Entscheidungsdatum
17.08.2018Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z5Spruch
W204 1427011-2/15E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Esther Schneider über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 05.04.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
I.1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF), ein Staatsangehöriger Afghanistans, reiste illegal in das Bundesgebiet ein und stellte am 13.12.2011 einen Antrag auf internationalen Schutz, der mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 15.05.2012, Zl. XXXX , hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wurde (Spruchpunkt I.). Gleichzeitig wurde ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 15.05.2013 erteilt (Spruchpunkte II. und III.).
Begründend wurde zu Spruchpunkt II. ausgeführt, der BF sei minderjährig, stamme aus Nangarhar und die wirtschaftliche Lage bis zur Ausreise sei angespannt gewesen. Er habe keine Angehörigen in Afghanistan, eine Versorgung sei für ihn als Minderjährigen daher nicht möglich. Aufgrund der in Afghanistan in seinem Wohngebiet beziehungsweise Aufenthaltsbereich stattfindenden Anschläge, der (noch) schlechten Versorgungslage, der hohen Arbeitslosenrate und der mangelnden Familienanbindung sei von einer einer unmenschlichen Behandlung gleichzusetzenden Situation bei einer Rückkehr auszugehen.
I.2. Gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheides erhob der BF fristgerecht Beschwerde, die mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 22.08.2012 zu XXXX als unbegründet abgewiesen wurde.
I.3. Die Aufenthaltsberechtigung wurde nach entsprechenden Anträgen bescheidmäßig verlängert, zuletzt mit Bescheid vom 23.05.2016 bis zum 15.05.2018.
I.4. Am 04.04.2018 wurde der BF von der zur Entscheidung berufenen Organwalterin des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) in Anwesenheit einer Dolmetscherin für die Sprache Paschtu einvernommen und zu seiner Situation in Österreich und seinen Familienangehörigen in Afghanistan befragt. Der BF legte eine Kopie seiner Tazkira vor, aus der hervorgeht, dass er am 21.03.2010 16 Jahre alt war. Gleichzeitig bestätigte der BF nunmehr bereits 24 alt zu sein. Als Beilage zur Niederschrift wurden diverse Integrationsunterlagen genommen.
I.5. Mit Bescheid vom 05.04.2018, dem BF am 12.04.2018 durch Hinterlegung zugestellt, wurde dem BF der Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 1 AsylG von Amts wegen aberkannt (Spruchpunkt I), die erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung entzogen (Spruchpunkt II), ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III), eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV) und festgestellt, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V), die Frist für die freiwillige Ausreise betrage 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI). Zudem wurde ein auf die Dauer von drei Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen.
Begründend wurde ausgeführt, der BF verfüge über Familie in Afghanistan und sei nunmehr nicht mehr minderjährig. Eine Rückkehr sei ihm daher als junger, lediger, arbeitsfähiger Mann zumutbar. Zudem habe er in Österreich mehrere Weiterbildungen besucht. Der BF habe in Österreich ein Kind und eine Freundin, mit denen er seit zwei Wochen zusammenlebe. Ein Familienleben könne somit nicht festgestellt werden, zumal er auch keinen Unterhalt an sein Kind bezahle. Auch ein unzulässiger Eingriff in das Privatleben könne nicht festgestellt werden, sodass eine Rückkehrentscheidung zulässig sei.
I.6. Mit Verfahrensordnung vom 05.04.2018 wurde dem BF amtswegig ein Rechtsberater zur Seite gestellt.
I.7. Mit Schreiben vom 23.04.2018 erhob der BF vertreten durch den im Spruch genannten Vertreter Beschwerde gegen die Spruchpunkte I, II, III und IV wegen unschlüssiger Beweiswürdigung/rechtlicher Beurteilung und eines in Folge dessen mangelhaften Ermittlungsverfahrens. Die Sicherheitslage in Afghanistan und insbesondere auch in Kabul habe sich nicht verbessert, sondern generell verschlechtert, was sich aus mehreren Berichten ergebe. Der BF habe ein großes soziales Netzwerk, spreche sehr gut Deutsch, arbeite und erfülle seine Verpflichtungen als Vater. Es wurde beantragt, den Bescheid dahingehend abzuändern, dass der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht aberkannt und nicht entzogen werde; in eventu den Bescheid ersatzlos zu beheben und an das BFA zurückzuverweisen; in eventu einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen zu erteilen; in eventu die Rückkehrentscheidung für auf Dauer unzulässig zu erklären und eine mündliche Verhandlung anzuberaumen. Beantragt wurde auch die Einvernahme mehrerer Zeuginnen.
Der Beschwerde beigelegt waren diverse Integrationsunterlagen.
I.8. Am 02.05.2018 langte die gegenständliche Beschwerde samt dem Verwaltungsakt beim Bundesverwaltungsgericht ein.
I.9. Am 25.06.2018 wurde durch das Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung durchgeführt, an der der BF und sein bevollmächtigter Rechtsvertreter sowie eine Zeugin teilnahmen und der die Eltern der Zeugin beiwohnten. Das BFA verzichtete mit Schreiben vom 24.05.2018 auf die Teilnahme an der Verhandlung. Im Rahmen der Verhandlung wurde der BF im Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Paschtu insbesondere ausführlich zu seinem Gesundheitszustand und seinem Privat- und Familienleben in Österreich und Afghanistan sowie zu Rückkehrbefürchtungen befragt.
I.10. Am 10.07.2018 langte eine Vollzugsinformation der JA Graz Jakomini ein.
I.11. Am 10.07.2018 wurde dem BF das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 29.06.2018 mit der Möglichkeit zur Stellungnahme übermittelt. Der BF machte davon keinen Gebrauch.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
Zur Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:
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Einsicht in den dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Verwaltungsakt des BFA betreffend den BF; insbesondere in die Befragungsprotokolle;
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Befragung des BF im Rahmen der öffentlichen mündlichen Beschwerdeverhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 25.06.2018;
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Einsicht in die in das Verfahren eingeführten Länderberichte zur aktuellen Situation im Herkunftsstaat;
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Einsicht in die im Rahmen des Verfahrens vorgelegten Unterlagen;
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Einsicht in das Zentrale Melderegister, das Strafregister und das Grundversorgungssystem.
II.1. Sachverhaltsfeststellungen:
II.1.1. Zum BF und seiner Situation im Falle einer Rückkehr:
Die Identität des BF ist nicht geklärt, die Daten im Spruch werden als seine Verfahrensidentität geführt. Der BF ist Staatsangehöriger von Afghanistan, gehört der Volksgruppe der Paschtunen an und ist sunnitischer Moslem. Er war im Jahr 2010 16 Jahre alt. Seine Muttersprache ist Paschtu. Außerdem spricht er Dari, Englisch und Urdu.
Der BF stammt aus dem Dorf XXXX , Distrikt Durbaba, Provinz Nangarhar. Dort besuchte er vier Jahre die Schule und war zeitweise als Hilfsarbeiter im Baubereich tätig. Die letzten Jahre vor der Ausreise nach Europa verbrachte der BF mit seiner Familie in Pakistan.
Seine Mutter und seine Geschwister lebten bei Zuerkennung des subsidiären Schutzes in Pakistan. Nunmehr lebt die Familie des BF wieder in Afghanistan in ihrem Haus in XXXX , wo sie ein Feld bewirtschaftet. Der Onkel des BF lebt in Pakistan und unterstützt die Familie des BF, wozu er sich gelegentlich auch in Afghanistan aufhält. Der BF hat Kontakt zu seinem Onkel und über diesen zu seiner Mutter.
Der BF befindet sich seit seiner Einreise am 13.12.2011 durchgehend im Bundesgebiet. Ihm wurde mit Bescheid vom 15.05.2012 erstinstanzlich subsidiärer Schutz zuerkannt, weil das damals zuständige Bundesasylamt aufgrund der bewusst falschen Angaben des BF annahm, dass er zu diesem Zeitpunkt minderjährig war. Die Behörde ging daher davon aus, dass der BF aufgrund seiner Minderjährigkeit und ohne Familie in Afghanistan in eine ausweglose Lage geraten würde, zumal sich Afghanistan in einer schwierigen Umwälzungsphase befinde und wirtschaftlich darniederliege. Tatsächlich war der BF zu diesem Zeitpunkt nicht mehr minderjährig, was der BF auch wusste.
Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF im Falle der Rückkehr in die Städte Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif real Gefahr laufen würde, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse nicht befriedigen zu können und daher in eine ausweglose beziehungsweise existenzbedrohende Notsituation zu geraten.
Der BF absolvierte in Österreich mehrere Deutschkurse und kann sich im Alltag problemlos auf Deutsch verständigen. Vom 04.09.2017 bis 06.10.2017 nahm der BF am "Perspektivencheck XXXX für Jugendliche" teil, das er im Auftrag des AMS besuchte. In der Zeit vom 11.12.2017 bis zum 22.12.2012 hat er das Seminar "Führen von Hubstaplern" des bfi besucht und die Abschlussprüfung erfolgreich abgelegt. Seit 19.02.2018 bis jedenfalls zur mündlichen Beschwerdeverhandlung nahm er an der halbtägigen Kursmaßnahme "Vorqualifizierung für Metallberufe- Metalltechnisches Fördermodul" des bfi teil. Daneben ist er seit 11.12.2017 (ebenfalls zumindest bis zur Beschwerdeverhandlung) bei der XXXX als freier Mitarbeiter im Ausmaß von 50 Stunden im Monat tätig. Im Rahmen dieser Tätigkeit liefert der BF Essen mit seinem Fahrrad aus. Er verdient dafür rund 420 bis 430€ pro Monat.
Von 20.06.2016 bis zum 12.08.2016 und vom 24.10.2016 bis zum 01.12.2016 war er als Arbeiter bei der XXXX beschäftigt. Von 19.06.2017 bis zum 29.06.2017 war er geringfügig, vom 11.10.2017 bis zum 12.10.2017, vom 23.10.2017 bis zum 27.10.2017 und vom 02.11.2017 bis zum 03.11.2017 war er Vollzeit als Arbeiter bei der XXXX beschäftigt. Arbeitslosengeld bezog der BF in den Zeiträumen 21.09.2013 bis 06.10.2013, 09.10.2013 bis 09.10.2013, 04.09.2017 bis 27.09.2017, 29.09.2017 bis 06.10.2017 und seit 13.11.2017 bis jedenfalls zur Beschwerdeverhandlung. Zum Zeitpunkt der Beschwerdeverhandlung beträgt dieses 600€.
Der BF hat mit einer österreichischen Staatsbürgerin ein gemeinsames Kind, das am XXXX geboren wurde. Das Kind verfügt über die österreichische Staatsbürgerschaft. Der BF hat die Vaterschaft anerkannt. Die alleinige Obsorge für das Kind kommt der Großmutter mütterlicherseits des Kindes zu. Der BF führt keine Beziehung mit der Mutter seines Kindes. Er lebte jedoch bis zum Haftantritt am 06.07.2018 in der Wohnung der Familie der Mutter des Kindes. Die Mutter des gemeinsamen Kindes ist ohne Beschäftigung, bezieht Kinderbetreuungsgeld und kümmert sich mit ihrer Mutter hauptsächlich um den Sohn. Der BF leistet für sein Kind keine regelmäßigen Unterhaltszahlungen.
Der BF ist kein Mitglied in einem Verein und er beschäftigte sich während seines Aufenthalts im Bundesgebiet nicht ehrenamtlich. Er ist gesund und arbeitsfähig.
Der BF wurde mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen XXXX vom 14.07.2014, rechtskräftig seit 18.07.2014, wegen des Verbrechens des Suchtgifthandels und dem Vergehen des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von zwölf Monaten verurteilt, wovon ein Teil von zehn Monaten unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde. Der unbedingte Teil der Freiheitsstrafe wurde bis 18.07.2014 vollzogen.
Mit Urteil des BG XXXX vom 21.07.2016, rechtskräftig seit 26.07.2016, wurde der BF wegen des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von drei Monaten verurteilt, von deren Vollzug unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt abgesehen wurde. Mit Beschluss wurde die Probezeit des Urteils vom 14.07.2014 auf fünf Jahre verlängert.
Mit einem weiteren Urteil des Landesgerichts für Strafsachen XXXX vom 02.05.2017, rechtskräftig seit 06.05.2017, wurde der BF wegen des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt. Die dem Urteil zugrundeliegende letzte Tat setzte der BF am 07.01.2017. Mit Beschluss wurde die Probezeit des Urteils des BG XXXX auf fünf Jahre verlängert. Am 06.07.2018 trat der BF die mit Urteil vom 02.05.2017 verhängte unbedingte Haftstrafe an.
II.1.2. Zur Situation in Afghanistan:
Politische Lage:
Nach dem Sturz des Taliban-Regimes im Jahr 2001 wurde eine neue Verfassung ausgearbeitet und im Jahr 2004 angenommen (BFA Staatendokumentation 7.2016; vgl. Casolino 2011). Sie basiert auf der Verfassung aus dem Jahr 1964. Bei der Ratifizierung sah diese Verfassung vor, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA Staatendokumentation 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).
Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015).
Nach den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2014 einigten sich die beiden Kandidaten Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah Mitte 2014 auf eine Regierung der Nationalen Einheit (RNE) (AM 2015; vgl. DW 30.9.2014). Mit dem RNE-Abkommen vom 21.9.2014 wurde neben dem Amt des Präsidenten der Posten des CEO (Chief Executive Officer) eingeführt, dessen Befugnisse jenen eines Premierministers entsprechen. Über die genaue Gestalt und Institutionalisierung des Postens des CEO muss noch eine loya jirga [Anm.: größte nationale Versammlung zur Klärung von wichtigen politischen bzw. verfassungsrelevanten Fragen] entscheiden (AAN 13.2.2015; vgl. AAN o. D.), doch die Einberufung einer loya jirga hängt von der Abhaltung von Wahlen ab (CRS 13.12.2017).
Die afghanische Innenpolitik war daraufhin von langwierigen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Regierungslagern unter Führung von Präsident Ashraf Ghani und dem Regierungsvorsitzenden (Chief Executive Officer, CEO) Abdullah Abdullah geprägt. Kurz vor dem Warschauer NATO-Gipfel im Juli 2016 wurden schließlich alle Ministerämter besetzt (AA 9.2016).
Parlament und Parlamentswahlen
Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus dem Unterhaus, auch wolesi jirga, "Kammer des Volkes", genannt, und dem Oberhaus, meshrano jirga auch "Ältestenrat" oder "Senat" genannt. Das Unterhaus hat 250 Sitze, die sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen verteilen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz im Unterhaus reserviert (AAN 22.1.2017; vgl. USDOS 20.4.2018, USDOS 15.8.2017, CRS 13.12.2017, Casolino 2011). Die Mitglieder des Unterhauses haben ein Mandat von fünf Jahren (Casolino 2011). Die verfassungsmäßigen Quoten gewährleisten einen Frauenanteil von ca. 25% im Unterhaus (AAN 22.1.2017).
Das Oberhaus umfasst 102 Sitze (IPU 27.2.2018). Zwei Drittel von diesen werden von den gewählten Provinzräten vergeben. Das verbleibende Drittel, wovon 50% mit Frauen besetzt werden müssen, vergibt der Präsident selbst. Zwei der vom Präsidenten zu vergebenden Sitze sind verfassungsgemäß für die Kutschi-Minderheit und zwei weitere für behinderte Personen bestimmt. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 20.4.2018; vgl. USDOS 15.8.2017).
Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist. Zugleich nutzt das Parlament seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z. T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die RNE als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leider die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 5.2018).
Die für Oktober 2016 angekündigten Parlamentswahlen konnten wegen ausstehender Wahlrechtsreformen nicht am geplanten Termin abgehalten werden. Daher bleibt das bestehende Parlament weiterhin im Amt (AA 9.2016; vgl. CRS 12.1.2017). Im September 2016 wurde das neue Wahlgesetz verabschiedet und Anfang April 2018 wurde von der unabhängigen Wahlkommission (IEC) der 20. Oktober 2018 als neuer Wahltermin festgelegt. Gleichzeitig sollen auch die Distriktwahlen stattfinden (AAN 12.4.2018; vgl. AAN 22.1.2017, AAN 18.12.2016).
Parteien
Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 15.8.2017). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (AE o. D.). Der Terminus "Partei" umfasst gegenwärtig eine Reihe von Organisationen mit sehr unterschiedlichen organisatorischen und politischen Hintergründen. Trotzdem existieren Ähnlichkeiten in ihrer Arbeitsweise. Einer Anzahl von ihnen war es möglich, die Exekutive und Legislative der Regierung zu beeinflussen (USIP 3.2015).
Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen jedoch mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren, denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien. Ethnischer Proporz, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen genießen traditionell mehr Einfluss als politische Organisationen. Die Schwäche des sich noch entwickelnden Parteiensystems ist auf strukturelle Elemente (wie z.B. das Fehlen eines Parteienfinanzierungsgesetzes) zurückzuführen sowie auf eine allgemeine Skepsis der Bevölkerung und der Medien. Reformversuche sind im Gange, werden aber durch die unterschiedlichen Interessenlagen immer wieder gestört, etwa durch das Unterhaus selbst (AA 9.2016). Ein hoher Grad an Fragmentierung sowie eine Ausrichtung auf Führungspersönlichkeiten sind charakteristische Merkmale der afghanischen Parteienlandschaft (AAN 6.5.2018).
Mit Stand Mai 2018 waren 74 Parteien beim Justizministerium (MoJ) registriert (AAN 6.5.2018).
Parteienlandschaft und Opposition
Nach zweijährigen Verhandlungen unterzeichneten im September 2016 Vertreter der afghanischen Regierung und der Hezb-e Islami ein Abkommen (CRS 12.1.2017), das letzterer Immunität für "vergangene politische und militärische" Taten zusichert. Dafür verpflichtete sich die Gruppe, alle militärischen Aktivitäten einzustellen (DW 29.9.2016). Das Abkommen beinhaltete unter anderem die Möglichkeit eines Regierungspostens für den historischen Anführer der Hezb-e-Islami, Gulbuddin Hekmatyar; auch soll sich die afghanische Regierung bemühen, internationale Sanktionen gegen Hekmatyar aufheben zu lassen (CRS 12.1.2017). Tatsächlich wurde dieser im Februar 2017 von der Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates gestrichen (AAN 3.5.2017). Am 4.5.2017 kehrte Hekmatyar nach Kabul zurück (AAN 4.5.2017). Die Rückkehr Hekmatyars führte u.a. zu parteiinternen Spannungen, da nicht alle Fraktionen innerhalb der Hezb-e Islami mit der aus dem Friedensabkommen von 2016 erwachsenen Verpflichtung sich unter Hekmatyars Führung wiederzuvereinigen, einverstanden sind (AAN 25.11.2017; vgl. Tolonews 19.12.2017, AAN 6.5.2018). Der innerparteiliche Konflikt dauert weiter an (Tolonews 14.3.2018).
Ende Juni 2017 gründeten Vertreter der Jamiat-e Islami-Partei unter Salahuddin Rabbani und Atta Muhammad Noor, der Jombesh-e Melli-ye Islami-Partei unter Abdul Rashid Dostum und der Hezb-e Wahdat-e Mardom-Partei unter Mardom Muhammad Mohaqeq die semi-oppositionelle "Coalition for the Salvation of Afghanistan", auch "Ankara Coalition" genannt. Diese Koalition besteht aus drei großen politischen Parteien mit starker ethnischer Unterstützung (jeweils Tadschiken, Usbeken und Hazara) (AB 18.11.2017; vgl. AAN 6.5.2018).
Unterstützer des weiterhin politisch tätigen ehemaligen Präsidenten Hamid Karzai gründeten im Oktober 2017 eine neue politische Bewegung, die Mehwar-e Mardom-e Afghanistan (The People's Axis of Afghanistan), unter der inoffiziellen Führung von Rahmatullah Nabil, des ehemaligen Chefs des afghanischen Geheimdienstes (NDS). Später distanzierten sich die Mitglieder der Bewegung von den politischen Ansichten Hamid Karzais (AAN 6.5.2018; vgl. AAN 11.10.2017).
Anwarul Haq Ahadi, der langjährige Anführer der Afghan Mellat, eine der ältesten Parteien Afghanistans, verbündete sich mit der ehemaligen Mujahedin-Partei Harakat-e Enqilab-e Eslami-e Afghanistan. Gemeinsam nehmen diese beiden Parteien am New National Front of Afghanistan teil (NNF), eine der kritischsten Oppositionsgruppierungen in Afghanistan (AAN 6.5.2018; vgl. AB 29.5.2017).
Eine weitere Oppositionspartei ist die Hezb-e Kongara-ya Melli-ye Afghanistan (The National Congress Party of Afghanistan) unter der Führung von Abdul Latif Pedram (AB 15.1.2016; vgl. AB 29.5.2017).
Auch wurde die linksorientierte Hezb-e-Watan-Partei (The Fatherland Party) wieder ins Leben gerufen, mit der Absicht, ein wichtiges Segment der ehemaligen linken Kräfte in Afghanistan zusammenzubringen (AAN 6.5.2018; vgl. AAN 21.8.2017).
Friedens- und Versöhnungsprozess
Am 28. Februar 2018 machte Afghanistans Präsident Ashraf Ghani den Taliban ein Friedensangebot (NYT 11.3.2018; vgl. TS 28.2.2018). Die Annahme des Angebots durch die Taliban würde, so Ghani, diesen verschiedene Garantien gewähren, wie eine Amnestie, die Anerkennung der Taliban-Bewegung als politische Partei, eine Abänderung der Verfassung und die Aufhebung der Sanktionen gegen ihre Anführer (TD 7.3.2018). Quellen zufolge wird die Annahme bzw. Ablehnung des Angebots derzeit in den Rängen der Taliban diskutiert (Tolonews 16.4.2018; vgl. Tolonews 11.4.2018). Anfang 2018 fanden zwei Friedenskonferenzen zur Sicherheitslage in Afghanistan statt: die zweite Runde des Kabuler Prozesses [Anm.: von der afghanischen Regierung ins Leben gerufene Friedenskonferenz mit internationaler Beteiligung] und die Friedenskonferenz in Taschkent (TD 24.3.2018; vgl. TD 7.3.2018, NZZ 28.2.2018). Anfang April rief Staatspräsident Ghani die Taliban dazu auf, sich für die Parlamentswahlen im Oktober 2018 als politische Gruppierung registrieren zu lassen, was von diesen jedoch abgelehnt wurde (Tolonews 16.4.2018). Ende April 2018 kam es in diesem Zusammenhang zu Angriffen regierungsfeindlicher Gruppierungen (hauptsächlich des IS, aber auch der Taliban) auf mit der Wahlregistrierung betraute Behörden in verschiedenen Provinzen (vgl. Kapitel 3. "Sicherheitslage").
Am 19.5.2018 erklärten die Taliban, sie würden keine Mitglieder afghanischer Sicherheitskräfte mehr angreifen, wenn diese ihre Truppen verlassen würden, und gewährten ihnen somit eine "Amnestie". In ihrer Stellungnahme erklärten die Aufständischen, dass das Ziel ihrer Frühlingsoffensive Amerika und ihre Alliierten seien (AJ 19.5.2018).
Am 7.6.2018 verkündete Präsident Ashraf Ghani einen Waffenstillstand mit den Taliban für den Zeitraum 12.6.2018 - 20.6.2018. Die Erklärung erfolgte, nachdem sich am 4.6.2018 über 2.000 Religionsgelehrte aus ganz Afghanistan in Kabul versammelt hatten und eine Fatwa zur Beendigung der Gewalt aussprachen (Tolonews 7.6.2018; vgl. Reuters 7.6.2018, RFL/RL 5.6.2018). Durch die Fatwa wurden Selbstmordanschläge für ungesetzlich (nach islamischem Recht, Anm.) erklärt und die Taliban dazu aufgerufen, den Friedensprozess zu unterstützen (Reuters 5.6.2018). Die Taliban selbst gingen am 9.6.2018 auf das Angebot ein und erklärten einen Waffenstillstand von drei Tagen (die ersten drei Tage des Eid-Fests, Anm.). Der Waffenstillstand würde sich jedoch nicht auf die ausländischen Sicherheitskräfte beziehen; auch würden sich die Taliban im Falle eines militärischen Angriffs verteidigen (HDN 10.6.2018; vgl. TH 10.6.2018, Tolonews 9.6.2018).
Quellen:
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AA - Auswärtiges Amt (9.2016): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, https://www.ecoi.net/en/file/local/1253781/4598_1478857553_3-deutschland-auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-islamischen-republik-afghanistan-19-10-2016.pdf, Zugriff 23.4.2018
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AAN - Afghanistan Analysts Network (18.12.2016): Update on Afghanistan's Electoral Process: Electoral deadlock - for now, https://www.afghanistan-analysts.org/update-on-afghanistans-electoral-process-electoral-deadlock-broken-for-now/, Zugriff 4.6.2018
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AB - Afghan Bios (29.5.2017): New National Front of Afghanistan
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