Entscheidungsdatum
29.08.2018Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W248 2200956-1/2E
W248 2200980-1/2E
BESCHLUSS
I.
Das Bundesverwaltungsgericht fasst durch den Richter Dr. NEUBAUER über die Beschwerde von XXXX, geb. XXXX, StA. Afghanistan, vertreten durch die XXXX, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 15.06.2018, Zl. XXXX, den Beschluss:
A)
In Erledigung der Beschwerde wird Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides betreffend die Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten aufgehoben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
II.
Das Bundesverwaltungsgericht fasst durch den Richter Dr. NEUBAUER über die Beschwerde von XXXX, geb.XXXX, StA. Afghanistan, vertreten durch seine Mutter XXXX, geb. XXXX, diese vertreten durch die XXXX, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 15.06.2018, Zl. XXXX, den Beschluss:
A)
In Erledigung der Beschwerde wird Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides betreffend die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten aufgehoben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
BEGRÜNDUNG:
I. Verfahrensgang:
1. XXXX, geb. XXXX (im Folgenden Erstbeschwerdeführerin) und ihr minderjähriger Sohn XXXX, geb.XXXX (im Folgenden Zweitbeschwerdeführer), beide afghanische Staatsangehörige, stellten am 12.04.2016 bei der österreichischen Botschaft in Islamabad/Pakistan einen Antrag auf Erteilung eines Einreisetitels nach Österreich gemäß § 35 AsylG 2005, der sich auf den angeblichen Ehemann der Erstbeschwerdeführerin bzw. den Vater des Zweitbeschwerdeführers, XXXX alias XXXX, geb. XXXX, bezog, welchem in Österreich mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 15.12.2014, GZ W219 1434399-1/7E der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 15.12.2015 erteilt worden war. Diese Aufenthaltsberechtigung wurde in der Folge mit Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden BFA) bis zum 16.12.2017 und zuletzt bis zum 16.12.2019 verlängert. Nach positiver Wahrscheinlichkeitsprognose des BFA vom 26.04.2018 wurde den nunmehrigen Beschwerdeführern ein Visum D mit einer Gültigkeitsdauer von vier Monaten ausgestellt.
2. In der Folge reisten die Beschwerdeführer legal ins österreichische Bundesgebiet ein und stellten am 04.06.2018 Anträge auf internationalen Schutz.
Im Rahmen der am selben Tag erfolgten Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes gaben die Beschwerdeführer an, keine eigenen Fluchtgründe zu haben und die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz deswegen zu stellen, weil der angebliche Ehemann der Erstbeschwerdeführerin bzw. der Vater des Zweitbeschwerdeführers in Österreich den Status des subsidiär Schutzberechtigten erlangt habe und sie in Österreich den selben Schutz wie dieser beantragen würden. Weiters seien sie mit einer Entscheidung des BFA auf Basis dieser Angaben einverstanden und würden auf eine weitere Einvernahme verzichten.
Das BFA ging offenbar bei beiden Beschwerdeführern von der Anwendbarkeit des § 34 Abs. 3 iVm § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG 2005 aus.
3. Mit den angefochtenen Bescheiden vom 15.06.2018 wurden die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen (jeweils Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm 34 Abs. 3 AsylG 2005 wurde den Beschwerdeführern der Status der bzw. des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (ebenfalls jeweils Spruchpunkt I. [offenbar gemeint: Spruchpunkt II.]) und ihnen gemäß § 8 Absatz 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 16.12.2019 erteilt (jeweils Spruchpunkt II. [offenbar gemeint: Spruchpunkt III.]). Begründend wurde zu Spruchpunkt I. (betreffend die Nichtzuerkennung des Status der bzw. des Asylberechtigten) ausgeführt, dass die Beschwerdeführer keine eigenen Fluchtgründe hätten, sondern sich lediglich auf die Fluchtgründe ihrer Bezugsperson beziehen würden.
Mit Verfahrensanordnung des BFA vom 18.06.2018 wurde den Beschwerdeführern gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG die XXXX amtswegig als Rechtsberatung zur Seite gegeben.
4. Gegen Spruchpunkt I. dieser Bescheide (betreffend die Nichtzuerkennung des Status der bzw. des Asylberechtigten) erhoben die Beschwerdeführer, vertreten durch die XXXX, mit Schreiben vom 12.07.2018 Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht. Darin führen sie u.a. aus, die Erstbeschwerdeführerin habe nicht bewusst auf die Einvernahme vor dem BFA verzichtet. Sie sei bei der Erstbefragung überfordert gewesen und habe viele Formulare gesehen. Das BFA wäre außerdem gemäß § 18 Abs. 1 AsylG 2005 zur amtswegigen Ermittlung der Fluchtgründe gehalten gewesen, selbst wenn der Antragsteller selbst vermeint, keine Fluchtgründe zu haben. Es sei einem rechts- und sprachunkundigen Fremden nicht zumutbar, zu erkennen, welche Gründe zur Asylgewährung führen könnten und welche nicht. Eine Einvernahme hätte daher trotz Verzicht stattfinden müssen bzw. sei ein solcher Verzicht wirkungslos.
So sei die Erstbeschwerdeführerin nicht zu ihrer westlichen Orientierung bzw. grundrechtsgeprägten Gesinnung befragt worden, obwohl dies angesichts ihrer modernen Bekleidungsweise indiziert gewesen wäre. Auch hätte die Erstbeschwerdeführerin bei einer Befragung angeben können, dass sie und ihre Familie Afghanistan aufgrund einer Familienfehde verlassen hätten und sie zudem als Hazara in Afghanistan einer Verfolgung ausgesetzt sein würden.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
Zu A)
Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist. Gemäß § 31 Abs. 1 VwGVG erfolgt die Entscheidung und Anordnung durch Beschluss, soweit nicht ein Erkenntnis zu fällen ist.
Gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG hat über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG das Verwaltungsgericht selbst zu entscheiden, wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder die Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.
Gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG hat das Verwaltungsgericht im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Voraussetzungen des Abs. 2 nicht vorliegen und die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung und Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhaltes unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. Die Behörde ist hiebei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist.
Nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes stellt die nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG bestehende Zurückverweisungsmöglichkeit eine Ausnahme von der grundsätzlichen meritorischen Entscheidungszuständigkeit der Verwaltungsgerichte dar. Eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen wird daher insbesondere dann in Betracht kommen, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts (vgl. § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden (vgl. VwGH 10.09.2014, Ra 2014/08/0005; 26.06.2014, Ro 2014/03/0063).
Ebenso hat der Verfassungsgerichtshof, in nunmehr ständiger Rechtsprechung, ausgesprochen, dass willkürliches Verhalten einer Behörde, das in die Verfassungssphäre eingreift, dann anzunehmen ist, wenn in einem entscheidenden Punkt jegliche Ermittlungstätigkeit unterlassen wird oder ein ordnungsgemäßes Ermittlungsverfahren gar nicht stattfindet, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteienvorbringens oder dem Außer-Acht-Lassen des konkreten Sachverhaltes (vgl. VfSlg. 15.743/2000, 16.354/2001). Ein willkürliches Vorgehen liegt insbesondere dann vor, wenn die Behörde den Bescheid mit Ausführungen begründet, denen jeglicher Begründungswert fehlt (vgl. VfSlg. 13.302/1992 mwN, 14.421/1996, 15.743/2000).
Gemäß § 18 AsylG 2005 hat die Behörde in allen Stadien des Verfahrens von Amts wegen darauf hinzuwirken, dass die für die Entscheidung erheblichen Angaben gemacht oder lückenhafte Angaben über die zur Begründung des Antrages geltend gemachten Umstände vervollständigt, die Bescheinigungsmittel für die Angaben bezeichnet oder die angebotenen Bescheinigungsmittel ergänzt und überhaupt alle Aufschlüsse gegeben werden, welche zur Begründung des Antrages notwendig erscheinen. Erforderlichenfalls sind Bescheinigungsmittel auch von Amts wegen beizuschaffen.
Gemäß § 19 Abs. 1 AsylG 2005 ist ein Fremder, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes nach Antragstellung oder im Zulassungsverfahren zu befragen. Diese Befragung dient insbesondere der Ermittlung der Identität und der Reiseroute des Fremden und hat sich nicht auf die näheren Fluchtgründe zu beziehen. Diese Einschränkung gilt nicht, wenn es sich um einen Folgeantrag (§ 2 Abs. 1 Z 23) handelt.
Gemäß § 19 Abs. 2 AsylG 2005 ist ein Asylwerber vom BFA, soweit er nicht auf Grund von in seiner Person gelegenen Umständen nicht in der Lage ist, durch Aussagen zur Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes beizutragen, zumindest einmal im Zulassungsverfahren und - soweit nicht bereits im Zulassungsverfahren über den Antrag entschieden wird - zumindest einmal nach Zulassung des Verfahrens einzuvernehmen. Steht der entscheidungsrelevante Sachverhalt fest und hat sich der Asylwerber dem Verfahren entzogen, so steht gemäß § 24 Abs. 3 AsylG 2005 die Tatsache, dass der Asylwerber vom BFA oder vom Bundesverwaltungsgericht bisher nicht einvernommen wurde, einer Entscheidung nicht entgegen.
Gemäß § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG 2005 ist Familienangehöriger, wer Elternteil eines minderjährigen Kindes, Ehegatte oder zum Zeitpunkt der Antragstellung minderjähriges lediges Kind eines Asylwerbers oder eines Fremden ist, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten oder des Asylberechtigten zuerkannt wurde, sofern die Ehe bei Ehegatten bereits vor der Einreise des subsidiär Schutzberechtigten oder des Asylberechtigten bestanden hat, sowie der gesetzliche Vertreter der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, wenn diese minderjährig und nicht verheiratet ist, sofern dieses rechtserhebliche Verhältnis bereits vor der Einreise des subsidiär Schutzberechtigten oder des Asylberechtigten bestanden hat; dies gilt weiters auch für eingetragene Partner, sofern die eingetragene Partnerschaft bereits vor der Einreise des subsidiär Schutzberechtigten oder des Asylberechtigten bestanden hat;
Gemäß § 34 Abs. 4 AsylG 2005 hat die Behörde Anträge von Familienangehörigen eines Asylwerbers gesondert zu prüfen; die Verfahren sind unter einem zu führen; unter den Voraussetzungen der Abs. 2 und 3 erhalten alle Familienangehörigen den gleichen Schutzumfang. Entweder ist der Status des Asylberechtigten oder des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wobei die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten vorgeht, es sei denn, alle Anträge wären als unzulässig zurückzuweisen oder abzuweisen. Jeder Asylwerber erhält einen gesonderten Bescheid. Ist einem Fremden der faktische Abschiebeschutz gemäß § 12a Abs. 4 AsylG 2005 zuzuerkennen, ist dieser auch seinen Familienangehörigen zuzuerkennen. Gemäß § 34 Abs. 5 AsylG 2005 gelten die Bestimmungen der Abs. 1 bis 4 sinngemäß für das Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht. Die Materialien zum AsylG 2005 gehen davon aus, dass es Ziel der Bestimmungen des § 34 AsylG 2005 sei, Familienangehörigen den gleichen Schutz zu gewähren, ohne ihnen ein Verfahren im Einzelfall zu verwehren. Wenn einem Familienmitglied der Status eines Asylberechtigten zuerkannt werde, solle "dieser allen anderen Familienmitgliedern - im Falle von offenen Verfahren zur gleichen Zeit von der gleichen Behörde - zuerkannt werden" (Erläuterungen zur RV 952 BlgNR XXII. GP).
Die angefochtenen Bescheide erweisen sich in Bezug auf den ermittelten Sachverhalt aus folgenden Gründen als mangelhaft:
Im vorliegenden Fall erfolgte die Antragstellung im Rahmen eines Familienverfahrens nach § 34 AsylG 2005, und das BFA bejahte offenbar bei beiden Beschwerdeführern die Anwendbarkeit des § 34 iVm § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG 2005.
Aus § 34 Abs. 1 AsylG 2005 ergibt sich, dass jeder Antrag eines Familienangehörigen - anders als nach dem Asylerstreckungsverfahren nach dem AsylG 1997 (idF vor der Asylgesetz-Novelle 2003, BGBl. I Nr. 101/2003) - ex lege als "Antrag auf Gewährung desselben Schutzes" gilt. Die Behörde hat somit bei einem Antrag eines Familienangehörigen in jedem Fall die Bestimmungen des Familienverfahrens anzuwenden. Dies ändert jedoch nichts daran, dass jeder Antrag eines Familienangehörigen gesondert zu prüfen und über jeden mit gesondertem Bescheid abzusprechen ist (§ 34 Abs. 4 AsylG 2005). Unabhängig von der konkreten Formulierung ist jeder Antrag eines Familienangehörigen überdies in erster Linie auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gerichtet. Es sind daher für jeden Antragsteller allfällige eigene Fluchtgründe zu ermitteln. Nur wenn solche - nach einem ordnungsgemäßen, also den gesetzlichen Vorgaben entsprechenden, Ermittlungsverfahren - nicht hervorkommen, ist dem Antragsteller jener Schutz zu gewähren, der bereits einem anderen Familienangehörigen gewährt wurde (s. unter Hinweis auf diverse Literaturstellen VwGH 24.03.2015, Ra 2014/19/0063).
Der Verwaltungsgerichtshof verlangt in seiner Rechtsprechung eine ganzheitliche Würdigung des individuellen Vorbringens eines Asylwerbers unter dem Gesichtspunkt der Konsistenz der Angaben, der persönlichen Glaubwürdigkeit des Asylwerbers und der objektiven Wahrscheinlichkeit seines Vorbringens, wobei Letzteres eine Auseinandersetzung mit (aktuellen) Länderberichten verlangt (VwGH 26.11.2003, 2003/20/0389).
Im vorliegenden Fall stützte das BFA seine Entscheidung bezüglich der Frage des Vorliegens asylrelevanter Verfolgung ausschließlich auf die kurzen, formularhaften Angaben in der niederschriftlichen Erstbefragung vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes, in der die Erstbeschwerdeführerin mittels Ankreuzen einer standardisierten Antwort angab, sie und ihr Sohn hätten keine eigenen Fluchtgründe. Davon ausgehend unterließ das BFA weitere Erhebungen zu dem im vorliegenden Verfahren maßgebenden Sachverhalt; es sah insbesondere davon ab, die Erstbeschwerdeführerin selbst einzuvernehmen und sie zu ihren Fluchtgründen und denen ihres minderjährigen Sohnes zu befragen.
Damit übersieht das BFA jedoch, dass gemäß § 19 Abs. 1 AsylG 2005 die Einvernahme durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes nach Antragstellung "insbesondere der Ermittlung der Identität und der Reiseroute des Fremden [dient] und sich nicht auf die näheren Fluchtgründe zu beziehen [hat]". Diese Regelung bezweckt den Schutz der Asylwerber davor, sich im direkten Anschluss an die Flucht aus ihrem Herkunftsstaat vor uniformierten Staatsorganen über traumatische Ereignisse verbreitern zu müssen, weil sie unter Umständen erst vor kurzem vor solchen geflohen sind (zum Verbot einer näheren Befragung zu den Fluchtgründen bei der Erstbefragung vgl. auch bereits VfGH 27.06.2012, U 98/12, unter Hinweis auf die Erläuterungen zur Regierungsvorlage, RV 952 XXII. GP, S. 44). Daraus ergibt sich auch, dass an die dennoch bei der Erstbefragung erstatteten, in der Regel kurzen Angaben zu den Fluchtgründen im Rahmen der Beweiswürdigung keine hohen Ansprüche in Bezug auf Stringenz und Vollständigkeit zu stellen sind (vgl. VfGH 20.02.2014, U 1919/2013 ua.).
Wie der Verwaltungsgerichtshof bereits mehrfach ausgesprochen hat, ist es auf dem Boden der gesetzlichen Regelung des § 19 Abs. 1 AsylG 2005 zwar weder der Behörde noch dem Bundesverwaltungsgericht verwehrt, im Rahmen beweiswürdigender Überlegungen Widersprüche zu späteren Angaben und sonstige Ungereimtheiten der Erstbefragung einzubeziehen, es bedarf aber sorgsamer Abklärung und auch der in der Begründung vorzunehmenden Offenlegung, worauf diese fallbezogen zurückzuführen sind (vgl. VwGH 28.05.2014, Ra 2014/20/0017; 13.11.2014, Ra 2014/18/0061 uva).
Vor diesem Hintergrund kann auch ein bloß formelhafter, in der niederschriftlichen Erstbefragung abgegebener Verzicht (über dessen Abgabe sich die Erstbeschwerdeführerin ihren Angaben in der Beschwerde zufolge überdies gar nicht bewusst gewesen sei, da sie aufgrund der vielen Formulare bei der Polizei überfordert gewesen sei) der Beschwerdeführer auf eine weitere Einvernahme das BFA nicht von seiner in § 19 Abs. 2 AsylG 2005 normierten Verpflichtung entbinden, die gebotene ganzheitliche Würdigung des individuellen Vorbringens eines Asylwerbers - abgesehen von restriktiv auszulegenden Ausnahmen - nur auf der Grundlage einer Einvernahme durch die Behörde selbst vorzunehmen. Da weder ein Folgeantrag vorliegt (vgl. § 19 Abs. 1 dritter Satz AsylG 2005) noch in der Person der Beschwerdeführer gelegene Umstände erkennbar sind, aufgrund derer diese nicht in der Lage wären, durch Aussagen zur Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes beizutragen (vgl. § 19 Abs. 2 letzter Satz iVm § 24 Abs. 3 AsylG 2005), hätte das BFA somit auch dann, wenn eigene Fluchtgründe in den von den Beschwerdeführern gestellten Anträgen (noch) nicht enthalten waren, das allfällige Vorliegen solcher Gründe im Wege einer Einvernahme zu prüfen gehabt.
Darüber hinaus geht das Bundesverwaltungsgericht auch nicht davon aus, dass die Erstbeschwerdeführerin auf ihren Antrag (und den ihres minderjährigen Sohnes) auf internationalen Schutz hinsichtlich der Prüfung der Gewährung des Status eines Asylberechtigten verzichten habe wollen, als sie bei der Erstbefragung auf die individuellen Verfolgungsgründe ihres angeblichen Ehemannes bzw. des Vaters des Zweitbeschwerdeführers verwies und die Gewährung desselben Schutzes beantragte. Es ist in diesem Zusammenhang nicht davon auszugehen, dass der Erstbeschwerdeführerin die volle rechtliche Tragweite der Bedeutung der beiden juristischen Begriffe "Asylberechtigter" bzw. "subsidiär Schutzberechtigter" in vollem Umfang bekannt gewesen ist und sie mit ihrem Verweis auf die individuellen Verfolgungsgründe ihres angeblichen Ehemannes (bzw. des Vaters des Zweitbeschwerdeführers) und den Antrag auf Gewährung desselben Schutzes wie ihr angeblicher Ehemann (bzw. der Vater des Zweitbeschwerdeführers) in Österreich ihren Antrag auf internationalen Schutz auf die Gewährung von subsidiärem Schutz, wie er ihrem angeblichen Ehemann (bzw. dem Vater des Zweitbeschwerdeführers) zukommt, einschränken wollte bzw. auf ihren Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten verzichten wollte (zumal, wie bereits oben ausgeführt, jeder Antrag eines Familienangehörigen unabhängig von der konkreten Formulierung in erster Linie auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gerichtet ist; VwGH 24.03.2015, Ra 2014/19/0063 ).
Mangels Durchführung einer Einvernahme vor dem BFA wurde der Erstbeschwerdeführerin nicht mehr die Gelegenheit zu einem diesbezüglichen Vorbringen gegeben; insbesondere konnte sie kein Vorbringen zu der von ihr in der Beschwerde behaupteten asylrelevanten geschlechtsspezifischen Verfolgung aufgrund ihrer westlichen Orientierung im Hinblick auf die Situation von Frauen in Afghanistan erstatten. In diesem Zusammenhang ist auch auf das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 20.06.2012, U 1986/11 ua., hinzuweisen, in welchem ausgeführt wird, dass die Prüfung einer asylrelevanten geschlechtsspezifischen Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der afghanischen Frauen etwa auch dann erforderlich sein kann, wenn bloß ein sinngemäßes diesbezügliches Vorbringen erstattet worden ist.
Im vorliegenden Fall tätigte das BFA daher nicht einmal ansatzweise Ermittlungen hinsichtlich des maßgebenden Sachverhalts im Sinne der oben zitierten Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes, weshalb die angefochtenen Bescheide im Ergebnis unter erheblichen Ermittlungsmängeln in Bezug auf die Frage der maßgeblichen Wahrscheinlichkeit einer konkret und gezielt gegen die Beschwerdeführer gerichteten Verfolgung maßgeblicher Intensität leidet. Der vorliegende Sachverhalt erweist sich für das Bundesverwaltungsgericht zur Beurteilung einer allfälligen Gefährdung der Beschwerdeführer hinsichtlich der Frage der Gewährung des Status der Asylberechtigten daher als so mangelhaft, dass weitere Ermittlungen des Sachverhalts diesbezüglich unerlässlich erscheinen.
Eine Nachholung des durchzuführenden Ermittlungsverfahrens und eine erstmalige Ermittlung und Beurteilung des maßgeblichen Sachverhaltes durch das Bundesverwaltungsgericht kann nicht im Sinne des Gesetztes liegen, v.a. unter Berücksichtigung des Umstandes, dass das BFA als Spezialbehörde für die Ermittlung relevanter Tatsachen zur Situation in den betreffenden Staaten samt den Quellen zuständig ist, und weil eine ernsthafte Prüfung des Antrages nicht erst beim Bundesverwaltungsgericht beginnen und zugleich enden soll.
Dass eine unmittelbare Beweisaufnahme durch das Bundesverwaltungsgericht "im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden" wäre, ist - auch angesichts des mit dem bundesverwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren als Mehrparteienverfahren verbundenen erhöhten Aufwandes - nicht ersichtlich. Die Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 VwGVG sind somit im gegenständlichen Beschwerdefall nicht gegeben.
Da der maßgebliche Sachverhalt noch nicht feststeht, war in Gesamtbeurteilung der dargestellten Erwägungen Spruchpunkt I. der angefochtenen Bescheide des BFA (betreffend die Nichtzuerkennung des Status der bzw. des Asylberechtigten) gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG aufzuheben und die Angelegenheit zur Erlassung neuer Bescheide an das BFA zurückzuverweisen.
Das BFA wird im fortgesetzten Verfahren die Erstbeschwerdeführerin einzuvernehmen und sich mit ihrem Vorbringen zu ihren Fluchtgründen (bzw. zu denjenigen ihres Sohnes) im Wege einer ganzheitlichen Würdigung auseinanderzusetzen haben. Dabei wird insbesondere die individuelle Betroffenheit der Erstbeschwerdeführerin im Hinblick auf die Situation der Frauen in Afghanistan zu prüfen sein.
Im vorliegenden Fall konnte eine mündliche Verhandlung gemäß § 24 Abs. 2 VwGVG entfallen, weil bereits aufgrund der Aktenlage feststand, dass die mit Beschwerde angefochtenen Bescheide aufzuheben waren.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende oben zitierte Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Das Bundesverwaltungsgericht kann sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen.
Die oben in der rechtlichen Beurteilung angeführte Judikatur des VwGH ist zwar zum Teil zu früheren Rechtslagen ergangen, sie ist jedoch nach Ansicht des erkennenden Gerichts auf die inhaltlich weitestgehend gleichlautenden Bestimmungen der nunmehr geltenden Rechtslage unverändert übertragbar.
Schlagworte
Behebung der Entscheidung, Einvernahme, Ermittlungspflicht,European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2018:W248.2200956.1.00Zuletzt aktualisiert am
19.10.2018