TE Bvwg Erkenntnis 2018/9/5 W253 2134937-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 05.09.2018
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Entscheidungsdatum

05.09.2018

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
B-VG Art.133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §55
VwGVG §28 Abs2

Spruch

W253 2134937-1/21E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Jörg C. BINDER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX alias XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, Alser Straße 20/5, 1090 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 19.07.2018 zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger und stellte am 04.05.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Im Zuge seiner Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 05.05.2015 gab der Beschwerdeführer im Wesentlichen an, er stamme aus dem Dorf XXXX , Distrikt XXXX , Provinz Baghlan, sei Analphabet und habe zwei Jahre die Grundschule in seinem Heimatdorf besucht. Seine Mutter sei gestorben, als der Beschwerdeführer fünf Jahre alt gewesen sei. In Afghanistan habe er mit seinem Vater, seiner Stiefmutter sowie seiner Schwester gelebt. Zu seinen Fluchtgründen befragt gab der Beschwerdeführer an, er habe Afghanistan wegen des Krieges und der schlechten Sicherheitslage verlassen.

3. Mit Aktenvermerk vom 15.05.2015 wurde das Asylverfahren gemäß § 24 Abs. 1 Z. 1 AsylG 2005 wegen Verletzung der Mitwirkungspflichten eingestellt.

4. Mit Verfahrensanordnung vom 10.09.2015 stellte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl fest, dass es sich beim Beschwerdeführer um eine volljährige Person handelt, und setzte unter Zugrundlegung eines durchgeführten medizinischen Gutachtens als errechnetes fiktives Geburtsdatum den XXXX fest.

5. Im Rahmen seiner niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 18.08.2016 führte der Beschwerdeführer zusammenfassend aus, er gehöre der Volksgruppe der Hazara an und sei ismailitischer Schiit. Er habe seit einigen Wochen keinen Kontakt mehr zu seinen Eltern und wisse daher nicht, wo diese derzeit wohnen. Bis zu seiner Ausreise hätten seine Eltern im Dorf

XXXX gewohnt. Der Beschwerdeführer habe in seiner Heimat als Bauer gearbeitet. Die Taliban seien inzwischen in seinem Heimatdorf an der Macht. Weiters führte der Beschwerdeführer aus, dass Ismailiten in Afghanistan nicht in Sicherheit leben könnten. Er habe vor kurzem ein Video gesehen, in welchen Ismailiten verprügelt worden seien. Das Leben des Beschwerdeführers sei in Afghanistan immer in Gefahr gewesen. Als Ismailit würde er sofort getötet werden.

6. Mit dem im Spruch bezeichneten Bescheid wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 wurde der Antrag auf Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ihm wurde kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Weiters wurde ausgesprochen, dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt IV.).

Der Begründung des im Spruch bezeichneten Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl ist im Wesentlichen zu entnehmen, dass der Beschwerdeführer keine persönliche konkret gegen ihn gerichtete Bedrohung glaubhaft schildern habe können. Er könne seinen Lebensunterhalt in Kabul sowie in Mazar-e Sharif bestreiten.

Gleichzeitig wurde dem Beschwerdeführer mit Verfahrensanordnung gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht der "Verein Menschenrechte Österreich, Alser Straße 20/5 (Mezzanin), 1090 Wien" als Rechtsberater amtswegig zur Seite gestellt.

7. Mit am 12.09.2016 eingelangtem Schreiben erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde gegen sämtliche Spruchpunkte des gegenständlichen Bescheides und führte im Wesentlich unter Bezugnahme auf aktuelle Berichte zur allgemeinen Sicherheitslage in Afghanistan aus, dass mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen sei, dass er angesichts des Verfolgungsrisikos keinen ausreichenden Schutz im Herkunftsstaat finden könne. Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan könne nicht mit der erforderlichen Sicherheit ausgeschlossen werden, dass der Beschwerdeführer keiner realen Gefahr im Sinne des Art. 3 EMRK ausgesetzt werde.

8. Die Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt langten am 15.09.2016 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 20.10.2016 wurde die Rechtssache der Gerichtsabteilung W169 abgenommen und neu zugewiesen.

9. Mit Telefax vom 24.04.2018 wurde dem Bundesverwaltungsgericht die Vollmacht für den Verein Menschenrechte Österreich vorgelegt und neu vorgebracht, dass der Beschwerdeführer und seine Ex-Freundin XXXX ein Kind erwarten würden. Als Unterlagen wurden eine Kopie vom Mutter-Kind-Pass sowie ein persönlicher Brief von XXXX beigelegt. In diesem Brief führte die Ex-Freundin des Beschwerdeführers zusammenfassend aus, dass es ihr wichtig wäre, dass ihr Kind seinen Vater kennen lerne und nicht ohne ihn aufwachsen müsse. Für sie persönlich mache es keinen Unterschied, wenn der Beschwerdeführer abgeschoben werden würde.

10. Mit Schreiben vom 17.07.2018 beantragte der Beschwerdeführer die Einvernahme von zwei Zeugen, seiner Vertrauensperson XXXX sowie seiner Freundin XXXX .

11. Am 19.07.2018 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung im Beisein des Beschwerdeführers, seines Vertreters und einer Dolmetscherin für die Sprache Dari statt, in welcher der Beschwerdeführer ausführlich zu seinen Fluchtgründen befragt und ihm Gelegenheit gegeben wurde, diese umfassend darzulegen. Ein Vertreter der belangten Behörde nahm an der Verhandlung nicht teil. Im Rahmen der mündlichen Verhandlung legte der Beschwerdeführer weitere Unterlagen vor, unter anderem ein Schreiben, in welchen er auf die Ausführungen des Stahlmann-Gutachtens vom 28.03.2018 verwies. Zudem erfolgte in der Beschwerdeverhandlung die Einvernahme der zwei beantragten Zeuginnen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage des erhobenen Antrages auf internationalen Schutz, der Erstbefragung und Einvernahme des Beschwerdeführers durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sowie des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, der Beschwerde gegen den im Spruch genannten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, der, der im Verfahren vorgelegten Dokumente, der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht, der Einsichtnahme in den Bezug habenden Verwaltungsakt, das Zentrale Melderegister, das Fremdeninformationssystem, das Strafregister und das Grundversorgungs-Informationssystem werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:

1. Feststellungen:

1.1. Zum Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer stellte am 04.05.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz, welchen das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl mit Bescheid vom XXXX gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.) abwies. Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 wurde zudem der Antrag auf Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ihm wurde kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Weiters wurde ausgesprochen, dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt IV.).

Mit am 12.09.2016 eingelangtem Schreiben erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde gegen sämtliche Spruchpunkte des gegenständlichen Bescheides, woraufhin am 19.07.2018 vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung im Beisein des Beschwerdeführers, seines Vertreters und einer Dolmetscherin für die Sprache Dari stattfand, in welcher der Beschwerdeführer ausführlich zu seinen Fluchtgründen befragt und ihm Gelegenheit gegeben wurde, diese umfassend darzulegen.

1.2. Zum Beschwerdeführer:

Der volljährige Beschwerdeführer führt den Namen XXXX und ist afghanischer Staatsangehöriger. Er gehört der Volksgruppe der Hazara an, ist ismailitischer Schiit und seine Muttersprache ist Dari. Er ist im erwerbsfähigen Alter und gesund. Der Beschwerdeführer ist mit der afghanischen Tradition und Lebensweise vertraut.

Das fiktive Geburtsdatum lautet XXXX und wurde im Zuge eines medizinischen Altersfeststellungsverfahrens festgestellt.

Der Beschwerdeführer stammt aus der Provinz Baghlan, Distrikt XXXX , Dorf XXXX . Der Beschwerdeführer hat zwei Jahre die Grundschule besucht und war anschließend in der Landwirtschaft seiner Eltern als Bauer tätig.

Die Kernfamilie des Beschwerdeführers besteht aus seinem Vater, seiner Stiefmutter, welche zugleich seine Tante väterlicherseits ist, und deren adoptiertem Kind. Sie sind nach wie vor im Heimatdorf des Beschwerdeführers aufhältig. Die leibliche Mutter des Beschwerdeführers ist gestorben, als er fünf Jahre alt war. Er steht einmal wöchentlich in Kontakt mit seiner Kernfamilie.

Der Beschwerdeführer ist nicht Mitglied in einem Verein. Er versteht und spricht alltagstaugliches Deutsch und hat am XXXX 2017 ein Deutsch-Zertifikat auf dem Niveau A2 erworben. Der Beschwerdeführer hat die Aufnahmeprüfung für einen externen Pflichtschulabschlusskurs bestanden, wodurch er ab Herbst 2018 einen fixen Platz im XXXX von XXXX erworben hat.

Seit 24.11.2017 führt der Beschwerdeführer eine Beziehung mit einer schwangeren Österreicherin namens XXXX . Eine Lebensgemeinschaft besteht jedoch nicht. Der Beschwerdeführer und seine Freundin treffen sich täglich. Es kann nicht festgestellt werden, ob der Beschwerdeführer der Vater des ungeborenen Kindes ist.

Zuvor führte der Beschwerdeführer etwa sechs bis sieben Monate eine Beziehung zu einer Österreicherin namens XXXX , welche am XXXX 2018 einen Sohn gebar. Der Beschwerdeführer pflegt weder zu seiner Ex-Freundin noch zu ihrem Kind ein besonderes Naheverhältnis. Ob der Beschwerdeführer der Vater des Kindes ist, kann nicht festgestellt werden. Der Beschwerdeführer kommt nicht für den Kindesunterhalt auf.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

1.3. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer in Afghanistan einer individuellen konkreten Verfolgung oder Bedrohung ausgesetzt gewesen ist. Ebenso wenig kann festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer von den Taliban bedroht oder misshandelt worden ist.

Es kann nicht festgestellt werden, dass konkret der Beschwerdeführer als Angehöriger der Volksgruppe der Hazara sowie ismailitischer Schiit bzw. dass jeder Angehöriger der Volksgruppe der Hazara sowie ismailitischer Schiit in Afghanistan psychischer und/oder physischer Gewalt ausgesetzt ist.

1.4. Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Falle der Rückkehr nach Afghanistan (Kabul bzw. Mazar-e Sharif) Gefahr liefe, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.

Insgesamt kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten von staatlicher Seite oder von Seiten Dritter bedroht wäre.

Außergewöhnliche Gründe, die eine Rückkehr des Beschwerdeführers nach Kabul bzw. Mazar-e Sharif ausschließen, konnten ebenfalls nicht festgestellt werden. Er kann dort seine Existenz - zumindest anfänglich - mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten sichern und auf die Unterstützung seiner Familie zählen. Es kann nicht festgestellt werden, dass er nicht in der Lage ist, in Kabul bzw. Mazar-e Sharif eine einfache Unterkunft zu finden. Diese Städte sind über die dortigen Flughäfen direkt erreichbar.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan nicht von seiner Familie unterstützt werden kann.

Eine Rückkehr in den Heimatort des Beschwerdeführers in der Provinz Baghlan ist aufgrund der aktuellen Sicherheitslage nicht möglich.

1.5. Zur Situation im Herkunftsstaat:

Das Bundesverwaltungsgericht trifft aufgrund der im Beschwerdeverfahren eingebrachten aktuellen Erkenntnisquellen folgende entscheidungsrelevante Feststellungen:

1.5.1. Auszug aus dem Länderinformationsblatt vom 29.06.2018 (in Folge kurz "LIB"), der ACCORD-Anfragebeantwortung zur Lage der Hazara vom 02.09.2016 (in Folge kurz "ACCORD 02.09.2016") und dem Dossier der Staatendoku "Grundlagen der Stammes- und Clanstrukturen (in Folge kurz "Stammes und Clanstrukturen Juli 2016"):

1.5.1.1. Zur Sicherheitslage in Afghanistan im Allgemeinen und in der Provinz Baghlan:

Wegen einer Serie von öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffen in städtischen Zentren, die von regierungsfeindlichen Elementen ausgeführt wurden, erklärten die Vereinten Nationen im Februar 2018 die Sicherheitslage für sehr instabil (LIB S. 20). Die Taliban und weitere aufständische Gruppierungen wie der Islamische Staat (IS) verübten auch weiterhin "high-profile"-Angriffe, speziell im Bereich der Hauptstadt, mit dem Ziel, eine Medienwirksamkeit zu erlangen und damit ein Gefühl der Unsicherheit hervorzurufen und so die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben (LIB S. 24).

Landesweit haben Aufständische, inklusive der Taliban und des IS, in den Monaten vor Jänner 2018 ihre Angriffe auf afghanische Truppen und Polizisten intensiviert; auch hat die Gewalt Aufständischer gegenüber Mitarbeiter/innen von Hilfsorganisationen in den letzten Jahren zugenommen. Die Taliban verstärken ihre Operationen, um ausländische Kräfte zu vertreiben; der IS hingegen versucht, seinen relativ kleinen Einflussbereich zu erweitern. Die Hauptstadt Kabul ist in diesem Falle für beide Gruppierungen interessant (LIB S. 24).

Regierungsfeindlichen Gruppierungen wurden landesweit für das Jahr 2017 6.768 zivile Opfer (2.303 Tote und 4.465 Verletzte) zugeschrieben. Dies deutet auf einen Rückgang von 3% im Vergleich zum Vorjahreswert von 7.003 zivilen Opfern (2.138 Tote und 4.865 Verletzte). Der Rückgang ziviler Opfer, die regierungsfeindlichen Gruppierungen zugeschrieben werden, ist auf einen Rückgang ziviler Opfer, die durch Bodenkonfrontation, IED und ferngezündete Bomben zu Schaden gekommen sind, zurückzuführen. Im Gegenzug dazu hat sich die Anzahl ziviler Opfer aufgrund von Selbstmordangriffen und komplexen Attacken erhöht. Die Anzahl ziviler und nichtziviler Opfer, die aufgrund gezielter Tötungen durch regierungsfeindliche Elemente zu Schaden gekommen sind, ist ähnlich jener aus dem Jahr 2016 (LIB S. 30 f).

Im Jänner 2018 waren 56,3% der Distrikte unter der Kontrolle bzw. dem Einfluss der afghanischen Regierung, während Aufständische 14,5% der Distrikte kontrollierten bzw. unter ihrem Einfluss hatten. Die übriggebliebenen 29,2% der Distrikte waren umkämpft. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an Distrikten, die von Aufständischen kontrolliert werden, waren mit Stand Jänner 2018 Uruzgan, Kunduz und Helmand. Alle Provinzhauptstädte befanden sich unter der Kontrolle bzw. dem Einfluss der afghanischen Regierung (LIB S. 31).

Im Jahr 2017 wurden den Taliban insgesamt 4.385 zivile Opfer (1.574 Tote und 2.811 Verletzte) zugeschrieben. Die Taliban bekannten sich nur zu 1.166 zivilen Opfern. Im Vergleich zum Vorjahreswert bedeutet dies einen Rückgang um 12% bei der Anzahl ziviler Opfer, die den Taliban zugeschrieben werden. Im Jahr 2017 haben sich die Taliban zu 67 willkürlichen Angriffen auf Zivilist/innen bekannt; dies führte zu 214 zivilen Opfern (113 Toten und 101 Verletzten). Auch wenn sich die Taliban insgesamt zu weniger Angriffen gegen Zivilist/innen bekannten, so haben sie dennoch die Angriffe gegen zivile Regierungsmitarbeiter/innen erhöht - es entspricht der Linie der Taliban, Regierungsinstitutionen anzugreifen (LIB S. 34).

Teil der neuen Strategie der Regierung und der internationalen Kräfte im Kampf gegen die Taliban ist es, die Luftangriffe der afghanischen und internationalen Kräfte in jenen Gegenden zu verstärken, die am stärksten von Vorfällen betroffen sind. Dazu gehören ua die östlichen und südlichen Regionen, in denen ein Großteil der Vorfälle registriert wurde. Eine weitere Strategie der Behörden, um gegen Taliban und das Haqqani-Netzwerk vorzugehen, ist die Reduzierung des Einkommens selbiger, indem mit Luftangriffen gegen ihre Opium-Produktion vorgegangen wird (LIB S. 33).

Die afghanischen Sicherheitskräfte haben ihre Entschlossenheit und wachsenden Fähigkeiten im Kampf gegen den von den Taliban geführten Aufstand gezeigt. So behält die afghanische Regierung auch weiterhin Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, die wichtigsten Verkehrsrouten und den Großteil der Distriktzentren. Zwar umkämpften die Taliban Distriktzentren, sie konnten aber keine Provinzhauptstädte (bis auf Farah-Stadt) bedrohen - ein signifikanter Meilenstein für die ANDSF; diesen Meilenstein schrieben afghanische und internationale Sicherheitsbeamte den intensiven Luftangriffen durch die afghanische Nationalarmee und der Luftwaffe sowie verstärkter Nachtrazzien durch afghanische Spezialeinheiten zu (LIB S. 23).

Im Februar 2017 galt Baghlan als eine der am schwersten umkämpften Provinzen des Landes. Die Sicherheitslage hatte sich seit Anfang 2016 verschlechtert, nachdem die Taliban anfingen, koordinierte Angriffe in Schlüsseldistrikten in der Nähe der Hauptstadt auszuführen. Dies führte zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen Taliban und afghanischen Sicherheitskräften. Regierungsfeindliche bewaffnete Gruppierungen versuchen ihre Aktivitäten in einigen Schlüsselprovinzen des Nordens und Nordostens zu verstärken. Nichtsdestotrotz gehen die afghanischen Sicherheits- und Verteidigungskräfte mit Anti-Terrorismus-Operationen gegen diese Gruppierungen vor. Auch zählt Baghlan zu jenen Provinzen, in denen eine hohe Anzahl an Zivilisten aufgrund explosiver Kampfmittelrückstände und indirekter Waffeneinwirkung ums Leben kam (LIB S. 60).

Im Zeitraum 01.01.2017-30.04.2018 wurden in der Provinz 102 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert (LIB S. 61).

1.5.1.2. Zur Sicherheitslage in Kabul:

Einst als relativ sicher erachtet, ist die Hauptstadt Kabul von öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffen der Taliban betroffen, die darauf abzielen, die Autorität der afghanischen Regierung zu untergraben. Regierungsfeindliche, bewaffnete Gruppierungen inklusive des IS versuchen in Schlüsselprovinzen und -distrikten, wie auch in der Hauptstadt Kabul, Angriffe auszuführen. Im Jahr 2017 und in den ersten Monaten des Jahres 2018 kam es zu mehreren "high-profile"-Angriffen in der Stadt Kabul; dadurch zeigte sich die Angreifbarkeit/Vulnerabilität der afghanischen und ausländischen Sicherheitskräfte. Für Kabul-Stadt wurden insgesamt

1.612 zivile Opfer registriert; dies bedeutet eine Steigerung von 17% im Gegensatz zum Vorjahr 2016 (440 getötete Zivilisten und 1.172 Verletzte) (LIB S. 46 f). Kabul verfügt über einen internationalen Flughafen (LIB S. 222).

1.5.1.3. Zur Sicherheitslage in Mazar-e Sharif:

Die Hauptstadt Mazar-e Sharif ist die Hauptstadt der Provinz Balkh und ein Wirtschafts- und Verkehrsknotenpunkt in Nordafghanistan. Die Region entwickelt sich wirtschaftlich gut. Es entstehen neue Arbeitsplätze, Firmen siedeln sich an und auch der Dienstleistungsbereich wächst. Die Infrastruktur ist jedoch noch unzureichend und behindert die weitere Entwicklung der Region. Viele der Straßen, vor allem in den gebirgigen Teilen des Landes, sind in schlechtem Zustand, schwer zu befahren und im Winter häufig unpassierbar. In Mazar-e Sharif gibt es einen internationalen Flughafen (LIB S. 64).

Im Juni 2017 wurde ein großes nationales Projekt ins Leben gerufen, welches darauf abzielt, die Armut und Arbeitslosigkeit in der Provinz Balkh zu reduzieren (LIB S. 64).

Die Provinz Balkh ist nach wie vor eine der stabilsten Provinzen Afghanistans und zählt zu den relativ ruhigen Provinzen in Nordafghanistan. Balkh hat im Vergleich zu anderen Regionen weniger Aktivitäten von Aufständischen zu verzeichnen. Manchmal kommt es zu Zusammenstößen zwischen Aufständischen und den afghanischen Sicherheitskräften oder auch zu Angriffen auf Einrichtungen der Sicherheitskräfte. Im Zeitraum 01.01.2017-30.04.2018 wurden in der Provinz 93 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert (LIB S. 65).

1.5.1.4. Binnenflüchtlinge (IDPs) und Flüchtlinge:

Wegen des Konflikts wurden im Jahr 2017 insgesamt 475.433 Menschen in Afghanistan neu zu Binnenvertriebenen (IDPs). Im Zeitraum 2012-2017 wurden insgesamt 1.728.157 Menschen im Land zu Binnenvertriebenen. Zwischen 01.01.2018 und 15.05.2018 wurden 101.000 IDPs registriert. 23% davon sind erwachsene Männer, 21% erwachsene Frauen und 55% minderjährige Kinder (LIB S. 309).

Vertriebene Bevölkerungsgruppen befinden sich häufig in schwer zugänglichen und unsicheren Gebieten, was die afghanischen Regierungsbehörden und Hilfsorganisationen bei der Beurteilung der Lage bzw. bei Hilfeleistungen behindert. Ungefähr 30% der 2018 vertriebenen Personen waren mit Stand 21.03.2018 in schwer zugänglichen Gebieten angesiedelt (LIB S. 310). Mit Stand Dezember 2017 lebten 54% der Binnenvertriebenen in den afghanischen Provinzhauptstädten. Dies führte zu weiterem Druck auf die bereits überlasteten Dienstleistungen sowie die Infrastruktur sowie zu einem zunehmenden Kampf um die Ressourcen zwischen den Neuankömmlingen und der einheimischen Bevölkerung (LIB S. 311).

Die Mehrheit der Binnenflüchtlinge lebt, ähnlich wie Rückkehrer aus Pakistan und Iran, in Flüchtlingslagern, angemieteten Unterkünften oder bei Gastfamilien. Die Bedingungen sind prekär. Die Unterstützungsfähigkeit der afghanischen Regierung gegenüber vulnerablen Personen - inklusive Rückkehrern aus Pakistan und Iran - ist beschränkt und auf die Hilfe durch die internationale Gemeinschaft angewiesen. Die Regierung hat einen Exekutivausschuss für Vertriebene und Rückkehrer sowie einen politischen Rahmen und einen Aktionsplan eingerichtet, um die erfolgreiche Integration von Rückkehrern und Binnenvertriebenen zu fördern. Im Rahmen der humanitären Hilfe wurden IDPs je nach Region und klimatischen Bedingungen unterschiedlich unterstützt, darunter Nahrungspakete, Non-Food-Items (NFI), grundlegende Gesundheitsdienstleistungen, Hygienekits usw (LIB S. 311 f).

1.5.1.5. Grundversorgung und Wirtschaft:

Im Jahr 2015 belegte Afghanistan auf dem Human Development Index (HDI) Rang 169 von 188. Seit 2002 hat Afghanistan mit Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft wichtige Fortschritte beim Wiederaufbau seiner Wirtschaft erzielt. Nichtsdestotrotz bleiben bedeutende Herausforderungen bestehen, da das Land weiterhin von Konflikten betroffen, arm und von Hilfeleistungen abhängig ist. Während auf nationaler Ebene die Armutsrate in den letzten Jahren etwas gesunken ist, stieg sie in Nordostafghanistan in sehr hohem Maße. Im Norden und im Westen des Landes konnte sie hingegen reduziert werden. Angesichts des langsamen Wachstums, sicherheitsbedingter Versorgungsunterbrechungen und schwacher landwirtschaftlicher Leistungen, nimmt die Armut weiterhin zu. Die Verbraucherpreisinflation bleibt mäßig und wurde für 2018 mit durchschnittlich 6% prognostiziert. Der wirtschaftliche Aufschwung erfolgt langsam, da die andauernde Unsicherheit die privaten Investitionen und die Verbrauchernachfrage einschränkt. Während der Agrarsektor wegen der ungünstigen klimatischen Bedingungen im Jahr 2017 nur einen Anstieg von ungefähr 1,4% aufwies, wuchsen der Dienstleistungs- und Industriesektor um 3,4% bzw. 1,8%. Das Handelsbilanzdefizit stieg im ersten Halbjahr 2017, da die Exporte um 3% zurückgingen und die Importe um 8% stiegen (LIB S. 314).

1.5.1.6. Arbeitsmarkt und Arbeitslosigkeit:

In den Jahren 2016-2017 wuchs die Arbeitslosenrate, die im Zeitraum 2013-2014 bei 22,6% gelegen hatte, um 1%. Die Arbeitslosigkeit betrifft hauptsächlich gering qualifizierte bildungsferne Personen; diese sind auch am meisten armutsgefährdet. Über 40% der erwerbstätigen Bevölkerung gelten als arbeitslos oder unterbeschäftigt. Es müssten jährlich geschätzte 400.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden, um Neueinsteiger in den Arbeitsmarkt integrieren zu können. Seit 2001 wurden zwar viele neue Arbeitsplätze geschaffen, jedoch sind diese landesweit ungleich verteilt und 80% davon sind unsichere Stellen (Tagelöhner) (LIB S. 314 f).

1.5.1.7. Projekte der afghanischen Regierung:

Im Laufe des Jahres 2017 hat die afghanische Regierung weiterhin Anstrengungen unternommen, um die Rechenschaftspflicht bei der Umsetzung ihrer Entwicklungsprioritäten durch die hohen Entwicklungsräte zu fördern. Darunter fällt ua der fünfjährige (2017 - 2020) Nationale Rahmen für Frieden und Entwicklung in Afghanistan (The Afghanistan National Peace and Development Framework, ANPDF) zur Erreichung der Selbständigkeit. Ziele dieses strategischen Plans sind ua der Aufbau von Institutionen, die Förderung von privaten Investitionen, Wirtschaftswachstum, die Korruptionsbekämpfung, Personalentwicklung usw. Im Rahmen der Umsetzung dieses Projekts hat die Regierung die zehn prioritären nationalen Programme mithilfe der Beratung durch die hohen Entwicklungsräte weiterentwickelt. Die Implementierung zweier dieser Projekte, des "Citizens' Charter National Priority Program" und des "Women's Economic Empowerment National Priority Program" ist vorangekommen. Die restlichen acht befinden sich in verschiedenen Entwicklungsstadien. Das "Citizens' Charter National Priority Program" zB hat die Armutsreduktion und die Erhöhung des Lebensstandards zum Ziel, indem die Kerninfrastruktur und soziale Dienstleistungen der betroffenen Gemeinschaften verbessert werden sollen (LIB S. 315).

Die afghanische Regierung hat Bemühungen zur Armutsreduktion gesetzt und unterstützt den Privatsektor weiterhin dabei, nachhaltige Jobs zu schaffen und das Wirtschaftswachstum voranzutreiben. Die Ausstellung von Gewerbeberechtigungen soll gesteigert, steuerliche Sanktionen abgeschafft und öffentlich-private Partnerschaften entwickelt werden; weitere Initiativen sind geplant (LIB S. 316).

1.5.1.8. Medizinische Versorgung:

Gemäß Artikel 52 der afghanischen Verfassung muss der Staat allen Bürgern kostenfreie primäre Gesundheitsversorgung in öffentlichen Einrichtungen gewährleisten; gleichzeitig sind im Grundgesetz die Förderung und der Schutz privater Gesundheitseinrichtungen vorgesehen. Allerdings ist die Verfügbarkeit und Qualität der Grundbehandlung durch Mangel an gut ausgebildeten Ärzten und Assistenzpersonal (va Hebammen), mangelnde Verfügbarkeit von Medikamenten, schlechtes Management sowie schlechte Infrastruktur begrenzt. Dazu kommt das starke Misstrauen der Bevölkerung in die staatlich finanzierte medizinische Versorgung. Die Qualität der Kliniken variiert stark. Es gibt praktisch keine Qualitätskontrollen. Berichten zufolge haben rund 10 Millionen Menschen in Afghanistan keinen oder nur eingeschränkten Zugang zu medizinischer Grundversorgung. Viele Afghanen suchen, wenn möglich, privat geführte Krankenhäuser und Kliniken auf. Die Kosten von Diagnose und Behandlung dort variieren stark und müssen von den Patienten selbst getragen werden. Daher ist die Qualität der Behandlung stark einkommensabhängig. Auch die Sicherheitslage hat erhebliche Auswirkungen auf die medizinische Versorgung (LIB S. 318).

In den letzten zehn Jahren hat die Flächendeckung der primären Gesundheitsversorgung in Afghanistan stetig zugenommen (WHO oD). Das afghanische Gesundheitssystem hat in dieser Zeit ansehnliche Fortschritte gemacht. Gründe dafür waren ua eine solide öffentliche Gesundheitspolitik, innovative Servicebereitstellung, Entwicklungshilfen usw. Einer Umfrage der Asia Foundation (AF) zufolge hat sich 2017 die Qualität der afghanischen Ernährung sowie der Gesundheitszustand in den afghanischen Familien im Vergleich zu 2016 gebessert.

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat mit Unterstützung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) einen Strategieplan für den Gesundheitssektor (2011-2015) und eine nationale Gesundheitspolicy (2012-2020) entwickelt, um dem Großteil der afghanischen Bevölkerung die grundlegende Gesundheitsversorgung zu garantieren (WHO oD).

Trotz signifikanter Verbesserungen im Bereich des Deckungsgrades und der Qualität der Gesundheitsversorgung wie auch einer Reduzierung der Sterberate von Müttern, Säuglingen und Kindern unter fünf Jahren liegen die afghanischen Gesundheitsindikatoren weiterhin unter dem Durchschnitt der einkommensschwachen Länder. Des Weiteren hat Afghanistan eine der höchsten Unterernährungsraten der Welt. Etwa 41% der Kinder unter fünf Jahren leiden unter chronischer Unterernährung. Sowohl Frauen als auch Kinder leiden an Vitamin- und Mineralstoffmangel. In den Bereichen Mütter- und Kindersterblichkeit kam es zu erheblichen Verbesserungen: Während die Müttersterblichkeit früher bei 1.600 Todesfällen pro 100.000 Geburten lag, belief sie sich im Jahr 2015 auf 324 Todesfälle pro 100.000 Geburten. Allerdings wird von einer deutlich höheren Dunkelziffer berichtet. Bei Säuglingen liegt die Sterblichkeitsrate mittlerweile bei 45 Kindern pro 100.000 Geburten und bei Kindern unter fünf Jahren sank die Rate im Zeitraum 1990 - 2016 von 177 auf 55 Sterbefälle pro 1.000 Kindern. Trotz der Fortschritte sind diese Zahlen weiterhin kritisch und liegen deutlich über dem regionalen Durchschnitt. Weltweit sind Afghanistan und Pakistan die einzigen Länder, die im Jahr 2017 Poliomyelitis-Fälle zu verzeichnen hatten; nichtsdestotrotz ist deren Anzahl bedeutend gesunken. Impfärzte können Impfkampagnen sogar in Gegenden umsetzen, die von den Taliban kontrolliert werden. In jenen neun Provinzen, in denen UNICEF aktiv ist, sind jährlich vier Polio-Impfkampagnen angesetzt. In besonders von Polio gefährdeten Provinzen wie Kunduz, Faryab und Baglan wurden zusätzliche Kampagnen durchgeführt (LIB S. 318 f).

1.5.1.9. Krankenkassen und Gesundheitsversicherung:

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) bietet zwei Grundversorgungsmöglichkeiten an: das "Essential Package of Health Services" (EPHS) und das "Basic Package of Health Services" (BPHS), die im Jahr 2003 eingerichtet wurden. Beide Programme sollen standardisierte Behandlungsmöglichkeiten in gesundheitlichen Einrichtungen und Krankenhäusern garantieren. Die im BPHS vorgesehenen Gesundheitsdienstleistungen und einige medizinische Versorgungsmöglichkeiten des EPHS sind kostenfrei. Jedoch zahlen Afghanen und Afghaninnen oft aus eigener Tasche, weil sie private medizinische Versorgungsmöglichkeiten bevorzugen, oder weil die öffentlichen Gesundheitsdienstleistungen die Kosten nicht ausreichend decken. Es gibt keine staatliche Unterstützung für den Erwerb von Medikamenten. Die Kosten dafür müssen von den Patienten getragen werden. Nur privat versicherten Patienten können die Medikamentenkosten zurückerstattet werden.

Medizinische Versorgung wird in Afghanistan auf drei Ebenen gewährleistet: Gesundheitsposten (HP) und Gesundheitsarbeiter (CHWs) bieten ihre Dienste auf Gemeinde- oder Dorfebene an; Grundversorgungszentren (BHCs), allgemeine Gesundheitszentren (CHCs) und Bezirkskrankenhäuser operieren in den größeren Dörfern und Gemeinschaften der Distrikte. Die dritte Ebene der medizinischen Versorgung wird von Provinz- und Regionalkrankenhäusern getragen. In urbanen Gegenden bieten städtische Kliniken, Krankenhäuser und Sonderkrankenanstalten jene Dienstleistungen an, die HPs, BHCs und CHCs in ländlichen Gebieten erbringen. 90% der medizinischen Versorgung in Afghanistan werden dennoch nicht direkt vom Staat zur Verfügung gestellt, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die über ein Vertragssystem beauftragt werden. Über dieses Vertragssystem wird sowohl primäre als auch sekundäre und tertiäre medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt. Allerdings mangelt es an Investitionen in medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen (LIB S. 319 f).

1.5.1.10. Krankenhäuser in Afghanistan:

Theoretisch ist die medizinische Versorgung in staatlichen Krankenhäusern kostenlos. Dennoch ist es üblich, dass Patienten Ärzte und Krankenschwestern bestechen, um bessere bzw schnellere medizinische Versorgung zu bekommen. Eine begrenzte Anzahl an staatlichen Krankenhäusern in Afghanistan bietet kostenfreie medizinische Versorgung. Privatkrankenhäuser gibt es zumeist in größeren Städten wie Kabul, Jalalabad, Mazar-e Sharif, Herat und Kandahar. Die Behandlungskosten in diesen Einrichtungen variieren. Für den Zugang zur medizinischen Versorgung sind der Besitz der afghanischen Staatsbürgerschaft und die Mitnahme eines gültigen Ausweises bzw. der Tazkira erforderlich. In öffentlichen Krankenhäusern in den größeren Städten Afghanistans können leichte und saisonbedingte Krankheiten sowie medizinische Notfälle behandelt werden. Es besteht die Möglichkeit, dass Beeinträchtigungen wie Herz-, Nieren-, Leber- und Bauchspeicheldrüsenerkrankungen, die eine komplexe, fortgeschrittene Behandlung erfordern, wegen mangelnder technischer bzw fachlicher Expertise nicht behandelt werden können. Chirurgische Eingriffe können nur in bestimmten Orten geboten werden, die meist einen Mangel an Ausstattung und Personal aufweisen. Wenn eine bestimmte medizinische Behandlung in Afghanistan nicht möglich ist, sehen sich Patienten gezwungen ins Ausland, meistens nach Indien, in den Iran, nach Pakistan und in die Türkei zu reisen. Da die medizinische Behandlung im Ausland kostenintensiv ist, haben zahlreiche Patienten, die es sich nicht leisten können, keinen Zugang zu einer angemessenen medizinischen Behandlung (LIB S. 321 f).

1.5.1.11. Rückkehrer:

Im Jahr 2018 kehrten mit Stand 21.3. 1.052 Personen aus angrenzenden Ländern und nicht-angrenzenden Ländern zurück (759 davon kamen aus Pakistan). Bis Juli 2017 kehrten aus Europa und der Türkei 41.803 Personen nach Afghanistan zurück (LIB S. 327).

Auch wenn scheinbar kein koordinierter Mechanismus existiert, der garantiert, dass alle Rückkehrer/innen die Unterstützung erhalten, die sie benötigen, und dass eine umfassende Überprüfung stattfindet, können Personen, die freiwillig oder zwangsweise nach Afghanistan zurückgekehrt sind, dennoch verschiedene Unterstützungsformen in Anspruch nehmen. Eine Reihe unterschiedlicher Organisationen ist für Rückkehrer/innen und Binnenvertriebene (IDP) in Afghanistan zuständig. Außerdem erhalten Rückkehrer/innen Unterstützung von der afghanischen Regierung, den Ländern, aus denen sie zurückkehren, und internationalen Organisationen (zB IOM) sowie lokalen Nichtregierungsorganisationen (NGO) (zB IPSO und AMASO). Nichtsdestotrotz scheint das Sozialkapital die wichtigste Ressource zu sein, die Rückkehrer/innen zur Verfügung steht, da keine dezidiert staatlichen Unterbringungen für Rückkehrer existieren und familiäre Unterbringungsmöglichkeiten für Rückkehrer/innen daher als die zuverlässigste und sicherste Möglichkeit erachtet werden. So kehrt der Großteil der (freiwilligen bzw. zwangsweisen) Rückkehrer/innen direkt zu ihren Familien oder in ihre Gemeinschaften zurück. Für jene, die diese Möglichkeit nicht haben sollten, stellen die Regierung und IOM eine temporäre Unterkunft zur Verfügung. Hierfür stand bislang das Jangalak-Aufnahmezentrum zur Verfügung, das sich direkt in der Anlage des Ministeriums für Flüchtlinge und Repatriierung in Kabul befand und wo Rückkehrende für die Dauer von bis zu zwei Wochen untergebracht werden konnten. Im Jangalak Aufnahmezentrum befanden sich 24 Zimmer, mit jeweils 2-3 Betten. Jedes Zimmer war mit einem Kühlschrank, Fernseher, einer Klimaanlage und einem Kleiderschrank ausgestattet. Seit September 2017 nutzt IOM nicht mehr das Jangalak-Aufnahmezentrum, sondern das Spinzar Hotel in Kabul als temporäre Unterbringungsmöglichkeit. Auch hier können Rückkehrer/innen für maximal zwei Wochen untergebracht werden (LIB S. 328 f).

1.5.1.12. Zur Lage der Hazara in Afghanistan:

Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 10% der Bevölkerung aus. Sie besiedeln traditionell das Bergland in Zentralafghanistan, das sich zwischen Kabul im Osten und Herat im Westen erstreckt und unter der Bezeichnung Hazaradschat bekannt ist (LIB S. 278 f, Stammes und Clanstrukturen Juli 2016 S. 17). Eine Minderheit der Hazara, die vor allem im nordöstlichen Teil des Hazaradschat leben, sind Ismailiten (LIB S. 279).

Dennoch hat sich die Lage der Hazara, die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgt waren, grundsätzlich verbessert; vornehmlich aufgrund von Bildung und vor allem auf ökonomischem und politischem Gebiet. Hazara in Kabul gehören jetzt zu den am besten gebildeten Bevölkerungsgruppen und haben auch eine Reihe von Dichtern und Schriftstellern hervorgebracht. Auch wenn es nicht allen Hazara möglich war diese Möglichkeiten zu nutzen, so haben sie sich dennoch in den Bereichen Bildung, öffentliche Verwaltung und Wirtschaft etabliert (LIB S. 279).

Die Hazara sind im nationalen Durchschnitt mit einem Anteil von etwa 10 Prozent in der Afghan National Army und der Afghan National Police repräsentiert (LIB S. 280).

Aus mehreren Provinzen, darunter Ghazni, Zabul und Baghlan, sind eine Reihe von Entführungen von Hazara berichtet worden. Die Entführer haben Berichten zufolge ihre Opfer erschossen, enthauptet, Lösegeld für sie verlangt oder sie freigelassen. Im Februar 2015 haben Aufständische 31 Hazara-Männer aus einem Bus in der Provinz Zabul entführt und im Mai 2015 19 Geiseln und im November 2015 acht weitere freigelassen (ACCORD 02.09.2016 S. 2).

1.5.1.13. Zur Lage der Schiiten in Afghanistan:

Die Bevölkerung schiitischer Muslime wird auf 10 - 15% geschätzt. Zur schiitischen Bevölkerung zählen die Ismailiten und ein Großteil der ethnischen Hazara. Die meisten Hazara-Schiiten gehören der Jafari-Sekte (Zwölfer-Sekte) an. Im letzten Jahrhundert ist allerdings eine Vielzahl von Hazara zur Ismaili-Sekte übergetreten (LIB S. 269 f).

Unter den Parlamentsabgeordneten befinden sich vier Ismailiten. Einige Mitglieder der ismailitischen Gemeinschaft beanstanden die vermeintliche Vorenthaltung von politischen Posten (LIB S. 270).

Afghanischen Schiiten ist es möglich ihre Feste öffentlich zu feiern, manche Paschtunen sind aber über die öffentlichen Feierlichkeiten verbittert, was gelegentlich in Auseinandersetzungen resultiert. In den Jahren 2016 und 2017 wurden schiitische Muslime, hauptsächlich ethnische Hazara, oftmals Opfer von terroristischen Angriffen ua der Taliban und des IS (LIB S. 269 f).

1.5.2. Auszug aus dem EASO-Afghanistan-Bericht "Rekrutierungsstrategien der Taliban vom Juli 2012":[l1]

"[...]

1.5.2.1. Allgemeines:

Bereits kurz nach dem Fall des Taliban-Regimes im Jahr 2001 begannen die Taliban mit ihrer Neuorganisation und der Rekrutierung neuer Truppen. Im Jahr 2002 konnten sie zahlreiche Freiwillige in afghanischen Flüchtlingscamps, Moscheen und Deobandi-Madrassas in der pakistanischen Provinz Belutschistan in der Umgebung der Stadt Quetta rekrutieren. In der Folgezeit kamen verschiedene Mechanismen der Rekrutierung zum Einsatz: Rekrutierung von Madrassa-Schülern in Pakistan und Afghanistan, lokale Rekrutierung durch Mullahs oder religiöse Netzwerke, Rekrutierung durch religiöse politische Parteien oder Gruppierungen, Rekrutierung in der Verwandtschaft oder in Gemeinschaften, Schulen und Universitäten.

In der Regel erfolgen die Rekrutierungen innerhalb der lokalen Einsatzzellen. Die Taliban messen der familien-und klaninternen Loyalität, Stammesbindungen, persönlichen Freundschaften, sozialen und religiösen Netzen, Madrassas und Gemeinschaftsinteressen große Bedeutung bei. Mit einigen Ausnahmen rekrutieren Taliban-Kommandeure Kämpfer normalerweise aus ihrem eigenen Stamm. Zwar wurde die Stammesordnung durch den jahrelangen Konflikt geschwächt, sie ist jedoch nach wie vor tief in den paschtunischen Gemeinschaften verwurzelt, aus denen unverändert die meisten Taliban stammen.

Für Angriffe oder Attentate haben die Taliban junge Kämpfer engagiert, die in der Mehrzahl der Fälle außerhalb ihrer Heimatregionen zum Einsatz kamen, damit sie nicht von Einheimischen erkannt werden und sich ihre Angriffe nicht gegen Freunde und Familienangehörige richten konnten. Nach ihrem Einsatz kehrten sie wieder an den Heimatort zurück. Die Taliban griffen gerne auf diese Kämpfer zurück, um erfahrene Kämpfer nicht den Gefahren aussetzen zu müssen, die mit diesen Angriffen verbunden sind. Nach Angaben afghanischer Quellen vom April 2012 ändert sich diese Strategie. So setzen die Taliban die Mehrzahl der Kommandeure und Kämpfer jetzt in ihren Heimatregionen ("Lokalisierung") ein, da dies die Anhängerschaft aus den lokalen Gemeinschaften erhöht. Außerdem hat es den Vorteil des besseren Schutzes und der größeren Unterstützung, weil sie innerhalb des eigenen Stammes oder ihres Heimatdorfes agieren. Derselben Quelle zufolge werden ausländische Kämpfer pakistanischer, arabischer, tschetschenischer oder usbekischer Herkunft in der Regel lokalen Kommandeuren als Berater unterstellt oder - wenn es sich um eine größere Zahl handelt - sind ausschließlich in der pakistanischen Grenzregion aktiv, damit sie sich schnell in sichere Gebiete in Pakistan zurückziehen können.

Einige Verfasser, darunter Rashid und Giustozzi, unterteilen die Taliban-Kämpfer nach ihrer Motivation oder ihrem Bildungsstand. Zur ersten Gruppe gehört der ideologisch motivierte harte Kern von Kämpfern. Dazu zählen häufig Madrassa-Schüler oder Jugendliche, die vor Ort von Geistlichen rekrutiert wurden. In der zweiten Gruppe finden sich die Kämpfer, die nicht zu diesem harten Kern gehören. Sie stammen häufig aus der Region oder waren in einigen Fällen Angehörige von Milizen, die sich den Aufständischen aus unterschiedlichen Gründen angeschlossen haben, und sind nicht ausschließlich von ideologischen Motiven getrieben. Dieser zweiten Gruppe gehören auch Söldner und Teilzeitkämpfer an.

In "Thirty Years of Conflict: Drivers of Anti-Government Mobilisation in Afghanistan 1978-2011" unterscheiden Giustozzi und Ibrahimi zwischen der Mobilisierung von Gemeinschaften und von Einzelpersonen. Bei beiden Formen der Mobilisierung können verschiedene Motivationsgründe eine Rolle spielen. Nach Angaben einer Kontaktperson in Afghanistan bemühen sich die Taliban in der Hauptsache darum, Gemeinschaften für sich zu gewinnen, und weniger um die Rekrutierung von Einzelpersonen, obgleich auch deren Beteiligung immer willkommen ist. Die kollektive Rekrutierung erfolgt zudem über Führungspersönlichkeiten (Strongmen) oder Kommandeure, die sich von der Organisationsstärke der Taliban persönliche Vorteile erhoffen.

Im Verlauf der Sondierungsmission der dänischen Einwanderungsbehörde in Afghanistan vom 25. Februar bis 4. März 2012 haben die Zivilgesellschafts-und Menschenrechtsorganisation CSHRO sowie ein unabhängiges Forschungsinstitut darauf hingewiesen, dass sich die Taliban vermehrt um die Rekrutierung gut ausgebildeter Personen an den Universitäten und Schulen der großen Städte bemühen. Zur Ausweitung ihrer Kommunikations-und Propagandabemühungen benötigen sie mehr Personen, die lesen und schreiben können. Ferner erfordern neue und fortgeschrittenere Waffensysteme ein besseres Fachwissen, und es herrscht Bedarf an medizinischem Personal. Demzufolge sind die Taliban insbesondere an angehenden Ingenieuren und Medizinern interessiert.

1.5.2.2. Persönliche Bedrohung, Einsatz von Gewalt und Zwang durch die Taliban:

Nach Angaben von Sippi Azarbaijani-Moghaddam haben die Nordallianz und die Taliban im Jahr 2001 angesichts des Widerwillens in den kriegsmüden Gemeinschaften Zwangsrekrutierungen durchführen müssen.

Laut der oben genannten ICOS-Studie vom März 2010 gaben 34 % der in der Provinz Helmand Befragten an, dass die Taliban bei der Rekrutierung zu Zwangsmaßnahmen gegriffen hätten. Ein Informant von Landinfo hat darauf hingewiesen, dass die Taliban in Marjah in Helmand bei der Rekrutierung von Kämpfern unmittelbar Zwang ausgeübt hätten. Von einer lokalen Quelle in Helmand wurde der Einsatz von diktatorischen Mitteln und Zwangsmaßnahmen durch die Taliban bestätigt: "Wer sich widersetzt, wird der Spionage bezichtigt und als ‚Sklave der Ausländer' bezeichnet und bestraft oder getötet. Diesem Schicksal fielen Hunderte Stammesführer, Älteste und Häuptlinge im Südwesten des Landes zum Opfer. Außerdem zwingen sie die Menschen dazu, ihnen Verpflegung und Unterschlupf zu gewähren". Aus den Lagern für Binnenvertriebene in Helmand werden Zwangsrekrutierungen gemeldet.

Einem Bericht von RFE/RL vom Juni 2012 zufolge, der sich auf Aussagen von Murad, einem Angehörigen der Anti- Taliban-Miliz, stützt, schließen sich Familien in Kunduz den Taliban an, weil sie Angst um ihr Leben haben.

Nach Angaben einer Kontaktperson in Ostafghanistan zwingen die Taliban der Quetta Shura die Menschen in den Regionen unter ihrer Kontrolle, nach den Waffen zu greifen und sie in ihrem Kampf zu unterstützen. Sie suchen die Menschen in ihren Häusern auf und bezichtigen sie der Spionage. Außerdem verlangen sie hohe Geldstrafen, die sich die armen Dorfbewohner nie leisten könnten. Sie fordern die Bereitstellung von Waffen. Können die Menschen nicht zahlen oder keine Waffen bereitstellen, müssen sie sich den Kämpfern anschließen. Wer sich weigert, wird entweder aus der Region vertrieben oder als Spion bezeichnet und getötet. Bisweilen kommen die Taliban in Gruppen in die Moschee und fordern zehn bis 20 junge Männer, die sie in ihrem Dschihad unterstützen sollen. Es kommt auch vor, dass Jugendliche für Selbstmordanschläge rekrutiert werden. Nach Angaben der Kontaktperson erfolgt diese Form der Rekrutierung auf persönlicher Ebene. Die Taliban-Kommandeure vor Ort zeichnen für die Rekrutierung in ihrem Zuständigkeitsgebiet verantwortlich, werden dabei jedoch vom pakistanischen Geheimdienstnetz unterstützt. Nach Angaben von David Kilcullen ist es möglich, dass sich Taliban der zweiten Ebene den Aufständischen aus Angst vor Vergeltung anschließen.

Eine Kontaktperson in Chost hat darauf hingewiesen, dass sich aufständische Gruppen aus Afghanistan in Nordwasiristan und Kurram Agency in Pakistan aufhalten, wo sie problemlos aus den Reihen ihrer eigenen Stämme, darunter den Wasir und den Dawar, rekrutieren können. Ferner würden die Aufständischen in den von ihnen kontrollierten Gebieten Zwangsrekrutierungen vornehmen. Die Einheimischen wagen es nicht sich zu widersetzen, weil sie Angst um ihr Leben haben.

Aus Urusgan wird berichtet, dass die lokalen Kommandeure durch Taliban aus Pakistan ersetzt wurden. Dies hat sich 2008 in Gisab ereignet. Zwangsrekrutierungen, an denen ausländische Taliban aus Pakistan beteiligt waren, soll es in Urusgan gegeben haben. Junge Männer wurden unter Zwang eingezogen, und viele von ihnen sind später in Kämpfen gegen ausländische und Regierungstruppen ums Leben gekommen. Vor diesem Hintergrund ist die Unterstützung für die Taliban in den Provinzen geschrumpft. Nach Angaben von Martine Van Bijlert ist dies jedoch eher selten vorgekommen, und in der Regel war die Rekrutierung durch lokale Kommandeure, die sich dabei auf die Stammesloyalität gestützt haben, die wichtigste Unterstützungsquelle für die Taliban.

Reuter und Younus weisen darauf hin, dass Zwangsrekrutierungen für die Aufständischen in Andar in Ghazni keine Lösung gewesen seien, weil aufgrund von Rivalitäten zwischen den Gruppen zwangsläufig eine starke Loyalität innerhalb der Gruppen bestanden habe. Im April 2012 wurde von einer Kontaktperson vor Ort ausdrücklich bestätigt, dass die Taliban in Ghazni niemals Zwangsrekrutierungen von Kämpfern durchführen.

Im April 2012 machte ein Korrespondent in Logar folgende Angaben zu den Rekrutierungen durch die Taliban: "Sie haben vorrangig religiöse und weniger politische Argumente dafür vorgebracht. In Logar schließen sich die Menschen den Taliban-Truppen freiwillig an. Zwang oder andere Mittel kommen nicht zum Einsatz".

Nach Angaben von Ahmad Quraishi, Direktor des Afghan Journalists Center und Korrespondent bei den Pajhwok Afghan News, liegen keinerlei Berichte über Zwangsrekrutierungen in der Provinz Herat vor.

Eine Kontaktperson in Afghanistan hat im April 2012 darauf hingewiesen, dass hauptsächlich an die eigene Überzeugung und an die patriotischen oder religiösen Pflichten im Kampf gegen die "ausländischen Invasoren und die Marionettenregierung" appelliert und deutlich weniger Zwang ausgeübt wurde, gegenwärtig sogar noch weniger. Dieselbe Person gibt auch an, dass nur wenige Fälle bekannt geworden sind, in denen gegen Einzelpersonen, die der Rekrutierung hätten entgehen wollten, Gewalt ausgeübt wurde, und dass dies dem erklärten Eintreten der Taliban für Gerechtigkeit und verantwortungsvolles Verwalten widersprechen und die Unterstützung durch die Bevölkerung gefährden würde.

Giustozzi und Ibrahimi zufolge haben Taliban-Funktionäre angegeben, dass es ihnen lediglich in Flüchtlingscamps gelungen sei, Kämpfer unter Zwang zu rekrutieren. Die Familien seien gezwungen worden, ein männliches Mitglied zur Verfügung zu stellen. Giustozzi weist ausdrücklich darauf hin, dass Zwangsrekrutierung in diesem Konflikt bisher keine übergeordnete Bedeutung hatte. Die Aufständischen haben nur in geringem Maße darauf zurückgegriffen. Direkte Nötigung habe im Einflussbereich der Taliban lediglich stattgefunden, um Männer als Träger einzusetzen, so Giustozzi weiter. Seit 2006 hat es zudem in einigen Regionen Berichte über die Zwangsrekrutierung von medizinischem Personal zur Behandlung verwundeter Kämpfer der Taliban gegeben.

Landinfo hat im Rahmen einer Erkundungsmission in Kabul im Oktober 2011 Befragungen durchgeführt, aus denen ebenfalls hervorgeht, dass es bei den Rekrutierungen nur selten zu Zwang gekommen ist. Die Taliban würden über eine ausreichende Zahl freiwilliger Anhänger verfügen, so dass sie auf eine solche Strategie nicht zurückgreifen müssten. Allerdings könnte es Ausnahmen in Regionen geben, die sich unter vollständiger Kontrolle der Taliban befinden.

Im Verlauf der Sondierungsmission der dänischen Einwanderungsbehörde in Afghanistan vom 25. Februar bis 4. März 2012 ist die Unabhängige Afghanische Menschenrechtskommission AIHRC zu dem Ergebnis gekommen, dass "keine Berichte über Zwangsrekrutierungen durch die Taliban vorliegen und dass sich die meisten Rekruten freiwillig angeschlossen haben". Die Organisation weist darauf hin, dass die Taliban zum Zwecke der Rekrutierung zu Einschüchterungen innerhalb der Volksgruppe der Hazara gegriffen hätten. Dabei habe es sich allerdings um Ausnahmefälle gehandelt. Im Bericht über die Sondierungsmission der dänischen Einwanderungsbehörde wird auf die Anmerkungen des UNHCR zur Rekrutierung durch die Taliban verwiesen:

"Der UNHCR bezog sich auf einen durchgesickerten Bericht der ISAF über den Zustand der Taliban vor dem Hintergrund eines Strategiewechsels der Taliban. Daraus geht hervor, dass die Taliban keine Schwierigkeiten haben, neue Kämpfer für ihre Truppen zu gewinnen. Es gebe zahlreiche Freiwillige, die bereit seien, sich ihrer Bewegung anzuschließen. In Dörfern könne es zur Anwerbung von Gruppen durch die Taliban mit Hilfe von Bildungsangeboten für die Söhne armer Familien und durch Gehirnwäsche kommen. Angesichts der Akzeptanz der Taliban in der lokalen Bevölkerung sei allerdings davon auszugehen, dass es nur selten zu Zwangsrekrutierungen kommt. Allerdings räumte der UNHCR ein, dass gegenwärtig keine ausreichenden Erkenntnisse zu dieser Frage vorliegen."

Die Organisation "Cooperation for Peace and Unity" (CPAU) hat bestätigt, dass die Taliban keinen Anlass zur Zwangsrekrutierung hätten. Sie gibt an, dass sie ausschließlich in Notsituationen auf Zwangsrekrutierungen zurückgreifen würden. Weiter wird erklärt, die Taliban hätten Dörfer im Süden besucht, um Kämpfer zu rekrutieren, dabei hätten sie allerdings in der Regel keinen Zwang ausüben müssen, weil es genügend Freiwillige gegeben habe. Von der Zivilgesellschafts-und Menschenrechtsorganisation CSHRO wird ausgeführt, "die Taliban verfügen nicht über die Möglichkeit, Menschen in ihrem Zuhause anzusprechen und sie zu zwingen, sich ihnen anzuschließen." Im Verlauf der dänischen Sondierungsmission in Kabul wies ein unabhängiges Forschungsinstitut darauf hin, dass die Taliban in der Regel nicht durch Anwendung von Zwangsmaßnahmen rekrutieren. Allerdings könne es dazu kommen, dass die Taliban aus einem bestimmten Dorf eine gewisse Zahl von Kämpfern anfordern würden; sie würden allerdings niemals eine Familie direkt ansprechen.

1.5.2.3. Persönliche Bedrohung, Einsatz von Gewalt und Zwang durch die Taliban:

In der Vergangenheit ist es in Afghanistan zu Zwangsrekrutierungen gekommen. Aus aktuellen Quellen (2010-2012) geht hervor, dass in Helmand Rekrutierungen unter untermittelbarem Druck durchgeführt worden sind, und zwar in Marjah und in Lagern für Binnenvertriebene. Ferner liegen aus Kunduz, Kunar und Gebieten in Pakistan, die sich unter der Kontrolle afghanischer Aufständischer befinden, Berichte vor, wonach die Menschen Furcht vor Vergeltung haben, wenn sie sich der Rekrutierung widersetzen.

In zwei Quellen wird auf den Einsatz von Zwang oder Einschüchterung zu Rekrutierungszwecken in Urusgan verwiesen. 2008 hätten ausländische Taliban-Kommandeure Gewalt eingesetzt. In einer weiteren Quelle wird darauf verwiesen, dass die Taliban für Rekrutierungen innerhalb einiger Hazara-Gruppen zum Mittel der Einschüchterung gegriffen haben. Aus beiden Quellen geht jedoch hervor, dass dies selten oder lediglich in Ausnahmefällen vorgekommen ist.

In anderen Quellen wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass in den Provinzen Ghazni, Herat und Logar bei der Rekrutierung weder Gewalt noch Zwang ausgeübt worden sind.

Aus Quellen zur allgemeinen Lage in Afghanistan geht in vielen Fällen hervor, dass Zwangsrekrutierungen selten vorkommen. Bisweilen wird auf Bereiche verwiesen, in denen dies anders ist:

Flüchtlingscamps und Regionen, in denen der Einfluss der Taliban sehr ausgeprägt ist. In einem Fall wird berichtet, dass die Taliban in von ihnen kontrollierten Regionen Träger und medizinisches Personal unter Zwang rekrutiert haben.

In einigen Quellen werden Argumente aufgeführt, die gegen eine Zwangsrekrutierung sprechen: Die Taliban wollen die Bevölkerung nicht gegen sich aufbringen und verfügen über eine ausreichende Zahl von Freiwilligen, so dass Zwang nicht notwendig ist.

[...]

1.5.2.4. Zwangsrekrutierung:

Zwang oder die sogenannte Zwangsrekrutierung zählen zu den Mechanismen bzw. Faktoren, die bei der Anwerbung zum Einsatz kommen. Im Allgemeinen wird dieses Phänomen in den Quellen nicht näher erläutert. Allerdings sollte bei einer Definition zwischen den unterschiedlichen Akteuren, die daran beteiligt sein können, unter

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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