Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Univ.-Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Grohmann sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Dr. Rolf Gleißner (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dr. Wolfgang Kozak (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei E*****, vertreten durch Dr. Johannes Schuster, Mag. Florian Plöckinger Rechtsanwälte GesbR in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr. Josef Milchram, Dr. Anton Ehm und Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Pflegegeld, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 28. Mai 2018, GZ 8 Rs 71/17w-33, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom 20. 6. 2017, GZ 14 Cgs 170/16s-29, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird teilweise Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass sie zu lauten haben:
„Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei ab 1. 1. 2017 ein Pflegegeld der Stufe 2 in Höhe von 290 EUR monatlich zu gewähren.
Hingegen wird das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei ab 1. 1. 2017 ein höheres Pflegegeld als jenes der Stufe 2 zu gewähren, abgewiesen.“
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 1.028,45 EUR (darin enthalten 171,41 EUR USt) bestimmten Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Gegenstand des Revisionsverfahrens ist die Frage, ob der Kläger ab 1. 1. 2017 unter Anwendung der Übergangsbestimmung des § 48f Abs 2 BPGG einen Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 2 hat (Standpunkt des Klägers) oder ob auf ihn § 48f BPGG nicht anzuwenden ist, sodass ihm Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 1 zusteht (Standpunkt der Beklagten).
Der Kläger, bei dem ua ein Zustand nach mehrfachen Wirbelsäulenoperationen besteht, bezog aufgrund eines Vergleichs vom 8. 11. 2012, der in einem Gerichtsverfahren auf Herabsetzung des Pflegegeldes geschlossen worden war, Pflegegeld der Stufe 3 (entsprechend einem Pflegebedarf von mehr als 120 Stunden monatlich). Gegenüber dem Zeitpunkt des Vergleichsabschlusses hat sich sein Pflegebedarf ab 1. 1. 2017 auf (unstrittig) 94,5 Stunden pro Monat verringert. Infolge eines Wohnungswechsels kann er mit dem Rollstuhl nunmehr alle Wege im Wohnbereich ohne fremde Hilfe zurücklegen, außerdem ist das Anlegen eines Mieders nicht mehr erforderlich.
Mit Bescheid vom 21. 11. 2016 entzog die Beklagte das Pflegegeld mit Ablauf des Monats Dezember 2016, mit der Begründung, die Voraussetzungen für den Anspruch auf Pflegegeld lägen nicht mehr vor.
Mit der gegen diesen Bescheid gerichteten Klage begehrt der Kläger die Weitergewährung des Pflegegeldes in der gesetzlichen Höhe, mindestens jedoch in Höhe der Stufe 1 über den 31. 12. 2016 hinaus.
Die Beklagte beantragte die Klageabweisung. Die Voraussetzungen für die Gewährung eines Pflegegeldes seien wegen Verminderung des Pflegeaufwands weggefallen.
Das Erstgericht sprach dem Kläger das Pflegegeld der Stufe 1 in Höhe von monatlich 157,30 EUR ab 1. 1. 2017 zu. Maßgeblich sei die ab 1. 1. 2015 geltende neue Rechtslage (Voraussetzung für die Gewährung der Pflegegeldstufe 1 mehr als 65 bzw für die Pflegegeldstufe 2 mehr als 95 Stunden Pflegebedarf). Der beim Kläger gegebene Pflegebedarf von 94,5 Stunden monatlich entspreche somit nach der aktuellen Rechtslage (nur mehr) der Pflegegeldstufe 1. Aus der Übergangsbestimmung des § 48f Abs 2 BPGG folge nicht, dass bei einer berechtigten Herabsetzung infolge Verringerung des Pflegebedarfs die Stundensätze nach der vor dem 1. 1. 2015 geltenden Rechtslage (mehr als 60 Stunden für die Pflegegeldstufe 1 und mehr als 85 Stunden für die Pflegegeldstufe 2) anzuwenden wären.
Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Mit der Novelle BGBl I 2015/12 seien ab 1. 1. 2015 die Voraussetzungen für den Bezug von Pflegegeld der Stufen 1 und 2 verschärft worden (mehr als 65 bzw mehr als 95 Stunden Pflegebedarf), die Voraussetzungen für den Bezug von Pflegegeld der Stufe 3 seien hingegen mit mehr als 120 Stunden weiterhin unverändert geblieben. Um allein durch diese Änderung der Rechtslage eine Entziehung oder Minderung eines rechtskräftig zuerkannten Pflegegeldes zu verhindern, sei analog zur Übergangsbestimmung des § 48b BPGG im Zusammenhang mit der Anspruchsverschärfung durch das Budgetbegleitgesetz 2011 die Übergangs-bestimmung des § 48f BPGG geschaffen worden. Diese Übergangsbestimmung ziele auf jene Fälle ab, in denen nach dem 1. 1. 2015 innerhalb der Stufen 1 oder 2 eine Änderung des Pflegebedarfs eingetreten sei, die wegen der Anhebung der Pflegebedarfsgrenzen zu einer Änderung oder dem Wegfall der zuerkannten Pflegestufe führen würde, nach der bis Ende 2014 geltenden Rechtslage aber nicht. Eine Minderung des im vorliegenden Fall im Jahr 2012 zuerkannten Pflegegeldes sei daher zulässig, wenn sich der Pflegebedarf so stark verändert habe, dass auch nach der Rechtslage vor Ende 2014 eine Minderung zulässig gewesen wäre. Das sei beim Kläger der Fall, weil er im Zeitpunkt der Gewährung des Pflegegeldes der Stufe 3 einen 120 Stunden jedenfalls übersteigenden Pflegebedarf gehabt habe, der sich seit 1. 1. 2017 auf 94,5 Stunden verringert habe. Nach der Rechtslage bis Ende 2014 entspreche dies der Pflegegeldstufe 2, nach der 2017 geltenden Rechtslage der Pflegegeldstufe 1. Maßgeblich für die Einstufung sei die ab 1. 1. 2015 geltende neue Rechtslage. Ändere sich der Pflegebedarf derart, dass auch nach der alten Rechtslage eine Minderung oder Entziehung zulässig gewesen wäre, so bestehe für die neue Einstufung kein Anspruch auf ein „Einfrieren“ der seinerzeitigen Voraussetzungen. Da der Kläger das Pflegegeld der Stufe 3 bezogen habe, bestehe auch kein zu schützendes Vertrauen in die bisherigen Grenzen der Pflegestufen 1 und 2. In der Entscheidung 10 ObS 184/13a habe der Oberste Gerichtshof zum Ausdruck gebracht, dass für Personen, die bereits nach der neuen Rechtslage eingestuft worden seien, ein Rückgriff auf die alte Rechtslage nicht in Betracht komme. Damit stimmten auch die in der Entscheidung 10 ObS 36/17t enthaltenen Aussagen zum Anwendungsbereich des § 47 BPGG überein.
Die Revision sei im Hinblick auf den im Schrifttum vertretenen gegenteiligen Standpunkt und die zu dieser Frage divergierende Judikatur der Berufungsgerichte zulässig.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision des Klägers mit dem Antrag, die Entscheidungen der Vorinstanzen dahin abzuändern, dass ihm zumindest Pflegegeld der Stufe 2 zugesprochen werde.
Die Beklagte beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung, die Urteile der Vorinstanzen zu bestätigen.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist zulässig und im Sinn des Abänderungsantrags auch berechtigt.
Der Revisionswerber bringt zusammengefasst vor, der gegenständliche Fall sei mit der Entscheidung 10 ObS 184/13a (und mit 10 ObS 36/17t) nicht vergleichbar, in der der Klägerin das Pflegegeld der Stufe 2 erstmalig nach Inkrafttreten der Novelle 2011 zuerkannt worden sei. Die Gewährung des Pflegegeldes der Stufe 3 umfasse begriffsimmanent auch die Erfüllung der Voraussetzungen für die Gewährung der Stufe 2; der Bezug der Pflegegeldstufe 3 setze immer den Bezug der Pflegegeldstufe 2 voraus. Er selbst habe somit durchgehend seit 1. 5. 2011 zumindest ein Pflegegeld in Höhe der Stufe 2 bezogen. Wollte man die Schutzwirkung des § 48f Abs 2 BPGG nur auf die Pflegegeldstufen 1 und 2 beschränken, hätte dies zur Folge, dass er wesentlich schlechter gestellt wäre als ein Pflegebedürftiger, dessen Gesundheitszustand seit 2012 konstant auf 94,5 Stunden geblieben wäre und bei dem keine zwischenzeitliche Verschlechterung eingetreten sei. Die Schutzwirkung des § 48f BPGG umfasse daher jede gewährte Pflegegeldstufe. Ein Pflegebedürftiger, dem nach der Rechtslage zum 1. 1. 2015 (bzw 1. 1. 2011) ein Pflegegeld, egal welcher Stufe gewährt worden sei, solle weiterhin so lange Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 1 bzw 2 haben, als er durchgehend zumindest einen Pflegebedarf von mehr als 50 bzw 75 Stunden bzw im konkreten Fall mehr als 85 Stunden aufweise.
Dazu wurde erwogen:
1.1 Durch das Budgetbegleitgesetz 2011, BGBl I 2010/111 (BBG 2011) wurde § 4 Abs 2 BPGG dahin geändert, dass der für die Pflegegeldstufen 1 und 2 erforderliche Pflegebedarf mit 1. 1. 2011 auf mehr als 60 bzw mehr als 85 Stunden pro Monat angehoben wurde. Zuvor reichten mehr als 50 Stunden bzw mehr als 75 Stunden aus.
1.2 Die Übergangsbestimmung des § 48b BPGG idF des BBG 2011 lautet auszugsweise:
„§ 48b. (1) Allen am 1. Jänner 2011 noch nicht rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren auf Zuerkennung oder Erhöhung des Pflegegeldes sind die bis zum 31. Dezember 2010 jeweils für die Beurteilung des Anspruches geltenden Bestimmungen dieses Bundesgesetzes zugrunde zu legen.
(2) Eine Minderung oder Entziehung eines rechtskräftig zuerkannten Pflegegeldes wegen der gesetzlichen Änderungen der Anspruchsvoraussetzungen gemäß § 4 Abs. 2 in der Fassung des Budgetbegleit-
gesetzes 2011, BGBl. I Nr. 111/2010, ist nur dann zulässig, wenn auch eine wesentliche Veränderung im Ausmaß des Pflegebedarfes eingetreten ist.
(3) …
(4) Die Bestimmungen der Abs. 1 bis 3 gelten auch für gerichtliche Verfahren.“
1.3 Die Gesetzesmaterialien zu dieser Bestimmung führen Folgendes aus (ErläutRV 981 BlgNR 24. GP 173 f):
„Auch wegen des besonders schutzwürdigen Personenkreises soll dennoch auf vorhandene Einstufungen der pflegebedürftigen Menschen Bedacht genommen und eine Kürzung der vor Inkrafttreten dieser Novelle zuerkannten Pflegegelder vermieden werden. Dies soll beispielsweise auch für Fälle gelten, in denen im Rahmen einer Nachuntersuchung ein zeitlicher Pflegebedarf festgestellt wurde, der sich aufgrund der geänderten Anspruchsvoraussetzungen bei der Einstufung auswirken würde. …
Eine Minderung oder Entziehung des Pflegegeldes soll nur dann zulässig sein, wenn eine wesentliche Veränderung im Ausmaß des Pflegegelds eingetreten ist. …“
2.1 Zu dieser Übergangsbestimmung nahm der Oberste Gerichtshof erstmals in der Entscheidung 10 ObS 108/13z, SSV-NF 27/64, Stellung. An sich behandelt diese Entscheidung die Übergangsbestimmung des § 48c Abs 2 BPGG, mit dem die Gesetzgebungs- und Vollziehungskompetenz für das Pflegegeld mit Wirkung vom 1. 1. 2012 von den Ländern auf den Bund übertragen wurde. § 48c Abs 2 letzter Satz BPGG ordnet aber die sinngemäße Anwendung des § 48b Abs 1 bis 4 BPGG an.
2.2 Der dieser Entscheidung zugrunde liegende Sachverhalt ist mit dem vorliegenden Sachverhalt insofern vergleichbar, als es zu einem Zeitpunkt nach der Änderung der Rechtslage zu einem Herabsinken des Pflegebedarfs, der einer höheren Pflegegeldstufe (dort Stufe 4) entsprochen hatte, auf einen Pflegebedarf entsprechend der Stufe 1 oder 2 gekommen war. Der Oberste Gerichtshof führte aus, dass nach § 48c Abs 2 letzter Satz BPGG iVm § 48b Abs 2 BPGG (damals: bei befristeter Zuerkennung) eine Minderung oder Entziehung eines rechtskräftig zuerkannten Pflegegeldes wegen der gesetzlichen Änderungen der Anspruchsvoraussetzungen gemäß § 4 Abs 2 BPGG idF BBG 2011 nur dann zulässig ist, wenn auch eine wesentliche Veränderung im Ausmaß des Pflegegeldes eingetreten ist. Wörtlich führte der Gerichtshof aus:
„Den bereits wiedergegebenen Übergangsbestimmungen des § 48b Abs 2 und 4 BPGG zum [BBG 2011] ist insgesamt der Grundsatz zu entnehmen, dass alleine aufgrund dieser Gesetzesänderung ein Entzug oder eine Herabstufung nicht erfolgen soll. In diesem Sinne kann eine zur Herabsetzung bzw zum Entzug des Pflegegelds berechtigende ‘wesentliche Veränderung im Ausmaß des Pflegebedarfs‘ nur dann angenommen werden, wenn diese Veränderung auch nach der Rechtslage vor dem 1. 1. 2011 zu Entzug oder Herabsetzung des Pflegegelds berechtigt hätte.“
Dem Kläger, dessen Pflegebedarf auf 109 Stunden herabgesunken war, wurde demnach der Anspruch auf Weiterbezug des Pflegegeldes in der Höhe der Stufe 2 ab 1. 5. 2012 zuerkannt (wobei die Bedarfsgrenzen von mehr als 75 bzw 85 Stunden für die Pflegegeldstufe 2 sowohl nach der alten als auch nach der neuen Rechtslage überschritten waren).
2.3 Die in der Entscheidung 10 ObS 108/13z, SSV-NF 27/64 entwickelte Rechtsprechung zu § 48c BPGG setzte der Oberste Gerichtshof in den Entscheidungen 10 ObS 171/13i und – dort allerdings nicht als tragende Begründung – 10 ObS 3/14k fort (RIS-Justiz RS0129038).
2.4 An dieser Rechtsprechung hielt der Oberste Gerichtshof aber auch in den zur Übergangsbestimmung des § 48b Abs 2 BPGG selbst ergangenen Entscheidungen 10 ObS 107/13b und 10 ObS 146/13p, SSV-NF 27/78, fest (zustimmend Rudda, Der Einfluss der neueren Judikatur des Obersten Gerichtshofs auf Pflegegeldansprüche, ÖZPR 2014/116, 174, Greifeneder, Budgetbegleitgesetz 2011 – Maßgeblicher Pflegebedarf bei Weitergewährung, ÖZPR 2014/10, 18).
2.5 In der Entscheidung 10 ObS 107/13b wurde dem damaligen Kläger Pflegegeld der Stufe 2 befristet vom 1. 2. 2010 bis 31. 1. 2012 zuerkannt. Dem lag ein Pflegebedarf von 105 Stunden im Monat zugrunde. Der Kläger beantragte die Weitergewährung des Pflegegeldes über den 31. 1. 2012 hinaus. Im Verfahren erwies sich, dass der Kläger ab 1. 2. 2012 einen monatlichen Pflegebedarf von nur mehr 60 Stunden hatte, was nach der seit dem 1. 1. 2011 geltenden Rechtslage nach dem BBG 2011 keinen Pflegegeldanspruch mehr begründet hätte. Dem hielt der Oberste Gerichtshof die in der Entscheidung 10 ObS 108/13z herausgearbeiteten Grundsätze zu § 48b Abs 2 BPGG entgegen, was zur Zuerkennung von Pflegegeld der Stufe 1 über den 31. 1. 2012 hinaus führte, weil nach der maßgeblichen Rechtslage zum 31. 12. 2010 zwar nicht mehr die Voraussetzungen der Stufe 2, jedoch ein Pflegebedarf der Stufe 1 (mehr als 50 Stunden im Monat) vorlagen.
2.6 Im Hinblick darauf, dass das Berufungsgericht seine Rechtsansicht auf die Entscheidung 10 ObS 184/13a gestützt hat, obwohl diese eine
– hier nicht verfahrensgegenständliche – zwischenzeitige Verschlechterung und damit verbundene Pflegegelderhöhungen betraf, ist auch auf diese Entscheidung einzugehen:
Die Klägerin bezog Pflegegeld der Stufe 1 nach dem WPGG ab 1. 7. 2006. Infolge einer Verschlechterung ihres Zustands gewährte ihr das Land Wien ab 1. 5. 2011
– daher schon im Anwendungsbereich der Rechtslage nach dem BBG 2011 (bzw der Novelle zum WPGG, WrLGBl 2011/6) – Pflegegeld der Stufe 2. Dem lag ein Pflegebedarf der Klägerin im Ausmaß von 97 Stunden im Monat zugrunde. Im Anwendungsbereich des BPGG (nach dem Pflegegeldreformgesetz 2012) wurde der Klägerin das Pflegegeld per 31. 12. 2012 entzogen. Zu diesem Zeitpunkt bestand bei der Klägerin ein Pflegebedarf von 54 Stunden im Monat. In dieser Entscheidung gelangte der Oberste Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass die Klägerin nicht zu dem von § 48b Abs 2 BPGG (iVm § 48c Abs 2 BPGG) begünstigten Personenkreis gehöre, weil ihr Pflegegeld der Stufe 2 nach dem BPGG erst nach Inkrafttreten der Novelle zum WPGG, WrLGBl 2011/6, zuerkannt worden war (ähnlich auch die vom Berufungsgericht ebenfalls für seine Rechtsansicht ins Treffen geführte Entscheidung 10 ObS 36/17t zur Übergangsbestimmung des § 47 Abs 1 BPGG).
3. Die Entscheidung 10 ObS 184/13a traf in der Literatur auf Kritik (Greifeneder, Übergangsbestimmung Budgetbegleitgesetz 2011 – eine überraschende Entscheidung des OGH, ÖZPR 2014/50, 81). Greifeneder führt aus, dass die damalige Klägerin bereits lange vor dem 1. 1. 2011 Pflegegeld bezogen habe und daher dem begünstigten Personenkreis des § 48b Abs 2 BPGG angehöre. Nach den in den Entscheidungen 10 ObS 107/13b und 10 ObS 146/13p dargelegten Grundsätzen wäre eine Entziehung des Pflegegeldes daher nur möglich gewesen, wenn eine wesentliche Änderung des Pflegebedarfs ein derartiges Ausmaß angenommen hätte, dass die Entziehung auch nach der alten Rechtslage zum 31. 12. 2010 zulässig gewesen wäre. Die Klägerin habe jedoch aktuell einen Pflegebedarf von 54 Stunden aufgewiesen, sodass ihr nach der maßgeblichen alten Rechtslage Pflegegeld der Stufe 1 gebührt hätte. Die zwischenzeitige Erhöhung des Pflegegeldes auf Stufe 2 (infolge eines höheren Pflegebedarfs) habe nichts daran geändert, dass durchgehend ein Anspruch auf Pflegegeld zumindest in der Pflegegeldstufe 1 bestanden habe.
4.1 Wie bereits ausgeführt, liegt dem nunmehr zu beurteilenden Sachverhalt – anders als in den Entscheidungen 10 Obs 184/13a und 10 ObS 36/17t – keine zwischenzeitige Verschlechterung (und damit verbundene Pflegegelderhöhung) zugrunde, sondern ein (erstmaliges) Herabsinken eines zuvor höheren Pflegebedarfs. Bezogen auf diesen – hier zu beurteilenden – Sachverhalt ist im Hinblick auf den maßgeblichen Gesetzeszweck der Übergangsbestimmungen des § 48b bzw f BPGG Folgendes klarzustellen:
4.2 Aus den bereits wiedergegebenen Gesetzesmaterialien zu § 48b Abs 2 BPGG (ErläutRV 981 BlgNR 24. GP 173) ist die Absicht des Gesetzgebers hervorzuheben, eine Kürzung der vor Inkrafttreten des BBG 2011 zuerkannten Pflegegelder zu vermeiden. § 48b BPGG soll insofern den „Besitzstand“ von Pflegebedürftigen wahren, die zum 1. 1. 2011 bereits Pflegegeld bezogen hatten. Demnach ist nach § 48b Abs 2 BPGG eine Minderung oder Entziehung eines nach der alten Rechtslage rechtskräftig zuerkannten Pflegegeldes wegen der gesetzlichen Änderungen nur dann zulässig, wenn auch eine wesentliche Veränderung im Ausmaß des Pflegebedarfs eingetreten ist. Eine solche Änderung ist aber nur dann wesentlich, wenn diese „so ein Ausmaß erreicht, dass auch nach der Rechtslage zum 31. 12. 2010 eine Minderung oder Entziehung zulässig gewesen wäre“ (10 ObS 107/13b, 10 ObS 146/13p; 10 ObS 184/13a; Greifeneder/Liebhart, Pflegegeld4 Rz 4.125; Greifeneder, Neuerungen beim Pflegegeld – Budgetbegleitgesetz 2011, ÖZPR 2011/11, 12; Greifeneder, Sind die ab 1. 1. 2011 geltenden strengeren Anspruchsvoraussetzungen für die Pflegegeldstufen 1 und 2 in Herabsetzungs- bzw Entzugsverfahren maßgeblich? ÖZPR 2011/93, 116; von einer „Wahrung der landes- oder sondergesetzlich zuerkannten Pflegestufe“ [iZm § 48c Abs 2 BPGG] spricht auch Rudda, Pflegereform 2011/2012, SozSi 2010, 483 [486]).
4.3 Entscheidend ist im Anwendungsbereich des § 48b BPGG daher nicht der Bezug eines Pflegegeldes in einer bestimmten Höhe bzw der Bezug einer bestimmten Pflegegeldstufe, sondern – nur – die Veränderung des Ausmaßes eines schon vor dem 1. 1. 2011 bestehenden Pflegebedarfs. Erst wenn die Veränderung des Pflegebedarfs ein solches Ausmaß erreicht, dass auch nach der bis zum 31. 12. 2010 geltenden Rechtslage Pflegegeld herabzustufen oder zu entziehen gewesen wäre, ist die Veränderung wesentlich. Maßgeblich ist die Frage, ob seit dem Beginn des Pflegegeldanspruchs eine wesentliche Veränderung des Pflegebedarfs eintrat, die auch nach der damals geltenden Rechtslage zur Herabsetzung oder Entziehung eines Pflegegeldes geführt hätte (10 ObS 107/13b ua).
4.4 Dass der Gesetzgeber diesen Zweck mit der Übergangsbestimmung des § 48b BPGG verfolgte, hat er in der – sich an dieser Bestimmung orientierenden (10 ObS 129/15s, SSV-NF 29/71) – Übergangsbestimmung des § 48f BPGG zur Novelle des BPGG, BGBl I 2015/12, verdeutlicht, mit der die Anspruchsvoraussetzungen für Pflegegeld der Stufe 1 und 2 neuerlich verschärft wurden. Anders als § 48b BPGG enthält § 48f Abs 2 BPGG nämlich folgenden zweiten Satz:
„Eine Veränderung im Ausmaß des Pflegebedarfs ist wesentlich, wenn diese so ein Ausmaß erreicht, dass auch nach der Rechtslage zum 31. Dezember 2014 eine Minderung oder Entziehung zulässig gewesen wäre.“
Der Gesetzgeber nahm damit ausdrücklich Bezug auf die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs in der Entscheidung 10 ObS 107/13b, was sich aus den Gesetzesmaterialien ergibt, die auszugsweise lauten (Erläuterungen zum Initiativantrag 833/A 25. GP 29 f):
„Eine Minderung oder Entziehung des Pflegegeldes soll nur dann zulässig sein, wenn eine wesentliche Veränderung im Ausmaß des Pflegebedarfes eingetreten ist. In diesem Sinn kann eine wesentliche Änderung im Ausmaß des Pflegebedarfes, die zur Minderung oder Entziehung berechtigt, nur dann angenommen werden, wenn diese so ein Ausmaß erreicht, dass auch nach der zum 31. Dezember 2014 geltenden Rechtslage eine Minderung oder Entziehung zulässig wäre. … Diese Rechtsansicht wurde auch vom Obersten Gerichtshof in der Rs 10 ObS 107/13b geteilt, in welcher dieser festgehalten hat, dass 'Wenn ( ... ) beispielsweise das Ausmaß der Pflegestufe 2 auch nach der früheren Regelung nicht mehr erreicht wird, wohl aber jenes nach Pflegestufe 1 (im Sinne der früheren Regelung), so ist das Pflegegeld nicht zur Gänze zu entziehen, sondern nach der zum 31. 12. 2010 maßgeblichen Rechtslage, also mit Pflegestufe 1, weiter zu gewähren‘“.
5. Dafür, an der in den Entscheidungen 10 ObS 108/13z, 10 ObS 107/13b und 10 ObS 146/13p vorgenommenen Auslegung der Übergangsbestimmung des § 48b Abs 2 BPGG auch im vorliegenden Fall festzuhalten, sprechen folgende weitere Überlegungen:
Nach den Gesetzesmaterialien zu § 48b BPGG soll der Grundsatz, dass eine Kürzung der vor Inkrafttreten der Novelle zuerkannten Pflegegelder vermieden werden soll, auch für Fälle gelten, in denen im Rahmen einer Nachuntersuchung ein zeitlicher Pflegebedarf festgestellt wurde, der sich aufgrund der geänderten Anspruchsvoraussetzungen bei der Einstufung auswirken würde (Erläuterungen zum Initiativantrag 883/A 25. GP 29 f). Zudem vermeidet dieses Verständnis der Übergangsbestimmung eine sachlich nicht zu rechtfertigende Differenzierung unterschiedlicher Gruppen von Pflegegeldbeziehern. Wie in der Revision aufgezeigt wäre der Kläger bei einem Zuspruch nur des Pflegegeldes der Stufe 1 wesentlich schlechter gestellt als ein Pflegebedürftiger, dessen Gesundheitszustand seit 2012 konstant einen durchschnittlichen Pflegebedarf von 94,5 Stunden monatlich bedingt hätte. Zu bedenken ist auch, dass der geringere Pflegebedarf des Klägers ua auch darauf zurückzuführen ist, dass er in eine Wohnung gezogen ist, in der er die Wege mit dem Rollstuhl selbständig zurücklegen kann. Dass ihm der Umzug gegenüber einem Pflegebedürftigen, der diese Veränderung nicht vorgenommen hat, beim laufenden Bezug des Pflegegeldes Nachteile in Zusammenhang mit einer Gesetzesänderung einbringen sollte, wäre mit dem Gesetzeszweck unvereinbar, Pflegegeldbezieher vor Kürzungen der ihnen vor der Novelle zuerkannten Pflegegelder zu schützen.
6. Der dem § 48b BPGG entsprechende § 48f BPGG ist daher dahin auszulegen, dass eine „wesentliche Veränderung im Ausmaß des Pflegebedarfs“ nach dieser Bestimmung auch im Fall einer nach dem 1. 1. 2015 erfolgten Verringerung des Pflegebedarfs nur dann angenommen werden kann, wenn diese Veränderung auch nach der Rechtslage vor dem 1. 1. 2015 zum Entzug oder der Herabsetzung des Pflegegeldes berechtigt hätte (10 ObS 107/13b, 10 ObS 146/13p und 10 ObS 184/13a). Da die §§ 48b und 48f BPGG nur auf eine wesentliche Veränderung im Ausmaß des Pflegebedarfs abzielen und ihr Anwendungsbereich nicht am Bezug einzelner Pflegegeldstufen festzumachen ist, ist ihre Schutzwirkung nicht nur auf die Pflegegeldstufen 1 und 2 zu beziehen. Vielmehr entfalten sie diese Wirkung auch für eine ehemals gewährte (höhere) Pflegegeldstufe (hier: die Pflegegeldstufe 3).
Zu der Frage, ob im Hinblick auf die Gesetzesmaterialien zu § 48f BPGG (Erläuterungen zum Initiativantrag 833/A 25. GP 29 f) an der Entscheidung 10 ObS 184/13a zur Auslegung des § 48b BPGG bei zwischenzeitigen Verschlechterungen (und damit verbundener Pflegegelderhöhungen) künftig festzuhalten sein wird, ist hier nicht Stellung zu nehmen.
7. Der Kläger, dem bereits vor dem 1. 1. 2015 ein Pflegegeld in Höhe der Stufe 3 zuerkannt worden war, fällt somit grundsätzlich in die Gruppe des von § 48f BPGG besonders begünstigten Personenkreises (siehe 10 ObS 108/13z, SSV-NF 27/64). Es besteht bei ihm seit der Gewährung des Pflegegeldes – durchgehend – auch über den 1. 1. 2017 hinaus ein Pflegebedarf von jedenfalls 94,5 Stunden pro Monat. Nach der Rechtslage bis Ende 2014 entspricht dies der Pflegegeldstufe 2, nach der 2017 geltenden Rechtslage entspräche dieser Pflegebedarf der Pflegegeldstufe 1. Nach dem Gesetzeszweck des § 48f BPGG sind aber die nach der Rechtslage zum 31. 12. 2014 geltenden Zeitwerte (vgl § 4 Abs 2 BPGG idF vor BGBl I Nr 2015/12) heranzuziehen (somit die bis Ende 2014 geltende „alte“ Rechtslage). Diese erfordert die Zuerkennung eines Pflegegeldes der Stufe 2 (§ 48f Abs 2 iVm Abs 4 BPGG; 10 ObS 107/13b).
8. Der Revision war daher teilweise Folge zu geben und dem Kläger Pflegegeld in Höhe der Stufe 2 ab dem 1. 1. 2017 zuzuerkennen. Hingegen war das – in der Revision ohne nähere Begründung aufrecht erhaltene – Mehrbegehren mangels Vorliegens der Voraussetzung eines Pflegebedarfs von mehr als 120 Stunden im Monat abzuweisen.
9. Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a iVm Abs 2 ASGG.
Textnummer
E122930European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2018:010OBS00085.18Z.0913.000Im RIS seit
19.10.2018Zuletzt aktualisiert am
22.06.2020