TE Bvwg Erkenntnis 2018/8/30 W159 2172802-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 30.08.2018
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Entscheidungsdatum

30.08.2018

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §34 Abs2
B-VG Art.133 Abs4

Spruch

W159 2172802-1/8E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Clemens KUZMINSKI über die Beschwerde von mj. XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 19.09.2017, Zl. 1089873504 - 151490254/BMI-BFA_NOE_RD, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 31.07.2018, zu Recht erkannt:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß §§ 3 Abs. 1 iVm 34 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt. Gem. § 3 Abs. 5 leg. cit. wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer, ein Staatsbürger Afghanistans, der Volksgruppe der Sadat (= Sayed, = Sayyid, = Sayeed) zugehörig und schiitischer Moslem, reiste (spätestens) am 04.10.2015 gemeinsam mit seiner Mutter XXXX auch XXXX , geb. XXXX alias XXXX , seinem Vater XXXX auch XXXX , geb. XXXX alias XXXX , und seiner Schwester XXXX , geb. XXXX , illegal in das Bundesgebiet ein und stellte gemeinsam, mit diesen Familienmitgliedern einen Antrag auf internationalen Schutz.

Zu ihrem Fluchtgrund befragt gab die Mutter des Beschwerdeführers gelegentlich der Erstbefragung am 05.10.2015 an, im Iran keine Papiere bekommen zu haben. Ihre Kinder hätten nicht zur Schule gehen dürfen, ihr Mann habe nicht arbeiten dürfen. Ihr Mann hätte dann in den Krieg nach Syrien geschickt werden sollen, hätte aber vom Flughafen fliehen können. Er sei nachhause gekommen und die Familie sei sogleich geflohen.

Im Zuge der Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) am 01.09.2016 gab die Mutter des Beschwerdeführers zu ihren Fluchtgründen im Wesentlichen an, ihre Eltern seien mit ihr aus Afghanistan wegen der schlechten Sicherheitslage in XXXX geflohen. Ihr Onkel und dessen Familie seien bei einem Bombenangriff getötet worden. Damals habe Krieg geherrscht.

Im Iran hätte es immer Schwierigkeiten gegeben, aber sie seien damit klargekommen. Der ausschlaggebende Grund, den Iran zu verlassen, sei gewesen, dass der Mann der Beschwerdeführerin in Gefahr geraten sei. Die Kinder hätten immer gefragt, warum sie nicht mit anderen Kindern in die Schule gehen könnten und hätten immer darunter gelitten.

Direkt gegen die Mutter des Beschwerdeführers gerichtete Verfolgungshandlungen hätte es keine gegeben.

Die Mutter des Beschwerdeführers lebe in einer Flüchtlingsunterkunft in XXXX . Sie lebe von der Grundversorgung. In Österreich habe die Mutter des Beschwerdeführers außer ihren Kindern und ihrem Mann keine Verwandten. Ihr Mann habe Verwandte, das seien glaublich die Enkelkinder des Onkels ihres Mannes. Diese seien selber Asylwerber.

Die Mutter des Beschwerdeführers verstehe ein bisschen Deutsch und besuche Kurse; in Vereinen oder Organisationen sei sie nicht Mitglied. Die Familie hätte sich mit österreichischen Familien angefreundet, die sie unterstützen würden.

Am XXXX brachte die Mutter des Beschwerdeführers ihre Tochter XXXX , eine Schwester des Beschwerdeführers, zur Welt.

Mit dem im Spruch bezeichneten Bescheid vom 19.09.2017 wies das BFA, Regionaldirektion Niederösterreich, unter Spruchpunkt I. den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gem. § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten und unter Spruchpunkt II. gem. § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ab, erteilte unter Spruchpunkt III. einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gem. § 57 AsylG 2005 nicht, erließ gem. § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gem. § 52 Abs. 2 Z 2 FPG und stellte gem. § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers gem. § 56 FPG nach Afghanistan zulässig sei. Unter Spruchpunkt IV. setzte das BFA die Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest.

Die Identität des Beschwerdeführers wurde nicht festgestellt. Festgestellt wurde, dass der Beschwerdeführer afghanischer Staatsangehöriger sei, der im Iran geboren wurde und sich seit seiner Geburt in der Obhut seiner Eltern befinde. Er gehöre der Volksgruppe der Hazara an und sei schiitischer Moslem, minderjährig und noch nicht verheiratet. Es lägen keine Hinweise für eine lebensbedrohende Erkrankung vor.

Sodann führte das BFA aus, der Beschwerdeführer habe keine eigenen Fluchtgründe geltend gemacht. Die vorgebrachte individuelle Verfolgungslage sei nicht glaubhaft gewesen. Es lägen weder von staatlichen Institutionen noch von sonstigen machtausübenden Gruppierungen Bedrohungen gegenüber der Person des Beschwerdeführers oder seiner Familie vor.

Das BFA stellte auch nicht fest, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in sein Heimatland in eine ausweglose Lage geraten würde. Umstände, die für die Annahme einer exzeptionellen Existenzbedrohung im Rückkehrfall sprechen würden, seien nicht hervorgekommen. Der Beschwerdeführer sei gesund und könne auf die Unterstützung seiner Eltern zurückgreifen.

Der Beschwerdeführer sei minderjährig und lebe gemeinsam mit seinen Eltern und den beiden Geschwistern. Es bestünden keine verwandtschaftlichen Anknüpfungspunkte zu Angehörigen außerhalb seiner Kernfamilie in Österreich. Er würde durch öffentliche Mittel der Bundesbetreuung unterstützt.

Beweiswürdigend verwies das BFA auf die Bescheide der Eltern des Beschwerdeführers.

Rechtlich verwies das BFA zu Spruchpunkten I. und II. und auf die Bescheide der Eltern des Beschwerdeführers.

Zu Spruchpunkt III. führte das BFA nach Durchführung einer Interessenabwägung iSd Art. 8 Abs. 2 EMRK aus, dass den wenig schützenswerten privaten Interessen an einem weiteren Verbleib in Österreich das hohe öffentliche Interesse an einem geordneten Zuzug nach Österreich sowie an einem geordneten Vollzug des Fremdenwesens allgemein entgegenstehe. Eine Rückkehrentscheidung sei daher zulässig. Aus der Begründung zu Spruchpunkt II. ergebe sich, dass eine Verfolgung im Sinne des § 50 Abs. 1 und 2 FPG nicht vorliege und es sei eine vorläufige Maßnahme im Sinne des § 50 Abs. 3 FPG in seinem Fall nicht empfohlen. Es sei somit auszusprechen, dass im Falle der Durchsetzbarkeit der Rückkehrentscheidung sowie bei Vorliegen der im § 46 Abs. 1 Z 1 bis 4 FPG genannten Voraussetzungen ihre Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei.

Zu Spruchpunkt IV. des bekämpften Bescheides wurde festgehalten, dass im Falle des Beschwerdeführers keine Gründe im Sinne des § 55 FPG hätten festgestellt werden können, weswegen die Frist zur freiwilligen Ausreise 14 Tage betrage.

Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer innerhalb offener Frist (eine von allen Familienangehörigen gemeinsam verfasste) Beschwerde, mit der er den Bescheid zur Gänze bekämpft. Im Zuge der Beschwerdeerhebung wurde die Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH zur Vertretung im Verfahren bevollmächtigt.

Darin wird - nebst weitwendiger Zitierung von Länderinformationen, deren Relevanz in der Beschwerde nicht dargetan wird - hauptsächlich die Beweiswürdigung des BFA angegriffen.

Das Bundesverwaltungsgericht beraumte eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung für den 31.07.2018 an, an der unter anderem die Mutter des Beschwerdeführers und sein Vater teilnahmen.

Von Seiten des BFA, RD Niederösterreich, erschien niemand. Teil nahm der Rechtsvertreter des MigrantInnenverein St. Marx, XXXX .

Die Mutter des Beschwerdeführers erschien ohne Kopftuch, mit offenen, zu einem Pagenschnitt geschnittenen, gefärbten Haaren, in einem insgesamt sehr westlichen Aussehen. Sie hielt ihr bisheriges Vorbringen aufrecht und brachte darüber hinaus soweit wesentlich vor, sich nicht als streng religiös zu bezeichnen. Sie sei sich sicher, dass sie afghanische Staatsangehörige sei, dort habe sie elf Jahre gelebt und ihre Eltern (die Großeltern des Beschwerdeführers) seien auch afghanische Staatsangehörige. Sie sei Hazara und Schiitin, die Saeed würden zu den Hazara gehören.

Ihren Ehemann habe sich die Mutter des Beschwerdeführers nicht aussuchen können. Eine Schule habe sie nicht besucht; die meisten afghanischen Mädchen würden keine Schule besuchen dürfen. Lesen und Schreiben habe sich die Mutter des Beschwerdeführers selbst beigebracht.

Afghanistan hätte die Mutter des Beschwerdeführers ungefähr im Jahr 2000 verlassen. Ihre Gegend sei von den Taliban bombardiert worden. Der Großonkel des Beschwerdeführers, mit dem die Familie der Mutter des Beschwerdeführers zusammengelebt habe, sei getötet worden. Sie glaube, dass das in XXXX gewesen sei. Ihre Familie sei dann mit ihr ein Jahr nach Kabul gegangen. Warum sie in den Iran gegangen seien, wisse nur ihr Vater (der Großvater des Beschwerdeführers). Sie könne sich an nichts erinnern. Als Tochter habe sie das Haus nicht verlassen dürfen, sie habe nicht mitbekommen, was sich in der unmittelbaren Umgebung abgespielt habe. In Afghanistan schenke man einer weiblichen Person keine Achtung, man frage sie nicht und informiere sie nicht. Die Mutter des Beschwerdeführers stamme aus einer traditionsverbundenen Familie, was sie ablehne.

Im Iran hätten sie keinerlei Dokumente gehabt, sie seien auch nicht geduldet gewesen. Ihr Vater und ihr Mann seien auf einer Baustelle tätig gewesen. Sie hätten wirtschaftliche Probleme gehabt, ihr Ehemann (der Vater des Beschwerdeführers) habe sich sehr bemüht, aber es sei schwierig gewesen, weil sie dort illegal gelebt hätten.

Ihre Familienangehörigen und Verwandten würden nach wie vor im Iran leben. Die Mutter des Beschwerdeführers habe nur mit ihrer Mutter, der Großmutter des Beschwerdeführers, kontakt. Ihr Vater akzeptiere sie, so wie sie jetzt lebe, nicht.

Die Mutter des Beschwerdeführers und ihre Kinder seien gesund. Sie bilde sich aus und arbeite freiwillig für die Gemeinde, habe zahlreiche österreichische Freunde, mit denen sie Kontakt pflege. Sie gingen auch gemeinsam einkaufen.

Ihr Leben habe sich in Österreich massiv verändert. Afghanische Frauen hätten grundsätzlich keinerlei Freiheiten. Hier könne sich die Mutter des Beschwerdeführers frei bewegen und kleiden wie sie wolle.

Die Mutter des Beschwerdeführers konnte ihren Tagesablauf in deutscher Sprache schildern.

Wenn die Mutter des Beschwerdeführers schwimmen gehe, trage sie einen Bikini. Ihre österreichischen Freunde seien hauptsächlich Mütter mit Kindern. Hauptsächlich kümmere sich ihr Mann um die Kinder. Den Haushalt würden sie gemeinsam führen.

Die Mutter des Beschwerdeführers habe bereits ein Deutschdiplom auf dem Niveau A1 erworben. Zuerst habe ihr Mann einen Deutschkurs gemacht, dann habe er sich um die Kinder gekümmert und die Mutter des Beschwerdeführers habe einen Deutschkurs machen können. In den Deutschkurs sei sie ohne Begleitung ihres Mannes gegangen. Sie fahre auch alleine nach Wien um dort einzukaufen.

In Österreich habe die Mutter des Beschwerdeführers das Fahrradfahren erlernt, ihr Ehemann habe sich sehr bemüht, ihr das beizubringen. Ihr Mann gebe ihr Freiheiten und sage auch, dass sie so leben sollte, wie sie es für richtig halten würde. Ihre Kinder sollten eine Ausbildung machen. Sie würden zuhause fernschauen, Fahrrad fahren oder ins Schwimmbad gehen. Sie hätten auch zweimal die Woche einen Deutschkurs.

Ihre beiden älteren Kinder hätten auch Kontakt zu österreichischen Kindern. Wenn die Schwestern des Beschwerdeführers in die Pubertät kommen würden, sollten diese selbst entscheiden, ob sie ein Kopftuch trügen. Ihre Mutter lehne es aber ab. Sie wünsche sich, dass die Schwestern des Beschwerdeführers eine Ausbildung erhielten und einen Beruf erlernten. Sie sollten sich ihre Ehemänner selbst aussuchen.

In Österreich wolle die Mutter des Beschwerdeführers eine Ausbildung machen und so viel wie möglich lernen. Sie wolle arbeiten gehen. Sie arbeite auch ehrenamtlich für die Gemeinde XXXX . Dort würde sie Kleider schlichten und auch Straßen reinigen.

Die Mutter des Beschwerdeführers habe großes Interesse am Schneidern, sie wolle Schneiderin werden.

In Afghanistan könne die Mutter des Beschwerdeführers nicht leben, dort hätte sie keinerlei Freiheiten. Ihre nahen Angehörigen würden sie, so wie sie jetzt lebe, ablehnen. Die Zukunft ihrer zwei Töchter wäre zerstört und sie würden so enden, wie die Mutter des Beschwerdeführers zuvor. Sie wünsche sich, dass ihre Töchter eigenständig seien, in Freiheit aufwachsen würden und später den Lebenspartner auch selbst aussuchen könnten. Die Mutter des Beschwerdeführers wolle nicht, dass ihre Töchter zwangsverheiratet werden, wie es ihr selbst ergangen sei.

Auch in Kabul könne sie nicht leben. Nirgendwo in Afghanistan hätten ihre Töchter die Freiheit, über sich selbst zu entscheiden. Sollten ihre Kinder zurückkehren, hätte auch der Großvater das Recht, sie im Alter von 14 bis 15 Jahren an irgendjemanden zu verheiraten.

Zum Akt genommen wurden ein Tagesklinischer Patientenbrief der Krankenanstalt Rudolfstiftung hinsichtlich des Vaters des Beschwerdeführers, Bestätigungen über gemeinnützige Tätigkeiten bei der Stadtgemeinde XXXX des Vaters des Beschwerdeführers, ein Jahreszeugnis des Beschwerdeführers, eine Schulbesuchsbestätigung der Schwester XXXX einschließlich Semesterinformation, eine Bestätigung über ehrenamtliche Arbeit der Stadtgemeinde XXXX der Mutter des Beschwerdeführers, ein Unterstützungsschreiben des Vereins " XXXX ", ein Integrationsbericht der Stadtgemeinde XXXX und eine ausgiebige Stellungnahme der VS XXXX betreffend den Beschwerdeführer.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Zur Person des Beschwerdeführers wird Folgendes festgestellt:

Er ist Staatsbürger von Afghanistan und wurde am 01.01.1958 in Afghanistan geboren. Er gehört der Volksgruppe Sadat (= Sayed, = Sayyid, = Sayeed) an und ist schiitischer Moslem.

Im Bundesgebiet hält er sich mit seinen Eltern und seinen zwei Schwestern auf. Diese sind ebenso Staatsbürger von Afghanistan und wie der Beschwerdeführer der Volksgruppe Sadat (= Sayed, = Sayyid, = Sayeed) zugehörig und schiitische Moslems.

Glaubhaft ist, dass die Mutter des Beschwerdeführers eine westlich geprägte Frau ist, die seit ihrer Ankunft im Bundesgebiet ein freies und selbstbestimmtes Leben führt, wobei der Vater des Beschwerdeführers die Einstellung seiner Gattin teilt. Der Beschwerdeführer und vor allem seine Schwestern werden westlich geprägt erzogen.

Den Eltern und den Schwestern des Beschwerdeführers wurden mit Erkenntnissen des Bundesverwaltungsgerichtes vom heutigen Tag die Status von Asylberechtigten zuerkannt und festgestellt, dass ihnen die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Zu Afghanistan wird verfahrensbezogen folgendes festgestellt:

Frauen

Die Lage afghanischer Frauen hat sich in den letzten 15 Jahren zwar insgesamt ein wenig verbessert, jedoch nicht so sehr wie erhofft. Wenngleich es in den unterschiedlichen Bereichen viele Fortschritte gab, bedarf die Lage afghanischer Frauen spezieller Beachtung. Die afghanische Regierung ist bemüht, die Errungenschaften der letzten eineinhalb Jahrzehnte zu verfestigen - eine Institutionalisierung der Gleichberechtigung von Frauen in Afghanistan wird als wichtig für Stabilität und Entwicklung betrachtet (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. UNAMA/OHCHR 5.2018). In einigen Bereichen hat der Fortschritt für Frauen stagniert, was großteils aus der Talibanzeit stammenden, unnachgiebigen konservativen Einstellungen ihnen gegenüber geschuldet ist (BFA Staatendokumentation 4.2018). Viel hat sich seit dem Ende des Talibanregimes geändert: Frauen haben das verfassungsmäßige Recht an politischen Vorgängen teilzunehmen, sie streben nach Bildung und viele gehen einer Erwerbstätigkeit nach (TET 15.3.2018). Artikel 22 der afghanischen Verfassung besagt, dass jegliche Form von Benachteiligung oder Bevorzugung unter den Bürgern Afghanistans verboten ist. Die Bürger Afghanistans, sowohl Frauen als auch Männer, haben vor dem Gesetz gleiche Rechte und Pflichten (MPI 27.1.2004). In der Praxis mangelt es jedoch oftmals an der Umsetzung dieser Rechte (AA 5.2018; vgl. UNAMA/OHCHR 5.2018). Die konkrete Situation von Frauen kann sich allerdings je nach regionalem und sozialem Hintergrund stark unterscheiden (AA 9.2016; vgl. USDOS 20.4.2018). Traditionell diskriminierende Praktiken gegen Frauen existieren insbesondere in ländlichen und abgelegenen Regionen weiter (AA 5.2018).

Bildung

Das Recht auf Bildung wurde den Frauen nach dem Fall der Taliban im Jahr 2001 eingeräumt (BFA Staatendokumentation 3.7.2014). Laut Verfassung haben alle afghanischen Staatsbürger/innen das Recht auf Bildung (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. MPI 27.1.2004). Öffentliche Kindergärten und Schulen sind bis zur Hochschulebene kostenlos. Private Bildungseinrichtungen und Universitäten sind kostenpflichtig. Aufgeschlossene und gebildete Afghanen, welche die finanziellen Mittel haben, schicken ihre Familien ins Ausland, damit sie dort leben und eine Ausbildung genießen können (z.B. in die Türkei); während die Familienväter oftmals in Afghanistan zurückbleiben (BFA Staatendokumentation 4.2018).

Eine der Herausforderungen für alle in Afghanistan tätigen Organisationen ist der Zugang zu jenen Gegenden, die außerhalb der Reichweite öffentlicher Bildung liegen. Der Bildungsstand der Kinder in solchen Gegenden ist unbekannt und Regierungsprogramme sind für sie unzugänglich; speziell, wenn die einzigen verfügbaren Bildungsstätten Madrassen sind (BFA Staatendokumentation 4.2018).

In den Jahren 2016 und 2017 wurden durch den United Nations Children's Fund (UNICEF) mit Unterstützung der United States Agency for International Development (USAID) landesweit 4.055 Dorfschulen errichtet - damit kann die Bildung von mehr als 119.000 Kindern in ländlichen Gebieten sichergestellt werden, darunter mehr als 58.000 Mädchen. Weitere 2.437 Ausbildungszentren in Afghanistan wurden mit Unterstützung von USAID errichtet, etwa für Personen, die ihre Ausbildung in frühen Bildungsjahren unterbrechen mussten. Mehr als 49.000 Student/innen sind in diesen Ausbildungszentren eingeschrieben (davon mehr als 23.000 Mädchen). USAID hat mehr als 154.000 Lehrer ausgebildet (davon mehr als 54.000 Lehrerinnen) sowie 17.000 Schuldirektoren bzw. Schulverwalter (mehr als 3.000 davon Frauen) (USAID 10.10.2017).

Sowohl Männer als auch Frauen schließen Hochschulstudien ab - derzeit sind etwa 300.000 Student/innen an afghanischen Hochschulen eingeschrieben - darunter 100.000 Frauen (USAID 10.10.2017).

Dem afghanischen Statistikbüro (CSO) zufolge gab es im Zeitraum 2016-2017 in den landesweit 16.049 Schulen, insgesamt 8.868.122 Schüler, davon waren 3.418.877 weiblich. Diese Zahlen beziehen sich auf Schüler/innen der Volks- und Mittelschulen, Abendschulen, Berufsschulen, Lehrerausbildungszentren sowie Religionsschulen. Im Vergleich mit den Zahlen aus dem Zeitraum 2015-2016 hat sich die Anzahl der Studentinnen um 5,8% verringert (CSO 2017). Die Gesamtzahl der Lehrer für den Zeitraum 2016-2017 betrug 197.160, davon waren 64.271 Frauen. Insgesamt existieren neun medizinische Fakultäten, an diesen sind 342.043 Studierende eingeschrieben, davon

77.909 weiblich. Verglichen mit dem Zeitraum 2015-2016 hat sich die Anzahl der Frauen um 18.7% erhöht (CSO 2017).

Im Mai 2016 eröffnete in Kabul die erste Privatuniversität für Frauen im Moraa Educational Complex, mit dazugehörendem Kindergarten und Schule für Kinder der Studentinnen. Die Universität bietet unter anderem Lehrveranstaltungen für Medizin, Geburtshilfe etc. an. (TE 13.8.2016; vgl. MORAA 31.5.2016). Im Jahr 2017 wurde ein Programm ins Leben gerufen, bei dem 70 Mädchen aus Waisenhäusern in Afghanistan, die Gelegenheit bekommen ihre höhere Bildung an der Moraa Universität genießen zu können (Tolonews 17.8.2017).

Im Herbst 2015 eröffnete an der Universität Kabul der Masterlehrgang für "Frauen- und Genderstudies" (KP 18.10.2015; vgl. UNDP 10.7.2016). Im Jahr 2017 haben die ersten Absolvent/innen des Masterprogramms den Lehrgang abgeschlossen: 15 Frauen und sieben Männer, haben sich in ihrem Studium zu Aspekten der Geschlechtergleichstellung und Frauenrechte ausbilden lassen; dazu zählen Bereiche wie der Rechtsschutz, die Rolle von Frauen bei der Armutsbekämpfung, Konfliktschlichtung etc. (UNDP 7.11.2017).

Berufstätigkeit

Berufstätige Frauen sind oft Ziel von sexueller Belästigung durch ihre männlichen Kollegen. Die Akzeptanz der Berufstätigkeit von Frauen variiert je nach Region und ethnischer bzw. Stammeszugehörigkeit (AA 5.2018). Aus einer Umfrage der Asia Foundation (AF) aus dem Jahr 2017 geht hervor, dass die Akzeptanz der Berufstätigkeit von Frauen außerhalb des Hauses unter den Hazara 82,5% beträgt und am höchsten ist. Es folgen die Usbeken (77,2%), die Tadschiken (75,5%) und die Paschtunen (63,4%). In der zentralen Region bzw. Hazarajat tragen 52,6% der Frauen zum Haushaltseinkommen bei, während es im Südwesten nur 12% sind. Insgesamt sind 72,4% der befragten Afghanen und Afghaninnen der Meinung, dass Frauen außerhalb ihres Hauses arbeiten sollen (AF 11.2017). Die Erwerbstätigkeit von Frauen hat sich seit dem Jahr 2001 stetig erhöht und betrug im Jahr 2016 19%. Frauen sind dennoch einer Vielzahl von Hindernissen ausgesetzt; dazu zählen Belästigung, Diskriminierung und Gewalt, aber auch praktische Hürden, wie z.B. fehlende Arbeitserfahrung, Fachkenntnisse und (Aus)Bildung (UNW o. D.).

Nichtsdestotrotz arbeiten viele afghanische Frauen grundlegend an der Veränderung patriarchaler Einstellungen mit. Viele von ihnen partizipieren an der afghanischen Zivilgesellschaft oder arbeiten im Dienstleistungssektor. Aber noch immer halten soziale und wirtschaftliche Hindernisse (Unsicherheit, hartnäckige soziale Normen, Analphabetismus, fehlende Arbeitsmöglichkeiten und mangelnder Zugang zu Märkten) viele afghanische Frauen davon ab, ihr volles Potential auszuschöpfen (BFA Staatendokumentation 4.2018).

Die Einstellung gegenüber der Berufstätigkeit von Frauen hat sich in Afghanistan in den letzten Jahren geändert; dies hängt auch mit den NGOs und den privaten Firmen zusammen, die in Afghanistan aktiv sind. Die städtische Bevölkerung hat kaum ein Problem mit der Berufstätigkeit ihrer Ehefrauen oder Töchter. Davor war der Widerstand gegen arbeitende Frauen groß und wurde damit begründet, dass ein Arbeitsplatz ein schlechtes Umfeld für Frauen darstelle, etc. In den meisten ländlichen Gemeinschaften sind konservative Einstellungen nach wie vor präsent und afghanische Frauen sehen sich immer noch Hindernissen ausgesetzt, wenn es um Arbeit außerhalb ihres Heimes geht. Im ländlichen Afghanistan gehen viele Frauen, aus Furcht vor sozialer Ächtung, keiner Arbeit außerhalb des Hauses nach (BFA Staatendokumentation 4.2018).

Das Gesetz sieht zwar die Gleichstellung von Mann und Frau im Beruf vor, jedoch beinhaltet es keine egalitären Zahlungsvorschriften bei gleicher Arbeit. Das Gesetz kriminalisiert Eingriffe in das Recht auf Arbeit der Frauen; dennoch werden diese beim Zugang zu Beschäftigung und Anstellungsbedingungen diskriminiert (USDOS 20.4.2018).

Dennoch hat in Afghanistan aufgrund vieler Sensibilisierungsprogramme sowie Projekte zu Kapazitätsaufbau und Geschlechtergleichheit ein landesweiter Wandel stattgefunden, wie Frauen ihre Rolle in- und außerhalb des Hauses sehen. Immer mehr Frauen werden sich ihrer Möglichkeiten und Chancen bewusst. Sie beginnen auch wirtschaftliche Macht zu erlangen, indem eine wachsende Zahl Teil der Erwerbsbevölkerung wird - in den Städten mehr als in den ländlichen Gebieten. Frauen als Ernährerinnen mit Verantwortung für die gesamte Familie während ihr Mann arbeitslos ist, sind keine Seltenheit mehr. Mittlerweile existieren in Afghanistan oft mehr Arbeitsmöglichkeiten für Frauen als für Männer, da Arbeitsstellen für letztere oftmals schon besetzt sind. In und um Kabul eröffnen laufend neue Restaurants, die entweder von Frauen geführt werden oder in ihrem Besitz sind. Der Dienstleistungssektor ist zwar von Männern dominiert, dennoch arbeitet eine kleine, aber nicht unwesentliche Anzahl afghanischer Frauen in diesem Sektor und erledigt damit Arbeiten, die bis vor zehn Jahren für Frauen noch als unangebracht angesehen wurden (und teilweise heute noch werden). Auch soll die Anzahl der Mitarbeiterinnen im Finanzsektor erhöht werden. In Kabul zum Beispiel eröffnete im Sommer 2017 eine Filiale der First MicroFinance Bank, Afghanistan (FMFB-A), die nur für Frauen gedacht ist und nur von diesen betrieben wird. Diese Initiative soll es Frauen ermöglichen, ihre Finanzen in einer sicheren und fördernden Umgebung zu verwalten, um soziale und kulturelle Hindernisse, die ihrem wirtschaftlichen Empowerment im Wege stehen, zu überwinden. Geplant sind zwei weitere Filialen in Mazar-e Sharif bis 2019. In Kabul gibt es eine weitere Bank, die - ausschließlich von Frauen betrieben - hauptsächlich für Frauen da ist (BFA Staatendokumentation 4.2018).

Eine Position in der Öffentlichkeit ist für Frauen in Afghanistan noch immer keine Selbstverständlichkeit. Dass etwa der afghanische Präsident dies seiner Ehefrau zugesteht, ist Zeichen des Fortschritts. Frauen in öffentlichen bzw. semi-öffentlichen Positionen sehen sich deshalb durchaus in einer gewissen Vorbildfunktion. So polarisiert die Talent-Show "Afghan Star" zwar einerseits das Land wegen ihrer weiblichen Teilnehmer und für viele Familien ist es inakzeptabel, ihre Töchter vor den Augen der Öffentlichkeit singen oder tanzen zu lassen. Dennoch gehört die Sendung zu den populärsten des Landes (BFA Staatendokumentation 4.2018).

Politische Partizipation und Öffentlichkeit

Die politische Partizipation von Frauen ist rechtlich verankert und hat sich deutlich verbessert. So sieht die afghanische Verfassung Frauenquoten für das Zweikammerparlament vor: Ein Drittel der 102 Sitze im Oberhaus (Meshrano Jirga) werden durch den Präsidenten vergeben; die Hälfte davon ist gemäß Verfassung für Frauen bestimmt (AA 9.2016; vgl. USDOS 20.4.2018). Zurzeit sind 18 Senatorinnen in der Meshrano Jirga vertreten. Im Unterhaus (Wolesi Jirga) sind 64 der 249 Sitze für Parlamentarierinnen reserviert; derzeit sind 67 Frauen Mitglied des Unterhauses. Das per Präsidialdekret erlassene Wahlgesetz sieht eine Frauenquote von min. 25% in den Provinzräten vor. Zudem sind min. zwei von sieben Sitzen in der einflussreichen Wahlkommission (Indpendent Electoral Commission, IEC) für Frauen vorgesehen. Die afghanische Regierung veröffentlichte im Jänner 2018 einen Strategieplan zur Erhöhung des Frauenanteils im öffentlichen Dienst um 2% für das Jahr 2018 (AA 5.2018). Drei Afghaninnen sind zu Botschafterinnen ernannt worden (UNW o.D.). Im Winter 2017 wurde mit Khojesta Fana Ebrahimkhel eine weitere Frau zur afghanischen Botschafterin (in Österreich) ernannt (APA 5.12.2017). Dennoch sehen sich Frauen, die in Regierungspositionen und in der Politik aktiv sind, weiterhin mit Bedrohungen und Gewalt konfrontiert und sind Ziele von Angriffen der Taliban und anderer aufständischer Gruppen. Traditionelle gesellschaftliche Praktiken schränken die Teilnahme der Frauen am politischen Geschehen und Aktivitäten außerhalb des Hauses und der Gemeinschaft weiterhin ein. Der Bedarf einer männlichen Begleitung bzw. einer Arbeitserlaubnis ist weiterhin gängig. Diese Faktoren sowie ein Mangel an Bildung und Arbeitserfahrung haben wahrscheinlich zu einer männlich dominierten Zusammensetzung der Zentralregierung beigetragen (USDOS 20.4.2018).

Informationen zu Frauen in NGOs, den Medien und den afghanischen Sicherheitskräften können den Kapiteln 8. "NGOs und Menschenrechtsaktivisten", 11. "Meinungs- und Pressefreiheit" und 5. "Sicherheitsbehörden" entnommen werden; Anmerkung der Staatendokumentation.

Strafverfolgung und rechtliche Unterstützung

Afghanistan verpflichtet sich in seiner Verfassung durch die Ratifizierung internationaler Konventionen und durch nationale Gesetze, die Gleichberechtigung und Rechte der Frauen zu achten und zu stärken. In der Praxis mangelt es jedoch oftmals an der praktischen Umsetzung dieser Rechte (AA 5.2018; vgl. MPI 27.1.2004). Viele Frauen sind sich ihrer in der Verfassung garantierten und auch gewisser vom Islam vorgegebener, Rechte nicht bewusst. Eine Verteidigung ihrer Rechte ist in einem Land, in dem die Justiz stark konservativ-traditionell geprägt und überwiegend von männlichen Richtern oder traditionellen Stammesstrukturen bestimmt wird, nur in eingeschränktem Maße möglich (AA 5.2018; vgl. USDOS 20.4.2018). Staatliche Akteure aller drei Gewalten sind häufig nicht in der Lage oder auf Grund tradierter Wertevorstellungen nicht gewillt, Frauenrechte zu schützen. Gesetze zum Schutz und zur Förderung der Rechte von Frauen werden nur langsam umgesetzt. Das Personenstandsgesetz enthält diskriminierende Vorschriften für Frauen, insbesondere in Bezug auf Heirat, Erbschaft und Beschränkung der Bewegungsfreiheit (AA 9.2016).

Viele Gewaltfälle gelangen nicht vor Gericht, sondern werden durch Mediation oder Verweis auf traditionelle Streitbeilegungsformen (Schuren und Jirgas) verhandelt. Traditionelle Streitbeilegung führt oft dazu, dass Frauen ihre Rechte, sowohl im Strafrecht als auch im zivilrechtlichen Bereich wie z. B. im Erbrecht, nicht gesetzeskonform zugesprochen werden. Viele Frauen werden darauf verwiesen, den "Familienfrieden" durch Rückkehr zu ihrem Ehemann wiederherzustellen (AA 5.2018). Andere Frauen, die nicht zu ihren Familien zurückkehren können, erhalten in einigen Fällen Unterstützung vom Ministerium für Frauenangelegenheiten und Nichtregierungsinstitutionen, indem Ehen für diese arrangiert werden (USDOS 20.4.2018). Eine erhöhte Sensibilisierung seitens der afghanischen Polizei und Justiz führt zu einer sich langsam, aber stetig verbessernden Lage der Frauen in Afghanistan. Insbesondere die Schaffung von auf Frauen spezialisierte Staatsanwaltschaften in einigen Provinzen hatte positive Auswirkungen (AA 9.2016). Um Frauen und Kindern, die Opfer von häuslicher Gewalt wurden, beizustehen, hat das Innenministerium (MoI) landesweit Family Response Units (FRU) eingerichtet. Die FRU sind mit Fachleuten wie Psychologen und Sozialarbeitern besetzt, welche die Opfer befragen und aufklären und ihre physische sowie psychische medizinische Behandlung nachverfolgen. Im Jahr 2017 existierten 208 FRU im Land (USDOD 12.2017).

EVAW-Gesetz

Das Law on Elimination of Violence against Women (EVAW-Gesetz) wurde durch ein Präsidialdekret im Jahr 2009 eingeführt und ist eine wichtige Grundlage für den Kampf gegen Gewalt gegen Frauen - inklusive der weit verbreiteten häuslichen Gewalt (AA 5.2018). Das EVAW-Gesetz ist nach wie vor in seiner Form als eigenständiges Gesetz gültig (Pajhwok 11.11.2017; vgl. UNN 22.2.2018); und bietet rechtlichen Schutz für Frauen (UNAMA 22.2.2018).

Das EVAW-Gesetz definiert fünf schwere Straftaten gegen Frauen:

Vergewaltigung, Zwangsprostitution, die Bekanntgabe der Identität eines Opfers, Verbrennung oder Verwendung von chemischen Substanzen und erzwungene Selbstverbrennung oder erzwungener Selbstmord. Dem EVAW-Gesetz zufolge muss der Staat genannte Verbrechen untersuchen und verfolgen, auch, wenn die Frau die Beschwerde nicht einreichen kann bzw. diese zurückzieht. Dieselben Taten werden auch im neuen afghanischen Strafgesetzbuch kriminalisiert (UNAMA/OHCHR 5.2018). Das EVAW-Gesetz wird jedoch weiterhin nur unzureichend umgesetzt. Frauen können sich grundsätzlich, abgesehen von großen Städten wie Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif nicht ohne einen männlichen Begleiter in der Öffentlichkeit bewegen. Es gelten strenge soziale Anforderungen an ihr äußeres Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit, deren Einhaltung sie jedoch nicht zuverlässig vor sexueller Belästigung schützt (AA 5.2018).

Frauenhäuser

Nichtregierungsorganisation in Afghanistan betreiben etwa 40 Frauenhäuser, zu denen auch Rechtsschutzbüros und andere Einrichtungen für Frauen, die vor Gewalt fliehen, zählen. Alle Einrichtungen sind auf Spenden internationaler Gruppen angewiesen - diese Einrichtungen werden zwar im Einklang mit dem afghanischen Gesetz betrieben, stehen aber im Widerspruch zur patriarchalen Kultur in Afghanistan. Oftmals versuchen Väter ihre Töchter aus den Frauenhäusern zu holen und sie in Beziehungen zurückzudrängen, aus denen sie geflohen sind, oder Ehen mit älteren Männern oder den Vergewaltigern zu arrangieren (NYT 17.3.2018). Die EVAW-Institutionen und andere Einrichtungen, die Gewaltmeldungen annehmen und für die Schlichtung zuständig sind, bringen die Gewaltopfer während des Verfahrens oft in Schutzhäuser (z. B. Frauenhäuser) (UNAMA/OHCHR 5.2018).

Weibliche Opfer von häuslicher Gewalt, Vergewaltigung oder Zwangsehe sind meist auf Schutzmöglichkeiten außerhalb der Familie angewiesen, da die Familie oft für die Notlage (mit-)verantwortlich ist. Landesweit gibt es in den großen Städten Frauenhäuser, deren Angebot sehr oft in Anspruch genommen wird. Manche Frauen finden vorübergehend Zuflucht, andere wiederum verbringen dort viele Jahre (AA 5.2018). Die Frauenhäuser sind in der afghanischen Gesellschaft höchst umstritten, da immer wieder Gerüchte gestreut werden, diese Häuser seien Orte für unmoralische Handlungen und die Frauen in Wahrheit Prostituierte (AA 5.2018; vgl. NYT 17.3.2018). Sind Frauen erst einmal im Frauenhaus untergekommen, ist es für sie sehr schwer, danach wieder in ein Leben außerhalb zurückzufinden. Das Schicksal von Frauen, die auf Dauer weder zu ihren Familien noch zu ihren Ehemännern zurückkehren können, ist bisher ohne Perspektive. Für diese erste "Generation" von Frauen, die sich seit Ende der Taliban-Herrschaft in

den Schutzeinrichtungen eingefunden haben, hat man in Afghanistan bisher keine Lösung gefunden. Generell ist in Afghanistan das Prinzip eines individuellen Lebens weitgehend unbekannt. Auch unverheiratete Erwachsene leben in der Regel im Familienverband. Für Frauen ist ein alleinstehendes Leben außerhalb des Familienverbandes kaum möglich und wird gemeinhin als unvorstellbar oder gänzlich unbekannt beschrieben (AA 5.2018). Die EVAW-Institutionen konsultieren in der Regel die Familie und das Opfer, bevor sie es in ein Frauenhaus bringen (UNAMA/OHCHR 5.2018).

Gewalt gegen Frauen: Vergewaltigung, Ehrenverbrechen und Zwangsverheiratung

Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt ist weit verbreitet und kaum dokumentiert. Gewalttaten gegen Frauen und Mädchen finden zu über 90% innerhalb der Familienstrukturen statt. Die Gewalttaten reichen von Körperverletzung und Misshandlung über Zwangsehen bis hin zu Vergewaltigung und Mord (AA 5.2018). Zu geschlechtsspezifischer und sexueller Gewalt zählen außerdem noch die Praxis der badal-Hochzeiten (Frauen und Mädchen, die im Rahmen von Heiratsabmachungen zwischen Familien getauscht werden, Anm.) bzw. des ba'ad (Mädchen, die zur Konfliktlösung abgegeben werden, Anm.) (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. TD 4.12.2017). Dem Bericht der AIHRC zufolge wurden für das Jahr 2017 4.340 Fälle von Gewalt gegen Frauen registriert. Die Anzahl der gemeldeten Gewaltvorfälle und der Gewaltopfer steigt (AIHRC 11.3.2018).

Soziale Medien in Afghanistan haben Frauen und Mädchen neue Möglichkeiten eröffnet, um ihr Schicksal zu teilen. In den Medien ist der Kampf afghanischer Frauen, Mädchen und Buben gegen geschlechtsspezifische und sexuelle Gewalt in all ihren Formen tiefgründig dokumentiert. Die afghanische Regierung hat anerkannt, dass geschlechtsspezifische Gewalt ein Problem ist und eliminiert werden muss. Das soll mit Mitteln der Rechtsstaatlichkeit und angemessenen Vollzugsmechanismen geschehen. Zu diesen zählen das in Afghanistan eingeführte EVAW-Gesetz zur Eliminierung von Gewalt an Frauen, die Errichtung der EVAW-Kommission auf nationaler und lokaler Ebene und die EVAW-Strafverfolgungseinheiten. Auch wurden Schutzzentren für Frauen errichtet und die Rekrutierung von Frauen in der Polizei verstärkt. Mittlerweile existieren für Frauen 205 Spezialeinsatzeinheiten, die hauptsächlich von weiblichen Mitarbeiterinnen der afghanischen Nationalpolizei geleitet werden (BFA Staatendokumentation 4.2018).

Legales Heiratsalter:

Das Zivilgesetz Afghanistans definiert für Mädchen 16 Jahre (15 Jahre, wenn dies von einem Elternteil bzw. einem Vormund und dem Gericht erlaubt wird) und für Burschen 18 Jahre als das legale Mindestalter für Vermählungen (USDOS 20.4.2018; vgl. AA 5.2018). Dem Gesetz zufolge muss vor dem Ehevertrag das Alter der Braut festgestellt werden. Nur ein kleiner Teil der Bevölkerung besitzt Geburtsurkunden. Quellen zufolge ist die frühe Heirat weiterhin verbreitet. Gemäß dem EVAW-Gesetz werden Personen, die Zwangsehen bzw. Frühverheiratung arrangieren, für mindestens zwei Jahre inhaftiert; dennoch hält sich die Umsetzung dieses Gesetzes in Grenzen (USDOS 20.4.2018). Im Rahmen von Traditionen geben arme Familien ihre Mädchen im Gegenzug für "Brautgeld" zur Heirat frei, wenngleich diese Praxis in Afghanistan illegal ist. Lokalen NGOs zufolge, werden manche Mädchen im Alter von sechs oder sieben Jahren zur Heirat versprochen - unter der Voraussetzung, die Ehe würde bis zum Erreichen der Pubertät nicht stattfinden. Berichte deuten an, dass diese "Aufschiebung" eher selten eingehalten wird. Medienberichten zufolge existiert auch das sogenannte "Opium-Braut-Phänomen", dabei verheiraten Bauern ihre Töchter, um Schulden bei Drogenschmugglern zu begleichen (USDOS 3.3.2017).

Familienplanung und Verhütung

Das Recht auf Familienplanung wird von wenigen Frauen genutzt. Auch wenn der weit überwiegende Teil der afghanischen Frauen Kenntnisse über Verhütungsmethoden hat, nutzen nur etwa 22% (überwiegend in den Städten und gebildeteren Schichten) die entsprechenden Möglichkeiten (AA 5.2018). Ohne Diskriminierung, Gewalt und Nötigung durch die Regierung steht es Paaren frei, ihren Kinderwunsch nach ihrem Zeitplan, Anzahl der Kinder usw. zu verwirklichen. Es sind u.a. die Familie und die Gemeinschaft, die Druck auf Paare zur Reproduktion ausüben (USDOS 3.3.2017). Auch existieren keine Berichte zu Zwangsabtreibungen, unfreiwilliger Sterilisation oder anderen zwangsverabreichten Verhütungsmitteln zur Geburtenkontrolle (USDOS 20.4.2018). Viele Frauen gebären Kinder bereits in sehr jungem Alter (AA 5.2018; vgl. USDOS 3.3.2017).

Orale Empfängnisverhütungsmittel, Intrauterinpessare, injizierbare Verhütungsmethoden und Kondome sind erhältlich; diese werden kostenfrei in öffentlichen Gesundheitskliniken und zu subventionierten Preisen in Privatkliniken und durch Community Health Workers (CHW) zur Verfügung gestellt (USDOS 3.3.2017).

Ehrenmorde

Ehrenmorde an Frauen werden typischerweise von einem männlichen Familien- oder Stammesmitglied verübt (BFA Staatendokumentation 3.7.2014) und kommen auch weiterhin vor (USDOS 3.3.2017). Laut AIHRC waren von 277 Mordfällen an Frauen im Jahr 2017 136 Eherenmorde (AIHRC 11.3.2018; vgl. Tolonews 11.3.2018).

Afghanische Expert/innen sind der Meinung, dass die Zahl der Mordfälle an Frauen und Mädchen viel höher ist, da sie normalerweise nicht zur Anzeige gebracht werden. Der Grund dafür ist das Misstrauen eines Großteils der afghanischen Bevölkerung in das juristische System (KP 23.3.2016).

Reisefreiheit

Es existieren gewisse Sicherheitsbedenken, wenn Frauen alleine reisen: Manchmal ist es der Vater, der seiner Tochter nicht erlaubt alleine zu reisen und manchmal ist es die Frau selbst, die nicht alleine reisen will. In vielen Firmen, öffentlichen Institutionen sowie NGOs ist die Meinung verbreitet, dass Frauen nicht alleine in die Distrikte reisen sollten und es daher besser sei einen Mann anzustellen. Doch hat sich die Situation wesentlich verbessert. So kann nach eigener Aussage eine NGO-Vertreterin selbst in unsichere Gegenden reisen, solange sie sich dabei an die örtlichen Gegebenheiten hält, also lokale Kleidungsvorschriften einhält (z. B. tragen einer Burqa) und sie die lokale Sprache kennt (BFA Staatendokumentation 4.2018).

Während früherer Regierungen (vor den Taliban) war das Tragen des Chador bzw. des Hijab nicht verpflichtend - eine Frau konnte auch ohne sie außer Haus gehen, ohne dabei mit negativen Konsequenzen rechnen zu müssen. In der Stadt Mazar-e Sharif wird das Tragen des Hijab heute nicht so streng gehandhabt, wie in den umliegenden Gegenden. Andere Provinzen sind bei diesem Thema viel strenger. In Mazar-e Sharif könnte es in Einzelfällen sogar möglich sein, ganz auf den Hijab zu verzichten, ohne behelligt zu werden. Garantie besteht darauf natürlich keine (BFA Staatendokumentation 4.2018).

Frauen in Afghanistan ist es zwar nicht verboten Auto zu fahren, dennoch tun dies nur wenige. In unzähligen afghanischen Städten und Dörfern, werden Frauen hinter dem Steuer angefeindet etwa von Gemeindevorständen, Talibansympathisanten oder gar Familienmitgliedern. Viele Eltern unterstützen zwar grundsätzlich die Idee ihren Töchtern das Autofahren zu erlauben, haben jedoch Angst vor öffentlichen Repressalien. Die Hauptstadt Kabul ist landesweit einer der wenigen Orte, wo autofahrende Frauen zu sehen sind. In Kabul sowie in den Städten Mazar-e Sharif, Herat und Jalalabad gibt es einige Fahrschulen; in Kabul sogar mehr als 20 Stück. An ihnen sind sowohl Frauen als auch Männer eingeschrieben. In Kandahar zum Beispiel sind Frauen generell nur selten alleine außer Haus zu sehen - noch seltener als Lenkerin eines Fahrzeugs. Jene, die dennoch fahren, haben verschiedene Strategien um ihre Sicherheit zu gewährleisten. Manche tragen dabei einen Niqab, um unerkannt zu bleiben (BFA Staatendokumentation 4.2018).

Weibliche Genitalverstümmelung ist in Afghanistan nicht üblich (AA 5.2018).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (9.2016): Bericht über asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, https://www.ecoi.net/en/file/local/1253781/4598_1478857553_3-deutschland-auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-islamischen-republik-afghanistan-19-10-2016.pdf, Zugriff 11.5.2018

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Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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