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10/07 Verwaltungsgerichtshof;Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision der I Y in W, vertreten durch Mag. Sonja Scheed, Rechtsanwältin in 1220 Wien, Brachelligasse 16, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 21. Februar 2018, W103 2186406-1/3E, betreffend Rückkehrentscheidung und darauf aufbauende Aussprüche nach § 52 Abs. 9 FPG und § 55 Abs. 1a FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Die 1975 geborene Revisionswerberin ist eine ukrainische Staatsangehörige, die in ihrem Heimatland eine universitäre Ausbildung als Lehrerin für die englische und deutsche Sprache und für Fremdliteratur sowie anschließend das Studium der Rechtswissenschaften absolviert hatte. Danach studierte sie auch noch Psychologie. Sie war in der Folge als Dolmetscherin und "Sprachtrainerin" tätig; sie spricht neben ihrer Landessprache noch Russisch, Englisch, Deutsch und Polnisch.
2 Die Revisionswerberin reiste - nach legalen Voraufenthalten in Schweden - im September 2010 aus der Ukraine kommend nach Österreich ein. Nach bescheidmäßiger Zulassung begann die Revisionswerberin ab März 2012 an der Universität Wien das Masterstudium "Science - Technology - Society". Während dieser Zeit war sie selbstversichert und bezahlte Studiengebühren. Ein über Antrag vom 1. Februar 2011 eingeleitetes Verfahren zur Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung als Studierende wurde am 28. Dezember 2012 eingestellt. Das Studium beendete die Revisionswerberin im Jahr 2014 aus finanziellen Gründen. Davor hatte sie ihren Angaben zufolge von Ersparnissen gelebt; von Juli 2011 bis November 2015 wohnte sie in einem Studentenheim in Wien.
3 Am 31. Juli 2014 stellte die Revisionswerberin einen - mit den mittlerweile bestehenden kriegerischen Verhältnissen in der Ukraine und einer daraus für sie resultierenden Rückkehrgefährdung begründeten - Antrag auf internationalen Schutz, der mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 19. Jänner 2018 zur Gänze abgewiesen wurde. Unter einem erließ das BFA gegen die Revisionswerberin gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG und stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung der Revisionswerberin in die Ukraine zulässig sei. Des Weiteren wurde gemäß § 55 Abs. 1a FPG (iVm § 18 BFA-VG) ausgesprochen, dass keine Frist für die freiwillige Ausreise bestehe. Überdies wurde der Revisionswerberin ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 (von Amts wegen) nicht erteilt.
4 Nur gegen die Rückkehrentscheidung (und damit implizit auch gegen die darauf aufbauenden Aussprüche nach § 52 Abs. 9 FPG und § 55 Abs. 1a FPG) erhob die Revisionswerberin eine Beschwerde, die das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 21. Februar 2018 als unbegründet abwies. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das BVwG aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
5 Dagegen richtet sich die vorliegende Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens - Revisionsbeantwortungen wurden nicht erstattet - erwogen hat:
6 Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 ist eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz (u.a.) mit einer Rückkehrentscheidung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird. Damit korrespondiert § 52 Abs. 2 Z 2 FPG, wonach das BFA gegen einen Drittstaatsangehörigen "unter einem (§ 10 AsylG 2005)" mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen hat, wenn dessen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt. Das Vorliegen dieser Voraussetzungen wird in der Revision nicht bestritten. Sie rekurriert vielmehr nur auf eine unrichtige Abwägung der wechselseitigen Interessen nach § 9 BFA-VG und bemängelt in diesem Zusammenhang vor allem die Unterlassung der in der Beschwerde ausdrücklich beantragten Durchführung einer mündlichen Verhandlung als wesentlichen Verfahrensmangel.
7 Das trifft zu, weshalb sich die Revision - entgegen dem nicht bindenden Ausspruch des BVwG (§ 34 Abs. 1a erster Satz VwGG) - im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG als zulässig und auch als berechtigt erweist.
8 Das BVwG stellte über den eingangs wiedergegebenen Sachverhalt hinaus fest, die unbescholtene Revisionswerberin habe in Österreich keine verwandtschaftlichen Anknüpfungspunkte und befinde sich auch in keiner Lebensgemeinschaft. In der Ukraine seien aktuell nur mehr "entfernte" Verwandte aufhältig. Die Revisionswerberin, die zu Studienzwecken eingereist sei, verfüge seit 27. Jänner 2011 über "aufrechte Wohnsitzmeldungen" in Österreich. Während ihres langjährigen Aufenthalts habe sie sich einen Freundes- und Bekanntenkreis aufgebaut. Sie sei nicht erwerbstätig und lebe von der Grundversorgung. Zweimal wöchentlich arbeite sie ehrenamtlich in einem Sozialmarkt, daneben fungiere sie in ihrem privaten Umfeld als Übersetzerin. Überdies habe sie eine Einstellungszusage eines ukrainischen Unternehmens betreffend eine Beschäftigung in einer in Wien geplanten Niederlassung vorgelegt. Die Revisionswerberin habe sich - so konstatierte das BVwG daran anschließend - während der gesamten Zeit ihres Aufenthalts "der Unsicherheit eines weiteren respektive dauerhaften Aufenthalts im Bundesgebiet" bewusst sein müssen.
9 Darauf bezog sich das BVwG dann auch in der Beweiswürdigung und in der rechtlichen Beurteilung, indem es darauf verwies, dass die Revisionswerberin vor Stellung des Antrags auf internationalen Schutz ca. vier Jahre lang unrechtmäßig im Bundesgebiet aufhältig und für sie - mangels Behauptung einer konkreten Rückkehrgefährdung - die negative Entscheidung im Asylverfahren und die damit einhergehende Aufenthaltsbeendigung vorhersehbar gewesen sei. Im Hinblick auf das daraus ableitbare Bewusstsein eines unsicheren Aufenthalts werde das Gewicht des "zwischenzeitig entstandenen Privatlebens" schon dadurch erheblich gemindert. Zur Beschäftigungszusage sei auszuführen, dass sich aus ihr "keine konkrete künftige Selbsterhaltungsfähigkeit" der Revisionswerberin ableiten lasse, weil danach bereits der Zeitpunkt eines allfälligen Beschäftigungsbeginns nicht absehbar sei. Eine "tiefgreifende Verwurzelung" in Österreich, die das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung im Einzelfall überwiegen und die Rückkehrentscheidung als Verletzung der Rechte nach Art. 8 EMRK erscheinen lassen würde, könne im Ergebnis nicht erkannt werden. Die Revisionswerberin sei nämlich ohne gültiges Visum ins Bundesgebiet gelangt, habe sich in der Folge hier für mehrere Jahre unrechtmäßig aufgehalten und letztlich versucht, durch Stellung eines (unberechtigten) Antrags auf internationalen Schutz ihren Aufenthalt "unter Umgehung der Regelungen über die legale Migration zu legalisieren". Ein allein durch beharrliche Missachtung der fremden- und aufenthaltsrechtlichen Vorschriften erwirkter Aufenthalt könne aber keinen Rechtsanspruch aus Art. 8 EMRK bewirken. Unter Bezugnahme auf die Ausbildung der Revisionswerberin und ihre Berufstätigkeit in der Ukraine vertrat das BVwG dann noch die Meinung, es seien keine Gründe erkennbar, die einer neuerlichen Aufnahme einer Erwerbstätigkeit im Herkunftsstaat und eigenständigen Bestreitung des Lebensunterhalts entgegenstehen würden.
10 Zunächst ist zur Prämisse des BVwG, die Revisionswerberin sei im September 2010 ohne gültiges Visum eingereist, zwar einzuräumen, dass sich den mit der Revisionswerberin aufgenommenen Niederschriften solche Passagen entnehmen lassen. Das BVwG hätte jedoch auf die auch wiederholt getätigten Angaben der Revisionswerberin (siehe etwa nur die Erstbefragung am 31. Juli 2014) eingehen müssen, sie sei rechtmäßig mit einem gültigen Visum eingereist. Dieses Vorbringen findet nämlich insoweit Deckung in der Aktenlage, als die Revisionswerberin - dem Inhalt ihres Reisepasses zufolge - bei ihrer Einreise nach Österreich am 25. September 2010 im Besitz eines (bis 31. Jänner 2011) gültigen schwedischen Schengenvisums war. Diese Einreise erfolgte nach den Feststellungen des BVwG zu Studienzwecken, wobei die Revisionswerberin in der Folge auch eine solche Zulassung der Universität Wien erlangte, Studiengebühren bezahlte, einen Platz in einem Studentenheim erhielt und in derselben Zeit die Erteilung einer entsprechenden Aufenthaltsbewilligung beantragte. Vor diesem Hintergrund lässt sich aber nicht ohne Weiteres sagen, die Revisionswerberin habe sich von Anfang an und die ganze Zeit während des Studiums ihres unsicheren Aufenthalts bewusst sein müssen. Vielmehr sprechen die angeführten Umstände für den gegenteiligen Standpunkt der Revisionswerberin, dem das BVwG in der Beweiswürdigung nur wegen des Fehlens eines Aufenthaltstitels nicht gefolgt ist. Das greift nach dem Gesagten nicht nur zu kurz, sondern das BVwG hätte insoweit auch nicht von einem geklärten Sachverhalt im Sinne des § 21 Abs. 7 BFA-VG ausgehen dürfen, sondern eine nähere Prüfung im Rahmen einer mündlichen Verhandlung vornehmen müssen.
11 Das gilt aber auch für die weitere Annahme des BVwG, der Antrag auf internationalen Schutz sei von der Revisionswerberin nur zur Umgehung der Bestimmungen des NAG gestellt worden. Für die Unterstellung einer solchen Missbrauchsabsicht genügt es nämlich nicht, dass die Revisionswerberin - wie das BVwG wörtlich ausführt - "im Zuge ihres Asylverfahrens keine konkrete Rückkehrgefährdung in Bezug auf ihren Herkunftsstaat ins Treffen führte". Entscheidend wäre vielmehr gewesen, ob der Antrag auch aus der Sicht der Revisionswerberin von vornherein als aussichtslos hätte erscheinen müssen. Diese Frage lässt sich nicht allein mit der mangelnden Berechtigung des Antrags beantworten, sondern hätte unter Bedachtnahme auf die konkrete Antragsbegründung zweckmäßigerweise durch Befragung der Revisionswerberin näher untersucht werden müssen. Immerhin hat die Prüfung des Antrags durch das BFA dreieinhalb Jahre gedauert, was einerseits gegen einen offensichtlich unbegründeten Antrag zu sprechen scheint und andererseits vom BVwG im Sinne des § 9 Abs. 2 Z 9 BFA-VG bei der Gesamtabwägung zugunsten der Revisionswerberin zu berücksichtigen gewesen wäre.
12 Schließlich erweist sich aber auch die Prognose des BVwG, es bestehe keine künftige Selbsterhaltungsfähigkeit der Revisionswerberin, als nicht schlüssig. Zwar lässt sich der vom BVwG angesprochenen Beschäftigungszusage tatsächlich kein konkreter Beginn der Tätigkeit entnehmen, doch hätte sich das BVwG nicht nur darauf beschränken dürfen. Vielmehr ist aufgrund der Ausbildung und Sprachkenntnisse der Revisionswerberin sowie ihrer bisherigen Berufserfahrung in Verbindung mit den ihr in den vorgelegten Empfehlungsschreiben attestierten Eigenschaften prima vista zu erwarten, dass sie eine Beschäftigung wird finden können, wie das vom BVwG ja auch für den Fall einer Rückkehr in die Ukraine angenommen wurde.
13 Im Übrigen lag - vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen in Verbindung mit der relativ langen Aufenthaltsdauer und der in dieser Zeit erlangten Integration samt den sehr guten Deutschkenntnissen sowie des sozialen Engagements der Revisionswerberin - in Bezug auf die Interessenabwägung auch kein "eindeutiger Fall" vor, sodass das BVwG auch zur Verschaffung eines persönlichen Eindrucks eine mündliche Verhandlung hätte durchführen müssen (siehe dazu und auch sonst zur Verhandlungspflicht bei aufenthaltsbeendenden Maßnahmen des Näheren VwGH 17.11.2016, Ra 2016/21/0316, Rn. 7, unter Bezugnahme v. a. auf VwGH 20.10.2016, Ra 2016/21/0289, Rn. 15 iVm Rn. 12, mwN; vgl. in diesem Sinn zuletzt VwGH 3.7.2018, Ra 2018/21/0081, Rn. 16).
14 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
15 Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 30. August 2018
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2018:RA2018210040.L00Im RIS seit
05.10.2018Zuletzt aktualisiert am
10.10.2018