TE Vwgh Erkenntnis 2018/9/20 Ra 2018/20/0149

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Veröffentlicht am 20.09.2018
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Index

E1P;
10/07 Verwaltungsgerichtshof;
19/05 Menschenrechte;
41/02 Asylrecht;
41/02 Passrecht Fremdenrecht;

Norm

12010P/TXT Grundrechte Charta Art47;
AsylG 2005 §3 Abs1;
AsylG 2005 §8 Abs1;
BFA-VG 2014 §21 Abs7;
MRK Art6;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;

Beachte

Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung verbunden):Ra 2018/20/0150 Ra 2018/20/0153 Ra 2018/20/0152 Ra 2018/20/0151

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bachler sowie die Hofrätin Dr. Leonhartsberger und den Hofrat Dr. Schwarz als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Honeder, BSc, über die Revision des 1. O S, der 2. E D, des 3. G S, der 4. T S, des 5. N S, alle in B, alle vertreten durch Mag. Gottfried Forsthuber, Rechtsanwalt in 2500 Baden, Wiener Straße 80, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 5. Februar 2018,

1)

Zl. L515 2181939-1/2E, 2) Zl. L515 2181945-1/5E,

3)

Zl. L515 2181949-1/2E, 4) Zl. L515 2181959-1/2E und

5)

Zl. L515 2181954-1/2E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat den Revisionswerbern Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der Erstrevisionswerber und die Zweitrevisionswerberin sind miteinander verheiratet; die Dritt- bis Fünftrevisionswerber sind deren minderjährige Kinder. Alle revisionswerbenden Parteien sind Staatsangehörige Georgiens und stellten am 1. Juni 2017 Anträge auf internationalen Schutz. Unter anderem wurde vorgebracht, dass der Drittrevisionswerber seit seiner Geburt an einer Zerebralparese leide. In Georgien erhalte der Drittrevisionswerber nicht die notwendige medizinische Behandlung. Die revisionswerbenden Parteien hätten durch die hohen Behandlungskosten ihr Haus verloren und keine Möglichkeit mehr, den schwer kranken Drittrevisionswerber in Georgien behandeln zu lassen.

2 Mit Bescheiden vom 4. Dezember 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) die Anträge auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I) sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II) als unbegründet ab, erteilte keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 (Spruchpunkt III), erließ gegen die Revisionswerber gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG Rückkehrentscheidungen gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) (Spruchpunkt IV) und stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass eine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Georgien zulässig sei (Spruchpunkt V). Überdies wurde den Revisionswerbern eine Frist von zwei Wochen für die freiwillige Ausreise gewährt (Spruchpunkt VI).

3 In der dagegen erhobenen Beschwerde brachten die Revisionswerber unter anderem vor, der Revisionswerber leide an einer periventrikulären Leukiomalazie (Schädigung der weißen Substanz im Gehirn), spastischer Diplegie (bei dieser Körperbehinderung sind v.a. die Beine gelähmt), Rumpfhypotonie (Mangel an Muskelstärke und Muskelspannung). Der Drittrevisionswerber könne sich nur im Rollstuhl fortbewegen und sei auf regelmäßige medizinische Versorgung und Kontrolle angewiesen. Seine Eltern hätten ihren Sohn in acht verschiedenen Krankenhäusern in Georgien behandeln lassen, doch seien diese Behandlungen laut österreichischen Ärzten unzureichend bzw. fehldiagnostiziert gewesen. Das georgische Gesundheitssystem sei nicht in der Lage, dem Drittrevisionswerber die nötige Behandlung zu bieten. Die Feststellungen des BFA zur medizinischen Versorgungslage in Georgien seien nur allgemeiner Natur. Unter Hinweis auf eine ACCORD-Anfragebeantwortung führten die revisionswerbenden Parteien aus, dass es kaum integrative Angebote oder Therapeuten gebe und viele behinderte Menschen noch immer isoliert in ihren Familien lebten. Auf dem Land sei die Lage besonders katastrophal. Dort lebten die Menschen in Armut und hätten keine Möglichkeit, ihre behinderten Kinder zu fördern. Die vom BFA verwendeten Länderberichte seien nicht aktuell. Auch konkrete Ermittlungen zur Diskriminierung von körperlich beeinträchtigten Kindern in Georgien seien unterlassen worden. Dazu zitierten die revisionswerbenden Parteien diverse Berichte über die Lage Behinderter, insbesondere behinderter Kinder, in Georgien. Behinderte Kinder würden marginalisiert und missbraucht und seien ausgegrenzt. Im Übrigen beantragten die revisionswerbenden Parteien die Durchführung einer mündlichen Verhandlung.

4 Diese Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis ab. Weiters sprach das BVwG aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG unzulässig sei.

5 Begründend führte das BVwG im Wesentlichen aus, dass weder wirtschaftliche Erwägungen noch der Zugang zum georgischen Gesundheitssystem eine asylrelevante Verfolgung darstellen würden, weil nicht festgestellt werden könne, dass sich die den Revisionswerbern zugänglichen Leistungen aus einem der in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründe schlechter darstellten, als dies für die sonstige georgische Bevölkerung der Fall sei. Hinsichtlich der in der Beschwerde erstmals behaupteten Stigmatisierung und Ausgrenzung von Behinderten sei darauf hinzuweisen, dass diese behaupteten Beeinträchtigungen nicht die zur Gewährung von Asyl erforderliche Intensität erreichen würden. Weiters gebe es keine Hinweise auf eine allgemein existenzbedrohende Notlage in Georgien, weshalb auch keine Hinweise auf das Vorliegen eines Sachverhaltes gemäß Art. 2 oder 3 EMRK abgeleitet werden könnten. Hinsichtlich des Gesundheitszustandes des Drittrevisionswerbers führte das BVwG aus, dass dieser an Gesundheitsschädigungen leide, welche weder in Österreich noch in Georgien reparabel seien. Aus juristischer Sicht habe der Drittrevisionswerber Beeinträchtigungen der Gesundheit hinzunehmen, welche - noch - keinen Eingriff in die durch Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechte darstellen würden.

6 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision.

7 Nach Vorlage der Revision samt den Verfahrensakten hat der Verwaltungsgerichtshof das Vorverfahren eingeleitet. Eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet.

8 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

9 Die Revision bringt in der Zulässigkeitsbegründung u. a. vor, das BVwG habe entgegen der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen.

10 Gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG kann eine mündliche Verhandlung unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sind zur Beurteilung, ob der Sachverhalt im Sinn dieser Bestimmung "geklärt erscheint", folgende Kriterien beachtlich:

11 Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und das Bundesverwaltungsgericht muss die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen (vgl. grundlegend VwGH 28.5.2014, Ra 2014/20/0017 und 0018, sowie aus der ständigen Rechtsprechung etwa VwGH 1.3.2018, Ra 2017/19/0418 und 0436).

12 Diese Voraussetzungen des Entfalls der mündlichen Verhandlung lagen im vorliegenden Fall nicht vor, weil die revisionswerbenden Parteien in ihrer Beschwerde den Feststellungen des BFA in den angefochtenen Bescheiden nicht bloß unsubstantiiert entgegen getreten sind.

13 Die Missachtung der Verhandlungspflicht führt nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichthofes im Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK und des - wie hier gegeben - Art. 47 GRC zur Aufhebung wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften, ohne dass die Relevanz dieses Verfahrensmangels geprüft werden müsste (vgl. VwGH 22.11.2017, Ra 2017/19/0412, mwN).

14 Schon aus diesem Grund war das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG aufzuheben.

15 Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 20. September 2018

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2018:RA2018200149.L00.1

Im RIS seit

23.10.2018

Zuletzt aktualisiert am

13.11.2018
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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