TE Vwgh Erkenntnis 2018/9/6 Ra 2018/18/0315

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Veröffentlicht am 06.09.2018
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Index

E000 EU- Recht allgemein;
E3L E19103000;
19/05 Menschenrechte;
41/02 Passrecht Fremdenrecht;
49/01 Flüchtlinge;

Norm

32013L0033 Aufnahme-RL Art21;
AsylG 2005 §3 Abs1;
AsylG 2005 §8 Abs1;
EURallg;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;
MRK Art2;
MRK Art3;

Beachte

Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung verbunden):Ra 2018/18/0316 Ra 2018/18/0317 Ra 2018/18/0320 Ra 2018/18/0319 Ra 2018/18/0318

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer sowie die Hofrätin Mag. Dr. Maurer-Kober und den Hofrat Dr. Sutter als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision 1. des M R, 2. der N R, 3. des A R, 4. der M R, 5. der R R und 6. des A R, alle in Wien, alle vertreten durch Mag. Robert Bitsche, Rechtsanwalt in 1050 Wien, Nikolsdorfergasse 7-11/15, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 13. April 2018, Zlen. W245 2152482-1/11E (ad 1.), W245 2152483- 1/12E (ad 2.), W245 2152476-1/11E (ad 3.), W245 2152481-1/11E (ad 4.), W245 2152485-1/11E (ad 5.) und W245 2152479-1/10E (ad 6.), betreffend Asylangelegenheiten (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl),

Spruch

I. den Beschluss gefasst:

Die Revision wird zurückgewiesen, soweit sie sich gegen die Abweisung der Beschwerde in Bezug auf den Status der Asylberechtigten gemäß § 3 AsylG 2005 richtet.

II. zu Recht erkannt:

In seinem übrigen Umfang wird das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat den revisionswerbenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der Erstrevisionswerber ist der Ehegatte der Zweitrevisionswerberin. Die dritt- bis sechstrevisionswerbenden Parteien sind deren minderjährige Kinder. Die revisionswerbenden Parteien sind Staatsangehörige Afghanistans, stammen aus Kabul und gehören der Volksgruppe der Hazara an. Sie stellten am 27. November 2015 (für die erst- bis fünftrevisionswerbenden Parteien) bzw. am 3. März 2017 (für den Sechstrevisionswerber) Anträge auf internationalen Schutz im Bundesgebiet. Zum Fluchtgrund befragt, gab der Erstrevisionswerber zusammengefasst an, seine (erste) Ehefrau und sein damals zweijähriger Sohn seien bei einem Angriff im Jahr 1990 ums Leben gekommen. Als er nunmehr im Jahr 2013 einen Drohbrief von den Taliban erhalten habe, habe er Angst bekommen, dass seine jetzige Familie das gleiche Schicksal ereilen werde. Die Zweitrevisionswerberin berief sich im Wesentlichen auf die Fluchtgründe ihres Ehemanns und ergänzte, dass Hazara in Afghanistan nicht akzeptiert würden und sie ihre Kinder aufgrund der prekären Sicherheitslage habe in Sicherheit bringen wollen. Um sich die Flucht zu finanzieren, hätten die revisionswerbenden Parteien ihr Haus verkauft.

2 Mit Bescheiden vom 15. März 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) die Anträge der revisionswerbenden Parteien auf internationalen Schutz zur Gänze ab, erteilte ihnen keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), erließ gegen sie Rückkehrentscheidungen und stellte fest, dass ihre Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei. Die Frist für eine freiwillige Ausreise betrage vierzehn Tage.

3 Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit dem angefochtenen Erkenntnis als unbegründet ab und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.

4 Begründend führte es - auf das Wesentliche zusammengefasst -

aus, das Fluchtvorbringen zur Ermordung der ersten Ehefrau und des Sohnes des Erstrevisionswerbers sowie zum Erhalt eines Drohbriefs sei aufgrund von Widersprüchlichkeiten und unplausiblen und teilweise gesteigerten Angaben nicht glaubhaft. Die Zweitrevisionswerberin habe in Österreich auch keine selbstbestimmte "westliche" Lebensweise angenommen, welche zu den in Afghanistan vorherrschenden gesellschaftlichen Zwängen in Widerspruch stehe. Eine solche Lebensweise sei auch nicht wesentlicher Bestandteil ihrer Identität geworden. Zur Nichtzuerkennung von subsidiärem Schutz führte das BVwG im Wesentlichen aus, den revisionswerbenden Parteien drohe bei einer Rückkehr nach Kabul keine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 2 oder 3 EMRK. Der Erstrevisionswerber sei ein erwachsener, arbeitsfähiger Mann mit Schulbildung und Berufserfahrung als Schneider, Schuhverkäufer, Teppichknüpfer, Reinigungskraft und Kellner und sei seit der sechsten Klasse in der Lage gewesen, für sich selbst und später auch für seine Familie zu sorgen. Auch die Zweitrevisionswerberin verfüge über Schulbildung und Berufserfahrung und könne demnach durch Gelegenheitstätigkeiten die Existenzgrundlage ihrer Familie sichern. Alle revisionswerbenden Parteien seien der Landessprache mächtig, über die in Kabul bestehenden Lebensbedingungen sehr gut informiert, mit den kulturellen Gepflogenheiten vertraut und verfügten über ein familiäres Netz in Kabul. Die Stadt Kabul sei über den Luftweg gut erreichbar und trotz nicht auszuschließender Anschläge insgesamt als ausreichend sicher einzustufen. Auch ergebe sich aufgrund der Minderjährigkeit der dritt- bis sechstrevisionswerbenden Parteien keine reale Gefahr, dass diese einer unmenschlichen Behandlung ausgesetzt seien. Es stehe den minderjährigen dritt- und viertrevisionswerbenden Parteien offen, in Kabul weiterhin eine Schule zu besuchen. Eine (Wieder-)Eingliederung der minderjährigen revisionswerbenden Parteien in die afghanische Gesellschaft sei aufgrund deren Alters und der überwiegenden Sozialisierung in Afghanistan möglich.

5 Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zu ihrer Zulässigkeit im Wesentlichen geltend macht, das BVwG habe es verabsäumt, ausreichende Feststellungen zur westlichen Orientierung der Zweitrevisionswerberin zu treffen. Betreffend die Nichtzuerkennung von subsidiärem Schutz weiche das BVwG von der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ab, indem es unberücksichtigt lasse, dass es sich bei den revisionswerbenden Parteien um eine Familie mit vier minderjährigen Kindern (und somit um besonders vulnerable Personen) handle. Ihnen drohe im Falle einer Rückkehr die Gefahr einer Verletzung von Art. 2 oder 3 EMRK.

6 Die belangte Behörde erstattete keine Revisionsbeantwortung.

7 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

8 Die Revision ist teilweise zulässig und auch teilweise

begründet.

Zu I:

9 Keine Berechtigung kommt der Revision insoweit zu, als sie fehlende Feststellungen hinsichtlich der "westlichen Orientierung" der Zweitrevisionswerberin moniert.

10 Mit diesem pauschal gehaltenen Vorbringen machen die revisionswerbenden Parteien Verfahrensmängel geltend. Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes reicht es aber nicht aus, die Außerachtlassung von Verfahrensvorschriften zu behaupten, ohne die Relevanz der genannten Verfahrensmängel darzulegen. Die Relevanz der geltend gemachten Verfahrensfehler ist in konkreter Weise darzulegen (vgl. etwa VwGH 21.3.2018, Ra 2017/18/0474-0479, mwN). Eine solche Relevanzdarlegung ist der vorliegenden Revision jedoch nicht zu entnehmen.

Der Vollständigkeit halber ist auszuführen, dass nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht jede Änderung der Lebensführung einer Asylwerberin während ihres Aufenthalts in Österreich, die im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht mehr aufrecht erhalten werden könnte, dazu führt, dass der Asylwerberin deshalb internationaler Schutz gewährt werden muss. Entscheidend ist vielmehr eine grundlegende und auch entsprechend verfestigte Änderung der Lebensführung, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt, die zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Identität geworden ist, und die bei Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht gelebt werden könnte (vgl. idS VwGH 23.1.2018, Ra 2017/18/0301-0306; 3.5.2018, Ra 2018/19/0191-0195).

11 Im gegenständlichen Fall setzte sich der erkennende Richter mit den Alltagsbeschäftigungen der Zweitrevisionswerberin auseinander und verneinte im Rahmen einer nicht als unvertretbar zu erkennenden Beweiswürdigung, dass eine Lebensweise im Sinne der zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes wesentlicher Bestandteil der Identität der Zweitrevisionswerberin geworden sei, was die revisionswerbenden Parteien mit der pauschal gehaltenen Verfahrensrüge nicht zu entkräften vermochten.

Zu II:

12 Berechtigung kommt der Revision hingegen insoweit zu, als sie zutreffend darauf verweist, dass das BVwG im Rahmen seiner Prüfung, ob den revisionswerbenden Parteien subsidiärer Schutz zuzuerkennen sei, nicht ausreichend auf die minderjährigen drittbis sechstrevisionswerbenden Parteien eingegangen ist.

13 Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits wiederholt festgehalten, dass bei der Prüfung betreffend die Zuerkennung von subsidiärem Schutz eine Einzelfallprüfung vorzunehmen ist, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen sind, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr ("real risk") einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat (vgl. VwGH 13.12.2016, Ra 2016/20/0098, mwN).

14 Wie der Verwaltungsgerichtshof bereits wiederholt ausgesprochen hat, ist eine besondere Vulnerabilität bei der Beurteilung, ob den revisionswerbenden Parteien bei einer Rückkehr in die Heimat eine Verletzung ihrer durch Art. 2 und 3 EMRK geschützten Rechte droht, im Speziellen zu berücksichtigen (vgl. VwGH 21.3.2018, Ra 2017/18/0474 bis 0479; 30.8.2017, Ra 2017/18/0089-0095, mwN).

15 Im vorliegenden Revisionsfall ist daher insbesondere zu berücksichtigen, dass es sich bei den revisionswerbenden Parteien um eine Familie mit vier minderjährigen Kindern und somit - im Hinblick auf die Minderjährigkeit der dritt- bis sechstrevisionswerbenden Parteien - um eine besonders vulnerable und besonders schutzbedürftige Personengruppe handelt (vgl. die Definition schutzbedürftiger Personen in Art. 21 der EU-Richtlinie 2013/33/EU, Aufnahmerichtlinie), was eine konkrete Auseinandersetzung damit verlangt, welche Rückkehrsituation die revisionswerbenden Parteien in Kabul tatsächlich vorfinden.

16 Einerseits lässt im vorliegenden Revisionsfall die Ausführung des BVwG, wonach die Lage in Kabul vergleichsweise sicher und stabil sei, keinen Rückschluss darauf zu, dass dies in gleicher Weise für besonders vulnerable Personen gilt. In diesem Zusammenhang ist auch auf die Länderfeststellungen des BVwG zu verweisen, wonach die Mission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) in Afghanistan im Jahr 2016 die höchste Zahl an minderjährigen Opfern seit Aufzeichnungsbeginn verzeichnet habe. Die zweithöchste Zahl an zivilen Opfern sei dabei in zentralen Regionen, wozu auch die Stadt Kabul zähle, registriert worden.

17 Andererseits ist der Ausführung des BVwG nicht zu entnehmen, dass es bei der Beurteilung der Versorgungslage in ausreichender Weise berücksichtigt hätte, dass es sich bei den revisionswerbenden Parteien um eine sechsköpfige Familie mit vier minderjährigen Kindern handelt. Insbesondere aufgrund der besonderen Vulnerabilität der minderjährigen Kinder hätte das BVwG konkrete Feststellungen zu den Möglichkeiten der revisionswerbenden Parteien, in Kabul eine entsprechende Unterkunft zu finden, treffen müssen. Der allgemeine Hinweis des BVwG auf allfällig vorhandene familiäre Unterstützung kann diese erforderlichen Feststellungen nicht ersetzen (vgl. VwGH 22.2.2018, Ra 2017/18/0357-0362, Rz 22).

18 Ausgehend davon bedarf es im gegenständlichen Fall einer genaueren, auf aktuellen Berichten beruhenden Auseinandersetzung mit der Frage, ob den (vulnerablen) revisionswerbenden Parteien bei einer Rückkehr nach Afghanistan, insbesondere in Kabul, eine Verletzung ihrer durch Art. 3 EMRK garantierten Rechte droht. Zwar setzt sich das BVwG mit einigen Aspekten der Art. 3 EMRK-Prüfung auseinander, jedoch lässt das angefochtene Erkenntnis eine ganzheitliche Bewertung der möglichen Gefahren, insbesondere in Anbetracht der bereits ausgeführten besonderen Schutzbedürftigkeit der minderjährigen revisionswerbenden Parteien, vermissen. Die Revision rügt daher zu Recht, dass dem BVwG eine Verletzung der Begründungspflicht vorzuwerfen ist (vgl. zur Begründungspflicht im Allgemeinen etwa VwGH 29.11.2017, Ro 2017/18/0002-0003, mwN).

19 Das angefochtene Erkenntnis war daher in Bezug auf die Abweisung der Beschwerde gegen die Nichtgewährung von subsidiärem Schutz und die darauf aufbauenden Spruchpunkte gemäß § 42 Abs. 2 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben; in Bezug auf die Abweisung der Beschwerde gegen die Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten mangels Darlegung einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG jedoch gemäß § 34 Abs. 1 VwGG zurückzuweisen.

20 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014. Wien, am 6. September 2018

Schlagworte

Gemeinschaftsrecht Richtlinie EURallg4

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2018:RA2018180315.L00.1

Im RIS seit

02.10.2018

Zuletzt aktualisiert am

18.01.2019
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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