TE OGH 2018/9/21 22Bs236/18v

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Veröffentlicht am 21.09.2018
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Das Oberlandesgericht Wien hat durch den Senatspräsidenten Dr. Levnaic-Iwanski als Vorsitzenden sowie die Richter Mag. Hahn und Mag. Gruber als weitere Senatsmitglieder in der Auslieferungssache des William G***** zur Strafverfolgung an die Vereinigten Staaten von Amerika über dessen Beschwerde gegen den Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 3. August 2018, GZ 314 HR 14/18s–62, nichtöffentlich den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Beschwerde wird Folge gegeben, der angefochtene Beschluss in seinem die Auslieferung für nicht unzulässig erklärenden Teil aufgehoben und die Auslieferungssache insoweit zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Text

Begründung:

Gegen den ***** US-amerikanischen Staatsangehörigen William G***** ist beim Landesgericht für Strafsachen Wien ein Verfahren betreffend die Auslieferung zur Strafverfolgung an die Vereinigten Staaten von Amerika anhängig.

Nach dem Ersuchen des US Department of Justice wird die Auslieferung des Genannten – soweit für das Rechtsmittelverfahren relevant - für die Straftaten des Stalkings mit daraus folgender Körperverletzung bzw. Zugriffs auf elektronische Aufzeichnungen nach § 940.32(2) bzw. (3)(a) bzw. (2m)(c), der Freiheitsberaubung nach § 940.30, der strafbaren Handlungen in Zusammenhang mit Informations- und Kommunikationstechnik – Zugriff auf Daten nach § 943.70(2)(a)3, 943.70(1)(h) und 943.70(2)(b)2, des Identitätsdiebstahls nach § 943.201(2)(a), der Einschüchterung eines Opfers nach § 940.45(2), sexuellen Nötigung, schwerer Fall nach § 940.225(2)(a) bzw. (2)(b), Entführung nach § 940.31(1)(a), Anfertigung von Nacktfotos ohne Einwilligung nach § 942.09(2)(am) sowie des Besitzes von Kinderpornografie nach § 948.12 (1m), 948.12 (3)(a), 973.042 (2) und 939.617 jeweils der Gesetze von Wisconsin begehrt (ON 43, 44).

Inhaltlich wird ihm – zusammengefasst und verkürzt dargestellt - zur Last gelegt, zweimal am oder ungefähr am 6. Februar 2010 seine Ehegattin Jill S*****-G***** gegen ihren Willen – auch unter Androhung von Gewalt - zum Geschlechtsverkehr genötigt, am oder ungefähr am 6. Februar 2010 durch Einschüchterung an der Anzeigeerstattung gehindert, im Dezember 2008, am oder ungefähr am 6. Februar 2010 als auch von 10. bis 11. Februar 2010 absichtlich festgehalten sowie am oder ungefähr am 11. Februar 2010 ohne ihr Wissen und ihre Einwilligung nackt fotografiert zu haben. Weiters soll er sie im Zeitraum 2001 bis 23. Februar 2010 als auch am oder ungefähr am 26. März 2010 widerrechtlich beharrlich verfolgt (im Zuge dessen zumindest einmal auch am Körper [der Brust] verletzt), am oder ungefähr am 6. Februar 2010 unter Gewaltanwendung oder Androhung unmittelbar bevorstehender Gewalt mit seinem Fahrzeug an einen anderen Ort verbracht, im Zeitraum 19. Jänner bis 15. Februar 2010 auf Daten in einem Computersystem ohne Berechtigung in Betrugs- bzw. Schädigungsabsicht zugegriffen sowie personenbezogene Daten oder Ausweisunterlagen seiner Gattin zur Erlangung von Vermögenswerten verwendet haben. Weiters hätte er bis 26. März 2010 pornografische Darstellungen – auch unmündiger – minderjähriger Personen besessen.

Mit dem angefochtenen Beschluss erklärte das Erstgericht die begehrte Auslieferung mit Ausnahme der Anklagepunkte 8, 9, 16 aus dem Verfahren AZ 10 CF 327, 19 – 22 aus dem Verfahren AZ 10 CF 507, 1 und 2 aus dem Verfahren AZ 10 CF 1224 und 1 bis 4 aus dem Verfahren AZ 11 CF 317 unter Einhaltung des Schutzes der Spezialität für (nicht un-)zulässig.

Gegen den die Auslieferung für nicht unzulässig erklärenden Teil richtet sich die rechtzeitig angemeldete (S 2 in ON 61; wiederholt mit Schriftsatz ON 63) und fristgerecht ausgeführte Beschwerde des Betroffenen, mit der er eine mit Artikel 3 MRK unvereinbare Strafe im ersuchenden Staat befürchtet und hinsichtlich der pornographischen Darstellungen Minderjähriger, des Verwendens von personenbezogenen Daten und Ausweisunterlagen sowie des Anfertigens von Nacktfotos Erwachsener mangelnde beiderseitige Strafbarkeit behauptet (ON 68).

Rechtliche Beurteilung

Das Rechtsmittel ist im Sinne des eventualiter gestellten Aufhebungsbegehrens berechtigt.

Vorliegend gelangen der Auslieferungsvertrag zwischen den Regierungen der Republik Österreich und der Vereinigten Staaten von Amerika (BGBl III Nr. 216/1999 idF BGBl III Nr. 5/2010) und das ARHG zur Anwendung, soweit das genannte Abkommen keine entsprechenden Bestimmungen enthält (Martetschläger in WK2 ARHG § 1 Rz 1 f).

Der die Auslieferung betreffende Sachverhalt ist nach österreichischem Recht als Verbrechen der Vergewaltigung nach § 201 Abs 1 StGB sowie Vergehen der Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung nach § 205a Abs 1 StGB, beharrlichen Verfolgung nach § 107a Abs 1 StGB, Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB, Freiheitsentziehung nach § 99 Abs 1 StGB, Nötigung nach § 105 Abs 1 StGB, des widerrechtlichen Zugriffs auf ein Computersystem nach § 118a Abs 1 Z 2 StGB, schweren Betrugs nach § 147 Abs 1 Z 1 vierter Fall StGB und der pornographischen Darstellungen Minderjähriger nach § 207a Abs 3 StGB zu qualifizieren. Sowohl nach amerikanischem wie auch österreichischem Recht sind die Taten teilweise mit einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr bedroht, weshalb es sich insgesamt um auslieferungsfähige strafbare Handlungen im Sinne dieses Abkommens (Artikel 2 Abs 1 und Artikel 2 Abs 3) handelt.

Zu Recht wendet der Beschwerdeführer ein, er könnte im Falle seiner Auslieferung an die Vereinigten Staaten von Amerika einer mit Artikel 3 MRK unvereinbaren Behandlung ausgesetzt werden. Denn zu den völkerrechtlichen Mindeststandards und unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätzen der öffentlichen Ordnung der Republik Österreich, die auch im vertraglichen Auslieferungsverfahren zu beachten sind, zählt nicht nur das Verbot grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender (Artikel 3 MRK), sondern auch das Verbot schlechterdings nicht mehr schuldangemessener Strafen. Unangemessen hohe und schwere Freiheitsstrafen können in ein Spannungsverhältnis zu Artikel 3 MRK treten, wenn sie in keiner Relation zur Schuld des Täters und zum Unrechtsgehalt der Tat stehen (vgl. RIS-Justiz RS0118079; EGMR 4. September 2014, Bsw 140/10, Trabelsi vs Belgien; Lagodny in Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen5 § 73 IRG Rz 60; Göth-Flemmich in WK2 ARHG § 20 Rz 3). Da aber Fragen des geeigneten Strafmaßes grundsätzlich außerhalb des Anwendungsbereichs der Konvention liegen, ist allerdings auch der EGMR bei der Annahme einer (lediglich) aus der zu erwartenden Strafhöhe resultierenden Gefahr im Sinne des Artikel 3 MRK sehr zurückhaltend (EGMR 17. Jänner 2012, Bsw 66.069/09, Vinter ua vs Großbritannien) und akzeptiert einen großen Beurteilungsspielraum unterschiedlicher Strafrechtsordnungen in dieser kriminalpolitischen Frage (14 Os 41/12d mwN). Nicht ausreichend ist, dass die Strafe lediglich als in hohem Maße hart bzw. unter Anlegung der Maßstäbe der österreichischen Rechtsordnung zu hart anzusehen ist, sie muss vielmehr unerträglich hart und unter jedem denkbaren Gesichtspunkt unangemessen erscheinen (deutsches BverfG 17. Jänner 1979 – BvL 12/77; OLG Wien 22 Bs 223/14a mwN).

Auch in Deutschland gilt, dass im Rechtshilfeverkehr mit anderen Staaten auch dann Strukturen und Inhalte fremder Rechtsordnungen und -anschauungen grundsätzlich zu achten sind, wenn sie im Einzelnen nicht mit den innerstaatlichen deutschen Auffassungen übereinstimmen. Sollen der im gegenseitigen Interesse bestehende Auslieferungsverkehr und die außenpolitische Handlungsfreiheit der Bundesregierung erhalten bleiben, so dürfen die Gerichte nur die Verletzung der wesentlichen Grundsätze der deutschen Verfassungsordnung als unüberwindbares Hindernis für eine Auslieferung zugrundelegen (deutsches BverfG 6. Juli 2005 – 2 BvR 2259/04).

Nicht als unmenschlich oder erniedrigend wurde eine auch auf dem Kumulationsprinzip beruhende und weit über der Obergrenze des im ausliefernden Staat vorgesehenen Strafrahmens liegende Sanktion angesichts einer professionellen und rücksichtslosen Tatbegehung im Rahmen eines groß angelegten, organisierten Betrugskonzepts mit einer beträchtlichen Schadenssumme angesehen (14 Os 30/03; vgl. auch 12 Os 160/15v).

Fallbezogen liegen obangeführte, hohes Verschulden begründende Umstände jedoch nicht vor. Vielmehr gehört zu den elementaren rechtsstaatlichen Anforderungen der Menschenwürde, die auch im vertraglichen Auslieferungsverkehr zu beachten sind, dass bei einer zeitlichen Freiheitsstrafe im Mindestmaß von 25 Jahren der Verfolgte grundsätzlich die Chance haben muss, deutlich vor Vollstreckungsende in die Freiheit zurückzukehren (Lagodny aaO Rz 60a).

Ohne einen Vergleich der jeweiligen Straferwartung lässt sich die Frage nach der Zulässigkeit der Rechtshilfe sachgerecht jedoch nicht beurteilen; denn neben den Besonderheiten des Einzelfalls müssen insoweit auch die gegebenen Umstände der Strafvollstreckung, des Strafvollzugs und der Strafaussetzung im Blick behalten werden (deutsches BverfG 20. November 2014 - 2 BvR 1820/14).

Ausgehend von oben dargestellten Grundsätzen kann auch unter Berücksichtigung der per E-Mail übermittelten diplomatischen Note vom 2. August 2018 nicht abschließend beurteilt werden, ob dem Beschwerdeführer in den Vereinigten Staaten von Amerika im Falle eines Schuldspruchs in allen Anklagepunkten keine unverhältnismäßig harte und unter jedem Gesichtspunkt als unangemessen erscheinende Sanktion drohe. So liegt schon in der Mitteilung eine Diskrepanz insoweit vor, als für den Fall, dass G***** für die Verbrechen verurteilt werden sollte, wegen derer das County Dane, US-Bundesstaat Wisconsin um seine Auslieferung ersucht, er von einem staatlichen Richter aufgrund der Art der ihm angelasteten Straftaten zu einer Freiheitsstrafe von 25 Jahren oder mehr verurteilt werden könnte. Hingegen wäre für den Fall, dass G***** für das Verbrechen verurteilt werden sollte, für das von der US-Staatsanwaltschaft für den westlichen Bezirk Wisconsin die Auslieferung beantragt wird, als Höchststrafe eine Freiheitsstrafe in der Dauer von zehn Jahren vorgesehen (S 6 in ON 67).

Das Erstgericht wird daher im zu ergänzenden Verfahren mit Blick auf die Entscheidung deutsches BverfG 19. November 2015 - 2 BvR 2088/15 die amerikanischen Behörden um nähere Darlegung zu ersuchen haben, mit welcher Strafe G***** im Falle einer Verurteilung betreffend sämtlicher Anklagepunkte, zu welchen die Auslieferung noch begehrt und nicht für unzulässig erklärt wurde, insgesamt zu rechnen hat, von welchen Umständen die Bestimmung des Strafmaßes abhängig ist, ob der Verfolgte die gegen ihn insgesamt zu verhängende Strafe voll zu verbüßen hätte oder ob und gegebenenfalls unter welchen Umständen eine vorzeitige Entlassung oder Begnadigung möglich wäre.

Weiters beachtlich ist auch der Einwand der mangelnden beiderseitigen Strafbarkeit. Denn in den Anklagepunkten 1 bis 53 zu AZ 10 CF 1278 wird G***** der Besitz von Kinderpornografie vorgeworfen. Die nach § 207a österreichisches StGB verpönte pornographische Darstellung bezieht sich nach der Legaldefinition des Abs 4 leg. cit. auf geschlechtliche Handlungen. Darunter sind außer dem Beischlaf auch alle anderen sexualbezogenen Handlungen, somit auch dem Beischlaf gleichzusetzende geschlechtliche Handlungen und „einfache“ geschlechtliche Handlungen gemäß den §§ 202, 207 StGB zu verstehen (Fabrizy, StGB12 § 207a Rz 3; Philipp in WK2 § 207a Rz 10). Es müssen zur unmittelbaren Geschlechtssphäre gehörige, somit dem männlichen oder weiblichen Körper spezifisch eigentümliche Körperpartien des Opfers oder des Täters mit dem Körper des anderen in eine nicht bloß flüchtige sexualbezogene Berührung gebracht werden, wobei nur Handlungen von einiger Erheblichkeit in Betracht kommen (Fabrizy aaO § 202 Rz 3, 4). Den in den Auslieferungsunterlagen erfolgten Beschreibungen lassen sich dem Beschwerdestandpunkt folgend nicht ausschließlich solche geschlechtlichen Handlungen im Sinne obiger Ausführungen entnehmen, sodass im fortgesetzten Verfahren neuerlich über die Zulässigkeit sämtlicher Anklagepunkte zu entscheiden sein wird. Sollte mit den Bildbeschreibungen keine abschließende Beurteilung möglich sein, kann sich auch die Beischaffung der inkriminierten Bilder als erforderlich erweisen. Dabei wird auch zu berücksichtigen sein, dass 54 Bilder beschrieben werden, tatsächlich aber nur 53 Anklagepunkte vorliegen.

Mag sich das inkriminierte Verhalten zu den Anklagepunkten 5, 6 und 7 zu AZ 10 CF 327 entgegen dem Beschwerdevorbringen nicht im bloßen Verwenden von Ausweisunterlagen erschöpfen (zur beiderseitigen Strafbarkeit mit Blick auf obangeführten Auslieferungsvertrag vgl. 12 Os 15/10p), wird das Erstgericht jedoch zu Anklagepunkt 17 zu AZ 10 CF 327 die gerichtliche Strafbarkeit nochmals zu überprüfen haben. Über die Beschwerdekritik hinausgehend bleibt noch anzumerken, dass das Auslieferungsbegehren die Ausstellung eines Reisepasses lautend auf „Jason F*****“ offensichtlich nicht umfasst.

Der Beschwerde war daher Folge zu geben, der angefochtene Beschluss in Ansehung des die Auslieferung nicht für unzulässig erklärenden Teils aufzuheben und wird das Erstgericht nach Ergänzung des Beweisverfahrens neuerlich über die Auslieferung zu entscheiden haben. Zur Verkürzung der Haft wird auch in Erwägung zu ziehen sein, über die pornographischen Darstellungen Unmündiger abgesondert zu entscheiden.

Textnummer

EW0000925

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OLG0009:2018:0220BS00236.18V.0921.000

Im RIS seit

09.10.2018

Zuletzt aktualisiert am

11.10.2018
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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