TE Bvwg Erkenntnis 2018/8/24 W265 2179781-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 24.08.2018
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Entscheidungsdatum

24.08.2018

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §54 Abs1 Z2
AsylG 2005 §55 Abs2
AsylG 2005 §58 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
BFA-VG §9
B-VG Art.133 Abs4

Spruch

W265 2179784-1/15E

W265 2179781-1/13E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Karin RETTENHABER-LAGLER als Einzelrichterin über die Beschwerden von

1. XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan,

2. XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan,

beide bevollmächtigt vertreten durch XXXX , jeweils gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom

1. XXXX , Zl. XXXX ,

2. XXXX , Zl. XXXX ,

nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

1.

I. Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 der Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigte bis zum 24.08.2019 erteilt.

2.

I. Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I. und II. des angefochtenen Bescheides als unbegründet abgewiesen.

II. In Erledigung der Beschwerde wird festgestellt, dass gemäß § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan auf Dauer unzulässig ist, und XXXX der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung" für die Dauer von zwölf Monaten erteilt wird.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer, Mutter und (bereits zum Zeitpunkt der Einreise volljähriger) Sohn und beide afghanische Staatsangehörige, reisten illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellten am 04.02.2016 den jeweils gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Am selben Tag fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung der Erstbeschwerdeführerin und des Zweitbeschwerdeführers statt. Dabei gab die Erstbeschwerdeführerin u.a. an, afghanische Staatsangehörige, in der Provinz Parwan in Afghanistan geboren und Angehörige der Volksgruppe der Hazara zu sein. Befragt dazu, warum sie ihr Land verlassen habe, gab die Erstbeschwerdeführerin an, ihr Sohn sei 13 Jahre alt gewesen, als ihr Ehemann und ihr Schwiegervater wegen Grundstücksstreitigkeiten im Zuge einer Auseinandersetzung mit den Feinden getötet worden seien. Danach sei sie mit ihrem Sohn in den Iran geflohen, wo sie die letzten 14 Jahre gelebt hätten. Im Iran sei ihr Sohn vier Mal von der Polizei festgenommen und nach Afghanistan abgeschoben worden. Sie hätten keine Dokumente gehabt und die finanzielle Lage sei schlecht gewesen. Deshalb seien sie nach Österreich gekommen. Der Zweitbeschwerdeführer gab zu seinen Fluchtgründen befragt an, sie hätten Afghanistan verlassen, weil sein Vater und sein Großvater wegen Grundstücksstreitigkeiten getötet worden seien. Seine Mutter sei mit ihm in den Iran geflohen. Den Iran hätten sie verlassen müssen, da sie keine Aufenthaltsdokumente gehabt hätten. Folglich sei er vier Mal nach Afghanistan abgeschoben worden. Er habe keine Schule besuchen dürfen, ebenso wenig habe er eine fixe Arbeit gehabt.

3. Am 03.11.2017 wurden die Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl niederschriftlich einvernommen. Zu ihrem Gesundheitszustand führte die Erstbeschwerdeführerin aus, sie habe seit zehn Jahren starke Kopfschmerzen. Vor zwei Monaten sei sie am Auge operiert worden. Sie habe auch Hüftschmerzen und leide unter Bluthochdruck. Dazu brachte sie aktuelle medizinische Befunde in Vorlage.

Hinsichtlich ihres Fluchtgrundes führte die Erstbeschwerdeführerin zusammengefasst aus, dass ihr Ehemann und ihr Schwiegervater aufgrund von Grundstückstreitigkeiten von den Cousins väterlicherseits ermordet worden seien. Sie habe die Leichen auf dem Grundstück gesehen, nachdem sie vom Nachbar über den Streit informiert worden sei. Dabei habe sie einen Schlag auf den Hinterkopf erhalten. Beim Nachbarn habe sie wieder das Bewusstsein erlangt. Der Nachbar habe ihren Sohn von der Koranschule abgeholt, und sodann hätten sie mit Hilfe des Nachbarn die Flucht ergriffen.

Der Zweitbeschwerdeführer führte hinsichtlich seines Fluchtgrundes aus, dass seine Cousins seinen Vater und seinen Großvater aufgrund von Grundstückstreitigkeiten umgebracht hätten. Sein Vater oder sein Großvater hätten den Cousin seines Vaters getötet, daraufhin seien sein Vater und sein Großvater von den Cousins ermordet worden. Er habe keine persönlichen Wahrnehmungen, da er zum Zeitpunkt der Ermordungen in der Koranschule gewesen sei. Seine Mutter habe ihm davon berichtet. Unmittelbar danach hätten sie Afghanistan verlassen. Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan würde er umgebracht werden. Dies wisse er von Leuten, die von Afghanistan in den Iran gekommen seien.

4. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wies den jeweiligen Antrag der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz mit oben genannten Bescheiden bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) ab. Weiters wurde den Beschwerdeführern kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 erteilt, gegenüber den Beschwerdeführern gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung der Beschwerdeführer nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt III.). Schließlich sprach das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl aus, dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt IV).

5. Gegen den oben genannten Bescheid wurde Beschwerde erhoben, die am 07.12.2017 beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl einlangte und in der die Beschwerdeführer unrichtige Feststellungen, Mangelhaftigkeit des Verfahrens und unrichtige rechtliche Beurteilung relevierten und auszugsweise Berichte zur Sicherheitslage in Afghanistan sowie zur Situation von Hazara zitierten.

6. Am 01.02.2018 langten Integrationsunterlagen und ein medizinischer Befund betreffend die Erstbeschwerdeführerin ein.

7. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 25.06.2018 in den gemäß § 39 Abs. 2 AVG zur gemeinsamen Verhandlung verbundenen Beschwerdeverfahren betreffend die Erstbeschwerdeführerin und den Zweitbeschwerdeführer durch die erkennende Richterin in Anwesenheit einer Dolmetscherin für die Sprache Farsi sowie des Rechtsvertreters eine öffentliche mündliche Verhandlung durch. Die Beschwerdeführer wurde ausführlich zu ihren Fluchtgründen, zu ihren persönlichen Umständen im Herkunftsstaat sowie zu ihrer Integration in Österreich befragt. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl nahm an der Verhandlung nicht teil. Die Verhandlungsniederschrift wurde der Erstbehörde übermittelt.

8. Zu dem in der mündlichen Verhandlung ins Verfahren eingebrachten Länderberichtsmaterial gaben die Beschwerdeführer im Wege ihrer Vertretung eine schriftliche Stellungnahme ab, die am 16.07.2018 beim Bundesverwaltungsgericht einlangte.

9. Mit Eingabe vom 27.07.2018 wurden aktuelle medizinische Befunde betreffend die Erstbeschwerdeführerin vorgelegt. Vorgelegt wurden zwei Arztbriefe von XXXX vom 13.07.2018 und 11.06.2018, wonach bei der Erstbeschwerdeführerin eine chronische Cephalea und ein cerebrelläres Meningeom (Hirntumor) diagnostiziert wurden. Neben der Auflistung der notwendigen Medikation wurde auch das weitere Prozedere zur Abklärung bzw. zu weiterführenden Behandlung des Hirntumors dokumentiert.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage des erhobenen Antrages auf internationalen Schutz, der Erstbefragung und Einvernahme der Beschwerdeführer durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sowie des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, der Beschwerde gegen die im Spruch genannten Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, der im Verfahren vorgelegten Dokumente und Unterlagen, der Stellungnahme vom 16.07.2018, der Einsichtnahme in den Bezug habenden Verwaltungsakt, das Zentrale Melderegister, das Fremdeninformationssystem, das Strafregister und das Grundversorgungs-Informationssystem werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:

1.1. Zur Person der Beschwerdeführer:

Die Erstbeschwerdeführerin führt den Namen XXXX und ist am XXXX geboren. Sie ist afghanische Staatsangehörige, Angehörige der Volksgruppe der Hazara und schiitische Muslima.

Die Erstbeschwerdeführerin wurde im XXXX in der Provinz Parwan in Afghanistan geboren. Vor ihrer Weiterreise nach Europa lebte die BF1 14 Jahre im Iran. Die Erstbeschwerdeführerin reiste gemeinsam mit dem Zweitbeschwerdeführer unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und stellte am 04.02.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Die Erstbeschwerdeführerin verfügt weder über eine Schul- noch Berufsausbildung. In Afghanistan kümmerte sie sich um den Haushalt, die Kindererziehung und arbeitete in der Landwirtschaft mit. Im Iran verrichtete die Erstbeschwerdeführerin Tätigkeiten in der Landwirtschaft. Ihre Muttersprache ist Dari, sie spricht auch Farsi.

Der Ehemann der Erstbeschwerdeführerin ist vor ca. 17 Jahren verstorben. Die genauen Todesumstände konnten nicht festgestellt werden.

Die Familie der Erstbeschwerdeführerin besteht aus dem Zweitbeschwerdeführer und der Erstbeschwerdeführerin.

In Afghanistan leben zwei Cousins väterlicherseits ihres verstorbenen Ehemannes und dessen Söhne. Die Erstbeschwerdeführerin hat keinen Kontakt zu zuvor genannten Familienangehörigen in Afghanistan.

Die Erstbeschwerdeführerin ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

Der Zweitbeschwerdeführer führt den Namen XXXX und ist am XXXX geboren. Er ist afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und schiitischer Muslim.

Der Zweitbeschwerdeführer wurde in einem Dorf im XXXX in der Provinz Parwan geboren. Im Alter von 12 oder 13 Jahren verließ der Zweitbeschwerdeführer Afghanistan und zog mit der Erstbeschwerdeführerin in den Iran, wo er bis zu seiner Weiterreise nach Europa Anfang 2016 lebte. Der Zweitbeschwerdeführer hielt sich nach seiner Ausreise aus Afghanistan vor ca. 16 bzw. 17 Jahren nicht mehr in Afghanistan auf. Die Muttersprache des Zweitbeschwerdeführers ist Dari, er spricht auch Farsi.

Der Zweitbeschwerdeführer besuchte in Afghanistan für wenige Monate eine Koranschule. Der Zweitbeschwerdeführer kann nicht schreiben, aber ein wenig lesen. Der Zweitbeschwerdeführer verrichtete im Iran Tätigkeiten als Hilfsarbeiter am Bau, in der Landwirtschaft und in einer Glaserei.

In Afghanistan leben Verwandte väterlicherseits. Der Zweitbeschwerdeführer hat keinen Kontakt zu seinen Familienangehörigen im Herkunftsstaat. Der Zweitbeschwerdeführer verfügt in Afghanistan über keine sozialen und familiären Anknüpfungspunkte.

Der Zweitbeschwerdeführer leidet an Hepatitis B. Die Diagnose Hepatitis B schränkt den Zweitbeschwerdeführer im Alltag nicht ein. Er ist arbeitsfähig.

Der Zweitbeschwerdeführer ist ledig und hat keine Kinder.

Der Zweitbeschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

1.2. Zu den Fluchtgründen der Beschwerdeführer:

Das von den Beschwerdeführern dargelegte Fluchtvorbringen, sie würden im Fall der Rückkehr von den Verwandten väterlicherseits aufgrund eines Grundstückstreits verfolgt werden, kann nicht festgestellt werden.

Bei der Erstbeschwerdeführerin handelt es sich nicht um eine auf Eigenständigkeit bedachte Frau, die in ihrer persönlichen Wertehaltung und in ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als westlich bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist. Sie spricht kein Deutsch und kümmert sich in Österreich primär um den Haushalt, was sie auch bisher in Afghanistan (und im Iran) getan hat. Sie bedarf bei komplexeren Tätigkeiten einer Unterstützung durch ihren Sohn (den Zweitbeschwerdeführer) im Alltag. Sie trägt ein Kopftuch und ist zur Verhandlung mit Hose und einer langen Tunika erschienen.

Es kann weiters nicht festgestellt werden, dass den Beschwerdeführern wegen ihrer Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara oder zur schiitischen Religionsgemeinschaft in Afghanistan konkret und individuell physische und/oder psychische Gewalt durch die Taliban droht. Ebenso wenig kann festgestellt werden, dass jeder Angehörige der Volksgruppe der Hazara oder der schiitischen Religion in Afghanistan physischer und/oder psychischer Gewalt ausgesetzt ist.

Es kann nicht festgestellt werden, dass die Beschwerdeführer aufgrund der Tatsache, dass sie im Iran bzw. in Europa gelebt haben, konkret und individuell bzw. dass jedem afghanischen Rückkehrer aus dem Iran bzw. Europa physische und/oder psychische Gewalt in Afghanistan droht.

1.3. Zu einer möglichen Rückkehr der Beschwerdeführer in den Herkunftsstaat:

1.3.1. Bei Erstbeschwerdeführerin wurde ein cerebelläres Meningeom (Hirntumor) diagnostiziert und zudem leidet sie an chronischer Cephalea (Spannungskopfschmerz). Die Erstbeschwerdeführerin steht aufgrund des Hirntumors in einer engmaschigen medizinischen Versorgung und in ständiger ärztlicher Kontrolle. Das weitere Prozedere rund um den diagnostizierten Hirntumor ist in Abklärung, eine Operation in angedacht. Neben den zuvor genannten Diagnosen handelt es sich bei der Erstbeschwerdeführerin um eine betagte Frau im fortgeschrittenen Alter, bei der die grundsätzliche Teilnahme am Erwerbsleben nicht uneingeschränkt vorausgesetzt werden kann. Mangels eines sozialen und familiären Netzes in Afghanistan kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass die grundlegenden und notwendigen Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung und Unterkunft gesichert sind. Der Erstbeschwerdeführerin würde bei einer Rückkehr nach Afghanistan ein Eingriff in ihre körperliche Unversehrtheit drohen.

1.3.2. Dem Zweitbeschwerdeführer wurde bei einer Rückkehr in seiner Herkunftsprovinz in Afghanistan ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan und einer Ansiedlung außerhalb seiner Heimatprovinz, insbesondere in der Stadt Kabul, liefe der Zweitbeschwerdeführer nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.

1.4. Zur Gewährung des Aufenthaltstitels "Aufenthaltsberechtigung" des Zweitbeschwerdeführers

Die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer leben in einem gemeinsamen Haushalt. Die Erstbeschwerdeführerin, der Mutter des (bereits zum Zeitpunkt der Antragstellung volljährigen) Zweitbeschwerdeführers, wurde mit Erkenntnis vom selben Tag eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigte in der Dauer eines Jahres gewährt. Die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer führen in Österreich ein schützenswertes Familienleben. Die Erstbeschwerdeführerin benötigt aufgrund ihrer Erkrankungen und ihres fortgeschrittenen Alters die Unterstützung bzw. Hilfe ihres Sohnes (des Zweitbeschwerdeführers) im alltäglichen Leben sowie bei der Wahrnehmung ihrer Arzt- und Kontrolltermine. Der Zweitbeschwerdeführer ist um eine Integration in Österreich sehr bemüht. Er ist um die Vertiefung seiner Sprachkenntnisse auf dem Niveau A2 bemüht. Neben dem Besuch eines Deutschkurses an der XXXX , nimmt er auch an Sprachkursen an der XXXX teil. Samstags arbeitet der Zweitbeschwerdeführer ehrenamtlich beim Roten Kreuz mit. Der Zweitbeschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

Der Zweitbeschwerdeführer befindet sich in der laufenden Grundversorgung und erhält sich aktuell nicht selbst. Der Zweitbeschwerdeführer erfüllt das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 Integrationsgesetz nicht.

2. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Aufgrund der im Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat der Beschwerdeführer getroffen:

2.1. Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 02.03.2017, zuletzt aktualisiert am 30.01.2018 (Schreibfehler teilweise korrigiert):

Sicherheitslage:

Allgemeines:

Die Sicherheitslage ist beeinträchtigt durch eine tief verwurzelte militante Opposition. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädten und den Großteil der Distriktzentren. Die afghanischen Sicherheitskräfte zeigten Entschlossenheit und steigerten auch weiterhin ihre Leistungsfähigkeit im Kampf gegen den von den Taliban geführten Aufstand. Die Taliban kämpften weiterhin um Distriktzentren, bedrohten Provinzhauptstädte und eroberten landesweit kurzfristig Hauptkommunikationsrouten; speziell in Gegenden von Bedeutung wie z.B. Kunduz City und der Provinz Helmand (USDOD 12.2016). Zu Jahresende haben die afghanischen Sicherheitskräfte (ANDSF) Aufständische in Gegenden von Helmand, Uruzgan, Kandahar, Kunduz, Laghman, Zabul, Wardak und Faryab bekämpft.

In den letzten zwei Jahren hatten die Taliban kurzzeitig Fortschritte gemacht, wie z.B. in Helmand und Kunduz, nachdem die ISAF-Truppen die Sicherheitsverantwortung den afghanischen Sicherheits- und Verteidigungskräften (ANDSF) übergeben hatten. Die Taliban nutzen die Schwächen der ANDSF aus, wann immer sie Gelegenheit dazu haben. Der IS (Islamischer Staat) ist eine neue Form des Terrors im Namen des Islam, ähnlich der al-Qaida, auf zahlenmäßig niedrigerem Niveau, aber mit einem deutlich brutaleren Vorgehen. Die Gruppierung operierte ursprünglich im Osten entlang der afghanisch-pakistanischen Grenze und erscheint, Einzelberichten zufolge, auch im Nordosten und Nordwesten des Landes

Mit Stand September 2016, schätzen Unterstützungsmission der NATO, dass die Taliban rund 10% der Bevölkerung beeinflussen oder kontrollieren. Die afghanischen Verteidigungsstreitkräfte (ANDSF) waren im Allgemeinen in der Lage, große Bevölkerungszentren zu beschützen. Sie hielten die Taliban davon ab, Kontrolle in bestimmten Gegenden über einen längeren Zeitraum zu halten und reagierten auf Talibanangriffe. Den Taliban hingegen gelang es, ländliche Gegenden einzunehmen; sie kehrten in Gegenden zurück, die von den ANDSF bereits befreit worden waren, und in denen die ANDSF ihre Präsenz nicht halten konnten. Sie führten außerdem Angriffe durch, um das öffentliche Vertrauen in die Sicherheitskräfte der Regierung, und deren Fähigkeit, für Schutz zu sorgen, zu untergraben. Berichten zufolge hat sich die Anzahl direkter Schussangriffe der Taliban gegen Mitglieder der afghanischen Nationalarmee (ANA) und afghanischen Nationalpolizei (ANP) erhöht.

Einem Bericht des U.S. amerikanischen Pentagons zufolge haben die afghanischen Sicherheitskräfte Fortschritte gemacht, wenn auch keine dauerhaften. Laut Innenministerium wurden im Jahr 2016 im Zuge von militärischen Operationen - ausgeführt durch die Polizei und das Militär - landesweit mehr als 18.500 feindliche Kämpfer getötet und weitere 12.000 verletzt. Die afghanischen Sicherheitskräfte versprachen, sie würden auch während des harten Winters gegen die Taliban und den Islamischen Staat vorgehen. Obwohl die afghanischen Sicherheitskräfte alle Provinzhauptstädte sichern konnten, wurden sie von den Taliban landesweit herausgefordert: intensive bewaffnete Zusammenstöße zwischen Taliban und afghanischen Sicherheitskräften verschlechterten die Sicherheitslage im Berichtszeitraum (16.8.-17.11.2016). Den afghanischen Sicherheitskräften gelang es im August 2016, mehrere große Talibanangriffe auf verschiedene Provinzhauptstädte zu vereiteln und verlorenes Territorium rasch wieder zurückzuerobern.

Rebellengruppen:

Regierungsfeindliche Elemente versuchten weiterhin durch Bedrohungen, Entführungen und gezielten Tötungen ihren Einfluss zu verstärken. Im Berichtszeitraum wurden 183 Mordanschläge registriert, davon sind 27 gescheitert. Dies bedeutet einen Rückgang von 32% gegenüber dem Vergleichszeitraum im Jahr 2015. Rebellengruppen, inklusive hochrangiger Führer der Taliban und des Haqqani Netzwerkes, behielten ihre Rückzugsgebiete auf pakistanischem Territorium.Afghanistan ist mit einer Bedrohung durch militante Opposition und extremistischen Netzwerken konfrontiert; zu diesen zählen die Taliban, das Haqqani Netzwerk, und in geringerem Maße al-Qaida und andere Rebellengruppen und extremistische Gruppierungen. Die Vereinigten Staaten von Amerika unterstützen eine von Afghanen geführte und ausgehandelte Konfliktresolution in Afghanistan - gemeinsam mit internationalen Partnern sollen die Rahmenbedingungen für einen friedlichen politischen Vergleich zwischen afghanischer Regierung und Rebellengruppen geschaffen werden.

Zwangsrekrutierungen durch die Taliban, Milizen, Warlords oder kriminelle Banden sind nicht auszuschließen. Konkrete Fälle kommen jedoch aus Furcht vor Konsequenzen für die Rekrutierten oder ihren Familien kaum an die Öffentlichkeit.

Zivile Opfer:

Die Mission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) dokumentiert weiterhin regierungsfeindliche Elemente, die illegale und willkürliche Angriffe gegen Zivilist/innen ausführen. Zwischen

1.1. und 31.12.2016 registrierte UNAMA 11.418 zivile Opfer (3.498 Tote und 7.920 Verletzte) - dies deutet einen Rückgang von 2% bei Getöteten und eine Erhöhung um 6% bei Verletzten im Gegensatz zum Vergleichszeitraum des Jahres 2015 an. Bodenkonfrontation waren weiterhin die Hauptursache für zivile Opfer, gefolgt von Selbstmordangriffen und komplexen Attentaten, sowie unkonventionellen Spreng- und Brandvorrichtung (IED), und gezielter und willkürlicher Tötungen.

UNAMA verzeichnete 3.512 minderjährige Opfer (923 Kinder starben und 2.589 wurden verletzt) - eine Erhöhung von 24% gegenüber dem Vergleichszeitraum des Vorjahres; die höchste Zahl an minderjährigen Opfern seit Aufzeichnungsbeginn. Hauptursache waren Munitionsrückstände, deren Opfer meist Kinder waren. Im Jahr 2016 wurden 1.218 weibliche Opfer registriert (341 Tote und 877 Verletzte), dies deutet einen Rückgang von 2% gegenüber dem Vorjahr an.

Hauptsächlich waren die südlichen Regionen von dem bewaffneten Konflikt betroffen: 2.989 zivilen Opfern (1.056 Tote und 1.933 Verletzte) - eine Erhöhung von 17% gegenüber dem Jahr 2015. In den zentralen Regionen wurde die zweithöchste Rate an zivilen Opfern registriert: 2.348 zivile Opfer (534 Tote und 1.814 Verletzte) - eine Erhöhung von 34% gegenüber dem Vorjahreswert, aufgrund von Selbstmordangriffen und komplexen Angriffe auf die Stadt Kabul. Die östlichen und nordöstlichen Regionen verzeichneten einen Rückgang bei zivilen Opfern: 1.595 zivile Opfer (433 Tote und 1.162 Verletzte) im Osten und 1.270 zivile Opfer (382 Tote und 888 Verletzte) in den nordöstlichen Regionen. Im Norden des Landes wurden 1.362 zivile Opfer registriert (384 Tote und 978 Verletzte), sowie in den südöstlichen Regionen 903 zivile Opfer (340 Tote und 563 Verletzte). Im Westen wurden 836 zivile Opfer (344 Tote und 492 Verletzte) und 115 zivile Opfer (25 Tote und 90 Verletzte) im zentralen Hochgebirge registriert.

Laut UNAMA waren 61% aller zivilen Opfer regierungsfeindlichen Elementen zuzuschreiben (hauptsächlich Taliban), 24% regierungsfreundlichen Kräften (20% den afghanischen Sicherheitskräften, 2% bewaffneten regierungsfreundlichen Gruppen und 2% internationalen militärischen Kräften); Bodenkämpfen zwischen regierungsfreundlichen Kräften und regierungsfeindlichen Kräften waren Ursache für 10% ziviler Opfer, während 5% der zivilen Opfer vorwiegend durch Unfälle mit Munitionsrückständen bedingt waren.

Sicherheitslage in den einzelnen Provinzen:

Provinz Parwan:

Die strategisch bedeutsame Provinz Parwan liegt 64 km nördlich von Kabul. Die Provinz Parwan grenzt an die Provinzen (Maidan) Wardak, Bamyan, Baghlan, Panjshir und Kapisa. Charikar ist die Provinzhauptstadt, während Jabal Saraj, Salang, Sayed Khel, Shinwar, Syiah Gird, Shikh Ali, Ghorband und Shurk Parsa zu den restlichen Distrikten zählen. (Pajhwok o.D.ae). Die Bevölkerungszahl der Provinz wird auf 675.795 geschätzt (CSO 2016), und die der Provinzhauptstadt Charikar auf 57.746 (UN OCHA 26.8.2015). Rund 70% der Bevölkerung sind ethnische Tadschiken, 18% Pashtunen und 11% Hazara - Turkmenen kommen auf 1% (Vertrauliche Quelle 15.9.2015).

Ein Abschnitt der Autobahn Kabul-Parwan Highway verbindet die Provinz mit Kabul und weiter mit anderen Provinzen (Khaama Press 2.11.2015; vgl. auch: Kabul Tribune 26.6.2016; Bakhtar News)

Im Zeitraum 1.9.2015 - 31.5.2016 wurden in der Provinz Parwan 140 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert (EASO 11.2016).

Das Bagram Airfield liegt in der Provinz Parwan (VoA 1.2.2017; vgl. auch: LWJ 12.11.2016). Als eine der sichersten Einrichtungen in Afghanistan ist dieser Flughafen Ziel von high-profile Angriffen durch Taliban und andere Aufständische (LWJ 12.11.2016; vgl. auch:

Pajhwok 26.10.2016). Aktiv sind die Taliban unter anderem in dem abgelegenen Dorf Dara Saidan in der Provinz (Tolonews 10.12.2016).

Militärische Operationen werden in der Provinz durchgeführt (Khaama Press 12.12.2016; Khaama Press 24.4.2016). Zusammenstöße zwischen Sicherheitskräften und Taliban finden statt (Tolonews 3.1.2017; Pajhwok 29.10.2016).

Die Polizei hat in der Vergangenheit große Drogenmengen auf der Route der nördlichen Regionen beschlagnahmt. Etwa 100 Personen wurden in Zusammenhang mit Drogenschmuggel im Norden verhaftet (Pajhwok 6.10.2016).

Provinz Kabul:

Die Provinzhauptstadt von Kabul und gleichzeitig Hauptstadt von Afghanistan ist Kabul Stadt. Die Provinz Kabul grenzt im Nordwesten an die Provinz Parwan, im Nordosten an Kapisa, im Osten an Laghman, Nangarhar im Südosten, Logar im Süden und (Maidan) Wardak im Südwesten. Kabul ist mit den Provinzen Kandahar, Herat und Mazar durch die sogenannte Ringstraße und mit Peshawar in Pakistan durch die Kabul-Torkham Autobahn verbunden. Die Stadt hat 22 Stadtgemeinden und 14 administrative Einheiten (Pajhwok o.D.z). Die Bevölkerungszahl der Provinz wird auf 4.523.718 geschätzt (CSO 2016).

Im Zeitraum 1.9.2015 - 31.5.2016 wurden im Distrikt Kabul 151 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert (EASO 11.2016). Im Zeitraum 1.9.2015. - 31.5.2016 wurden in der gesamten Provinz Kabul 161 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert (EASO 11.2016).

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Transitrouten, Provinzhauptstädte und fast alle Distriktzentren (USDOD 12.2015). Aufständischengruppen planen oft Angriffe auf Gebäude und Individuen mit afghanischem und amerikanischem Hintergrund: afghanische und US-amerikanische Regierungseinrichtungen, ausländische Vertretungen, militärische Einrichtungen, gewerbliche Einrichtungen, Büros von Nichtregierungsorganisation, Restaurants, Hotels und Gästehäuser, Flughäfen und Bildungszentren (Khaama Press 13.1.2017). Nach einem Zeitraum länger andauernder relativer Ruhe in der Hauptstadt, explodierte im Jänner 2017 in der Nähe des afghanischen Parlaments eine Bombe; bei diesem Angriff starben mehr als 30 Menschen (DW 10.1.2017). Die Taliban bekannten sich zu diesem Vorfall und gaben an, hochrangige Beamte des Geheimdienstes wären ihr Ziel gewesen (BBC News 10.1.2017).

In der Provinz Kabul finden regelmäßig militärische Operationen statt (Afghanistan Times 8.2.2017; Khaama Press 10.1.2017; Tolonews 4.1.2017a; Bakhtar News 29.6.2016). Taliban Kommandanten der Provinz Kabul wurden getötet (Afghan Spirit 18.7.2016). Zusammenstößen zwischen Taliban und Sicherheitskräften finden statt (Tolonews 4.1.2017a).

Regierungsfeindliche Aufständische greifen regelmäßig religiöse Orte, wie z.B. Moscheen, an. In den letzten Monaten haben eine Anzahl von Angriffen, gezielt gegen schiitische Muslime, in Hauptstädten, wie Kabul und Herat stattgefunden (Khaama Press 2.1.2017; vgl. auch: UNAMA 6.2.2017).

Religionsfreiheit

Etwa 99.7% der Bevölkerung sind Muslime, davon sind 84.7-89.7% Sunniten (CIA 21.11.2016; vgl. USCIRF 4.2016). Schätzungen zufolge, sind etwa 10-19% der Bevölkerung Schiiten (AA 9.2016; vgl. auch: CIA 21.10.2016). Andere in Afghanistan vertretene Glaubensgemeinschaften wie z.B. Sikhs, Hindus, Baha¿i und Christen machen zusammen nicht mehr als 1% der Bevölkerung aus. Offiziell lebt noch ein Jude in Afghanistan (AA 9.2016).

Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Religionsfreiheit ist in der afghanischen Verfassung verankert, dies gilt allerdings ausdrücklich nur für Anhänger/innen anderer Religionen als dem Islam. Die von Afghanistan ratifizierten internationalen Verträge und Konventionen wie auch die nationalen Gesetze sind allesamt im Lichte des generellen Islamvorbehalts (Art. 3 der Verfassung) zu verstehen (AA 9.2016; vgl. auch: Max Planck Institut 27.1.2004). Die Glaubensfreiheit, die auch die freie Religionsauswahl beinhaltet, gilt in Afghanistan daher für Muslime nicht. Darüber hinaus ist die Abkehr vom Islam (Apostasie) nach Scharia-Recht auch strafbewehrt (AA 9.11.2016).

Die Religionsfreiheit hat sich seit 2001 verbessert, wird aber noch immer durch Gewalt und Drangsale gegen religiöse Minderheiten und reformierte Muslime behindert. Blasphemie und Abtrünnigkeit werden als Kapitalverbrechen angesehen. Nichtmuslimische Religionen sind erlaubt, doch wird stark versucht, deren Missionierungsbestrebungen zu behindern (FH 27.1.2016). Hindus, Sikhs und Schiiten, speziell jene, die den ethnischen Hazara angehören, sind Diskriminierung durch die sunnitische Mehrheit ausgesetzt.

Schiiten:

Die Bevölkerung schiitischer Muslime wird auf 10-19% geschätzt. Zu der schiitischen Bevölkerung zählen die Ismailiten und die ethnischen Hazara. Die meisten Hazara-Schiiten gehören der Jafari-Sekte (Zwölfer-Sekte) an. Im letzten Jahrhundert ist allerdings eine Vielzahl von Hazara zur Ismaili-Sekte übergetreten. Es gibt einige Hazara-Gruppen, die zum sunnitischen Islam konvertierten. In Uruzgan und vereinzelt in Nordafghanistan sind einige schiitische Belutschen.

Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten sind in Afghanistan selten. Sowohl im Rat der Religionsgelehrten (Ulema), als auch im Hohen Friedensrat sind Schiiten vertreten; beide Gremien betonen, dass die Glaubensausrichtung keinen Einfluss auf ihre Zusammenarbeit habe. Afghanische Schiiten und Hazara sind dazu geneigt, weniger religiös und gesellschaftlich offener zu sein als ihre religiösen Brüder im Iran.

Die Situation der afghanisch schiitisch-muslimischen Gemeinde hat sich seit dem Ende des Taliban-Regimes wesentlich gebessert. Beobachtern zufolge ist die Diskriminierung gegen die schiitische Minderheit durch die sunnitische Mehrheit zurückgegangen; dennoch gab es Berichte zu lokalen Vorfällen.

Ethnische Hazara sind gesellschaftlicher Diskriminierungen ausgesetzt. Informationen eines Vertreters einer internationalen Organisation mit Sitz in Kabul zufolge sind Hazara, entgegen ihrer eigenen Wahrnehmung, keiner gezielten Diskriminierung aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit ausgesetzt.

Afghanischen Schiiten ist es möglich, ihre Feste öffentlich zu feiern. Manche Paschtunen sind über die öffentlichen Feierlichkeiten verbittert, was gelegentlich in Auseinandersetzungen resultiert. Im November 2016 hat ein Kämpfer der IS-Terrormiliz während einer religiösen Zeremonie in der Bakir-al-Olum-Moschee, einer schiitischen Moschee in Kabul, am schiitischen Feiertag Arbain einen Sprengstoffanschlag verübt. Bei diesem Selbstmordanschlag sind mindestens 32 Menschen getötet und 80 weitere verletzt worden. In Kabul sind die meisten Moscheen trotz Anschlagsgefahr nicht besonders geschützt. Am 23. Juli 2016 wurde beim schwersten Selbstmordanschlag in der afghanischen Geschichte die zweite Großdemonstration der Enlightenment-Bewegung durch den ISKP angegriffen. Es starben dabei über 85 Menschen, rund 240 wurden verletzt. Dieser Schlag richtete sich fast ausschließlich gegen Schiiten.

Einige Schiiten bekleiden höhere Ämter sowie andere Regierungsposten. Schiiten verlautbarten, dass die Verteilung von Posten in der Regierung die Demographie des Landes nicht adäquat berücksichtigte. Das Gesetz schränkt sie bei der Beteiligung am öffentlichen Leben nicht ein. Dennoch verlautbarten Schiiten, dass die Regierung die Sicherheit in den Gebieten, in denen die Schiiten die Mehrheit stellten, vernachlässigte. Hazara leben hauptsächlich in den zentralen und westlichen Provinzen, während die Ismailiten hauptsächlich in Kabul, den zentralen und nördlichen Provinzen leben.

Unter den Parlamentsabgeordneten befinden sich vier Ismailiten. Manche Mitglieder der ismailitischen Gemeinde beschweren sich über Ausgrenzung von Position von politischen Autoritäten.

Ethnische Minderheiten

In Afghanistan leben laut Schätzungen vom Juli 2016 mehr als 33.3 Millionen Menschen (CIA 12.11.2016). Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht (Staatendokumentation des BFA 7.2016).

Schätzungen zufolge, sind: 40% Pashtunen, rund 30% Tadschiken, ca. 10% Hazara, 9% Usbeken. Auch existieren noch andere ethnische Minderheiten, wie z.B. die Aimaken, die ein Zusammenschluss aus vier semi-nomadischen Stämmen mongolisch, iranischer Abstammung sind, sowie die Belutschen, die zusammen etwa 4 % der Bevölkerung ausmachen.

Artikel 4 der Verfassung Afghanistans besagt: "Die Nation Afghanistans besteht aus den Völkerschaften der Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Paschai, Nuristani, Aimaq, Araber, Kirgisen, Qizilbasch, Gojar, Brahui und anderen Völkerschaften. Das Wort ‚Afghane' wird für jeden Staatsbürger der Nation Afghanistans verwendet."

(Staatendokumentation des BFA 7.2016). Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung (Art. 16) sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt, wo die Mehrheit der Bevölkerung (auch) eine dieser Sprachen spricht. Diese weiteren in der Verfassung genannten Sprachen sind Usbekisch, Turkmenisch, Belutschisch, Pashai, Nuristani und Pamiri (AA 9.2016; vgl. auch: Max Planck Institut 27.1.2004). Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Nichtsdestotrotz, beschweren sich unterschiedliche ethnische Gruppen, keinen Zugang zu staatlicher Anstellung in Provinzen haben, in denen sie eine Minderheit darstellen.

Der Gleichheitsgrundsatz ist in der afghanischen Verfassung verankert. Fälle von Sippenhaft oder sozialer Diskriminierung sind jedoch nicht auszuschließen und kommen vor allem in Dorfgemeinschaften auf dem Land häufig vor (AA 9.2016). Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen.

Hazara:

Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 10% der Bevölkerung aus. Die Hazara besiedelten traditionell das Bergland in Zentralafghanistan, das sich zwischen Kabul im Osten und Herat im Westen erstreckt und unter der Bezeichnung "Hazaradschat" (azarajat) bekannt ist. Das Kernland dieser Region umfasst die Provinzen Bamyan, Ghazni, Daikundi und den Westen der Provinz Wardak. Es können auch einzelne Teile der Provinzen Ghor, Uruzgan, Parwan, Samangan, Baghlan, Balkh, Badghis und Sar-e Pul dazugerechnet werden. Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind die schiitische Konfession (mehrheitlich Zwölfer-Schiiten) und ihr ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild, woraus gern Schlussfolgerungen über eine turko-mongolische Abstammung der Hazara gezogen werden. Eine Minderheit der Hazara, die vor allem im nordöstlichen Teil des Hazaradschat leben, sind Ismailiten. Nicht weniger wichtig als Religion und Abstammung ist für das ethnische Selbstverständnis der Hazara eine lange Geschichte von Unterdrückung, Vertreibung und Marginalisierung. Jahrzehntelange Kriege und schwere Lebensbedingungen haben viele Hazara aus ihrer Heimatregion in die afghanischen Städte, insbesondere nach Kabul, getrieben.

Ihre Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Familie bzw. dem Clan. Die sozialen Strukturen der Hazara werden manchmal als Stammesstrukturen bezeichnet; dennoch bestehen in Wirklichkeit keine sozialen und politischen Stammesstrukturen. Das traditionelle soziale Netz der Hazara besteht größtenteils aus der Familie, obwohl gelegentlich auch politische Führer einbezogen werden können.

Für die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgten Hazara hat sich die Lage grundsätzlich verbessert; sie haben sich ökonomisch und politisch durch Bildung verbessert. In der öffentlichen Verwaltung sind sie jedoch nach wie vor unterrepräsentiert. Unklar ist, ob dies Folge der früheren Marginalisierung oder eine gezielte Benachteiligung neueren Datums ist. In der Vergangenheit wurden die Hazara von den Paschtunen verachtet, weil diese dazu tendierten, die Hazara als Hausangestellte oder für andere niedere Arbeiten einzustellen. Berichten zufolge schließen viele Hazara, auch Frauen, Studien ab oder schlagen den Weg in eine Ausbildung in Informationstechnologie, Medizin oder anderen Bereichen ein, die in den unterschiedlichen Sektoren der afghanischen Wirtschaft besonders gut bezahlt werden.

Gesellschaftliche Spannungen bestehen fort und leben lokal in unterschiedlicher Intensität gelegentlich wieder auf. Im Jahr 2015 kam es zu mehreren Entführungen von Angehörigen der Hazara. Im Jahr 2016 registrierte die UNAMA einen Rückgang von Entführungen von Hazara. Im Jahr 2016 dokumentierte die UNAMA 15 Vorfälle, in denen 82 Hazara entführt wurden. Im Jahr 2015 wurden 25 Vorfälle von 224 entführten Hazara dokumentiert. Die Entführungen fanden in den Provinzen Uruzgan, Sar-e Pul, Daikundi, Maidan Wardak und Ghor statt. Im Juli 2016 sprengten sich mehrere Selbstmordattentäter bei einem großen Protest der Hazara in die Luft, dabei wurden mindestens 80 getötet und 250 verletzt; mit dem IS verbundene Gruppen bekannten sich zu dem Attentat.

Die Hazara sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 10% in der Afghan National Army und der Afghan National Police repräsentiert.

Frauen:

Jahrzehntelanger Kampf gegen patriarchale und frauenfeindliche Normen, führte zu einer Sensibilisierung in Bezug auf Frauen und ihrer Rechte. Allmählich entwickelt sich die Rolle von Frauen in politischen und wirtschaftlichen Bereichen. Die Situation der Frauen hat sich seit dem Ende der Taliban-Herrschaft erheblich verbessert; die vollumfängliche Realisierung ihrer Rechte innerhalb der konservativ-islamischen afghanischen Gesellschaft bleibt schwierig. Die konkrete Situation von Frauen kann sich allerdings je nach regionalem und sozialem Hintergrund stark unterscheiden.

Artikel 22 der afghanischen Verfassung besagt, dass jegliche Form von Benachteiligung oder Bevorzugung unter den Bürgern Afghanistans verboten ist. Die Bürger Afghanistans, sowohl Frauen als auch Männer, haben vor dem Gesetz gleiche Rechte und Pflichten (Max Planck Institut 27.1.2004). Ein Meilenstein in dieser Hinsicht war die Errichtung des afghanischen Ministeriums für Frauenangelegenheiten (MoWA) im Jahr 2001.

Bildung:

Afghanistan ist eine Erfolgsgeschichte in der Verbesserung des Zugangs zu Bildung - auch für Mädchen. Das Recht auf Bildung wurde den Frauen nach dem Fall der Taliban im Jahr 2001 eingeräumt.

Artikel 43 der afghanischen Verfassung besagt, dass alle afghanischen Staatsbürger das Recht auf Bildung haben. Laut Artikel 4 des afghanischen Bildungsgesetzes ist mittlere (elementare) Bildung in Afghanistan verpflichtend. Artikel 43 der afghanischen Verfassung besagt, dass alle afghanischen Staatsbürger das Recht auf Bildung haben.

Seit dem Jahr 2000 hat sich die durchschnittliche Zahl der Kinder, die eine Schule besuchen von 2,5 Jahren auf 9,3 Jahre erhöht. Das afghanische Bildungsministerium errichtete gemeinsam mit USAID und anderen Gebern, mehr als 16.000 Schulen; rekrutierte und bildete mehr als 154.000 Lehrerinnen und Lehrer aus, und erhöhte die Zahl der Schuleinschreibungen um mehr als 60%. Das Bildungsministerium gibt die Zahl der Schüler/innen mit ca. 9 Millionen an, davon sind etwa 40% Mädchen. Frauen und Mädchen gehen öfter zu Schule, wenn sie keine langen Distanzen zurücklegen müssen. USAID hat 84.000 afghanische Mädchen dabei unterstützt Schulen innerhalb ihrer Gemeinden besuchen zu können, damit sich nicht durch teilweise gefährliche Gegenden pendeln müssen.

Laut dem afghanischen Statistikbüro, gab es landesweit 15.645 Schulen, 9.184.494 Schüler/innen, davon waren 362.906 weiblich. Diese Zahlen beinhalten alle Schultypen, dazu zählen Volks- und Mittelschulen, Abendschulen, Berufsschulen, Lehrerausbildungszentren, etc. Die Zahl der Schülerinnen hat sich im Zeitraum 2015-2016 zum Vergleichszeitraum 2014-2015 um 2,2% erhöht. Die Gesamtzahl der Lehrer/innen betrug 199.509, davon waren 63.911 Frauen.

Frauenuniversität in Kabul:

Seit dem Jahr 2008 hat sich die Studierendenzahl in Afghanistan um 50% erhöht. Im Mai 2016 eröffnete in Kabul die erste Privatuniversität für Frauen im Moraa Educational Complex, mit dazugehörendem Kindergarten und Schule für Kinder der Studentinnen. Die Universität bietet unter anderem Lehrveranstaltungen für Medizin, Geburtshilfe etc. an.

Im Herbst 2015 eröffnete an der Universität Kabul der Masterlehrgang für "Frauen- und Genderstudies"; im ersten Lehrgang waren 28 Student/innen eingeschrieben, wovon 10 Männer waren.

Berufstätigkeit:

Für viele Frauen ist es noch immer sehr schwierig, außerhalb des Bildungs- und Gesundheitssektors Berufe zu ergreifen. Einflussreiche Positionen werden abhängig von Beziehungen und Vermögen vergeben. Oft scheitern Frauen schon an den schwierigen Transportmöglichkeiten und eingeschränkter Bewegungsfreiheit ohne männliche Begleitung.

Bemerkenswert ist die Steigerung jener Afghan/innen, die der Meinung sind, Frauen sollen sich bilden und außerhalb des Heimes arbeiten dürfen. Bei einer Befragung gaben 81% der Befragten an, Männer und Frauen sollten gleiche Bildungschancen haben.

Die Erwerbstätigkeit von Frauen hat sich seit dem Jahr 2001 stetig verbessert und betrug im Jahr 2016 19%. Rund 64% der Afghan/innen befürworteten Frauen außerhalb ihres Heimes arbeiten zu dürfen. Frauen sind dennoch einer Vielzahl von Hindernissen ausgesetzt; dazu zählen: Einschränkungen, Belästigung, Diskriminierung und Gewalt, aber auch praktische Hürden, wie z.B. fehlende Arbeitserfahrung, Fachkenntnisse und (Aus)Bildung. Die Alphabetisierungsrate bei Frauen in Afghanistan liegt durchschnittlich bei 17%, in manchen Provinzen sogar unter 2%. In der Altersklasse der 15 - 24 jährigen betrug die Alphabetisierungsrate im Jahr 2015 bei Frauen 46,11%, bei den über 65-jährigen 4,33%.

Viele Frauen haben sich in bedeutenden Positionen in den verschiedenen Bereichen von nationaler Wichtigkeit entwickelt, dazu zählen Politik, Wirtschaft und die Zivilgesellschaft. Der Raum für weibliche Führungskräfte bleibt eingeschränkt, von Gebern abhängig und ist hauptsächlich in den Städten vertreten. Frauen sind im Privatsektor unterrepräsentiert und haben keine aktive Rolle in der Wirtschaftsproduktion. Unsicherheit, Belästigung, Immobilität, religiöser Extremismus und Korruption sind verbreitet. Begriffe wie zum Beispiel Geschlechtergleichstellung werden weiterhin missverstanden. Frauen in Führungspositionen werden als symbolisch betrachtet, werden politisch mangelhaft unterstützt, haben schwach ausgebildete Entscheidungs- und Durchsetzungskompetenzen und mangelnden Zugang zu personellen und finanziellen Mitteln. Frauen sind im Arbeitsleben mit gewissen Schwierigkeiten konfrontiert, etwa Verwandte, die verlangen sie sollen zu Hause bleiben; oder Einstellungsverfahren, die Männer bevorzugten. Jene die arbeiteten, berichteten von sexueller Belästigung, fehlenden Transport- und Kinderbetreuungsmöglichkeiten; Benachteiligungen bei Lohnauszahlungen existieren im Privatsektor. Journalistinnen, Sozialarbeiterinnen und Polizistinnen berichteten von, Drohungen und Misshandlungen.

Frauen machen 30% der Medienmitarbeiter/innen aus. Teilweise leiten Frauen landesweit Radiostationen - manche Radiostationen setzten sich ausschließlich mit Frauenangelegenheiten auseinander. Nichtsdestotrotz, finden Reporterinnen es schwierig ihren Job auszuüben. Unsicherheit, fehlende Ausbildung und unsichere Arbeitsbedingungen schränken die Teilhabe von Frauen in den Medien weiterhin ein.

Strafverfolgung und Unterstützung:

Afghanistan verpflichtet sich in seiner Verfassung durch die Ratifizierung internationaler Konventionen und durch nationale Gesetze, die Gleichberechtigung und Rechte der Frauen zu achten und zu stärken. In der Praxis mangelt es jedoch oftmals an der praktischen Umsetzung dieser Rechte. Viele Frauen sind sich ihrer in der Verfassung garantierten, und auch gewisser vom Islam vorgegebener, Rechte nicht bewusst. Eine Verteidigung ihrer Rechte ist in einem Land, in dem die Justiz stark konservativ-traditionell geprägt und überwiegend von männlichen Richtern oder traditionellen Stammesstrukturen bestimmt wird, nur in eingeschränktem Maße möglich. Staatliche Akteure aller drei Gewalten sind häufig nicht in der Lage oder auf Grund tradierter Wertevorstellungen und nicht gewillt, Frauenrechte zu schützen. Gesetze zum Schutz und zur Förderung der Rechte von Frauen werden nur langsam umgesetzt. Das Personenstandsgesetz enthält diskriminierende Vorschriften für Frauen, insbesondere in Bezug auf Heirat, Erbschaft und Beschränkung der Bewegungsfreiheit.

Viele Gewaltfälle gelangen nicht vor Gericht, sondern werden durch Mediation oder Verweis auf traditionelle Streitbeilegungsformen (Schuren und Jirgas) verhandelt. Traditionelle Streitbeilegung führt oft dazu, dass Frauen ihre Rechte, sowohl im Strafrecht als auch im zivilrechtlichen Bereich wie z. B. im Erbrecht, nicht gesetzeskonform zugesprochen werden. Viele Frauen werden darauf verwiesen, den "Familienfrieden" durch Rückkehr zu ihrem Ehemann wiederherzustellen. Gleichzeitig führt aber eine erhöhte Sensibilisierung auf Seiten der afghanischen Polizei und Justiz zu einer sich langsam, aber stetig verbessernden Lage der Frauen in Afghanistan. Insbesondere die Schaffung von auf Frauen spezialisierten Staatsanwaltschaften in einigen Provinzen, hatte positive Auswirkungen. In der patriarchalischen Gesellschaft Afghanistans trauen sich Frauen selbst oftmals nicht, an Polizisten zu wenden.

Anlässlich des dritten "Symposium on Afghan Women's Empowerment" im Mai 2016 in Kabul bekräftigte die afghanische Regierung auf höchster Ebene den Willen zur weiteren Umsetzung. Inwieweit sich dies in das System an sich und bis in die Provinzen fortsetzt, ist zumindest fraglich.

Das EVAW-Gesetz wurde durch ein Präsidialdekret im Jahr 2009 eingeführt; und ist eine wichtige Grundlage für den Kampf gegen Gewalt gegen Frauen - inklusive der weit verbreiteten häuslichen Gewalt. Dennoch ist eine Verabschiedung des EVAW-Gesetzes durch beide Parlamentskammern noch ausständig und birgt die Gefahr, dass die Inhalte verwässert werden. Das Gesetz kriminalisiert Gewalt gegen Frauen, inklusive Vergewaltigung, Körperverletzung, Zwangsverheiratung bzw. Kinderheirat, Erniedrigung, Einschüchterung und Entzug des Erbes, jedoch war die Umsetzung eingeschränkt. Im Falle von Vergewaltigung sieht das Gesetz eine Haftstrafe von 16-20 Jahren vor. Sollte die Vergewaltigung mit dem Tod eines Opfers enden, sieht das Gesetz die Todesstrafe für den Täter vor. Der Straftatbestand der Vergewaltigung beinhaltet nicht Vergewaltigung in der Ehe. Das Gesetz wurde nicht weitgehend verstanden und manche öffentliche und religiöse Gemeinschaften erachteten das Gesetz als unislamisch. Der politische Wille das Gesetz umzusetzen und seine tatsächliche Anwendung ist begrenzt. Außerhalb der Städte wird das EVAW-Gesetz weiterhin nur unzureichend umgesetzt. Laut Angaben von Human Rights Watch, verabsäumte die Regierung Verbesserungen des EVAW-Gesetzes durchzusetzen. Die Regierung verabsäumt ebenso die Verurteilung sogenannter Moral-Verbrechen zu stoppen, bei denen Frauen, die häuslicher Gewalt und Zwangsehen entfliehen, zu Haftstrafen verurteilt werden. Die Regierung registrierte 5.406 Fälle von Gewalt an Frauen, 3.715 davon wurden unter dem EVAW-Gesetz eingebracht. Einem UNAMA-Bericht zufolge, werden 65% der Fälle, die unter dem EVAW-Gesetz eingebracht werden (tätlicher Angriff und andere schwerwiegende Misshandlungen) durch Mediation gelöst, während 5% strafrechtlich verfolgt werden.

Die erste EVAW-Einheit (Law on the Elimination of Violence Against Women) wurde im Jahre 2010 durch die afghanische Generalstaatsanwaltschaft initiiert und hat ihren Sitz in Kabul. Die Generalstaatsanwaltschaft erhöhte weiterhin die Anzahl der EVAW-Einheiten. Mit Stand September 2015 existieren sie mittlerweile in 20 Provinzen. In anderen Provinzen wurden Staatsanwälten durch die Generalstaatsanwaltschaft Fälle zur Behandlung zugeteilt. Im März hielt das Büro der Generalstaatsanwaltschaft das erste nationale Treffen von EVAW-Staatsanwälten ab, um die Kommunikation zwischen den unterschiedlichen EVAW-Einheiten in den Provinzen zu fördern und gemeinsame Probleme zu identifizieren. Ein im April veröffentlichter Bericht der UNAMA zu Erfahrungen von 110 rechtssuchenden Frauen im Justizsystem; zeigte, dass sich die Effektivität der Einheiten stark unterschied, diese aber dennoch Frauen, die Gewalt erlebt hatten, ermutigten ihre Fälle zu verfolgen.

Der UN-Sonderberichterstatter zu Gewalt an Frauen berichtet von Frauen in Afghanistan, die das formelle Justizsystem als unzugänglich und korrupt bezeichnen; speziell dann wenn es um Angelegenheiten geht, die die Rechte von Frauen betreffen - sie bevorzugen daher die Mediation.

Die unabhängige afghanische Menschenrechtskommission, veröffentlichte einen Bericht, der 92 Ehrenmorde auflistete (Berichtszeitraum: März 2014 - März 2015), was eine Reduzierung von 13% gegenüber dem Vorjahr andeutete. Diesem Bericht zufolge wurden auch 67% der Täterbei Vergewaltigung oder Ehrenmord verhaftet; 60% wurden verurteilt und bestraft.

Wenn Justizbehörden das EVAW-Gesetz beachten, war es Frauen in manchen Fällen möglich angemessene Hilfe zu erhalten. Staatsanwält/innen und Richter/innen in abgelegenen Provinzen ist das EVAW-Gesetz oft unbekannt, andere werden durch die Gemeinschaft unter Druck gesetzt um Täter freizulassen. Berichten zufolge, geben Männer, die der Vergewaltigung bezichtigt werden, oft an, das Opfer hätte dem Geschlechtsverkehr zugestimmt, was zu "Zina"-Anklagen gegen die Opfer führt.

Im Juni 2015 hat die afghanische Regierung den Nationalen Aktionsplan für die Umsetzung der VN-SR-Resolution 1325 auf den Weg gebracht. Dennoch war bis November 2016 kein finales Budget für den Umsetzungsplan aufgestellt worden.

Gewalt an Frauen: Vergewaltigung, Ehrenverbrechen und Zwangsverheiratung:

Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt ist weit verbreitet. Gewalttaten gegen Frauen und Mädchen finden zu über 90% innerhalb der Familienstrukturen statt. Die Gewalttaten reichen von Körperverletzungen und Misshandlungen über Zwangsehen bis hin zu Vergewaltigungen und Mord. In den ersten acht Monaten des Jahres 2016 dokumentierte die AIHRC 2.621 Fälle häuslicher Gewalt - in etwa dieselbe Zahl wie im Jahr 2015; obwohl angenommen wird, die eigentliche Zahl sei viel höher. Die AIHRC berichtet von mehr als

4.250 Fällen von Gewalt an Frauen, die in den ersten neun Monaten des afghanischen Jahres (beginnend März 2015) gemeldet wurden. Diese Fälle beinhalten unterschiedliche Formen von Gewalt: physische, psychische, verbale, sexuelle und wirtschaftliche. In den ersten sechs Monaten des Berichtszeitraumes wurden 190 Frauen und Mädchen getötet; in 51 Fällen wurde der Täter verhaftet.

Viele Gewaltfälle gelangen nicht vor Gericht, sondern werden durch Mediation oder Verweis auf traditionelle Streitbeilegungsformen (Schuren und Jirgas) verhandelt. Traditionelle Streitbeilegung führt oft dazu, dass Frauen ihre Rechte sowohl im Strafrecht als auch im zivilrechtlichen Bereich wie z. B. im Erbrecht nicht gesetzeskonform zugesprochen werden. Viele Frauen werden darauf verwiesen, den "Familienfrieden" durch Rückkehr zu ihrem Ehemann wiederherzustellen. Darüber hinaus kommt immer wieder vor, dass Frauen inhaftiert werden, wenn sie z.B. eine Straftat zur Anzeige bringen, von der Familie aus Gründen der "Ehrenrettung" angezeigt werden, Vergewaltigung werden oder von zu Hause weglaufen (kein Straftatbestand, aber oft als Versuch der zina gewertet).

Ehrenmorde:

Ehrenmorde an Frauen werden typischerweise von einem männlichen Familien- oder Stammesmitglied verübt. Mädchen unter 18 Jahren sind auch weiterhin dem Risiko eines Ehrenmordes ausgesetzt, wenn eine außereheliche sexuelle Beziehung angenommen wird, wenn sie vor Zwangsverheiratung davonlaufen oder Opfer eines sexuellen Übergriffs werden. Die AIHRC gab bekannt, zwischen März 2014 und März 2015 92 Ehrenmorde registriert zu haben.

Afghanische Expert/innen sind der Meinung, dass die Zahl der Mordfälle an Frauen und Mädchen viel höher ist, da sie normalerweise nicht zur Anzeige gebracht werden. Der Grund dafür ist Misstrauen in das juristische System durch einen Großteil der afghanischen Bevölkerung.

Legales Heiratsalter:

Das Zivilgesetz Afghanistans definiert für Mädchen 16 Jahre und für Burschen 18 Jahre als das legale Mindestalter für Vermählungen (Girls not brides 2016). Ein Mädchen, welches jünger als 16 Jahre ist, kann mit der Zustimmung eines Vormunds oder eines zuständigen Gerichtes heiraten. Die Vermählung von Mädchen unter 15 Jahren ist auch weiterhin üblich. Die UN und HRW schätzen die Zahl der Zwangsehen auf 70%.

In Fällen von Gewalt oder unmenschlicher traditioneller Praktiken laufen Frauen oft von zu Hause weg, oder verbrennen sich sogar selbst. Darüber hinaus kommt immer wieder vor, dass Frauen inhaftiert werden, wenn sie z.B. eine Straftat zur Anzeige bringen, von der Familie aus Gründen der "Ehrenrettung" angezeigt werden, Vergewaltigung werden oder von zu Hause weglaufen.

Berichten zufolge, würde das MoWA, aber auch NGOs, versuchen Ehen für Frauen zu arrangieren, die nicht zu ihren Familien zurückkehren konnten.

Frauenhäuser:

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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