RS Vfgh 2018/10/10 E2751/2018

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Veröffentlicht am 10.10.2018
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Index

32/01 Finanzverfahren, allgemeines Abgabenrecht

Norm

B-VG Art144 Abs1
FinStrG §29 Abs6, §265 Abs1w
EMRK Art6 / civil rights
EMRK Art7
VfGG §7 Abs1

Leitsatz

Keine Verletzung in verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm betreffend die Abgabenerhöhung als (weitere) Voraussetzung zur Erlangung der Straffreiheit bei Selbstanzeigen im Finanzstrafrecht nach finanzbehördlicher Ankündigung; keine Verletzung im Gleichheitsrecht durch die Abgabenerhöhung für vorsätzlich und grob fahrlässig begangene Finanzvergehen; Beseitigung der Strafbarkeit und Aufhebung der Schuld durch die Selbstanzeige im Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers

Rechtssatz

Kein Widerspruch des §29 Abs6 und §265 Abs1w FinStrG idF BGBl I 65/2014 zu Art7 EMRK:

Das aus Art7 EMRK abgeleitete Rückwirkungsverbot strengerer Strafgesetze ist nur auf Bestimmungen anwendbar, die Straftaten und die jeweils drohende Strafe festlegen. Bestimmungen, die keinen materiell-strafrechtlichen Inhalt aufweisen, sind hingegen nicht vom Schutzbereich des Art7 EMRK erfasst.

Im Hinblick auf §29 FinStrG kann dahingestellt bleiben, ob es sich bei der Regelung des Strafaufhebungsgrundes der Selbstanzeige um eine materiell-strafrechtliche Bestimmung im Schutzbereich des Art7 EMRK handelt, zumal die Einführung des §29 Abs6 FinStrG iVm §265 Abs1w FinStrG mit BGBl I 65/2014 keine rückwirkende Abgabenerhöhung für Selbstanzeigen von Finanzvergehen bewirkt:

Gemäß §265 Abs1w FinStrG tritt das zusätzliche Erfordernis der Entrichtung eines Abgabenerhöhungsbetrages nach §29 Abs6 FinStrG mit 01.10.2014 in Kraft und gilt für ab dem 30.09.2014 erstattete Selbstanzeigen, welche eine Straffreiheit im Finanzstrafrecht bewirken. Die Abgabenerhöhung ist daher nicht auf bereits vor Inkrafttreten des §29 Abs6 FinStrG erstattete Selbstanzeigen anwendbar.

Es liegt in der Rechtsnatur des Strafaufhebungsgrundes der Selbstanzeige, dass dieser seine Rechtswirkung nicht im Tatzeitpunkt, sondern erst nach Verwirklichung der Tat - vorliegend im Zeitpunkt, in dem sich der Täter zur Erstattung einer Selbstanzeige gemäß §29 FinStrG entschließt - entfaltet. Die zunächst gegebene Strafbarkeit eines Finanzvergehens wird zu einem späteren Zeitpunkt - etwa durch Verjährung oder durch ein bestimmtes Nachtatverhalten - beseitigt.

Die Frage des Günstigkeitsvergleichs nach Art7 EMRK - dessen Anwendbarkeit im konkreten Fall vorausgesetzt - stellte sich im Hinblick auf §29 FinStrG nur dann, wenn das (nach der alten Rechtslage günstiger behandelte) Nachtatverhalten bereits gesetzt wurde und nach Inkrafttreten der Gesetzesänderung rückwirkend strengeren Anforderungen unterworfen wird. Eine solche Rückwirkung des §29 Abs6 FinStrG idF BGBl I 65/2014 auf bereits gesetztes Nachtatverhalten liegt jedoch nicht vor, weil die Regelung des §29 Abs6 FinStrG auf vor deren Inkrafttreten am 01.10.2014 bereits erstattete Selbstanzeigen nicht anwendbar ist.

Keine Verletzung des Art6 EMRK durch §29 FinStrG idF BGBl I 65/2014:

Die Verfahrensgarantien des Art6 EMRK beziehen sich nicht auf die Erstattung einer Selbstanzeige gemäß §29 FinStrG: In dem von §29 FinStrG geregelten Tatbestand der Darlegung eines Finanzvergehens durch den Täter selbst wird ein (gerichtliches oder behördliches) Verfahren gegen den Täter oder an der Tat Beteiligte gerade nicht geführt. §29 FinStrG verlangt vielmehr unter dem Gesichtspunkt der Rechtzeitigkeit der Selbstanzeige, dass (noch) kein (finanz-)strafrechtliches Verfahren - eine Verfolgungshandlung iSd §29 Abs3 lita iVm §14 Abs3 FinStrG - eingeleitet wurde.

Gleiches gilt für Selbstanzeigen gemäß §29 Abs6 FinStrG, die aus Anlass der Bekanntgabe einer behördlichen Überprüfung erfolgen und für die das Erfordernis der Entrichtung einer Abgabenerhöhung vorgesehen ist. Der Abgabenerhöhungsbetrag bestimmt sich anhand der vom Anzeiger selbst - noch vor Einleitung eines finanzbehördlichen Strafverfahrens - zur Anzeige gebrachten Abgabenbeträge (Mehrbeträge). Durch die rechtzeitige Entrichtung der Abgabenerhöhung und unter den übrigen Voraussetzungen des §29 FinStrG beseitigt der Anzeiger die Strafbarkeit der von ihm zur (Selbst-)Anzeige gebrachten Finanzvergehen, bevor eine Verfolgungshandlung iSd §29 Abs3 lita iVm §14 Abs3 FinStrG gesetzt wurde. Die Garantien des Art6 EMRK beziehen sich daher auch nicht auf die Selbstanzeige anlässlich der Bekanntgabe einer finanzbehördlichen Überprüfung gemäß §29 Abs6 FinStrG vor einem (finanz-)strafrechtlichen Verfahren.

Keine Überschreitung des rechtspolitischen Gestaltungsspielraums bei der Ausgestaltung von Strafaufhebungsgründen im Finanzstrafrecht. Die Regelung des §29 Abs6 FinStrG stellt sich weder im Hinblick auf die Bemessung der Abgabenerhöhung als überschießend noch hinsichtlich dessen Adressatenkreis als gleichheitswidrig dar.

Mit den in §29 Abs6 zweiter Satz FinStrG vorgesehenen Prozentsätzen hat der Gesetzgeber eine hinreichend differenzierte Regelung geschaffen, die sich in die Systematik des §29 FinStrG einfügt. Der Gesetzgeber hat einen gestaffelten Zuschlag vorgesehen, der sich nach den von der Selbstanzeige umfassten Abgabenverkürzungen berechnet. Der für den Höchstzuschlag von 30% bestimmte Schwellenbetrag von Mehrbeträgen über € 250.000,- steht im Einklang mit den dem §39 Abs3 litb FinStrG betreffend den qualifizierten Abgabenbetrug zugrunde liegenden Wertungen.

Es ist aus Sicht des Gleichheitsgrundsatzes verfassungsrechtlich ebenso wenig zu beanstanden, dass §29 Abs6 FinStrG die Abgabenerhöhung für die Selbstanzeige von vorsätzlich und grob fahrlässig begangenen Finanzvergehen gleichermaßen einbezieht und hinsichtlich der vorgesehen Prozentsätze nicht auf die Schuld des Selbstanzeigers abstellt. Dies ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass die Abgabenerhöhung gemäß §29 Abs6 FinStrG keine Bestrafung darstellt, die eine Unterscheidung dieser Tätergruppen bedingte:

Die Abgabenerhöhung trägt dem Umstand Rechnung, dass sich der Täter in den Fällen des §29 Abs6 erster Halbsatz FinStrG erst nach der finanzbehördlichen Ankündigung zur Selbstanzeige veranlasst sieht. Die in §29 Abs6 FinStrG vorgesehene Abgabenerhöhung soll dahingehend wirken, mit der Selbstanzeige von vorsätzlich und grob fahrlässig begangenen Finanzvergehen nicht erst bis zur (Ankündigung der) finanzbehördlichen Überprüfung zuzuwarten. Die Abgabenerhöhung schafft einen Anreiz, Selbstanzeigen bereits frühzeitig, ohne konkreten Anlass einer behördlichen Überprüfung, zu erstatten.

Im Rahmen der finanzbehördlichen Feststellung des Abgabenerhöhungsbetrages bei einer Selbstanzeige gemäß §29 Abs6 FinStrG wird kein Verschulden des Anzeigers festgestellt; die Schuld wird mit der Selbstanzeige gemäß §29 FinStrG aufgehoben und die Strafbarkeit beseitigt. Es steht dem Gesetzgeber bei der Regelung des Strafaufhebungsgrundes frei, diesen ohne Bedachtnahme auf das Verschulden des Selbstanzeigers für das freiwillig zur Anzeige gebrachte Finanzvergehen vorzusehen.

Entscheidungstexte

Schlagworte

Finanzstrafrecht, Strafrecht, Rückwirkung, Geltungsbereich (zeitlicher) eines Gesetzes, Günstigkeitsprinzip

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2018:E2751.2018

Zuletzt aktualisiert am

09.03.2020
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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