Entscheidungsdatum
22.08.2018Norm
AsylG 2005 §3Spruch
I419 2170829-1/5E
BESCHLUSS
Das Bundesverwaltungsgericht beschließt durch den Richter Dr. Tomas JOOS über die Beschwerde von XXXX, geb. XXXX, StA. NIGERIA, vertreten durch DIAKONIE FLÜCHTLINGSDIENST gemeinnützige GmbH Volkshilfe Flüchtlings- und MigrantInnenbetreuung GmbH p.A. ARGE Rechtsberatung - Diakonie und Volkshilfe, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 22.08.2017, Zl. XXXX
A) In Erledigung der Beschwerde wird der bekämpfte Bescheid behoben
und die Angelegenheit gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) zurückverwiesen.
B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer nigerianischer Staatsangehörigkeit stellte am 07.08.2015 einen Antrag auf Internationalen Schutz und brachte dazu erstbefragt vor, er sei homosexuell und habe Probleme in seiner Heimat, die Leute hätten ihn geschlagen und umbringen wollen. Sonst habe er keine Fluchtgründe.
2. Am 09.05.2017 einvernommen gab er an, er habe bei der Erstbefragung nicht alles erklären können. Er habe ein Verhältnis mit einem Mann gehabt, und sei mit diesem in dessen Unterkunft entdeckt worden, worauf dieser verprügelt worden sei, der Beschwerdeführer jedoch weglaufen habe können. Er werde wegen seines Freundes von der Polizei gesucht, habe aber auch Angst, bei einem neuerlichen Vorfall totgeschlagen zu werden, bevor diese komme.
3. Mit dem angefochtenen Bescheid wies das BFA den Antrag betreffend die Zuerkennung der Status des Asyl- und des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat ab (Spruchpunkt I.), erteilte keinen Aufenthaltstitel "aus berücksichtigungswürdigen Gründen" [gemeint: "besonderer Schutz"], erließ eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat zulässig sei (Spruchpunkt III.). Die Frist für die freiwillige Ausreise betrage 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.). Es könne nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer wegen seiner sexuellen Neigung von der Polizei gesucht oder von anderen Menschen, besonders Nachbarn, wegen sexueller Handlungen mit einem Mann verfolgt werde. Auch könne nicht festgestellt werden, dass ihm wegen seiner sexuellen Neigung der Tod drohe.
4. Beweiswürdigend führte das BFA aus, er habe eine Verfolgung aufgrund einer homosexuellen Orientierung in keiner Weise glaubhaft machen können, und während seiner Befragung wären seine Ausführungen bezüglich seines Verhältnisses zu seinem Partner und den angeblichen Vorfall unglaubwürdig erschienen. Seine Erzählung sei wenig detailreich und unkonkret geblieben. Hätte es den Vorfall gegeben, hätte der Beschwerdeführer ihn weniger oberflächlich geschildert und wäre weitaus glaubwürdiger gewesen.
5. Die Beschwerde bringt unter anderem vor, der Beschwerdeführer habe sich bei seiner Einvernahme durch eine weibliche Person geschämt und nicht frei sprechen können. Vor einem männlichen Organwalter hätte er sich dagegen getraut, viel detaillierter zu erzählen.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Der oben unter Punkt I. angeführte Verfahrensgang wird als Sachverhalt festgestellt. Darüber hinaus wird Folgendes festgestellt:
Bei der Einvernahme des Beschwerdeführers am 09.05.2017 waren eine Amtsdirektorin des BFA als Leiterin der Amtshandlung, eine Dolmetscherin und als Vertrauensperson die Unterkunftgeberin des Beschwerdeführers anwesend. Der Beschwerdeführer wurde nicht betreffend die bei behaupteten Eingriffen in die sexuelle Selbstbestimmung vorgesehene Vernehmung durch Personen seines Geschlechts und seine Möglichkeit belehrt, das Gegenteil zu verlangen.
2. Beweiswürdigung:
Die Feststellungen ergeben sich aus dem unzweifelhaften und unbestrittenen Akteninhalt des vorgelegten Verwaltungsaktes und des Gerichtsaktes, speziell der Niederschrift AS 47 ff, S. 17 und 74 f des Bescheids (AS 149, 206 f) sowie S. 2 der Beschwerdeschrift.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A) Aufhebung des Bescheides und Zurückverweisung
Gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z. 1 B-VG (Bescheidbeschwerden) dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht (Z. 1) oder die Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist (Z. 2).
Nach § 28 Abs. 3 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, wenn diese Voraussetzungen nicht vorliegen, im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z. 1 B-VG in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Behörde dem nicht bei der Beschwerdevorlage unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. Die Behörde ist dabei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von der das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist.
Das Modell der Aufhebung des Bescheids und die Zurückverweisung der Angelegenheit an die belangte Behörde folgt konzeptionell dem des § 66 Abs. 2 AVG (Fister/Fuchs/Sachs, Verwaltungsgerichtsverfahren [2013] § 28 VwGVG Anm. 11). Bei der Ausübung des Ermessens nach § 66 Abs. 2 f AVG sind auch die Bedeutung und die Funktion der Rechtmittelbehörde ins Kalkül zu ziehen. Die Einräumung eines Instanzenzugs darf nicht "zur bloßen Formsache degradiert" werden, indem sich das Asylverfahren mangels sachgerechten Eingehens und brauchbarer Ermittlungsergebnisse [in erster Instanz] "einem eininstanzlichen Verfahren [...] nähert", in welchem eine ernsthafte Prüfung des Antrages erst bei der zweiten und letzten Instanz beginnt und auch endet (VwGH 21.11.2002, 2000/20/0084).
Das durchgeführte Ermittlungsverfahren erweist sich in wesentlichen Punkten als mangelhaft:
Gründet ein Asylwerber seine Furcht vor Verfolgung (Art. 1 Abschnitt A Z. 2 der Genfer Flüchtlingskonvention) auf Eingriffe in seine sexuelle Selbstbestimmung, ist er von einem Organwalter desselben Geschlechts einzuvernehmen, es sei denn, dass er anderes verlangt. Von dem Bestehen dieser Möglichkeit ist der Asylwerber nachweislich in Kenntnis zu setzen (§ 20 Abs. 1 AsylG).
Unabhängig von der Frage der Glaubwürdigkeit des Vorbringens ist daher zunächst zu überprüfen, ob das Vorbringen der Beschwerdeführerin einen Eingriff in ihre sexuelle Selbstbestimmung bedeutet. Die drohende Verfolgung aufgrund der sexuellen Ausrichtung unterfällt dem Begriff des (drohenden) Eingriffs in die "sexuellen Selbstbestimmung" (Filzwieser/Frank/Kloibmüller/Raschhofer, Asyl- und Fremdenrecht [2016], K8 zu § 20 AsylG 2005).
Der Beschwerdeführer hatte bereits in der Erstbefragung angegeben, wegen seiner Homosexualität geschlagen worden zu sein und Angst vor dem zu haben, deswegen umgebracht zu werden. Letzteres wiederholte er in der Einvernahme durch das BFA am 09.05.2017 und ergänzte sinngemäß, dass er mit seinem Partner zusammen erwischt und anschließend angezeigt und der Partner geschlagen worden sei.
Aus Sicht des Gerichts beinhaltet dieses Vorbringen einen Eingriff in die sexuelle Selbstbestimmung, und äußert der Beschwerdeführer Angst vor einem drohenden Eingriff in die sexuelle Selbstbestimmung, wenn er befürchtet, im Falle einer Rückkehr wieder erwischt und totgeschlagen zu werden. Das Gericht verbindet damit keine Aussage über die Glaubwürdigkeit des Vorbringens. Dies ändert aber nichts daran, dass das Vorbringen ein Vorgehen nach § 20 AsylG 2005 erfordert hätte. was im Verfahren zu berücksichtigen gewesen wäre.
Der Beschwerdeführer bringt in der Beschwerde zu Recht vor, dass das Verneinen von Befangenheitsgründen oder sonstiger Einwände anlässlich des Beginns der Einvernahme angesichts der Anordnung des Gesetzes unbeachtlich ist, wonach diese Einvernahme mangels ausdrücklichen Verlangens nach einer weiblichen Organwalterin (und Dolmetscherin) von Männern durchzuführen gewesen wäre, und zwar - wie ergänzt werden kann - in Anbetracht des bereits bei der Erstbefragung einschlägigen Vorbringens von Beginn an.
Nach dem vom VwGH zur Vorgängerbestimmung (§ 27 Abs. 3 AsylG 1997) dargelegten Zweck des § 20 AsylG 2005 soll die Einvernahme durch eine gleichgeschlechtliche Person den Abbau von Hemmschwellen bei der Schilderung von Eingriffen in die sexuelle Selbstbestimmung bewirken (03.12.2003, 2001/01/0402). Da davon auszugehen ist, dass erst dadurch eine andernfalls bestehende Hemmung, über das Erlebte näher zu berichten, abgebaut wird, ist ab dem Zeitpunkt, in dem sexuelle Übergriffe als Fluchtgrund geltend gemacht werden, die Notwendigkeit gegeben, Asylwerber durch Personen gleichen Geschlechts einzuvernehmen. Eine in einem solchen Fall durch einen Organwalter anderen Geschlechts vorgenommene Beweiswürdigung - auch wenn sie nur die Frage beträfe, ob dem diesbezüglichen Vorbringen zumindest ein "glaubhafter Kern" zukomme - ist mit dem Erfordernis daher nicht in Einklang zu bringen (VwGH 19.12.2007, 2005/20/0321 mwH; vgl. VfGH 12.03.2013 27.09.2012, U1674/12; 27.09.2012, U688/12 zur erforderlichen Gerichtsbesetzung).
Betreffend die Bestimmung des § 20 AsylG 2005 führen die EBRV (952 XXII. GP) aus: "Ausdrücklich wird normiert, dass Asylwerber, die behaupten Opfer von sexuellen Misshandlung[en] zu sein oder solchen Gefahren ausgesetzt zu werden, von Personen desselben Geschlechts einzuvernehmen sind. [...] Unberührt bleibt von der Neufassung der Bestimmung die Absicht des Gesetzgebers hiermit internationale Beschlüsse umzusetzen [...]; daher sind, wenn es notwendig und möglich ist, etwa auch weibliche Dolmetscher für entsprechende Verfahren zu bestellen."
Der VwGH hat ausgesprochen, dass (auf eine Beschwerdeführerin weiblichen Geschlechts bezogen) die Befragung durch "eine weibliche Organwalterin [...] (unter Beiziehung einer weiblichen Dolmetscherin) [...] dem Zweck des Abbaus von Hemmschwellen, über das Erlebte (oder Befürchtete) zu berichten, und somit der Bestimmung des § 20 Abs. 1 AsylG 2005 Rechnung getragen [habe]. (12.10.2016, Ra 2016/18/0119)
Damit hätte aber fallbezogen die Einvernahme wie bei der Erstbefragung durch einen Mann unter Beiziehung eines männlichen Dolmetschers stattfinden müssen, was das BFA verkannt hat.
Die Nichtbeachtung des § 20 Abs. 1 AsylG 2005 durch das BFA macht eine ergänzende Einvernahme des Beschwerdeführers nötig, zumal diese Bestimmung der ordnungsgemäßen Sachverhaltsermittlung dient und besondere Schutzmaßnahmen für Personen enthält, die Eingriffe in ihre sexuelle Selbstbestimmung geltend machen.
Im fortgesetzten Verfahren ist dieser Verfahrensmangel vom BFA zu sanieren. Es ist derzeit nicht festzustellen, ob der Beschwerdeführer ausreichend Gelegenheit zur Darstellung der Gründe für seinen Aufenthalt außerhalb des Herkunftsstaates hatte. Die Einvernahme durch und mithilfe von Frauen erweist sich somit als völlig ungeeigneter Ermittlungsschritt (vgl. VwGH 26.06.2014, Ro 2014/03/0063), der eine gesetzmäßige neuerliche Einvernahme des Beschwerdeführers durch einen Mann unter Zuhilfenahme eines männlichen Dolmetschs bedarf.
Bis dahin ist der vorliegende Sachverhalt bloß ansatzweise ermittelt. Das BFA hat somit im angefochtenen Bescheid keine hinreichende Sachverhaltsfeststellung und deswegen keine auf eine solche aufbauende rechtliche Würdigung vorgenommen.
Eine Nachholung des durchzuführenden Ermittlungsverfahrens und eine erstmalige Ermittlung und Beurteilung des maßgeblichen Sachverhaltes durch das Gericht wäre nicht hinreichend, weil die Einräumung eines Instanzenzugs nicht "zur bloßen Formsache degradiert" werden darf, indem sich das Asylverfahren mangels sachgerechten Eingehens und brauchbarer Ermittlungsergebnisse [in erster Instanz] "einem eininstanzlichen Verfahren [...] nähert", in welchem die ernsthafte Prüfung des Antrages erst bei der zweiten und letzten Instanz beginnt und auch endet (VwGH 26.06.2014, Ro 2014/03/0063). Die Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 VwGVG sind auch deshalb nicht gegeben, weil Beschwerdeführer und BFA-Dienststelle sich in derselben Stadt befinden, die ihrerseits 4,5 Eisenbahnstunden vom Gerichtsstandort entfernt ist.
Da der maßgebliche Sachverhalt noch nicht feststeht, war in Gesamtbeurteilung der dargestellten Erwägungen der angefochtene Bescheid des BFA gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG aufzuheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das BFA zurückzuverweisen.
Zu B) (Un)Zulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung zu den Voraussetzungen der Zurückverweisung aus verwaltungsökonomischen und Gründen des Rechtsschutzes nach § 28 Abs. 3 VwGVG im Fall der mangelhaften Sachverhaltsermittlung.
Die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Sonstige Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage(n) kamen nicht hervor.
4. Zum Unterbleiben einer Verhandlung:
Da auf Grund der Aktenlage feststeht, dass der mit Beschwerde angefochtene Bescheid aufzuheben ist, konnte gemäß § 24 Abs. 2 Z 1 VwGVG die Durchführung einer mündlichen Verhandlung entfallen.
Schlagworte
Eingriff in sexuelle Selbstbestimmung, Einvernahme,European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2018:I419.2170829.1.00Zuletzt aktualisiert am
27.09.2018