er nicht täte, was sie von ihm verlangten. Aus Angst um sein Leben sei er fünf bis sechs Monate nach der Ermordung seines Vaters geflüchtet. Insgesamt sei er einmal mündlich und einmal schriftlich bedroht worden. Den Drohbrief habe er ca. ein bis zwei Wochen vor seiner Ausreise erhalten. Grund dafür sei gewesen, dass der Beschwerdeführer beim ersten Mal die Forderungen der Taliban abgelehnt habe.
Sein Vater habe damals den Sachverhalt nicht der Polizei mitgeteilt, weil sich die Regierung nicht um die Sicherheit kümmern könne. Der Beschwerdeführer habe sich an seinen Vertragspartner, die Grenzpolizei, gewandt. Diese habe ihn aufgefordert, nichts zu sagen. Viele Mitarbeiter der Grenzpolizei würden zu den Taliban gehören. Man könne niemandem vertrauen. Wenn er den Vertrag beendet hätte, hätte der Beschwerdeführer Probleme mit der Regierung bekommen. Wenn es einen Vertrag gebe, müsse man diesen erfüllen. Das Gesetz in Afghanistan würde keine Kündigung erlauben. Wenn er weiter für die Grenzpolizei Fleisch besorgen würde, hätte er hingegen Probleme mit den Taliban. Das Fleischgeschäft habe sich in der Stadt Jalalabad befunden, das Fleisch hätten sie zur Grenzpolizei in die Nähe von Olivenfeldern und der Ring Road geliefert. Gekauft hätten sie das Fleisch in Pakistan oder anderen Dörfern in Jalalabad. Jemand habe die Tiere besorgt, geschlachtet hätten sie selbst. Geliefert hätten sie zwischen 25 und 45 Kilo am Tag. Probleme mit der Regierung habe es keine gegeben. Wer nun die Fleischerei weiterführe, wisse der Beschwerdeführer nicht. Sie hätten jedoch einen Mitarbeiter gehabt, vielleicht habe er das Geschäft übernommen.
Dies seien alle seine Fluchtgründe.
6. in weiterer Folge übermittelte der Beschwerdeführer dem Bundesamt diverse Schriftstücke (Tazkira, die Kopie des Liefervertrags, einen Drohbrief sowie den Ausweis seines Bruders aus Belgien). Seitens des Übersetzers wurde angemerkt, dass der Vertragstext sowohl inhaltlich als auch schriftlich fehlerhaft sei. Kein einziger Satz sei richtig geschrieben, die Formulierungen komplett falsch. Der Aussteller verwende in seinem Text internationale anstatt der Zahlen, welche in Afghanistan verwendet würden, und auch Vokabeln, die man in einem offiziellen Brief vermeiden müsse. Zudem sei der Vertrag im Dialekt geschrieben. In dem angeblichen Drohbrief der Taliban, datiert umgerechnet 04.05.2007, werde der Beschwerdeführer zum letzten Mal informiert, dass, wenn er die Taliban nicht unterstütze, er und seine gesamte Familie vernichtet würden. Daran sei sein Vater schuld, da er sie nicht unterstützt habe. Nun würden sie seine Rückmeldung erwarten.
7. Am 26.02.2016 wurde der Beschwerdeführer hierzu erneut vor dem Bundesamt niederschriftlich einvernommen und gab dabei an, 18 Jahre alt zu sein. Das im Spruch angegebene Geburtsdatum stimme.
Die vorgelegten Unterlagen habe ihm der Onkel väterlicherseits geschickt, zu dem er ab und zu in Kontakt stehe. Wenn er ihn anrufe, rede er auch mit seiner Mutter. Sein Bruder sei in Belgien anerkannter Flüchtling.
Der Brief der Taliban sei vermutlich zwei Wochen vor seiner Ausreise geschrieben worden. Sie hätten ihn vor das Haus geworfen, seine Mutter habe ihm beim Putzen gefunden. Auf Vorhalt hin, dass der Brief im Jahr 2007 datiert sei, erklärte er, keine Kenntnis darüber zu haben, wann er verfasst worden sei, bekommen hätte er ihn zwei Wochen vor seiner Ausreise.
Die Taliban hätten verlangt, Gift in das Fleisch zu mischen. Die vorgelegten Vertragstexte seien die Lieferverträge seines Vaters. Er selber habe keinen eigenen, habe aber nach dessen Tod die Tätigkeit des Vaters übernommen und weiter geliefert. Er habe dem Angestellten geholfen, der sich ausgekannt habe. Nachdem der Vater spurlos verschwunden sei, hätten sie dies der Polizei zwar mitgeteilt, diese habe vor lauter Angst nichts unternehmen können.
Die Taliban hätten angekündigt, sie würden ihm das Gift einmal übergeben. Er hätte es aber nicht angenommen und ihnen mitgeteilt, er wolle es sich noch überlegen. Dies sei vor den Drohbriefen gewesen. Nach Kabul sei er deshalb nicht geflüchtet, weil er auch dort von den Taliban gefunden werden könnte.
Vorgehalten, er habe bei der letzten Einvernahme angegeben, dass er den Liefervertrag mit der Grenzpolizei nicht kündigen hätte können, weil es das Gesetz nicht erlauben würde, erklärte er, die Taliban seien das Problem gewesen. Außer mit den Taliban habe er mit niemandem Probleme gehabt. Von Seiten der Regierung hätte er nichts zu befürchten. Später erklärte er, im Falle einer Rückkehr Angst vor Problemen zu haben. Auf Vorhalt, dass im Vertrag stehe, dass dieser im Falle der Nichterfüllung gekündigt und kein Geld ausbezahlt werde, meinte der Beschwerdeführer ausweichend, er habe niemanden gesagt, dass er fliehe. Er sei der Sohn und habe alles von seinem Vater übernommen, man würde ihn sicher fragen, warum er ohne Kündigung geflüchtet sei. Jedoch habe er wegen der Taliban der Regierung Bescheid gegeben und mitgeteilt, dass sie ihm das Leben schwer machen würden.
Zu seiner Integration erklärte der Beschwerdeführer, dass er im Quartier Deutschkurse besuche und sehr viel mit dem Quartiergeber spreche.
8. Mit dem gegenständlichen, im Spruch angeführten, Bescheid des Bundesamtes vom wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt II.). Unter Spruchpunkt III. wurde dem Beschwerdeführer ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §§ 57 und 55 AsylG 2005 nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA Verfahrensgesetz wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei. Unter Spruchpunkt IV. wurde festgehalten, dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage.
Begründend wurde im Wesentlichen angeführt, dass die vom Beschwerdeführer vorgebrachten Fluchtgründe insgesamt nicht glaubhaft gewesen seien. Er verfüge über soziale Anknüpfungspunkte in Afghanistan, sei ledig, habe keine Kinder und während der letzten Monate kontinuierlich Kontakt mit seiner Familie gehabt, auch um Dokumente von ihnen zu erhalten. Der Beschwerdeführer sei ein junger gesunder und arbeitsfähiger Mann, der an einer TIC-Störung, jedoch weder an einer schweren körperlichen oder psychischen Krankheit leide, welche bei einer Rückkehrentscheidung nach Afghanistan eine unzumutbare Verschlechterung des Gesundheitszustandes bewirken würde.
9. Dagegen wurde fristgerecht Beschwerde in vollem Umfang erhoben, in welcher im Wesentlichen das bisherige Vorbringen des Beschwerdeführers wiederholt und bezüglich des fehlerhaften Vertrages angemerkt wurde, das österreichische Verträge kein geeigneter Vergleichsgegenstand seien, weil die Bildungssituation in Afghanistan nicht an der "unsrigen" messbar sei. Zusätzlich wurde der Behörde generell mangelhafte Ermittlungstätigkeit vorgeworfen.
10. Am 16.04.2018 hielt das Bundesverwaltungsgericht unter Beiziehung eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu eine öffentliche mündliche Verhandlung ab, an der das Bundesamt als Verfahrenspartei entschuldigt nicht teilnahm.
Dabei legte der Beschwerdeführer diverse Integrationsunterlagen (ÖSD-Zertifikat A1 vom 08.02.2017, Deutschkursbesuchsbestätigung, Unterstützungsschreiben zweier Unterkunftgeber inklusive Bestätigung über ehrenamtliche Tätigkeiten sowie der Sozialarbeiterin) und medizinische Unterlagen vor und gab im Wesentlichen wie bisher an, Paschtune und moslemischen Glaubens sowie ca. 20 oder 21 Jahre alt zu sein und einen Bruder in Belgien zu haben. Er stamme aus dem Distrikt Surkhrod in der Provinz Nangarhar, wo er auch bis zu seiner Ausreise gewohnt habe. Die vorgelegte Tazkira habe er sich vor ca. vier jahren ausstellen lassen, sein Onkel habe sie ihm - wie auch den Vertrag und den Drohbrief - nach Österreich per Post geschickt. Der Beschwerdeführer habe einen Bruder und eine Schwester, je einen Onkel väterlicher- und mütterlicherseits sowie drei Tanten väterlicher- und zwei mütterlicherseits. Seine Angaben bei der ersten Einvernahme vorgehalten, wonach er drei Brüder und fünf Schwestern namentlich angegeben habe, erklärte er, dass einer der Brüder und eine der Schwestern verstorben wären und er die anderen Namen nicht genannt hätte. Alle seine Verwandten hätten damals in seinem Heimatdistrikt, wenn auch ein wenig entfernt von seinem Haus gelebt. Seit fünf Monaten stehe er jedoch nicht mehr in Kontakt zu ihnen, damals habe er mit seinem Onkel und der Mutter gesprochen.
In der Heimat sei er vier Jahre zur Schule gegangen, sein genaues Alter zu dieser Zeit wisse er nicht, er glaube jedoch, neun oder zehn Jahre alt gewesen zu sein, als er eingeschult worden sei. Die Familie habe von der eigenen Fleischerei gelebt. Jetzt würde die Familie bei einem Onkel leben, der ein Gemüsegeschäft habe.
Die Heimat habe der Beschwerdeführer im Jahr 2014 verlassen, an die Jahreszeit könne er sich jedoch nicht erinnern. Die Reise habe sein Onkel väterlicherseits organisiert. Seine Aussage bei der Erstbefragung vorgehalten, wonach dies sein Vater gewesen sei, erklärte er, dieser wäre verstorben und er hätte dies nicht gesagt.
In Österreich sei er beim Logopäden gewesen, die Therapie habe jedoch nicht geholfen. Weiters habe er Tabletten gegen Kopfschmerzen bekommen.
Zu seinem Fluchtgrund brachte er im Wesentlichen vor, dass die Familie einen Vertrag mit der Grenzbrigade gehabt habe, um Fleisch auszuliefern. Die Taliban hätten seinen Vater aufgefordert, das Fleisch zu vergiften, dieser habe das jedoch abgelehnt. Eines Tages, als er unterwegs gewesen sei, um Tiere zu kaufen, sei er verschwunden, die Familie wisse bis jetzt nicht, ob er noch lebe. Ca. ein Jahr später, als der Beschwerdeführer älter geworden sei, habe er dem Angestellten im Geschäft geholfen. Eines Tages sei er auf dem Heimweg gewesen, als die Taliban ihn aufgefordert hätten, das Fleisch zu vergiften; er habe zugesagt, es sich zu überlegen. Beim zweiten Mal hätten sie ihm gedroht, ihn umzubringen, wenn er ablehne. Zwei Wochen vor seiner Ausreise habe ihm seine Mutter mitgeteilt, dass er einen Drohbrief erhalten habe.
Das Geschäft habe sich in Jalalabad befunden. Der Beschwerdeführer sei nur einmal kurz in Kabul gewesen und ansonsten zwischen seinem Heimatdorf und Jalalabad gependelt.
Zu seiner Rückkehrbefürchtung erklärte er, dass sein Leben in Gefahr sei und es schwer wäre, eine Arbeit zu bekommen, weil er Artikulationsprobleme habe und man sich über ihn lustig mache. Konkret hätten ihn die Leute anlässlich einer Hochzeit im Dorf verspottet. Wenn sein Leben nicht in Gefahr gewesen wäre, wäre der Beschwerdeführer nicht nach Österreich gekommen. Zudem hätte er vor ca. fünf Monaten das letzte Mal Kontakt zu seiner Familie in der Heimat gehabt.
In Österreich sei der Beschwerdeführer ehrenamtlich in der Nachbarschaft tätig, Ausbildung absolviere er keine. Manchmal spiele er Volleyball.
11. Am 20. und 23.04.2018 langte beim Bundesverwaltungsgericht die zweiteilige Stellungnahme des Beschwerdeführers zu dessen Vorbringen und den ausgehändigten Länderfeststellungen des Bundesverwaltungsgerichtes ein. Darin wurde im Wesentlichen vorgebracht, dass dem Beschwerdeführer politische Verfolgung durch die Taliban drohe, Nangarhar zu den relativ volatilen Provinzen zähle und die Sicherheitslage in ganz Afghanistan prekär und instabil sei. Weiters wurden Angaben des Beschwerdeführers vor dem Bundesverwaltungsgericht wiederholt und vorgebracht, dass das Außenministerium eine Reisewarnung zu Afghanistan ausgesprochen habe und UNHCR derzeit neue Richtlinien zum Schutzbedarf afghanischer Asylsuchender vorbereite. Auch wurden verschiedene Länderberichte aus den Jahren 2013 bis 2017 sowie Medienberichte auszugsweise zitiert und eine Präsentation der stellvertretenden Leiterin des UNHCR-Büros in Kabul und der im Asylmagazin 3/2017 veröffentlichte Artikel von Friederike Stahlmann zur humanitären Lage von Rückkehrern angefügt.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Das Bundesverwaltungsgericht geht aufgrund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens von folgendem, für die Entscheidung maßgeblichem Sachverhalt aus:
.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger, stammt aus dem Distrikt Surkhod in der Provinz Nangarhar, wo er bis zu seiner Ausreise im Jahr 2014 lebte, er gehört zur Volksgruppe der Paschtunen und ist moslemischen Glaubens.
Er reiste illegal in Österreich ein und stellte am 23.08.2014 einen Antrag auf internationalen Schutz.
Der Beschwerdeführer ist volljährig, jung, bis auf eine Sprachstörung und in früheren Jahren aufgetretene depressive Zustände gesund, arbeitsfähig und ledig. Er verfügt über eine heimatliche Grundschulbildung und war in der familieneigenen Fleischerei in Jalalabad tätig. Die Familie besitzt im Heimatdorf ein eigenes Haus. In Afghanistan befinden sich noch seine Mutter und Geschwister sowie je ein Onkel väterlicher- und mütterlicherseits und drei Tanten väterlicher- und zwei mütterlicherseits. Ein Onkel führt ein Gemüsegeschäft, mit dem er die Familie unterstützt.
Der Beschwerdeführer leidet an einer Sprachstörung, war diesbezüglich bereits in der Heimat und auch später in Österreich - wenn auch erfolglos - in ärztlicher Behandlung. Zurzeit nimmt er Medikamente gegen Kopfschmerzen. Er leidet weder an einer lebensbedrohenden Erkrankung noch besteht ein längerfristiger Pflege- oder Rehabilitationsbedarf.
Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer in der Heimat von Verfolgung durch die Taliban bedroht ist.
Auch sonst kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer in Afghanistan von staatlicher oder privater Seite von Verfolgung bedroht ist.
Der Beschwerdeführer hat im Bundesgebiet keine Familie und keine Verwandte. Er konnte eine Teilnahmebestätigung an einem Deutschkurs samt Teilnahme an interkulturellen Aktivitäten sowie ein ÖSD-Zertifikat A1, eine Unterstützungserklärung seiner Sozialarbeiterin und zwei Empfehlungsschreiben seiner Quartiergeber samt Bestätigungen über ehrenamtliche Tätigkeiten vorlegen.
1.2. Zur Lage im Herkunftsland:
Das Bundesverwaltungsgericht trifft folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat (Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Stand: 30.01.2018):
KI vom 30.01.2018: Angriffe in Kabul (betrifft: Abschnitt 3 Sicherheitslage)
Landesweit haben in den letzten Monaten Aufständische, inklusive der Taliban und des IS, ihre Angriffe auf afghanische Truppen und Polizisten intensiviert (The Guardian; vgl. BBC 29.1.2018). Die Gewalt Aufständischer gegen Mitarbeiter/innen von Hilfsorganisationen hat in den letzten Jahren zugenommen (The Guardian 24.1.2018). Die Taliban erhöhen ihre Operationen, um ausländische Kräfte zu vertreiben; der IS hingegen versucht seinen relativ kleinen Einflussbereich zu erweitern. Kabul ist in diesem Falle für beide Gruppierungen interessant (Asia Pacific 30.1.2018).
Im Stadtzentrum und im Diplomatenviertel wurden Dutzende Hindernisse, Kontrollpunkte und Sicherheitskameras errichtet. Lastwagen, die nach Kabul fahren, werden von Sicherheitskräften, Spürhunden und weiteren Scannern kontrolliert, um sicherzustellen, dass keine Sprengstoffe, Raketen oder Sprengstoffwesten transportiert werden. Die zeitaufwändigen Kontrollen führen zu langen Wartezeiten; sollten die korrekten Papiere nicht mitgeführt werden, so werden sie zum Umkehren gezwungen. Ebenso werden die Passagiere in Autos von der Polizei kontrolliert (Asia Pacific 30.1.2018).
Angriff auf die Marshal Fahim Militärakademie 29.1.2019
Am Montag den 29.1.2018 attackierten fünf bewaffnete Angreifer einen militärischen Außenposten in der Nähe der Marshal Fahim Militärakademie (auch bekannt als Verteidigungsakademie), die in einem westlichen Außendistrikt der Hauptstadt liegt. Bei dem Vorfall wurden mindestens elf Soldaten getötet und 15 weitere verletzt, bevor die vier Angreifer getötet und ein weiterer gefasst werden konnten. Der Islamische Staat bekannte sich zu dem Vorfall (Reuters 29.1.2018; vgl. NYT 28.1.2018).
Quellen zufolge operiert der IS in den Bergen der östlichen Provinz Nangarhar (The Guardian 29.1.2018); die Provinzhauptstadt Jalalabad wird als eine Festung des IS erachtet, dessen Kämpfer seit 2015 dort aktiv sind (BBC 24.1.2018). Nachdem der IS in Ostafghanistan unter anhaltenden militärischen Druck gekommen war, hatte dieser immer mehr Angriffe in den Städten für sich beansprucht. Nationale und Internationale Expert/innen sehen die Angriffe in den Städten als Überlappung zwischen dem IS und dem Haqqani-Netzwerk (einem extremen Arm der Taliban) (NYT 28.1.2018). .
Angriff im Regierungs- und Diplomatenviertel in Kabul am 27.1.2018
Bei einem der schwersten Angriffe der letzten Monate tötete am Samstag den 27.1.2018 ein Selbstmordattentäter der Taliban mehr als 100 Menschen und verletzte mindestens 235 weitere (Reuters 28.1.2018; vgl. The Guardian 28.1.2018). Eine Bombe - versteckt in einem Rettungswagen - detonierte in einem schwer gesicherten Bereich der afghanischen Hauptstadt (The Guardian 27.1.2018; vgl. The Guardian 28.1.2018). Der Vorfall ereignete sich im Regierungs- und Diplomatenviertel und wird als einer der schwersten seit dem Angriff vom Mai 2017 betrachtet, bei dem eine Bombe in der Nähe der deutschen Botschaft explodiert war und 150 Menschen getötet hatte (Reuters 28.1.2018).
Die Taliban verlautbarten in einer Aussendung, der jüngste Angriff sei eine Nachricht an den US-amerikanischen Präsidenten, der im letzten Jahr mehr Truppen nach Afghanistan entsendete und Luftangriffe sowie andere Hilfestellungen an die afghanischen Sicherheitskräfte verstärkte (Reuters 28.1.2018).
Angriff auf die NGO Save the Children am 24.1.2018
Am Morgen des 24.1.2018 brachte ein Selbstmordattentäter ein mit Sprengstoff beladenes Fahrzeug am Gelände der Nichtregierungsorganisation (NGO) Save The Children in der Provinzhauptstadt Jalalabad zur Explosion. Mindestens zwei Menschen wurden dabei getötet und zwölf weitere verletzt. Zum Zeitpunkt des Angriffs befanden sich 50 Mitarbeiter/innen im Gebäude. Der IS bekannte sich zu diesem Vorfall (BBC 24.1.2018; vgl. Reuters 24.1.2018).
Der jüngste Angriff auf eine ausländische Hilfseinrichtung in Afghanistan unterstreicht die wachsende Gefahr, denen Mitarbeiter/innen von Hilfsorganisationen in Afghanistan ausgesetzt sind (The Guardian 24.1.2018).
Das Gelände der NGO Save the Children befindet sich in jener Gegend von Jalalabad, in der sich auch andere Hilfsorganisationen sowie Regierungsgebäude befinden (BBC 24.1.2018). In einer Aussendung des IS werden die Autobombe und drei weitere Angriffe auf Institutionen der britischen, schwedischen und afghanischen Regierungen (Reuters 24.1.2018).
Angriff auf das Hotel Intercontinental in Kabul am 20.1.2018
Der Angriff bewaffneter Männer auf das Luxushotel Intercontinental in Kabul, wurde von afghanischen Truppen abgewehrt, nachdem die ganze Nacht um die Kontrolle über das Gebäude gekämpft worden war (BBC 21.1.2018).Fünf bewaffnete Männer mit Sprengstoffwesten hatten sich Zutritt zu dem Hotel verschafft (DW 21.1.2018). Die exakte Opferzahl ist unklar. Einem Regierungssprecher zufolge sollen 14 Ausländer/innen und vier Afghan/innen getötet worden sein. Zehn weitere Personen wurden verletzt, einschließlich sechs Mitglieder der Sicherheitskräfte (NYT 21.1.2018). 160 Menschen konnten gerettet werden(BBC 21.1.2018). Alle Fünf Angreifer wurden von den Sicherheitskräften getötet (Reuters 20.1.2018). Die Taliban bekannten sich zu dem Angriff (DW 21.1.2018).
Wie die Angreifer die Sicherheitsvorkehrungen durchbrechen konnten, ist Teil von Untersuchungen. Erst seit zwei Wochen ist eine private Firma für die Sicherheit des Hotels verantwortlich. Das Intercontinental in Kabul ist trotz des Namens nicht Teil der weltweiten Hotelkette, sondern im Besitz der afghanischen Regierung. In diesem Hotel werden oftmals Hochzeiten, Konferenzen und politische Zusammentreffen abgehalten (BBC 21.1.2018).
Zum Zeitpunkt des Angriffes war eine IT-Konferenz im Gange, an der mehr als 100 IT-Manager und Ingenieure teilgenommen hatten (Reuters 20.1.2018; vgl. NYT 21.1.2018).
Insgesamt handelte es sich um den zweiten Angriff auf das Hotel in den letzten acht Jahren (NYT 21.1.2018). Zu dem Angriff im Jahr 2011 hatten sich ebenso die Taliban bekannt (Reuters 20.1.2018).
Unter den Opfern waren ausländische Mitarbeiter/innen der afghanischen Fluggesellschaft Kam Air, u.a. aus Kirgisistan, Griechenland (DW 21.1.2018), der Ukraine und Venezuela. Die Fluglinie verbindet jene Gegenden Afghanistans, die auf dem Straßenweg schwer erreichbar sind (NYT 29.1.2018).
Quellen:
-
Asia Pacific (30.1.2018): Taliban and IS create perfect storm of bloodshed in Kabul,
https://www.channelnewsasia.com/news/asiapacific/taliban-and-is-create-perfect-storm-of-bloodshed-in-kabul-9909494, Zugriff 30.1.2018
-
BBC (29.1.2018): Kabul military base hit by explosions and gunfire, http://www.bbc.com/news/world-asia-42855374, Zugriff 29.1.2018
-
BBC (24.1.2018): Save the Children offices attacked in Jalalabad, Afghanistan, http://www.bbc.com/news/world-asia-42800271, Zugriff 29.1.2018
-
BBC (21.1.2018): Kabul: Afghan forces end Intercontinental Hotel siege, http://www.bbc.com/news/world-asia-42763517, Zugriff 29.1.2018
-
DW - Deutsche Welle (21.1.2018): Taliban militants claim responsibility for attack on Kabul hotel, http://www.dw.com/en/taliban-militants-claim-responsibility-for-attack-on-kabul-hotel/a-42238097, Zugriff 29.1.2018
-
NYT - The New York Times (28.1.2018): Attack Near Kabul Military Academy Kills 11 Afghan Soldiers, https://www.nytimes.com/2018/01/28/world/asia/kabul-attack-afghanistan.html, Zugriff 29.1.2018
-
NYT - The New York Times (21.1.2018): Siege at Kabul Hotel Caps a Violent 24 Hours in Afghanistan,
-
Reuters (28.1.2018): Shock gives way to despair in Kabul after ambulance bomb,
https://www.reuters.com/article/us-afghanistan-blast/shock-gives-way-to-despair-in-kabul-after-ambulance-bomb-idUSKBN1FG086, Zugriff 29.1.2018
-
Reuters (24.1.2018): Islamic State claims attack on Jalalabad in Afghanistan,
https://www.reuters.com/article/us-afghanistan-blast-claim/islamic-state-claims-attack-on-jalalabad-in-afghanistan-idUSKBN1FD1HC, Zugriff 29.1.2018
-
Reuters (20.1.2018): Heavy casualties after overnight battle at Kabul hotel,
https://www.reuters.com/article/us-afghanistan-attacks/heavy-casualties-after-overnight-battle-at-kabul-hotel-idUSKBN1F90W9, Zugriff 29.1.2018
-
The Guardian (29.1.2018): Afghanistan: gunmen attack army post at Kabul military academy,
https://www.theguardian.com/world/2018/jan/29/explosions-kabul-military-academy-afghanistan, Zugriff 29.1.2018
-
The Guardian (28.1.2018): 'We have no security': Kabul reels from deadly ambulance bombing,
https://www.theguardian.com/world/2018/jan/28/afghanistan-kabul-reels-bomb-attack-ambulance, Zugriff 29.1.2018
-
The Guardian (27.1.2018): Kabul: bomb hidden in ambulance kills dozens,
https://www.theguardian.com/world/2018/jan/27/scores-of-people-wounded-and-several-killed-in-kabul-blast, Zugriff 29.1.2018
-
The Guardian (24.1.2018): Isis claims attack on Save the Children office in Afghanistan,
https://www.theguardian.com/world/2018/jan/24/explosion-attack-save-the-children-office-jalalabad-afghanistan, Zugriff 29.1.2018
KI vom 21.12.2017: Aktualisierung der Sicherheitslage in Afghanistan - Q4.2017 (betrifft: Abschnitt 3 Sicherheitslage)
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor höchst volatil - der Konflikt zwischen regierungsfeindlichen Kräften und Regierungskräften hält landesweit an (UN GASC 20.12.2017). Zur Verschlechterung der Sicherheitslage haben die sich intensivierende Zusammenstöße zwischen Taliban und afghanischen Sicherheitskräften beigetragen (SIGAR 30.10.2017; vgl. SCR 30.11.2017).
Die afghanischen und internationalen Sicherheitskräfte verstärkten deutlich ihre Luftoperationen (UN GASC 20.12.2017; vgl. SIGAR 30.10.2017), die in 22 Provinzen registriert wurden. So haben sich im Berichtszeitraum der Vereinten Nationen (UN) Luftangriffe um 73% gegenüber dem Vorjahreswert erhöht (UN GASC 20.12.2017). Der Großteil dieser Luftangriffe wurde in der südlichen Provinz Helmand und in der östlichen Provinz Nangarhar erfasst (UN GASC 20.12.2017; vgl. SIGAR 30.10.2017), die als Hochburgen des IS und der Taliban gelten (SIGAR 30.10.2017). Verstärkte Luftangriffe hatten wesentliche Auswirkungen und führten zu hohen Opferzahlen bei Zivilist/innen und regierungsfeindlichen Elementen (UN GASC 20.12.2017). Zusätzlich ist die Gewalt in Ostafghanistan auf die zunehmende Anzahl von Operationen der ANDSF und der Koalitionskräfte zurück zu führen (SIGAR 30.10.2017).
Landesweit kam es immer wieder zu Sicherheitsoperationen, bei denen sowohl aufständische Gruppierungen als auch afghanische Sicherheitskräfte Opfer zu verzeichnen hatten (Pajhwok 1.12.2017; TP 20.12.2017; Xinhua 21.12.2017; Tolonews 5.12.2017; NYT 11.12.2017).
Den Vereinten Nationen zufolge hat sich der Konflikt seit Anfang des Jahres verändert, sich von einer asymmetrischen Kriegsführung entfernt und in einen traditionellen Konflikt verwandelt, der von bewaffneten Zusammenstößen zwischen regierungsfeindlichen Elementen und der Regierung gekennzeichnet ist. Häufigere bewaffnete Zusammenstöße werden auch als verstärkte Offensive der ANDSF-Operationen gesehen um die Initiative von den Taliban und dem ISKP zu nehmen - in diesem Quartal wurde im Vergleich zum Vorjahr eine höhere Anzahl an bewaffneten Zusammenstößen erfasst (SIGAR 30.10.2017).
Sicherheitsrelevante Vorfälle
Die Vereinten Nationen (UN) registrierten im Berichtszeitraum (15.9. - 15.11.2017) 3.995 sicherheitsrelevante Vorfälle; ein Rückgang von 4% gegenüber dem Vorjahreswert. .
Insgesamt wurden von 1.1.-15.11.2017 mehr als 21.105 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert, was eine Erhöhung von 1% gegenüber dem Vorjahreswert andeutet. Laut UN sind mit 62% bewaffnete Zusammenstöße die Hauptursache aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, gefolgt von IEDs [Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung/Sprengfallen], die in 17% der sicherheitsrelevanten Vorfälle Ursache waren. Die östlichen Regionen hatten die höchste Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen zu verzeichnen, gefolgt von den südlichen Regionen - zusammen wurde in diesen beiden Regionen 56% aller sicherheitsrelevanten Vorfälle registriert. Gezielte Tötungen und Entführungen haben sich im Vergleich zum Vorjahreswert um 16% erhöht (UN GASC 20.12.2017).
Laut der internationalen Sicherheitsorganisation für NGOs (INSO) wurden vom 1.1.-30.11.2017 24.917 sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan registriert (Stand: Dezember 2017) (INSO o.D.).
Zivilist/innen
Im Gegensatz zum Vergleichszeitraum des letzten Jahres registrierte die UNAMA zwischen 1.1. und 30.9.2017 8.019 zivile Opfer (2.640 Tote und 5.379 Verletzte). Dies deutet insgesamt einen Rückgang von fast 6% gegenüber dem Vorjahreswert an (UNAMA 10.2017); konkret hat sich die Anzahl getöteter Zivilist/innen um 1% erhöht, während sich die Zahl verletzter Zivilist/innen um 9% verringert hat (UN GASC 20.12.2017).Wenngleich Bodenoffensiven auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer waren - führte der Rückgang der Anzahl von Bodenoffensiven zu einer deutlichen Verringerung von 15% bei zivilen Opfern. Viele Zivilist/innen fielen Selbstmordattentaten, sowie komplexen Angriffen und IEDs
zum Opfer - speziell in den Provinzen Kabul, Helmand, Nangarhar, Kandahar und Faryab (UNAMA 10.2017).
Zivile Opfer, die regierungsfreundlichen Kräften zugeschrieben wurden, sind um 37% zurückgegangen: Von insgesamt 849 waren 228 Tote und 621 Verletzte zu verzeichnen. Im Gegensatz dazu erhöhte sich die Anzahl ziviler Opfer, die regierungsfeindlichen Elementen zugeschrieben werden, um 7%: von den 1.150 zivilen Opfer starben 225, während 895 verletzt wurden. Die restlichen Opfer konnten keiner Tätergruppe zugeschrieben werden (UNAMA 10.2017).
High-profile Angriffe:
Am 31.10.2017 sprengte sich ein Selbstmordattentäter in der "Green Zone" der Hauptstadt Kabul in die Luft. Der angebliche Täter soll Quellen zufolge zwischen 12-13 Jahren alt gewesen sein. Mindestens vier Menschen starben bei dem Angriff und ein Dutzend weitere wurden verletzt. Dies war der erste Angriff in der "Green Zone" seit dem schweren Selbstmordattentat im Mai 2017 (BBC 31.10.2017; vgl. Telegraph 31.10.2017). der IS bekannte sich zu diesem Vorfall Ende Oktober 2017 (BBC 31.10.2017; vgl. Telegraph 31.10.2017; UN GASC 20.12.2017)
Am 20.10.2017 sprengte sich ein Angreifer in der Shia Imam Zamam Moschee in Kabul in die Luft; dabei wurden mindestens 30 Menschen getötet und 45 weitere verletzt. Der IS bekannt sich zu diesem Angriff (Independent 20.10.2017; vgl. BBC 21.10.2017; UN GASC 20.12.2017).
In dem Distrikt Solaina, in der westlichen Provinz Ghor, wurde ebenso eine Moschee angegriffen - in diesem Fall handelt es sich um eine sunnitische Moschee. Die tatsächliche Opferzahl ist umstritten:
je nach Quellen sind zwischen 9 und 39 Menschen bei dem Angriff gestorben (Independent 20.10.2017; vgl. NYT 20.10.2017; al Jazeera 20.10.2017).
Am 19.10.2017 wurde im Rahmen eines landesweit koordinierten Angriffes der Taliban 58 afghanische Sicherheitskräfte getötet: ein militärisches Gelände, eine Polizeistationen und ein militärischer Stützpunkt in Kandahar wären beinahe überrannt worden (Independent 20.10.2017; vgl. BBC 21.10.2017). Einige Tage vor diesem Angriff töteten ein Selbstmordattentäter und ein Schütze mindestens 41 Menschen, als sie ein Polizeiausbildungszentrum in der Provinzhauptstadt Gardez stürmten (Provinz Paktia) (BBC 21.10.2017). In der Woche davor wurden 14 Offiziere der Militärakademie auf dem Weg nach Hause getötet, als ein Selbstmordattentäter den Minibus in die Luft sprengte in dem sie unterwegs waren (NYT 20.10.2017). Die afghanische Armee und Polizei haben dieses Jahr schwere Verlusten aufgrund der Taliban erlitten (BBC 21.10.2017).
Am 7.11.2017 griffen als Polizisten verkleidete Personen/regierungsfeindliche Kräfte eine Fernsehstation "Shamshad TV" an; dabei wurde mindestens eine Person getötet und zwei Dutzend weitere verletzt. Die afghanischen Spezialkräfte konnten nach drei Stunden Kampf, die Angreifer überwältigen. Der IS bekannt sich zu diesem Angriff (Guardian 7.11.2017; vgl. NYT 7.11.2017; UN GASC 20.12.2017).
Bei einem Selbstmordangriff im November 2017 wurden mindestens neun Menschen getötet und einige weitere verletzt; die Versammelten hatten einem Treffen beigewohnt, um den Gouverneur der Provinz Balkh - Atta Noor - zu unterstützen; auch hier bekannte sich der IS zu diesem Selbstmordattentat (Reuters 16.11.2017; vgl. UN GASC 20.12.2017)
Interreligiöse Angriffe
Serienartige gewalttätige Angriffe gegen religiöse Ziele, veranlassten die afghanische Regierung neue Maßnahmen zu ergreifen, um Anbetungsorte zu beschützen: landesweit wurden 2.500 Menschen rekrutiert und bewaffnet, um 600 Moscheen und Tempeln vor Angriffen zu schützen (UN GASC 20.12.2017).
Seit 1.1.2016 wurden im Rahmen von Angriffen gegen Moscheen, Tempel und andere Anbetungsorte 737 zivile Opfer verzeichnet (242 Tote und 495 Verletzte); der Großteil von ihnen waren schiitische Muslime, die im Rahmen von Selbstmordattentaten getötet oder verletzt wurden. Die Angriffe wurden von regierungsfeindlichen Elementen durchgeführt - hauptsächlich dem IS (UNAMA 7.11.2017).
Im Jahr 2016 und 2017 registrierte die UN Tötungen, Entführungen, Bedrohungen und Einschüchterungen von religiösen Personen - hauptsächlich durch regierungsfeindliche Elemente. Seit 1.1.2016 wurden 27 gezielte Tötungen religiöser Personen registriert, wodurch 51 zivile Opfer zu beklagen waren (28 Tote und 23 Verletzte); der Großteil dieser Vorfälle wurde im Jahr 2017 verzeichnet und konnten großteils den Taliban zugeschrieben werden. Religiösen Führern ist es möglich, öffentliche Standpunkte durch ihre Predigten zu verändern, wodurch sie zum Ziel von regierungsfeindlichen Elementen werden (UNAMA 7.11.2017).
ANDSF - afghanische Sicherheits- und Verteidigungskräfte
Informationen zur Stärke der ANDSF und ihrer Opferzahlen werden von den US-amerikanischen Kräften in Afghanistan (USFOR-A) geheim gehalten; im Bericht des US-Sonderbeauftragten für den Aufbau in Afghanistan (SIGAR) werden Schätzungen angegeben:
Die Stärke der ANDSF ist in diesem Quartal zurückgegangen; laut USFOR-A Betrug die Stärke der ANDSF mit Stand August 2017 etwa 320.000 Mann - dies deutet einen Rückgang von 9.000 Mann gegenüber dem vorhergehenden Quartal an. Dennoch erhöhte sich der Wert um
3.500 Mann gegenüber dem Vorjahr (SIGAR 30.10.2017). Die Schwundquote der afghanischen Nationalpolizei war nach wie vor ein großes Anliegen; die Polizei litt unter hohen Opferzahlen (UN GASC 20.12.2017).
Im Rahmen eines Memorandum of Understanding (MoU) zwischen dem afghanischen Verteidigungs- und Innenministerium wurde die afghanische Grenzpolizei (Afghan Border Police) und die afghanische Polizei für zivile Ordnung (Afghan National Civil Order Police) dem Verteidigungsministerium übertragen (UN GASC 20.12.2017). Um sogenanntem "Geisterpersonal" vorzubeugen, werden seit 1.1.2017 Gehälter nur noch an jenes Personal im Innen- und Verteidigungsministerium ausbezahlt, welches ordnungsgemäß registriert wurde (SIGAR 30.10.2017).
Regierungsfeindliche Gruppierungen:
Taliban
Der UN zufolge versuchten die Taliban weiterhin von ihnen kontrolliertes Gebiet zu halten bzw. neue Gebiete unter ihre Kontrolle zu bringen - was zu einem massiven Ressourcenverbrauch der afghanischen Regierung führte, um den Status-Quo zu halten. Seit Beginn ihrer Frühjahrsoffensive unternahmen die Taliban keine größeren Versuche, um eine der Provinzhauptstädte einzunehmen. Dennoch war es ihnen möglich kurzzeitig mehrere Distriktzentren einzunehmen (SIGAR 30.10.2017):
Die Taliban haben mehrere groß angelegte Operationen durchgeführt, um administrative Zentren einzunehmen und konnten dabei kurzzeitig den Distrikt Maruf in der Provinz Kandahar, den Distrikt Andar in Ghazni, den Distrikt Shib Koh in der Farah und den Distrikt Shahid-i Hasas in der Provinz Uruzgan überrennen. In allen Fällen gelang es den afghanischen Sicherheitskräften die Taliban zurück zu drängen - in manchen Fällen mit Hilfe von internationalen Luftangriffen. Den afghanischen Sicherheitskräften gelang es, das Distriktzentrum von Ghorak in Kandahar unter ihre Kontrolle zu bringen - dieses war seit November 2016 unter Talibankontrolle (UN GASC 20.12.2017).
Im Rahmen von Sicherheitsoperationen wurden rund 30 Aufständische getötet; unter diesen befand sich - laut afghanischen Beamten - ebenso ein hochrangiger Führer des Haqqani-Netzwerkes (Tribune 24.11.2017; vgl. BS 24.11.2017). Das Haqqani-Netzwerk zählt zu den Alliierten der Taliban (Reuters 1.12.2017).
Aufständische des IS und der Taliban bekämpften sich in den Provinzen Nangarhar und Jawzjan (UN GASC 20.12.2017). Die tatsächliche Beziehung zwischen den beiden Gruppierungen ist wenig nachvollziehbar - in Einzelfällen schien es, als ob die Kämpfer der beiden Seiten miteinander kooperieren würden (Reuters 23.11.2017).
IS/ISIS/ISKP/ISIL-KP/Daesh
Der IS war nach wie vor widerstandsfähig und bekannte sich zu mehreren Angriff auf die zivile Bevölkerung, aber auch auf militärische Ziele [Anm.: siehe High-Profile Angriffe] (UN GASC 20.12.2017). Unklar ist, ob jene Angriffe zu denen sich der IS bekannt hatte, auch tatsächlich von der Gruppierung ausgeführt wurden bzw. ob diese in Verbindung zur Führung in Mittleren Osten stehen. Der afghanische Geheimdienst geht davon aus, dass in Wahrheit manche der Angriffe tatsächlich von den Taliban oder dem Haqqani-Netzwerk ausgeführt wurden, und sich der IS opportunistischerweise dazu bekannt hatte. Wenngleich Luftangriffe die größten IS-Hochburgen in der östlichen Provinz Nangarhar zerstörten; hielt das die Gruppierungen nicht davon ab ihre Angriffe zu verstärken (Reuters 1.12.2017).
Sicherheitsbeamte gehen davon aus, dass der Islamische Staat in neun Provinzen in Afghanistan eine Präsenz besitzt: im Osten von Nangarhar und Kunar bis in den Norden nach Jawzjan, Faryab, Badakhshan und Ghor im zentralen Westen (Reuters 23.11.2017). In einem weiteren Artikel wird festgehalten, dass der IS in zwei Distrikten der Provinz Jawzjan Fuß gefasst hat (Reuters 1.12.2017).
Politische Entwicklungen
Der Präsidentenpalast in Kabul hat den Rücktritt des langjährigen Gouverneurs der Provinz Balkh, Atta Mohammad Noor, Anfang dieser Woche bekanntgegeben. Der Präsident habe den Rücktritt akzeptiert. Es wurde auch bereits ein Nachfolger benannt (NZZ 18.12.2017). In einer öffentlichen Stellungnahme wurde Mohammad Daud bereits als Nachfolger genannt (RFE/RL 18.12.2017). Noor meldete sich zunächst nicht zu Wort (NZZ 18.12.2017).
Wenngleich der Präsidentenpalast den Abgang Noors als "Rücktritt" verlautbarte, sprach dieser selbst von einer "Entlassung" - er werde diesen Schritt bekämpfen (RFE/RL 20.12.2017). Atta Noors Partei, die Jamiat-e Islami, protestierte und sprach von einer "unverantwortlichen, hastigen Entscheidung, die sich gegen die Sicherheit und Stabilität in Afghanistan sowie gegen die Prinzipien der Einheitsregierung" richte (NZZ 18.12.2017).
Die Ablösung des mächtigen Gouverneurs der nordafghanischen Provinz Balch droht Afghanistan in eine politische Krise zu stürzen (Handelsblatt 20.12.2017). Sogar der Außenminister Salahuddin Rabbani wollte nach Angaben eines Sprechers vorzeitig von einer Griechenlandreise zurückkehren (NZZ 18.12.2017).
Atta Noor ist seit dem Jahr 2004 Gouverneur der Provinz Balkh und gilt als Gegner des Präsidenten Ashraf Ghani, der mit dem Jamiat-Politiker Abdullah Abdullah die Einheitsregierung führt (NZZ 18.12.2017). Atta Noor ist außerdem ein enger Partner der deutschen Entwicklungshilfe und des deutschen Militärs im Norden von Afghanistan (Handelsblatt 20.12.2017).
In der Provinz Balkh ist ein militärischer Stützpunkt der Bundeswehr (Handelsblatt 20.12.2017).
Quellen:
-
al Jazeera (20.10.2017): Deadly attacks hit mosques in Kabul and Ghor,
http://www.aljazeera.com/news/2017/10/dozens-feared-dead-attacks-afghanistan-171020142936566.html, Zugriff 20.12.2017
-
BBC (31.10.2017): Kabul Green Zone attacked by suicide bomber, http://www.bbc.com/news/world-asia-41819850, Zugriff 20.12.2017
-
BBC (21.10.2017): Afghan suicide mosque attacks kill scores of worshippers, http://www.bbc.com/news/world-asia-41699320, Zugriff 20.12.2017
-
BS - Business Standard (24.11.2017): Key Haqqani network leader among dozens killed in Afghanistan, http://www.business-standard.com/article/news-ani/key-haqqani-network-leader-among-dozens-killed-in-afghanistan-117112400292_1.html, Zugriff 21.12.2017
-
Guardian (7.11.2017): Kabul TV station defiantly resumes broadcasting moments after Isis attack ends, https://www.theguardian.com/world/2017/nov/07/gunmen-attack-kabul-tv-station-after-explosion, Zugriff 20.12.2017
-
Handelsblatt (20.12.2017): Afghanistan stürzt in politische Krise, http://www.handelsblatt.com/politik/international/gouverneurs-abloesung-afghanistan-stuerzt-in-politische-krise/20759742.html, Zugr