TE Bvwg Erkenntnis 2018/8/2 W139 2159877-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 02.08.2018
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Entscheidungsdatum

02.08.2018

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs4
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art.133 Abs4

Spruch

W139 2159877-1/15E

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Kristina HOFER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch Caritas Burgenland, St. Rochus-Straße 15, 7000 Eisenstadt, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs 1 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt.

Gemäß § 3 Abs 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Die Beschwerdeführerin, eine afghanische Staatsangehörige und Angehörige der Volksgruppe der Tadschiken, reiste mit ihrer Familie illegal in das österreichische Bundesgebiet ein. Sie stellte am 19.11.2015 gemeinsam mit ihrem Ehegatten (Zl. W139 2159869-1), mit ihrem damals minderjährigen Sohn (Zl. W139 2159888-1), einem weiteren Sohn (Zl. W139 2159882-1) und zwei ihrer Töchter (Zl. W139 2159873-1 und W139 2159886-1) einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. In ihrer Erstbefragung am 19.11.2015 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab die Beschwerdeführerin im Wesentlichen an, sie stamme aus Kabul. Sie sei in Afghanistan als Lehrerin tätig gewesen. Zuletzt habe sie 21 Jahre in Peshawar, Pakistan gelebt, wo sie ebenfalls Lehrerin und Direktorin in einer privaten Schule gewesen sei. Sie sei Mitglied in einem Frauenverein gewesen. Zum Fluchtgrund führte die Beschwerdeführerin an, die Situation damals in Afghanistan sei schlecht gewesen, es habe Krieg gegeben. Sie habe mit ihren Brüdern auch private Probleme, nämlich Erbstreitigkeiten, gehabt. Deshalb seien sie vor 21 Jahren nach Pakistan gegangen. Seit dem Jahr 2005 werde ein Sohn von ihr vermisst und sei nicht mehr zurückgekommen. Dessen Zwillingsbruder habe daraufhin auch die Familie verlassen. Vor einem Jahr habe man auch einen weiteren Sohn (Beschwerdeführer zu Zl. W139 2159888-1) entführen wollen. Deshalb hätten sie beschlossen, das Land zu verlassen.

3. Bei ihrer niederschriftlichen Einvernahme vor der belangten Behörde am 11.04.2017 gab die Beschwerdeführerin an, sie habe in Kabul zwölf Jahre die Schule und danach eine pädagogische Hochschule besucht. Sie habe bis 1993 in Kabul gelebt und sei in Afghanistan Lehrerin gewesen. In Pakistan sei sie Direktorin in einer Schule gewesen. Sie habe Alphabetisierungsklassen für Frauen eröffnet. Weiters sei sie Mitglied bei der Organisation RAWA gewesen, von welcher sie von 2002 bis 2005 finanzielle Unterstützung erhalten habe. Aus diesem Grund sei sie immer wieder bedroht worden. Im Mai 2005 sei einer ihrer Söhne im Alter von 15 Jahren entführt worden. Dieser sei bis heute unbekannten Aufenthalts. Sie sei telefonisch bedroht worden, dass man ihren Sohn und ihre Familie töten würde, falls sie Anzeige erstatte. Daraufhin habe sie die Hilfe von RAWA nicht mehr angenommen, die Alphabetisierungskurse abgesagt und mit ihrer Familie in Peshawar den Wohnort gewechselt. Trotzdem habe sie weiterhin Drohungen erhalten, weil sie nach wie vor Kinder unterrichtet habe. Sie sei dann zu ihrem Bruder nach Afghanistan gefahren und habe diesen um Hilfe gebeten, da dieser der Partei Hezbe-Islami Afghanistan angehöre und für die Regierung gearbeitet habe. Ihr Bruder habe sie beschimpft und aus dem Haus geworfen und gesagt, wenn sie Freiheit haben wolle, müsse sie auch damit rechnen, dass sie umgebracht werde. Sie sei nach Pakistan zurückgekehrt. Nach etwa drei Monaten habe ihr Stiefbruder angerufen und gesagt, der andere Bruder wolle die Grundstücke der Familie verkaufen. Sie sei nach Kabul gefahren und gemeinsam mit ihrem Stiefbruder und mit ihren Schwestern zu diesem Bruder gegangen. Dieser habe ihnen vorgehalten, dass verheiratete Frauen keine Rechte mehr hätten. Er habe die Beschwerdeführerin mit seiner Pistole bedroht, er werde sie töten, wenn sie noch einmal über die Grundstücke rede. Sie habe Anzeige bei der afghanischen Regierung erstattet. Nach etwa sechs Monaten sei sie wieder nach Pakistan zurückgekehrt. Sie hätten für die Grundstücke nur ganz wenig Geld vom Bruder erhalten. Sie sei von ihren eigenen Brüdern bedroht worden, weil sie ihre Kinder in die Schule geschickt habe. Vor allem ihre Töchter hätten Schulbildung erhalten. Ihre Brüder hätten gemeint, dass eine Frau zuhause sitzen und kochen müsse. Ihr Ziel sei immer gewesen, dass ihre Kinder, so wie sie, Bildung erhalten sollten. Über sie sei auch in Zeitung und Fernsehen berichtet worden und sie sei immer in der Öffentlichkeit gestanden. Sie sei auch in Afghanistan wegen ihrer politischen Überzeugung verfolgt worden, da sie immer enge Sachen, kurze Oberbekleidung, kurze Haare und kein Kopftuch getragen habe. Sie habe als Lehrerin in Afghanistan Probleme mit den Vätern der Schülerinnen gehabt und sei von diesen mit dem Umbringen bedroht worden. Sie sei nicht religiös und habe auch ihre Kinder nicht religiös erzogen. Im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan befürchte sie, von ihrem Bruder, den Taliban und der Hezbe-Islami umgebracht zu werden. Die Beschwerdeführerin legte zahlreiche Dokumente vor (u.a. Tazkira, Dienstausweis einer Schule, mehrere Zertifikate, Kursbestätigungen, Empfehlungsschreiben, Befunde und Fotos).

4. Mit Schreiben vom 19.04.2017 erstattete die Beschwerdeführerin eine Stellungnahme zu den Länderfeststellungen zu Afghanistan, worin ausgeführt wurde, die Beschwerdeführerin habe sich als Lehrerin für das Recht von Mädchen auf Bildung eingesetzt und sei deswegen bedroht worden. Sie sei nicht gewillt, sich an das traditionelle Rollenbild afghanischer Frauen zu halten und habe sich eine westliche Lebensweise zu eigen gemacht. Zwar gebe es mittlerweile gesetzliche Grundlagen zum Schutz von Frauen, deren Umsetzung stoße jedoch auf Widerstand in der traditionell patriarchalischen afghanischen Gesellschaft. Die Beschwerdeführerin habe weiters in einer Erbangelegenheit ihr Recht geltend machen wollen und sei deshalb bedroht und misshandelt worden. Die gesamte Familie habe eine äußerst liberale Lebensweise und es sei Asyl bzw zumindest subsidiärer Schutz zu gewähren.

5. Mit dem angefochtenen Bescheid vom 11.05.2017 wies die belangte Behörde sowohl den Antrag der Beschwerdeführerin auf Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) als auch jenen auf Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) ab. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen die Beschwerdeführerin eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs 2 Z 2 FPG erlassen. Es wurde gemäß § 52 Abs 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise der Beschwerdeführerin 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.).

Die belangte Behörde führte begründend im Wesentlichen aus, auf die von der Beschwerdeführerin im Zusammenhang mit Pakistan vorgebrachten Fluchtgründe sei nicht näher einzugehen, da es sich dabei nicht um den Herkunftsstaat handle. Nicht in Zweifel gestellt werde, dass die Beschwerdeführerin tatsächlich mit ihren Brüdern um das Erbe der Eltern streiten habe müssen. Nicht glaubwürdig sei allerdings die von ihr vorgebrachte damit im Zusammenhang stehende Bedrohung durch ihren Bruder, da die Beschwerdeführerin zum einen angegeben habe, bis 2015 im Machtbereich ihres Bruders geblieben zu sein, obwohl der Streit zumindest seit dem Jahr 2007 bestanden hätte. Zum anderen würden die Angaben in den von der Beschwerdeführerin vorgelegten Anzeigen an die Behörde und ihre mündlichen Angaben in der Einvernahme voneinander abweichen. Die Beschwerdeführerin habe in der Öffentlichkeit in Pakistan ein Kopftuch getragen und es sei davon auszugehen, dass sie sich mit den Bekleidungsvorschriften Afghanistans arrangiert habe. Konkrete Verfolgungshandlungen aufgrund ihrer Einstellung habe die Beschwerdeführerin nicht vorgebracht. Die Taliban hätten nicht die Macht in Kabul und die Beschwerdeführerin könnte auch als ehemaliges RAWA-Mitglied in Kabul relativ sicher leben. Die Beschwerdeführerin habe familiäre Anknüpfungspunkte in Afghanistan und da sie auch vor ihrer Ausreise gearbeitet habe, könnte sie im Fall einer Rückkehr ihren Lebensunterhalt bestreiten. Die Rückkehrentscheidung gemäß Spruchpunkt III. wurde mit einer zu Lasten der Beschwerdeführerin ausgehenden Interessenabwägung nach Art 8 Abs 2 EMRK begründet.

6. Mit Schreiben vom 26.05.2017 erhob die Beschwerdeführerin - fristgerecht - Beschwerde gegen den obgenannten Bescheid. Sie beantragte die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten, in eventu der subsidiär Schutzberechtigten, in eventu die Zurückverweisung. Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, der angefochtene Bescheid sei mit Willkür behaftet. So habe die Behörde etwa die eingebrachte Stellungnahme ignoriert und sich nicht mit der Zugehörigkeit der Beschwerdeführerin und ihrer Töchter zur sozialen Gruppe der westlich orientierten Frauen auseinandergesetzt. Die Beschwerdeführerin und ihre Töchter seien emanzipierte und gut ausgebildete Frauen, die sich die westliche Lebensweise nachdrücklich zu eigen gemacht hätten, wobei die Töchter von ihren Eltern bereits liberal erzogen worden seien.

7. Mit Schreiben vom 30.01.2018, 13.04.2018 und 04.05.2018 wurden weitere Unterlagen betreffend die Integration der Familie vorgelegt (Bestätigung der unentgeltlichen Tätigkeit der Beschwerdeführerin bei der XXXX , Kursteilnahmebestätigungen, Fotos). In einer Stellungnahme vom 05.06.2018 wurde ergänzend ausgeführt, die Tätigkeit der Beschwerdeführerin als Schulleiterin für afghanische Flüchtlinge in Pakistan sei mit Unterstützung der bekannten Organisation RAWA (Revolutionäre Vereinigung der Frauen Afghanistans) erfolgt, die in Afghanistan bzw Pakistan wegen ihres Einsatzes für die Unterstützung von Frauen und die Verbreitung ihrer weltoffenen Philosophie von Taliban und anderen Gruppierungen gewaltsam verfolgt werde. Weiters habe sich die Sicherheitslage in Afghanistan verschlechtert. Dazu wurden Unterlagen betreffend RAWA sowie weitere Unterlagen betreffend die Beschwerdeführerin und ihre Familie vorgelegt (u.a. Bestätigungen über freiwilliges Engagement, Kursteilnahmebestätigungen, Fotos, Empfehlungsschreiben).

8. Am 03.07.2018 (fortgesetzt am 05.07.2018) fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Dari statt, bei welcher die Beschwerdeführerin, ihr Ehegatte sowie ihre vier in Österreich befindlichen Kinder einvernommen wurden. Die belangte Behörde blieb der Verhandlung entschuldigt fern. In Ergänzung der bereits vorgelegten Unterlagen wurde ein Konvolut an weiteren Dokumenten vorgelegt (u.a. Kursteilnahmebestätigungen, Arztbefunde, Empfehlungsschreiben, Fotos).

Im Rahmen der Befragung bestätigte die Beschwerdeführerin zunächst die bisherigen Angaben zu ihrer Person und bekräftigte, bei den bisherigen Einvernahmen die Wahrheit gesagt zu haben. Die Beschwerdeführerin gab an, die Dolmetscher bei ihren bisherigen Einvernahmen gut verstanden zu haben und die Niederschriften seien ihr rückübersetzt worden.

Weiters gab die Beschwerdeführerin (BF) entscheidungswesentlich Folgendes an (RI = erkennende Richterin, D = Dolmetscherin, RV = Rechtsvertreter) [evtl. Rechtschreib- oder Tippfehler vom Bundesverwaltungsgericht korrigiert]:

"[...]

Zur Identität und Herkunft sowie zu den persönlichen Lebensumständen:

[...]

RI: Geben Sie bitte genau an, wo Sie in Afghanistan gelebt haben, wann und mit wem?

BF: Wir lebten in Kabul, im Stadtteil XXXX , XXXX . Von meiner Geburt bis zum Jahr 1993 lebte ich in Afghanistan. Als Mujaheddin die Macht übernommen haben, sind wir nach Pakistan geflohen, dort lebten wir 24 oder 25 Jahre lang. Inzwischen war ich aber auch mehrmals in Afghanistan. In Pakistan habe ich als Direktorin einer Schule in Peshawar gearbeitet, wir haben auch in Peshawar gelebt. Ich habe dort mit meinem Ehemann und meinen Kindern zusammengelebt.

RI: Wie waren die Lebensverhältnisse bzw. wirtschaftlichen Verhältnisse unter denen Sie in Afghanistan bzw. Pakistan gelebt haben?

BF auf Deutsch: Gut.

RI: Wodurch genau hat Ihre Familie den Lebensunterhalt erwirtschaftet?

BF: In Afghanistan habe ich als Lehrerin gearbeitet, in Pakistan habe ich im Jahr 1994 eine Schule eröffnet. Bis 2001 mussten die Schüler eine Gebühr für den Schulbesuch zahlen und mit diesem Geld habe ich dann die Gehälter von Lehrern bezahlt und auch mein Gehalt. Auch die Kosten von der Schule. Ab dem Jahr 2001 wurde ich von Jamiyat-e Inqalabi Zanan Afghanistan, kurz gesagt von der Organisation RAWA unterstützt. Diese Organisation ist gegen die Taliban und Mujaheddin gewesen. Außerdem habe ich 10 Kurse für afghanische Frauen, die Analphabetinnen waren, gemacht. Monatlich wurden diese Frauen auch mit Lebensmittel unterstützt. Auch für diese Kosten ist RAWA aufgekommen. Nach einer Weile wurde ich dann schriftlich von den Taliban bedroht. Sie warfen mehrmals Drohbriefe in die Schule, wo ich gearbeitet habe.

RI: Welchen Namen hatte diese Schule?

BF: XXXX .

Die BF2 legt einen Dienstausweis sowie eine Mitgliedskarte betreffend Afghan Refugees Womens Organisation zur Einsicht vor.

RI: Haben Sie diese Schule bis zu Ihrer Flucht als Direktorin geführt?

BF: Ja.

[...]

BF: Mein Vater hatte viele Grundstücke. Ich bin dann von Pakistan nach Afghanistan gefahren, um von meinen Brüdern die Anteile am Grundstück zu bekommen. Meine Brüder schlugen mich, sie verbrannten mir mit heißem Wasser den Oberarm, ich bekam Fußtritte von ihnen. Einer von ihnen ist ein großer Polizist, der andere ist Offizier bei der afghanischen Nationalarmee. Ich habe insgesamt 4 Brüder. Geschlagen wurde ich von meinem älteren Bruder. Er wurde von den anderen als Vertreter ausgewählt. Einer meiner Brüder ist verschollen. Ich habe auch einen Halbbruder.

[...]

BF: Ich bitte um eine kurze Pause. Ich habe diese Umstände vor meinen Kindern verheimlicht. Ich wollte nicht, dass sie sich Sorgen machen. Ich habe mich viel in Pakistan meiner Schule gewidmet. Ich war sehr bemüht, dass alle Kinder dort eine Bildung bekommen. Ich habe die Kinder von den Straßen gesammelt und in die Schule gebracht, damit sie etwas lernen. Manche Kinder konnten auch die Gebühren nicht bezahlen, aber das hat mir nichts ausgemacht, für mich war es wichtig, dass sie etwas lernen. Ich sagte, ich bezahle die Lehrer, egal, ob jetzt 10 Schüler in der Klasse sitzen oder 20.

[...]

RI: Welche Schulbildung und Ausbildung haben Sie?

BF: 12 Jahre Schule und 4 Jahre eine Ausbildung als Lehrerin.

RI: Welche Fächer haben Sie unterrichtet?

BF: In Afghanistan habe ich Dari-Literatur unterrichtet und in Pakistan war ich als Direktorin der Schule tätig. Nachgefragt: Ich habe in Pakistan nicht selber unterrichtet, nur ab und zu, wenn ein Lehrer zum Beispiel krank war, habe ich seine Klasse unterrichtet, sonst war ich Direktorin.

RI: Welche Sprachen sprechen Sie? Können Sie diese lesen und schreiben?

BF: Ich kann Dari und Paschtu lesen und schreiben und ein wenig Deutsch.

[...]

Zu den Fluchtgründen und zur Situation im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat:

[...]

RI: Hat sich an den Gründen Ihrer Asylantragstellung seit Erhalt des angefochtenen Bescheids etwas geändert?

BF: Nein, unsere Fluchtgründe bleiben aufrecht. Wir haben aber hier nach dem negativen Bescheid nicht aufgegeben. Meine zwei Kinder haben einen Pflichtschulabschluss geschafft, meine ältere Tochter hat den A2 Sprachkurs geschafft, die jüngere möchte Konditorin werden. Meine Tochter arbeitet als Dolmetscherin für die Caritas und Diakonie. Auch ich, wenn es mir gut geht, arbeite die ganze Woche ehrenamtlich bei der XXXX , auch meine Kinder arbeiten ehrenamtlich, mein älterer Sohn hat auch im Krankenhaus ehrenamtlich gearbeitet. Wir haben die Bestätigungen bereits vorgelegt. Meine Söhne haben sich auch beim Roten Kreuz angemeldet.

RI: Schildern Sie mir nun bitte mit eigenen Worten, weshalb Sie Afghanistan verlassen haben, (ausschlaggebender Grund) bzw. was Sie konkret für sich im Falle einer eventuellen Rückkehr nach Afghanistan befürchten?

BF: Wie zuvor erzählt, waren meine Brüder nicht bereit, mir meine Anteile am Erbe meines Vaters zu geben. Ich wurde von meinem älteren Bruder, der ein hochrangiger Polizist in Afghanistan ist, geschlagen. Er sagte mir damals, wenn er mich nochmal in Afghanistan sieht, würde er mich töten. Außerdem habe ich Angst vor den Taliban, weil die Drohbriefe, die ich in Pakistan bekam, von den afghanischen Taliban waren. Sie waren deshalb gegen mich, weil meine Schule von RAWA unterstützt wurde. Die anderen Drohbriefe habe ich in Pakistan zerrissen. Nur einen habe ich heute hier bei mir, diesen habe ich aber bereits vorgelegt.

BF legt genannten Drohbrief zur Einsicht vor.

BF: Mein Bruder, der Polizist, ist sehr gefährlich. Er hat mich damals mit heißem Wasser übergossen.

RI: Haben Sie eine Erklärung dafür, warum Ihre Brüder so negativ Ihnen gegenüber eingestellt sind?

BF: Wegen dem Erbe meines Vaters, sie waren nicht bereit, mir die Anteile am Grundstück zu geben. Ich habe auch meine Brüder angezeigt, aber ohne Ergebnis. Auch meine Schwestern haben ihre Anteile nicht bekommen. Die Unterlagen über die Anzeige habe ich auch bereits beim BFA vorgelegt.

RI: Stehen die betreffenden Grundstücke nun im Eigentum Ihrer Brüder XXXX und XXXX ? Wurden Sie dafür ausbezahlt, wurde Ihnen dafür Geld gegeben?

BF: Die Grundstücke sind unter dem Namen meines verstorbenen Vaters registriert. Mein Vater war Offizier in der XXXX Zeit. Alle seine Kinder waren erbberechtigt, aber meine Brüder haben die Grundstücke nur für sich genommen, wir Schwestern haben nichts bekommen.

RI: Haben Sie eine Erklärung dafür, warum Ihre Brüder das Erbe nur für sich behalten wollten?

BF: Meine Brüder sagten, dass die Mädchen in der Familie kein Recht auf Erbe haben. Außerdem sagten sie mir, dass ich Kafer (ungläubig) geworden bin, weil ich Unterstützung von RAWA bekomme. Für meine Brüder haben Frauen keinen Wert. Speziell ihre Schwestern, also wir. Sie sagten auch, dass wir Schwestern bereits verheiratet sind und kein Recht auf das Erbe unseres Vaters haben.

RI: Wann waren Sie letztmalig in Afghanistan?

BF: Im Jahr 2007.

RI: Hatten Sie nach dem Jahr 2007, als Sie in Afghanistan wegen der Grundstücksangelegenheit waren, nochmals Kontakt mit Ihrem Bruder/ihren Brüdern?

BF: Nein, ich habe keinen Kontakt mehr. Auch meine Schwestern habe ich nicht mehr gesehen. Der Ehemann einer meiner Schwestern hat drei weitere Frauen. Mein Bruder hat meine Schwester mit diesem Mann verheiratet.

RI: Waren Sie Drohungen oder Verfolgungshandlungen durch Ihre Brüder nach dem Jahr 2007 ausgesetzt?

BF: Nein, seitens meiner Brüder nicht.

RI: Gehört oder gehören Ihre Brüder einer Partei in Afghanistan an?

BF: Ja, ein Bruder ( XXXX ) von mir ist ein Polizist, der andere Bruder ( XXXX ) von mir ist bei der afghanischen Nationalarmee. Ob sie auch bei einer Partei sind, weiß ich nicht, sie sind mächtig und bewaffnet.

RI: Vor dem BFA haben Sie erwähnt, dass Ihr Bruder bei der Partei Hezb-e Islami wäre.

BF: Ja, es tut mir leid, mein Bruder XXXX ist bei der Hezb-e Islami.

RI: Können Sie mir nochmal genau sagen, welche Brüder (welcher Bruder) haben Sie bedroht? Wie haben diese Drohungen konkret ausgesehen und wann haben diese stattgefunden?

BF: Mein Bruder XXXX sagte mir, dass, wenn ich nochmal nach Afghanistan oder Kabul kommen würde, er mich und meine Kinder töten würde. Die anderen Brüder waren auch auf seiner Seite. Er hat die anderen vertreten.

RI: Können Sie nochmal konkret den Vorfall schildern, als Sie nach Afghanistan gekommen sind, um die Erbangelegenheiten zu klären?

BF beginnt zu weinen: Im Jahr 2005 habe ich meinen Sohn XXXX in Peshawar einkaufen geschickt. Ich wurde dann angerufen und mir wurde gesagt, dass XXXX bei ihnen ist. Wenn ich die Polizei informiere, würden sie mich töten. Ich wurde gefragt, warum ich von RAWA diese Unterstützungen annehme und, warum ich Buben und Mädchen in einer Klasse unterrichte und, warum ich alten Frauen die Augen öffne, indem ich sie unterrichte. Damit waren die Alphabetisierungskurse gemeint. Darum haben sie meinen Sohn entführt.

RI: Wen meinen Sie mit "sie"?

BF: Dieser Mann, der mit mir am Telefon gesprochen hat, hat sich zwar nicht vorgestellt, aber er war von den Taliban. Ich habe dann das Bewusstsein verloren. Nach diesem Vorfall habe ich dann auch Diabetes bekommen und habe ab und zu das Bewusstsein verloren. Ich habe dann aus Angst vor den Taliban die Schule wieder privat gemacht und habe dann keine Unterstützung mehr von der RAWA angenommen und bin dann im Jahr 2007 nach Afghanistan gegangen und habe mit meinen Brüdern darüber gesprochen und meinen Anteil am Erbe verlangt. Meine Brüder waren aber nicht bereit, mir meinen Anteil zu geben. In Vertretung meiner Schwestern habe ich unsere Brüder angezeigt. Dieser Prozess hat 6 Monate gedauert. Da meine Brüder mächtig waren, haben wir kein Erbe bekommen. Ich wurde dann von meinem Bruder auch geschlagen und mit heißem Wasser übergossen und kehrte dann nach Pakistan zurück. Ich habe mit meinen Brüdern über die Entführung meines Sohnes gesprochen. Meine Brüder haben gesagt, dass ich daran schuld sei, weil ich von RAWA unterstützt werde. Sie haben auch gesagt, dass sie mich nicht mehr ihre Schwester nennen würde, weil ich mit fremden Männern zusammenarbeite während meiner Tätigkeit als Direktorin und weil ich von RAWA unterstützt werde.

RI: Weshalb meinen Sie, sind Ihre Brüder und auch die Taliban so negativ gegen RAWA eingestellt?

BF: Weil mein Bruder bei Hezb-e Islami ist und diese Partei auch gegen RAWA ist, weil die Organisation RAWA sich für die Rechte der Frau einsetzt und RAWA nicht will, dass Frauen unterdrückt werden. Diese Organisation kämpft für die Freiheit der Frauen. Deshalb sind die Mujaheddin und Taliban gegen diese Organisation.

RI: Woraus leiten Sie ab, dass der Mann, mit dem Sie telefoniert haben, ein Talibanmitglied war?

BF: Weil ich zuvor schriftlich von ihnen bedroht wurde. Die Vertreterin von RAWA, namens Meena, wurde von den Hezb-e Islami in Pakistan, in Peshawar getötet.

RI: Sie haben einen Drohbrief vorgelegt. Wissen Sie, von wann der ist?

BF: Ich weiß es nicht genau, aber es steht ein Datum drauf.

RI legt D Drohbrief zur Einsicht vor.

D: Ich sehe kein Datum.

RI: Erkennt man, von wem er sein könnte?

D: Vom islamischen Emirat Afghanistans.

RI: Sie haben vor dem BFA ausgeführt, dass Sie in der Öffentlichkeit gestanden seien und über Sie in den Medien berichtet worden sei? Schildern Sie das bitte genauer, wann war das genau? Was wurde berichtet?

BF: Über meine Aktivität als Direktorin und meine Schule, die sehr gut von der Qualität her war. Ich wurde gelobt sozusagen.

RI zeigt BF Zeitungsartikel und bittet BF diesen näher zu erläutern.

BF: Auf der einen Seite zeigt sich nur eine Überschrift und ein Foto, auf dem ich und meine Schülerinnen auch zu sehen sind. Auf einem weiteren Artikel ist eine Lehrerin aus meiner Schule abgebildet.

RI: Von wann bis wann haben Sie Unterstützung von RAWA erhalten?

BF: Vom Jahr 2002 bis 2005, also drei Jahre lang. Nach 2005 wurde ich auch teilweise von RAWA unterstützt. Zum Beispiel das Gehalt der Lehrer wurde bezahlt, das aber heimlich.

RI: Haben Sie nach 2005 weitere Drohungen, brieflich oder telefonisch erhalten?

BF: Ja schon.

RI: In welcher Form? Wie oft?

BF: Schriftlich. Im Jahr 2014 habe ich das Bewusstsein in der Schule verloren. Mein Mann war gerade in der Nähe meiner Schule in einem Labor, um sein Blut testen zu lassen. Meine Kinder haben mich dann mit einem Taxi nach Hause gebracht. So haben wir meinen Sohn XXXX in der Schule vergessen. Als er dann alleine nach Hause unterwegs war, bei uns in der Nähe gibt es einen Friedhof, als er bei der Straße dort unterwegs war, ist ein schwarzes Auto neben ihm ganz langsam vorbeigefahren und ein Mann, der sein Gesicht bedeckt hielt, versuchte meinen Sohn ins Auto zu zerren. Mein Sohn hat laut geschrien. Es war gerade auf dem Friedhof ein Begräbnis. Die dort anwesenden Leute sind dann zur Hilfe gekommen. Als mein Sohn nach Hause kam, war sein Bein voller Blut. Auch seine Hose (traditionelle Kleidung - Shalwar) war zerrissen. Ich habe dann die Wunde meines Sohnes zu Hause behandelt. Ich habe immer Medikamente und solche Sachen zu Haus gehabt. Nach diesem Vorfall habe ich beschlossen, dass wir Pakistan verlassen, weil ich Angst hatte, dass meinen Kindern etwas passiert. Seitdem wir hier sind, fühlen wir uns sehr wohl. Hier haben auch meine Töchter die Freiheit. Wir sind glücklich, hier zu sein.

RI: Können Sie ungefähr sagen, wie oft Sie im Zeitraum zwischen 2005 und 2014 bedroht wurden?

BF: Mehrmals. Wenn ich es Ihnen sage, dass ich 1000 Drohbriefe bekommen habe, ist es auch richtig. Wir konnten alleine nirgendwo gehen, wir waren immer als ganze Familie unterwegs. Immer, wenn ich das Bewusstsein verloren habe, haben mich meine Kinder am Hals und Nacken massiert. Ich habe immer Medikamente zu Hause gehabt.

RI: Womit wurde Ihnen gedroht und können Sie sich erklären, warum Ihnen gedroht wurde?

BF: Sie verlangten von mir, dass ich die Schule schließe und warfen mir vor, dass ich heimlich von RAWA unterstützt werde. Sie verlangten von mir auch, dass ich Buben und Mädchen trenne, das habe ich dann auch getan. Nach 2005 habe ich dann die Mädchen und Buben getrennt. Das heißt, meine Schule hat dann zwei Namen getragen, nämlich XXXX und XXXX . Am Vormittag haben die Buben die Schule besucht und am Nachmittag die Mädchen.

RI: Von diesen 1000 Briefen ist einer hier?

BF: Ja.

RI: Was haben Sie mit dem Rest gemacht?

BF: Mein Mann und ich haben die Briefe immer zerrissen und verbrannt. Wir wollten nicht, dass die Lehrer und Schüler diese Briefe sehen, sonst hätten sie die Schule nicht mehr besucht.

RI: Womit wurde Ihnen gedroht, wenn Sie diesen Forderungen nicht nachkommen würden?

BF: Dass sie uns vernichten würden. Sie drohten mir auch mit den Entführungen meiner anderen Kinder. Auch als ich dann die Mädchen und Buben getrennt habe, wurde ich bedroht. Sie verlangten, dass ich die Schule der Mädchen zur Gänze schließe. Ich habe wirklich viel gekämpft für die Mädchen, am Ende aber dann doch verloren.

RI: Was ich mir nicht erklären kann ist, dass im Zeitraum von 2005 und 2014, außer den Drohbriefen, die auch nicht angenehm gewesen sind, sonst der Familie nichts passiert ist?

BF: Ich bin jeden Tag mit meinen Kindern gemeinsam in die Schule gegangen und bin auch mit ihnen wieder nach Hause gegangen, deshalb ist nichts passiert. Nur an dem einen Tag, wo mein Sohn XXXX alleine unterwegs war, hat man, wie ich schon erzählt habe, versucht ihn zu entführen. Nach dem Vorfall mit meinem Sohn XXXX , Ende 2014 habe ich mich dann entschlossen, mit meiner Familie zu flüchten. Ich habe dann vieles von meinen Kindern verheimlicht. Nachdem ich gesehen habe, dass es meinem Mann auch psychisch nicht gut geht und er vergesslich geworden ist, habe ich mich dann mit meinen Kindern beraten und habe dann meine Probleme auf einen Zettel geschrieben und den Zettel bei dem UN abgegeben. Danach wurden meine Tochter, mein Sohn und ich interviewt. Wir haben dann das bekommen (BF legt ein Schreiben vor - AS 127 - in welchem eine Vorsprache bei UNHCR in Aussicht genommen wird). Es gab dann ein Interview. Uns wurde gesagt, wir sollen warten. Nachdem wir nichts mehr von UN gehört haben, sind wir dann hierhergekommen. Ich bin so glücklich, dass meine Kinder hier die Schule besuchen und etwas lernen und sich frei bewegen können.

[...]

RI: Wie sind Sie in Kontakt gekommen mit RAWA?

BF: Nachdem Karzai in Afghanistan Präsident wurde, sind viele afghanische Flüchtlinge von Pakistan nach Afghanistan zurückgekehrt. Es sind dann zwei Frauen von RAWA zu mir in die Schule gekommen und fragten mich, ob ich Unterstützung brauche. Ich sagte "ja" und so bekam ich dann die Unterstützung. Ich habe dann wieder viele Schüler bekommen, weil die Schüler dann keine Gebühr mehr zahlen mussten. Das war im Jahr 2002.

RI: Welches Anliegen lag hinter der Schule bzw. der Gründung der Schule, was wollten Sie damit bewirken? Was waren die Beweggründe?

BF: In erster Linie wollte ich ein Einkommen haben. Zweitens wollte ich den afghanischen Flüchtlingskindern in Pakistan helfen. Sie waren auf Straßen unterwegs oder als Hilfsarbeiter irgendwo tätig. Ich wollte, dass sie eine Bildung bekommen und ihnen geholfen wird.

RI: Sie haben vor dem BFA auch angeführt, aus religiösen oder ethnischen Gründen verfolgt zu sein, da Sie sich anders kleideten, aufgrund Ihres Berufes als Lehrerin und da Sie auch nicht religiös seien und Mitglied bei RAWA gewesen seien. In Ihrer Beschwerde wird sodann auch vorgebracht, Sie würden aufgrund Ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe jener gebildeten Frauen verfolgt und sozial geächtet werden, zumal Sie - kurz gefasst - nicht bereit wären, sich den traditionellen gesellschaftlichen Normen in Afghanistan zu unterwerfen. Woran sollte sich das bei Ihnen genau zeigen, dh dass Sie eine "westliche" Wertehaltung und ein "westliches" Frauen- und Gesellschaftsbild verinnerlicht haben und daran festhalten wollen? Was bedeuten für Sie "westliche" Werte und ein "westliches" Rollenbild der Frau und Gesellschaftsbild?

BF: Ich war für die Freiheit der Frauen und Mädchen. Ich selbst habe immer meine Haare kurz schneiden lassen, habe enge Kleidung getragen. Auch den Mädchen habe ich es in der Schule ermöglicht Cricket oder Volleyball zu spielen. Auch jetzt, ich bin 51 Jahre alt, obwohl es mir gesundheitlich nicht ganz gut geht, kümmere ich mich um mein Äußeres, frisiere meine Haare und bin modisch gekleidet. Ich habe auch meinen Töchtern viel Freiheit gegeben. Wenn es mir ein wenig besser geht, werde ich ein Buch schreiben wie, Malala.

RI: Was meinen Sie damit, dass Sie Ihren Töchtern viel Freiheit gegeben haben?

BF: Das sie alleine unterwegs sind. Sie haben auch österreichische Freunde. Sie waren auch hier in Österreich das erste Mal im Kino. Sie können sich frei bewegen. Das, was sie möchten, können sie machen. Ich möchte nicht, dass meine Töchter und Kinder das durchmachen, was ich erlebt habe.

RI: Sie waren in Afghanistan als Lehrerin und in Pakistan auch als Lehrerin und Schuldirektorin tätig? Könnten Sie dieser Berufstätigkeit wieder in Afghanistan, etwa in Kabul nachgehen? Weshalb sind Sie der Ansicht, dass dies nicht möglich wäre?

BF: Aus Angst vor meinen Brüdern würde ich das nicht machen können. Auch aus Angst vor Hezb-e Islami. Jetzt ist auch Gulbudhin in Kabul. Außerdem ist die Sicherheitslage, speziell in Kabul sehr schlecht. Es ist überhaupt nicht möglich dort zu leben. Meine Kinder müssten wieder wie Gefangene zu Hause sein. Außerdem haben wir keine Existenz in Afghanistan. Das Geld, was wir hatten, haben wir für die Flucht ausgegeben. Mein Hauptproblem sind meine Brüder und Gulbudhin. Ich bin sozusagen als RAWA-Mitglied abgestempelt.

RI. Sie sind jetzt aber nicht mehr Mitglied?

BF: Ich war nie ein Mitglied von RAWA, aber meine Schule wurde von RAWA unterstützt. Millionen von afghanischen Frauen ertragen diesen Schmerz, nicht nur ich.

RI: Schildern Sie mir bitte, was können Sie hier machen, was Sie in Afghanistan nicht ungefährdet machen könnten?

BF: Hier habe ich viele Möglichkeiten. Hier habe ich keine Angst vor meinen Brüdern, Hezb-e Islami und der schlechten Sicherheitslage. Hier kann ich mich frei bewegen. Ich kann z.B. ruhig als Straßenkehrerin arbeiten und am Abend in Ruhe nach Hause gehen und mit meinen Kindern essen. Meine Kinder würden arbeiten, mein Mann und ich, wir wollen keine Last für den Staat sein. Obwohl es mir gerade gesundheitlich nicht ganz gut geht, arbeite ich für die XXXX . Sie können auch den Unterstützungsbrief des Leiters der Tafel lesen. Er hat mich viel gelobt. Auch für die Caritas arbeite ich ehrenamtlich. Auch für das Europahaus arbeite ich ehrenamtlich. Wenn es eine Veranstaltung gibt, koche ich für 50 Leute. Die Bestätigungen habe ich Ihnen vorgelegt. Ich sitze nicht herum, sondern mache etwas. Ich will nicht zu Hause sitzen. Arbeit ist wie ein Freund für mich, ich liebe es zu arbeiten, egal was es ist. Es ist nicht wichtig, dass ich irgendwo als Direktorin bin, auch als Straßenkehrerin würde ich mich glücklich fühlen. Ich mag beschäftigt sein. Ich opfere mich für Österreicher, die sind so nett. Ich stricke auch gerne. Zum Beispiel Hauben oder Handschuhe. Meine österreichischen Freunde geben mir das Material und ich stricke für sie Hauben oder Handschuhe. In Eisenstadt bin ich eine berühmte Strickerin. Meine Kinder fühlen sich auch sehr wohl hier, Gott soll auch meine Tochter in Jalalabad beschützen.

RI: Ich möchte Sie als Pädagogin fragen. Wie kann man Ihres Erachtens die Integration Asylsuchender fördern und unterstützen?

BF: Der beste Weg ist, dass sie die Möglichkeit haben, etwas zu lernen. Die Sprache zu lernen und etwas zu lernen. Die Jugendlichen, die noch in Unterkünften untergebracht sind, sollen ein Alkoholverbot erhalten, sie sollten unter der Woche keinen Alkohol trinken dürfen. Diese Jugendlichen kommen aus einer sehr strengen Gesellschaft hierher. Sie können diese Freiheit nicht gut verkraften, deshalb wissen sie nicht, was sie als erstes machen sollen und dann machen sie Blödsinn. Deshalb kommen dann alle Afghanen in Verruf. Ich habe für meinen Sohn selbst Bier gekauft, aber ich habe ihn aufgeklärt. Ich habe ihm gesagt, dass man es am Wochenende, zu einer Geburtstagsfeier oder so trinken soll. Mein Sohn hat zum Beispiel auch eine österreichische Freundin, ich habe es ihm erlaubt, sie ist ein super Mädchen. Mein Sohn wird das Mädchen dann auch heiraten, ich werde dann auch auf seine Kinder aufpassen und er kann mit seiner Frau arbeiten gehen.

RI: Wer entscheidet, ob Ihr Sohn heiratet?

BF: Er selbst, natürlich. Ich werde auch meinen Töchtern erlauben, ihre zukünftigen Ehemänner selbst auszusuchen. Ich bin dann glücklich, wenn meine Kinder es sind.

RI: Dabei spielt Religion und Staatsangehörigkeit keine Rolle?

BF: Ich bin nicht religiös, ich habe gesehen, was die religiösen Menschen (Taliban, Mujaheddin) machen.

RI: Sie haben auch vor dem BFA ausgesagt, Sie seien nicht religiös. Fasten Sie? Beten Sie?

BF: Nein, ich und mein Mann haben nicht gefastet. Auch meine Kinder nicht, weil es so heiß war. Nachgefragt: Wir fasten nicht. Mein Mann und ich haben Diabetes und können nicht fasten. Meine Kinder können das auch nicht aushalten 18 oder 19 Stunden ohne Essen und Trinken.

RI: Welche Werte bzw. Einstellung im Hinblick auf die Vorstellungen bezüglich Familien- und Berufsleben sowie Religion möchten Sie Ihren Kindern vermitteln?

BF: Sie sollen die Menschen respektieren. In zweiter Linie sollen sie ehrlich sein und nicht lügen. In dritter Linie sollen sie mit der Familie ehrlich und korrekt sein und auch dort, wo sie arbeiten sollen sie ehrlich sein und nicht lügen. Wenn man ehrlich ist, hat man immer Erfolg.

RI: Ihre beiden Töchter und Ihr Sohn XXXX haben auch in Ihrer Schule gearbeitet. Stimmt das?

BF: Ja, sie waren als Lehrer beschäftigt. Sie konnten aus Angst nicht woanders arbeiten.

RI: Ihre Kinder führten aus, sie hätten nicht die Freiheit gehabt, wie andere Jugendliche zu studieren, auszugehen, sich weiter zu bilden etc. Weshalb nicht? Was ist damit gemeint?

BF: Wir hatten Angst um das Leben unserer Kinder. Wir hatten ständig Angst. Als wir in der Früh das Haus verließen, wussten wir nicht, ob wir lebendig zurückkehren, aber wir mussten arbeiten. Es wäre nicht möglich gewesen, dort ohne Einkommen zu arbeiten [gemeint: zu leben].

RI: Aber wenn Sie Angst um Ihre Kinder hatten, weswegen haben sie dann in Ihrer Schule gearbeitet?

BF: Da waren sie dann bei mir, dadurch waren sie sicher. Wir waren immer gemeinsam unterwegs.

RI: Meinen Sie nicht, dass sie sicherer gewesen wären, wenn sie woanders untergebracht worden wären und nicht mit der Schule in Verbindung gebracht worden wären?

BF: Sie wären meinetwegen umgebracht worden und es war besser, dass sie in meiner Nähe waren, um sie im Auge zu behalten.

RI: Welche Vorstellungen haben Sie persönlich für sich selbst für Ihr weiteres Leben? Welche Pläne haben Sie?

BF: Meine Kinder werden einen Beruf erlernen und dann arbeiten. Mein Mann und ich werden auch arbeiten und ein normales Leben in Freiheit verbringen. Nachgefragt: Für mich ist es wichtig zu arbeiten, egal als was. Ich arbeite jetzt seit längerer Zeit für die Tafel und kenne mich mit der Arbeit schon aus. Ich kann kochen, stricken und Taschen nähen, das ist gut für die Umwelt, wenn man solche Taschen hat. Von alter Kleidung kann ich Taschen nähen.

BF führt verschiedene Taschen vor.

BF beginnt zu weinen: Ich habe viel durchgemacht in meinem Leben. Jedes Mal, wenn ich an meinen verschwundenen Sohn denke, werde ich verrückt. XXXX sieht XXXX sehr ähnlich. Ich beschäftige mich jetzt so, dass ich Taschen nähe und sie verschenke, damit ich mich ablenke. In einer Frauengruppe haben wir Frauen aus einem Flüchtlingscamp und österreichische Frauen und wir stricken dann gemeinsam, zum Beispiel im Europahaus.

RI: Können Sie sich vorstellen, auch wieder in Ihrem erlernten Beruf zu arbeiten?

BF: Nein, für mich ist das nicht wichtig. Für mich ist es wichtig, eine Arbeit zu haben und Geld zu verdienen, was ist egal. Wenn mein Mann und ich arbeiten würden, würde das reichen. Unsere Kinder werden selbst für sich arbeiten. Meine Kinder können alle 6 Sprachen, XXXX ist sehr begabt.

RI: Schildern Sie mir bitte, wie Ihr Ehemann dazu eingestellt ist, dass Sie hier viele Aktivitäten allein machen, Entscheidungen alleine treffen und sich auch so kleiden und stylen wie eine "westliche" Frau? Wie sieht Ihr Ehemann die Gleichberechtigung von Mann und Frau?

BF: Mein Mann ist ein sehr freidenkender Mensch. Er fragt mich, warum ich eine Hose anziehe und sagt mir, dass ich etwas Kurzes anziehen kann. Er sagt auch meinen Töchtern, dass sie etwas Ärmelloses anziehen können.

RI: Möchten Sie etwas Ergänzendes zu Ihrem Fluchtgrund vorbringen?

BF: Nein, aber wenn Sie Fragen haben, würde ich sie gerne beantworten.

RI gibt RV Gelegenheit, Fragen zu stellen und Anmerkungen zu machen.

RV: Was halten Ihre Brüder von Ihrer Tätigkeit als Lehrerin oder als Direktorin und den Bereich der Bildung von Kindern und Mädchen in besonderem?

BF: Sie haben eine negative Meinung darüber. Sie meinen, dass die Mädchen in der Schule nichts verloren haben. Auch ihre eigenen Töchter haben keine Schule besucht. Ihrer Meinung nach, sollen Mädchen sich nur im Haushalt auskennen.

RV: Was sagen Ihre Brüder zu Ihrem liberalen Erziehungsstil und wie schätzen diese Brüder das Selbstverständnis und die Lebensweise der Kinder ein?

BF: Sie bezeichnen mich und meine Kinder als schlechte Menschen. Sie sagen, dass meine Töchter mit fremden Buben gemeinsam in der Schule gewesen sind, deshalb sind sie nicht gut erzogene Mädchen. Mich bezeichnen sie auch als schlechte Frau, weil ich mit RAWA zusammengearbeitet habe.

RV: Wie ist das Verhältnis Ihrer Brüder zu Ihrem Ehemann?

BF: Sie bezeichneten meinen Ehemann als "weiblich" und ehrlos, weil er mir und meinen Kindern die Freiheit gegeben hat, zu arbeiten und sich frei zu bewegen und die Schule zu besuchen. Mein Ehemann ist ein sehr toller Mensch, er schaut immer, dass ich glücklich bin. Ich habe auch hier zwei österreichische Freunde, diese küsse ich vor meinem Ehemann auf die Wange, wenn ich das vor meinen Brüdern machen würde, würden sie mich umbringen."

Das erkennende Gericht brachte Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat der Beschwerdeführerin in das Verfahren ein (aktualisierte Fassung des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation, Stand 29.06.2018 und eine ACCORD-Anfragebeantwortung vom 01.06.2017 u.a. zur Situation von Rückkehrern aus Europa) und verwies auf den Country Report on Human Rights Practices 2016 des US Department of State, auf die UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19.04.2016 sowie auf die Anmerkungen von UNHCR zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Innern Dezember 2016, und auf den Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Afghanistan, 22. Februar 2018.

9. Mit Schreiben vom 09.07.2018 übermittelte die Beschwerdeführerin eine ergänzende Stellungnahme.

10. Im Strafregisterauszug der Republik Österreich vom 01.08.2018 - geführt von der Landespolizeidirektion Wien - scheint keine Verurteilung auf.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen (Sachverhalt):

1.1. Zur Person der Beschwerdeführerin und ihren Fluchtgründen:

Aufgrund des Asylantrags vom 19.11.2015, der Einvernahmen der Beschwerdeführerin durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes und durch die belangte Behörde, der Beschwerde vom 26.05.2017 gegen den Bescheid der belangten Behörde vom 11.05.2017, der Einsichtnahme in den bezughabenden Verwaltungsakt, der Einsichtnahmen in das zentrale Melderegister, in das Grundversorgungs-Informationssystem, in das Strafregister, die von der Beschwerdeführerin vorgelegten Dokumente sowie auf Grundlage der vor dem Bundesverwaltungsgericht durchgeführten mündlichen Verhandlung werden die folgenden Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:

Die Beschwerdeführerin führt den Namen XXXX . Sie ist Staatsangehörige von Afghanistan und gehört der Volksgruppe der Tadschiken an. Sie bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam, praktiziert ihren Glauben jedoch nicht. Ihre Muttersprache ist Dari und sie kann Dari und Paschtu lesen und schreiben. Außerdem spricht sie etwas Deutsch.

Die Beschwerdeführerin hat ihren Ehemann (Zl. W139 2159869-1), der gleichzeitig ihr Cousin (Sohn des Onkels mütterlicherseits) ist, in Kabul geheiratet und hat mit ihm acht Kinder. Zwei Töchter (Zl. W139 2159873-1 und W139 2159886-1) und zwei Söhne (Zl. W139 2159888-1 und W139 2159882-1) befinden sich derzeit mit den Eltern in Österreich. Eine Tochter lebt in Jalalabad, Afghanistan und eine weitere Tochter in Kanada. Ein Sohn der Beschwerdeführerin ist verschollen, dessen Zwillingsbruder hat die Familie verlassen und ist unbekannten Aufenthalts.

Die Beschwerdeführerin stammt aus Kabul und hat von ihrer Geburt bis zum Jahr 1993 dort gelebt. Sie ist dann mit ihrer Familie nach Pakistan geflüchtet und hat dort in Peshawar gelebt. Sie hat sich danach noch einige Male in Afghanistan aufgehalten, zuletzt im Jahr 2007. Die Eltern der Beschwerdeführerin sind bereits verstorben. Sie hat sechs Schwestern (eine ist bereits verstorben) und vier Brüder (einer ist verschollen) sowie einen Halbbruder. Die Beschwerdeführerin weiß nicht, wo sich ihre Geschwister aufhalten, da sie mit ihnen keinen Kontakt hat. Die Beschwerdeführerin hatte Erbschaftsstreitigkeiten mit ihren Brüdern um die Grundstücke ihres Vaters. Aus diesem Grund wurde sie auch von ihrem älteren Bruder, einem hochrangigen Polizisten in Afghanistan und Mitglied der Partei Hezb-e Islami, misshandelt und bedroht.

In Afghanistan hat die Beschwerdeführerin nach einem zwölfjährigen Schulbesuch und einer vierjährigen Lehrerausbildung als Lehrerin gearbeitet. Bereits in Afghanistan trug die Beschwerdeführerin kurze Haare, kurze Oberbekleidung und kein Kopftuch und wurde von Vätern ihrer Schülerinnen bedroht. In Peshawar hat sie im Jahr 1994 eine Schule eröffnet und war dort bis zu ihrer Ausreise als Direktorin tätig. Ihr Mann war in der Schule als Schulwart tätig. Die Beschwerdeführerin hat auch Alphabetisierungskurse für afghanische Frauen organisiert. In den Jahren 2002 bis 2005 hat die Beschwerdeführerin für ihre Bildungsaktivitäten finanzielle Unterstützung von der Organisation RAWA (Revolutionary Association of the Women of Afghanistan, eine Frauenrechtsorganisation) erhalten. Aufgrund ihres Einsatzes für die Bildung von Frauen und Kindern und aufgrund ihrer Verbindung zu RAWA wurde die Beschwerdeführerin immer wieder Anfeindungen und Drohungen ausgesetzt, auch seitens ihrer Brüder, welche die liberale Lebenseinstellung der Beschwerdeführerin und deren Unterstützung durch RAWA ablehnten. Über die Beschwerdeführerin wurde in den Medien berichtet. Nach einem Vorfall im Jahr 2005, bei dem ihr Sohn entführt und die Beschwerdeführerin telefonisch bedroht wurde, hat die Beschwerdeführerin (offiziell) keine Unterstützung mehr von RAWA angenommen. Die Familie hat die Wohnadresse in Peshawar gewechselt und die Beschwerdeführerin hat auch die Schule an einer anderen Adresse eröffnet. Die Drohungen setzten sich jedoch fort. Die Familie war aus Angst immer gemeinsam unterwegs und zwei Töchter und ein Sohn der Beschwerdeführerin haben aus Sicherheitsgründen in der Schule als Lehrer gearbeitet. Nach einem weiteren Vorfall im Jahr 2014, bei dem versucht wurde, einen weiteren Sohn der Beschwerdeführerin (Beschwerdeführer zu zu Zl. W139 2159888-1) zu entführen, hat die Familie beschlossen, Pakistan zu verlassen.

Die Beschwerdeführerin praktiziert ihren Glauben nicht und hat ihre Kinder auch nicht konservativ-religiös erzogen, sondern die Beschwerdeführerin und ihre Familienmitglieder haben im Gegenteil eine sehr liberale Einstellung, auch und besonders im Hinblick auf die Rechte von Frauen auf Bildung und Selbständigkeit. In Österreich nützt die Beschwerdeführerin - ebenso wie ihre Töchter - die Möglichkeit, ohne Begleitung das Haus zu verlassen und sich frei zu bewegen. Sie kleidet sich modisch und ihren Wünschen entsprechend und trägt kein Kopftuch. Die Beschwerdeführerin legt großen Wert darauf, zu arbeiten. Sie engagiert sich - trotz gesundheitlicher Einschränkungen - regelmäßig ehrenamtlich, so etwa für die XXXX und auch für die Caritas. Mit Blick auf den Umweltschutz stellt sie beispielsweise aus alter Kleidung Stofftaschen her. Sie beabsichtigt überdies, ein Buch über das in Afghanistan und Pakistan Erlebte zu schreiben. Die Beschwerdeführerin hat in ihrer Umgebung bereits zahlreiche Kontakte geknüpft. Sie und ihre Familie haben viele österreichische Freunde und Bekannte, die sie unterstützen. Sie besucht Deutschkurse und andere Kurse und nimmt an diversen Projekten teil. Ihre beiden in Österreich befindlichen Söhne haben den Pflichtschulabschluss absolviert. Ihre ältere Tochter ist immer wieder als ehrenamtliche Dolmetscherin, etwa für die Caritas und die Diakonie, tätig. Die jüngere Tochter hat es sich zum Ziel gesetzt, Medizin zu studieren, als Alternative aber Konditorin bzw Bäckerin zu werden. Auch die Kinder arbeiten ehrenamtlich und beteiligen sich aktiv an Veranstaltungen, Workshops und Projekten. Ebenso wie ihr Mann unterstützt und fördert sie die Ausbildung und künftige Berufstätigkeit ihrer Kinder und deren Eigenständigkeit. Der Beschwerdeführerin ist es ein Anliegen, dass ihre Kinder selbst über ihren künftigen Lebenspartner entscheiden können.

Bei der Beschwerdeführerin handelt es sich demnach um eine moderne und weltoffene Frau, deren persönliche Haltung über die Lebensverhältnisse und die grundsätzliche Stellung der Frau in Familie und Gesellschaft im eindeutigen Widerspruch zu den in Afghanistan bislang vorherrschenden gesellschaftlich-religiösen Zwängen, denen Frauen dort mehrheitlich unterworfen sind, steht. Sie hat sich bereits in Afghanistan und bis zu ihrer Flucht auch in Pakistan für Frauenrechte und die Bildung von Frauen und Kindern eingesetzt. Die Lebensweise der Beschwerdeführerin sowie ihre Wertehaltung, welche sich auch in der Erziehung ihrer Kinder widerspiegelt, sind als "westlich", sohin an einem auf ein selbstbestimmtes Leben ausgerichteten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert, zu bezeichnen. Die Beschwerdeführerin kann sich für sich und ihre Familie nicht vorstellen, ein Leben nach der konservativ-afghanischen Tradition zu führen.

Die Beschwerdeführerin ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.

Gründe, nach denen ein Ausschluss der Beschwerdeführerin hinsichtlich der Asylgewährung zu erfolgen hat, sind im Verfahren nicht hervorgekommen.

1.2. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

a. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Afghanistan (Gesamtaktualisierung am 29.06.2018; Auszüge)

1. Sicherheitslage

Wegen einer Serie von öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffen in städtischen Zentren, die von regierungsfeindlichen Elementen ausgeführt wurden, erklärten die Vereinten Nationen (UN) im Februar 2018 die Sicherheitslage für sehr instabil (UNGASC 27.2.2018).

Für das Jahr 2017 registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) landesweit 29.824 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahresvergleich wurden von INSO 2016 landesweit 28.838 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert und für das Jahr 2015 25.288. Zu sicherheitsrelevanten Vorfällen zählt INSO Drohungen, Überfälle, direkter Beschuss, Entführungen, Vorfälle mit IEDs (Sprengfallen/ Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung - USBV) und andere Arten von Vorfällen (INSO o.D.).

Bild kann nicht dargestellt werden

(Darstellung Staatendokumentation beruhend auf den INSO-Zahlen aus den Jahren 2015, 2016, 2017).

Im Vergleich folgt ein monatlicher Überblick der sicherheitsrelevanten Vorfälle für die Jahre 2016, 2017 und 2018 in Afghanistan (INSO o.D.)

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(Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf INSO o.D.)

Für das Jahr 2017 registrierte die UN insgesamt 23.744 sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan (UNGASC 27.2.2018); für das gesamte Jahr 2016 waren es 23.712 (UNGASC 9.3.2017). Landesweit wurden für das Jahr 2015 insgesamt 22.634 sicherheitsrelevanter Vorfälle registriert (UNGASC 15.3.2016).

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(Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf UNGASC 15.3.2016, UNGASC 9.3.2017, UNGASC 27.2.2018)

Es folgt ein Jahresvergleich der sicherheitsrelevanten Vorfälle, die von der UN und der NGO INSO in den Jahren 2015, 2016 und 2017 registriert wurden:

Bild kann nicht dargestellt werden

(Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf INSO (o.D.), UN GASC 15.3.2016, UNGASC 9.3.2017, UNGASC 27.2.2018)

Im Jahr 2017 waren auch weiterhin bewaffnete Zusammenstöße Hauptursache (63%) aller registrierten sicherheitsrelevanten Vorfälle, gefolgt von IEDs (Sprengfallen/ Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung - USBV) und Luftangriffen. Für das gesamte Jahr 2017 wurden 14.998 bewaffnete Zusammenstöße registriert (2016: 14.977 bewaffnete Zusammenstöße) (USDOD 12.2017). Im August 2017 stuften die Vereinten Nationen (UN) Afghanistan, das bisher als "Post-Konflikt-Land" galt, wieder als "Konfliktland" ein; dies bedeute nicht, dass kein Fortschritt stattgefunden habe, jedoch bedrohe der aktuelle Konflikt die Nachhaltigkeit der erreichten Leistungen (UNGASC 10.8.2017).

Die Zahl der Luftangriffe hat sich im Vergleich zum Jahr 2016 um 67% erhöht, die gezielter Tötungen um 6%. Ferner hat sich die Zahl der Selbstmordattentate um 50% erhöht. Östliche Regionen hatten die höchste Anzahl an Vorfällen zu verzeichnen, gefolgt von südlichen Regionen. Diese beiden Regionen zusammen waren von 55% aller sicherheitsrelevanten Vorfälle betroffen (UNGASC 27.2.2018). Für den Berichtszeitraum 15.12.2017 - 15.2.2018 kann im Vergleich zum selben Berichtszeitraum des Jahres 2016, ein Rückgang (-6%) an sicherheitsrelevanten Vorfällen verzeichnet werden (UNGASC 27.2.2018).

Bild kann nicht dargestellt werden

(Darstellung der Staatendokumentation)

Afghanistan ist nach wie vor mit einem aus dem Ausland unterstützten und widerstandsfähigen Aufstand konfrontiert. Nichtsdestotrotz haben die afghanischen Sicherheitskräfte ihre Entschlossenheit und wachsenden Fähigkeiten im Kampf gegen den von den Taliban geführten Aufstand gezeigt. So behält die afghanische Regierung

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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