TE Bvwg Erkenntnis 2018/8/20 W240 2177106-1

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Veröffentlicht am 20.08.2018
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Entscheidungsdatum

20.08.2018

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §34 Abs2
AsylG 2005 §34 Abs4
B-VG Art.133 Abs4

Spruch

W240 2177110-1/11E

W240 2177106-1/10E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Feichter über die Beschwerden von 1) XXXX , geb. XXXX , und 2) XXXX , geb. XXXX , beide StA. Somalia, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 18.10.2017, Zlen 1.) 1103990102-160159093, und 2.) 1118368709-1608128970, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 07.05.2018, zu Recht erkannt:

A) Den Beschwerden wird stattgegeben und 1) XXXX gemäß § 3 Abs. 1

Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005, idgF. und 2) XXXX gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 34 Abs. 2 und 4 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt.

Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass 1) XXXX , und 2) XXXX , damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

Die Erstbeschwerdeführerin, eine Staatsbürgerin von Somalia, gelangte unter Umgehung der Grenzkontrolle nach Österreich und stellte am 01.02.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz. Am 01.02.2016 wurde sie einer Erstbefragung unterzogen. Sie führte an, verheiratet zu sein, der Volksgruppe der XXXX anzugehören und Verkäuferin zu sein. Sie gab zu ihren Fluchtgründen an, sie habe als Verkäuferin ihren Mann unterstützt, der einen Geschäftsstand besessen habe. Sie sei von der Al Shabaab verfolgt und bedroht worden, weil sie Zigaretten verkauft hätten. Die Erstbeschwerdeführerin hätte von den Al Shabaab getötet werden sollen. Ihr Ehemann sei von den Al Shabaab entführt worden und sie wisse nicht, ob er noch am Leben sei. In Somalia seien ihre Kinder und ihr Ehemann aufhältig.

Am XXXX .2016 kam der Zweitbeschwerdeführer in Österreich zur Welt, am 08.06.2016 wurde für den Zweitbeschwerdeführer ebenfalls ein Antrag auf internationalen Schutz in Österreich gestellt.

Nach Zulassung zum Asylverfahren erfolgte am 02.10.2017 eine niederschriftliche Einvernahme der Erstbeschwerdeführerin durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Steiermark. Die Erstbeschwerdeführerin gab zu ihrem Fluchtvorbringen im Wesentlichen wie folgt an:

"(...)

Wenn ich nun aufgefordert werde meine Flucht- und Asylgründe zu schildern, gebe ich an:

VP: Ich habe Probleme bekommen, weil ich Zigaretten verkauft habe. Die Probleme haben im März 2015 angefangen. Die Al-Shaabab haben angefangen mich zu beobachten. Im Dezember 2015 haben sie mich dann bedroht. Sie haben mich aufgefordert, den Zigarettenverkauf einzustellen. Sie meinten, dass Zigaretten Drogen seien und es verboten wäre.

LA: Wurden Sie persönlich aufgefordert, den Zigarettenverkauf einzustellen?

VP: Ja. Sie sind zu meinem Marktstand gekommen. Es war ein Mann, dieser hieß XXXX . Er war früher ein sehr religiöser Mann und hat sich später den Al-Shaabab angeschlossen.

LA: Woher kennen Sie diesen Mann?

VP: Er ist sehr bekannt in der Stadt. Er hat in einer Moschee zum Gebet gerufen und war auch Gebetsführer. Die Moschee wurde auch nach ihm benannt.

LA: Was passierte, nachdem XXXX Sie warnte?

VP: Er ist nicht selbst zu mir gekommen. Er lebte nicht in der Stadt. Er hat zwei Männer zu mir geschickt. Diese haben mich aufgefordert und gewarnt. Ich habe aber nicht auf sie gehört, weil ich damit unseren Lebensunterhalt verdient habe. Ich habe daher weiterverkauft. Nach zwei Wochen kamen die gleichen zwei Männer wieder zu mir. Am Anfang wusste ich nicht, das XXXX dahintersteckt, erst später habe ich das herausgefunden. Sie haben sich zu einem Geschäft, welches gegenüber war, gestellt. Ich habe sie zwar gesehen aber die Gesichter nicht erkannt. Sie haben einen Mann zu mir geschickt, der gegenüber Flip-Flops verkaufte. Er hat dann um Zigaretten gefragt. Ich habe die Zigaretten nur mehr heimlich verkauft, damit meine ich, dass diese nicht mehr auf dem Tisch lagen, da ich Angst hatte. Die Zigaretten befanden sich in leere Reissäcke, die hinten standen. Ich habe ihm vier Einzel-Zigaretten verkauft. Er ist dann gegangen. Die Männer haben ihn dann gefragt, ob er die Zigaretten von mir habe, nachdem Sie sahen, dass er sich eine anzündete. Sie haben den Mann am Hemd gepackt und brachten ihn zu mir. Sie fragten mich, was ich dem Mann verkauft habe. Ich sagte ihnen, dass ich ihm nichts gegeben habe. Einer der Männer zog dann aus der Hemdtasche des Mannes eine Zigarette heraus und sagte, ich hätte sie ihm gegeben und würde es jetzt leugnen. Dann hat er mich beschimpft und meine Ware in meine Richtung geschmissen. Dann meinte er, sie werden handeln. Dann sind die Männer gegangen. Ich bin dann nachhause gegangen und hatte große Angst. Mein Mann hatte damals noch keine eigene Arbeit, sondern hat mir geholfen. Er war immer am Stand, wenn ich zuhause blieb und Wäsche wusch, oder ein Kind krank war. Als ich an diesem Tag nachhause kam, habe ich meinem Mann von dem Vorfall erzählt. Mein Mann machte sich große Sorgen um mich. Gegen 22 Uhr kam XXXX mit den beiden Männern zu uns nachhause. Sie klopfen an die Tür und mein Mann fragte, wer da sei. XXXX meldete sich. Meine Kinder und ich haben gerade in einem Zimmer geschlafen. Ich sagte meinem Mann, dass er sicher die beiden Männer heute zu mir auf den Verkaufsstand schickte und bin dann durch das Fenster geflüchtet. Ich bin zu einer Nachbarin gegangen. Später bin ich aber zurück, weil ich mir Sorgen um meine Familie machte. Ich konnte hören, was sie mit meinem Mann sprachen. Mein Mann sagte ihnen, dass ich Wasser holen würde. Die Männer teilten meinem Mann mit, dass man mich mit einem Messer zerstückeln würde, da ich nicht gefolgt habe. Es würde sich nicht lohnen, mich mit einer Kugel zu töten, das wäre zu schade. Eineinhalb Stunden haben diese Männer auf mich gewartet. Nachdem ich nicht mehr kam, forderten sie meinen Mann auf vor das Haus zu kommen. Mein Mann flehte XXXX an, er möge mir verzeihen, da ich eh nur eine Frau bin und einen Fehler gemacht habe. Er versprach ihm auch, dass ich damit aufhören werde. XXXX sagte, ich wäre gegen die Religion und würde Drogen verkaufen. Dann sind die Männer gegangen. Unser Haus und das Haus der Nachbarn waren eng beieinander. Mein Mann hat mich gerufen, nachdem die Männer weg waren. Ich bin aus dem Haus der Nachbarn gekommen. Er teilte mir mit, dass man mir drohte, mich zu töten. Er meinte auch, dass man mich nicht in Ruhe lassen würde und meinte auch, ich dürfe nicht mehr arbeiten gehen. Am nächsten Tag meinte mein Mann ich solle nach Mogadishu fahren, weil ich nicht mehr bleiben könne. Ich habe das dann auch gemacht und bin am nächsten Tag nach Mogadishu gefahren.

LA: Woher hatten Sie die Zigaretten, die Sie verkauften?

VP: Ich habe die Zigaretten in Mogadishu gekauft und nach Afgooye gebracht.

(...)"

Die Frage, ob die Erstbeschwerdeführerin für ihren minderjährigen Sohn (den Zweitbeschwerdeführer) Fluchtgründe geltend machen wolle, verneinte die Erstbeschwerdeführerin und gab an, dass dieser im Falle einer Rückkehr nichts zu befürchten habe.

2. Mit Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Steiermark, vom 18.10.2017, wurde unter Spruchteil

I. der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen, unter Spruchpunkt II. dieser Antrag auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Somalia abgewiesen, unter Spruchpunkt III. ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt, eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass die Abschiebung nach Somalia zulässig sei und unter Spruchteil IV. eine Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen eingeräumt.

In der Begründung des Bescheides hinsichtlich der Erstbeschwerdeführerin wurden die oben bereits im wesentlichen Inhalt wiedergegebenen Einvernahmen dargestellt und Feststellungen zu Somalia getroffen. Festgehalten wurde die Erstbeschwerdeführerin sei nicht in der Lage gewesen, die Behörde davon zu überzeugen, dass sie in ihrem Heimatland einer Gefahr einer Verfolgung ausgesetzt gewesen sei oder nunmehr sei. Das BFA hielt fest, dass es die Auffassung vertrete, es ergebe sich für die Erstbeschwerdeführer gegenwärtig kein Abschiebungshindernis nach Somalia, weil eine landesweite allgemeine, extreme Gefährdungslage, in der jeder Antragsteller im Fall seiner Abschiebung dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert werden würde, nicht gegeben sei. Betreffend den minderjährigen Zweitbeschwerdeführer erging eine gleichlautende Entscheidung.

3. Gegen diese Bescheide wurde fristgerecht Beschwerde erhoben. Zusammengefasst wurde darin ausgeführt, die Erstbeschwerdeführerin gehöre dem Hauptclan der Dir und dem Subclan der XXXX an. Sie habe bis zu ihrer Flucht in Afgooye gelebt. Nach der Flucht der Erstbeschwerdeführerin wurde deren Ehemann sowie ihre Kinder von

XXXX mitgenommen und drei Monate festgehalten. Schließlich habe man sie wieder freigelassen. Die Erstbefragung sei oberflächlich gewesen und die Länderberichte seien nicht hinreichend auf die Situation der Erstbeschwerdeführerin abgestimmt, sondern allgemein gehalten. Schließlich seien im Bescheid betreffend den Zweitbeschwerdeführer keine Länderfeststellungen enthalten. Auszugsweise wurde ein mit Februar 2016 zitierter EASO-Bericht zitiert, wonach "westliche" Kultur und Kulturgüter in Somalia verboten seien sowie weitere Berichte zitiert, welche sich mit dem Thema befassen. In der Folge wurden weitere Berichte zitiert über die Situation in Somalia. Zu

XXXX werde ausgeführt, dass dieser Gebetsführer in einer Moschee gewesen sei und sehr bekannt sei. Die Erstbeschwerdeführerin habe in einem kleinen Dorf gelebt und die Ehefrau von XXXX kenne die Erstbeschwerdeführerin. Zum Fluchtvorbringen wurde ausgeführt, dass die Erstbeschwerdeführerin keine Zigaretten verkauft hätte, hätte sei gewusst, dass zwei Männer der Al Shabaab sie beobachten würden. Zur Feststellung, es sei unglaubwürdig, dass sie trotz die Warnung durch die Al Shabaab weiterhin Zigaretten verkauft habe, wurde ausgeführt, dass die Erstbeschwerdeführerin heimlich weiterhin Zigaretten verkauft habe, weil sie das Geld dringend für ihren Lebensunterhalt und für ihre Familie benötigt habe. Die Erstbeschwerdeführerin habe in der Türkei davon erfahren, dass ihre im Heimatland verbliebene Familie bei XXXX seien. Sie sei von einer Nachbarin gewarnt worden, nicht zurückzukehren, weil es zu gefährlich sei. Die Familie sei schließlich wieder freigelassen worden. Die Erstbeschwerdeführerin fürchte um ihr Leben. Sie werde von den Al Shabaab verfolgt, weil sie entgegen deren Anweisung weiter Zigaretten verkauft habe und ihr somit seitens der Al Shabaab eine oppositionelle religiöse Einstellung unterstellt werde. Weiters sei XXXX mit der Al Shabaab gut vernetzt und könne sie überall in Somalia finden.

4. Das Bundesverwaltungsgericht beraumte für den 07.05.2018 eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung an, in der die Erstbeschwerdeführerin, vertreten durch eine Vertreterin der ARGE, einvernommen wurde.

Ergänzend zu dem bereits übermittelten Länderinformationsblatt wurde dem Beschwerdevorbringen entsprechend weitere aktuelle Länderberichte, insbesondere zur Herkunftsregion, zur Al Shabaab und zur Situation von Frauen in Somalia, zur Kenntnis gebracht und eine Frist zur Abgabe einer Stellungnahme eingeräumt.

Am 22.05.2018 langte eine Stellungnahme ein und wurde darin ausgeführt, dass die Erstbeschwerdeführerin in der Verhandlung glaubhaft ihre Fluchtgeschichte vorgebracht habe. Sie habe in ihrer Heimatstadt Afgooye Tabakwaren verkauft. Als Mitglieder der Al Shabaab deshalb auf sie aufmerksam geworden seien und sie bedroht hätten, habe sie in weiterer Folge das Land verlassen müssen. Die Erstbeschwerdeführerin habe ihre Fluchtgeschichte frei, flüssig, sehr detailreich und lebensnah erzählt. Soweit es zwischen den Angaben der Erstbeschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung vom 07.05.2018 und der Einvernahme vor dem BFA zu kleineren Widersprüchen gekommen sei, werde darauf verwiesen, dass die Erstbeschwerdeführerin tendenzielle bei der Angabe von Mengen, auch wenn sie diese beziffere, keine genauen, sondern annähernde Angaben mache. So habe sie beispielsweise ausgeführt, in Mogadishu rund zehn bis fünfzehn Stangen gekauft zu haben. Diese zehn bis zwanzig Stangen habe sie um ungefähr 25 bis 30 Dollar in Mogadishu verkauft. Diese generelle Tendenz und die Tatsache, dass die Erstbeschwerdeführerin über keine Schulbildung verfüge, könnten die kleineren Widersprüche in Zeitangaben und Mengenangaben im Fluchtvorbringen erklären. Schließlich finde das Fluchtvorbringen der Erstbeschwerdeführerin in den Länderberichten Deckung. Weiters wurde auf die schlechte allgemeine wirtschaftliche Situation und die anhaltende Hungersnot verwiesen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Zur Person der Beschwerdeführer:

Die Erstbeschwerdeführerin ist somalische Staatsbürgerin, stammt aus Afgooye und lebt seit ihrer Antragstellung im Jahr 2016 in Österreich. In Österreich wurde am XXXX 2016 ihr Sohn (der Zweitbeschwerdeführer) geboren. Die Erstbeschwerdeführerin gehört dem Hauptclan der Dir und dem Subclan der XXXX an. In Somalia lebt noch ihr Ehemann und ihre sieben Kinder sowie eine Nichte der Erstbeschwerdeführerin, zuletzt in einem anderen Haus in Afgooye. Seit März 2018 besteht jedoch kein Kontakt mehr zu ihrem Ehemann und ihren Kindern. Weitere Familienmitglieder oder Verwandte leben nicht in Somalia, ein Bruder der Beschwerdeführerin ist seit 2013 verschollen.

Im gegenständlichen Fall liegt somit ein Familienverfahren iSd § 34 AsylG 2005 vor.

Die Erstbeschwerdeführerin und der minderjährige Zweitbeschwerdeführer sind strafrechtlich unbescholten.

Für den minderjährigen Zweitbeschwerdeführer wurden keine asylrelevanten Gründe behauptet und haben sich auch nicht amtswegig ergeben.

Die Erstbeschwerdeführerin wurde von Al Shabaab-Mitgliedern gewarnt sowie bedroht, dass sie keine Zigaretten mehr verkaufen dürfe bei ihrem Verkaufsstand. Sie hatte jedoch das Geld für den Lebensunterhalt und den Lebensunterhalt ihrer Familie benötigt und daher weiterhin heimlich Zigaretten verkauft. Als dies die Al Shabaab Mitglieder erfahren haben, wurde die Erstbeschwerdeführerin bedroht. Die Erstbeschwerdeführerin ist durch ihr Verhalten in das Blickfeld der Al Shabaab gelangt, konkret wurde ein namentlich genannter ehemaliger Gebetsführer, der sich der Al Shabaab angeschlossen hat und sehr gut vernetzt ist, auf die Beschwerdeführerin und ihre Weigerung, den Anweisungen der Al Shabaab Folge zu leisten, aufmerksam. Aufgrund der Verfolgungen durch die Mitglieder der Al Shabaab hat die Erstbeschwerdeführerin Somalia verlassen. Als sie in der Türkei war, hatte sie von einer Nachbarin erfahren, dass ihr Ehemann und ihre Kinder vom namentlich genannten ehemaligen Gebetsführer entführt und angehalten wurden. Mittlerweile wurden die Familienmitglieder der Erstbeschwerdeführerin wieder freigelassen, die Beschwerdeführerin konnte jedoch seit März 2018 keinen Kontakt mehr zu ihrem Ehemann und ihren Kindern in Somalia herstellen.

Der Erstbeschwerdeführerin droht daher mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit im Falle einer Rückkehr nach Somalia, bedroht, misshandelt oder sogar umgebracht zu werden durch die Al Shabaab, weil sie in das Blickfeld der Al Shabaab gelangt war, weil sie sich den Anordnungen der Al Shabaab, widersetzt hat und sich der Bestrafung und Verfolgung durch die Al Shabaab durch ihre Flucht entzogen hat.

Die Erstbeschwerdeführerin ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Erstbeschwerdeführerin im Fall ihrer Rückkehr nach Somalia die Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK droht.

Zu Somalia wird Folgendes verfahrensbezogen festgestellt:

2. Politische Lage

Das Gebiet von Somalia ist de facto in drei unterschiedliche administrative Einheiten unterteilt: a) Somaliland, ein 1991 selbstausgerufener unabhängiger Staat, der von der internationalen Gemeinschaft nicht anerkannt wird; b) Puntland, ein 1998 selbstausgerufener autonomer Teilstaat Somalias; c) das Gebiet südlich von Puntland, das Süd-/Zentralsomalia genannt wird (EASO 8.2014). Im Hinblick auf fast alle asylrelevanten Tatsachen ist Somalia in diesen drei Teilen zu betrachten (AA 1.1.2017).

Im Jahr 1988 brach in Somalia ein Bürgerkrieg aus, der im Jahr 1991 im Sturz von Diktator Siyad Barre resultierte. Danach folgten Kämpfe zwischen unterschiedlichen Clans, Interventionen der UN sowie mehrere Friedenskonferenzen (EASO 8.2014). Seit Jahrzehnten gibt es keine allgemeinen Wahlen auf kommunaler, regionaler oder zentralstaatlicher Ebene. Politische Ämter wurden seit dem Sturz Siad Barres 1991 entweder erkämpft oder unter Ägide der internationalen Gemeinschaft, hilfsweise unter Einbeziehung nicht demokratisch legitimierter traditioneller Strukturen (v.a. Clan-Strukturen) vergeben (AA 1.1.2017).

Im August 2012 endete die Periode der Übergangsregierung (BS 2016). Seit damals gibt es eine politische Entwicklung, die den Beginn einer Befriedung und Stabilisierung sowie eines Wiederaufbaus staatlicher Strukturen markiert. Am 1.8.2012 wurde in Mogadischu eine vorläufige Verfassung angenommen. Seitdem ist die Staatsbildung kontinuierlich vorangeschritten. Das im Dezember 2016 gewählte Parlament stellt dabei auch einen deutlichen demokratischen Fortschritt gegenüber dem 2012 gewählten Parlament dar. Während 2012 135 Clanälteste die Zusammensetzung bestimmten (AA 4.2017a; vgl. UNSC 5.9.2017), waren es 2016 über 14.000 Clan-Repräsentanten (UNHRC 6.9.2017) bzw. 13.000. Während die 54 Mitglieder des Oberhauses von den Parlamenten der Bundesstaaten gewählt wurden, wählten die o.g. Clan-Repräsentanten die 275 auf Clan-Basis ausgewählten Abgeordneten des Unterhauses (UNSC 9.5.2017).

Auch wenn es sich um keine allgemeine Wahl gehandelt hat, ist diese Wahl im Vergleich zu vorangegangenen Wahlen ein Fortschritt gewesen (DW 10.2.2017). Allerdings war auch dieser Wahlprozess problematisch, es gibt zahlreiche Vorwürfe von Stimmenkauf und Korruption (SEMG 8.11.2017). Im Februar 2017 wählte das neue Zweikammerparlament Mohamed Abdullahi Mohamed "Farmaajo" zum Präsidenten; im März bestätigte es Hassan Ali Kheyre als Premierminister (AA 4.2017a; vgl. UNSC 5.9.2017, SEMG 8.11.2017). Das Parlament bestätigte am 29.3.2017 dessen 69-köpfiges Kabinett (UNSC 9.5.2017).

Die Macht wurde friedlich und reibungslos an die neue Regierung übergeben (WB 18.7.2017). Somalia hat den Zustand eines failed state überwunden, bleibt aber ein fragiler Staat (AA 1.1.2017). Die Regierung stellt sich den Herausforderungen, welche Dürre und Sicherheit darstellen. Überhaupt hat die Regierung seit Amtsantritt gezeigt, dass sie dazu bereit ist, die Probleme des Landes zu beheben (UNSC 5.9.2017). Dabei mangelt es der Bundesregierung an Einkünften, diese sind nach wie vor von den wenigen in Mogadischu erzielten Einnahmen abhängig (SEMG 8.11.2017).

Außerdem wird die Autorität der Zentralregierung vom nach Unabhängigkeit strebenden Somaliland im Nordwesten sowie von der die Regierung aktiv bekämpfenden, radikal-islamistischen al Shabaab-Miliz in Frage gestellt. Außerdem gibt es aber keine flächendeckende effektive Staatsgewalt. Die vorhandenen staatlichen Strukturen sind fragil und schwach (AA 1.1.2017). Die föderale Regierung hat es bislang kaum geschafft, sich außerhalb Mogadischus durchzusetzen (ÖB 9.2016).

Allgemeine Wahlen sind für das Jahr 2020 (UNSC 9.5.2017) bzw. 2021 vorgesehen (UNSC 5.9.2017; vgl. UNNS 13.9.2017). Deren Durchführung wird aber maßgeblich davon abhängen, wie sich die Sicherheitslage entwickelt, ob sich Wahlkommissionen auch in den Bundesstaaten etablieren können und ob ein Verfassungsgericht eingerichtet wird (UNSC 5.9.2017).

Neue föderale Teilstaaten (Bundesstaaten)

Generell befindet sich das föderalistische System Somalias immer noch in einer frühen Phase und muss in den kommenden Jahren konsolidiert werden (UNSC 9.5.2017). Zwar gibt es in manchen Gebieten Verbesserungen bei der Verwaltung und bei der Sicherheit. Es ist aber ein langsamer Prozess. Die Errichtung staatlicher Strukturen ist das größte Problem, hier versucht die internationale Gemeinschaft zu unterstützen (BFA 8.2017).

Kaum ein Bundesstaat ist in der Lage, das ihm zugesprochene Gebiet tatsächlich unter Kontrolle zu haben. Bei den neu etablierten Entitäten reicht die Macht nur wenige Kilometer über die Städte hinaus (BFA 8.2017; vgl. NLMBZ 11.2017).

Während im Norden bereits die Gliedstaaten Somaliland und Puntland etabliert waren, begann mit dem international vermittelten Abkommen von Addis Abeba von Ende August 2013 der Prozess der Gliedstaatsgründung im weiteren Somalia, der nach der Gründung der Bundesstaaten Jubaland, South West State (SWS), Galmudug und Hirshabelle 2016 seinen weitgehenden Abschluss fand (AA 4.2017a). Offen ist noch der finale Status der Hauptstadtregion Benadir/Mogadischu (AA 4.2017a; vgl. UNSC 5.9.2017, BFA 8.2017).

Die Bildung der Bundesstaaten erfolgte im Lichte der Clan-Balance.

Rein technisch bedeutet dies: Galmudug und HirShabelle für die Hawiye; Puntland und Jubaland für die Darod; der SWS für die Rahanweyn; Somaliland für die Dir (BFA 8.2017).

Die Beziehungen zwischen der Bundesregierung und den Regierungen der Bundesstaaten sind angespannt, da es bei der Sicherheitsarchitektur und bei der Ressourcenverteilung nach wie vor Unklarheiten gibt (SEMG 8.11.2017). Außerdem hat der Schritt zur Föderalisierung zur Verschärfung von lokalen Clan-Spannungen beigetragen und eine Reihe gewalttätiger Konflikte ausgelöst. Die Föderalisierung hat zu politischen Kämpfen zwischen lokalen Größen und ihren Clans geführt (BS 2016). Denn in jedem Bundesstaat gibt es unterschiedliche Clankonstellationen und überall finden sich Clans, die mit der Zusammensetzung ihres Bundesstaates unzufrieden sind, weil sie plötzlich zur Minderheit wurden. Sie fühlen sich marginalisiert (BFA 8.2017).

Im Zuge der Föderalisierung Somalias wurden mehrere Teilverwaltungen (Bundesstaaten) neu geschaffen: Galmudug Interim Administration (GIA); die Jubaland Interim Administration (JIA); Interim South West State Administration (ISWA). Keine dieser Verwaltungen hat die volle Kontrolle über die ihr unterstehenden Gebiete (USDOS 3.3.2017). Außerdem müssen noch wichtige Aspekte geklärt und reguliert werden, wie etwa die Machtverteilung zwischen Bund und Ländern, die Verteilung der Einkünfte oder die Verwaltung von Ressourcen. Internationale Geber unterstützen den Aufbau der Verwaltungen in den Bundesstaaten (UNSC 5.9.2017).

1) Jubaland (Gedo, Lower Juba, Middle Juba): Im Jahr 2013 kam es zu einem Abkommen zwischen der Bundesregierung und Delegierten von Jubaland über die Bildung des Bundesstaates Jubaland. Im gleichen Jahr wurde Ahmed Mohamed Islam "Madobe" zum Präsidenten gewählt (USDOS 3.3.2017). Der JIA ist es gelungen, zumindest in Kismayo eine Verwaltung zu etablieren. Die Machtbalance in Jubaland wurde verbessert, seit die Ogadeni auch mit anderen Clans kooperieren und diese in Strukturen einbinden (BFA 8.2017).

2) South West State (SWS; Bay, Bakool, Lower Shabelle): Nach einer Gründungskonferenz im Jahr 2014 formierte sich im Dezember 2015 das Parlament des Bundesstaates South West State. Dieses wählte Sharif Hassan Sheikh Adam zum Übergangspräsidenten (USDOS 3.3.2017). Insgesamt befindet sich der SWS immer noch im Aufbau, die Regierungsstrukturen sind schwach, Ministerien bestehen nur auf dem Papier. Es gibt kaum Beamte, und in der Politik kommt es zu Streitigkeiten. Die Region Bakool ist besser an den SWS angebunden, als dies bei Lower Shabelle der Fall ist. Die Beziehungen von Lower Shabelle zur Bundesregierung und zum SWS sind kompliziert, der SWS hat dort kaum Mitsprache (BFA 8.2017).

3) HirShabelle (Hiiraan, Middle Shabelle): Bei der Bildung des Bundesstaates HirShabelle wurde längere Zeit über gestritten. Beide Regionen (Hiiraan und Middle Shabelle) haben erklärt, dass sie genügend Einwohner hätten, um jeweils einen eigenen Bundesstaat gründen zu können. Trotzdem wurden die Regionen fusioniert (BFA 8.2017). Im Jänner 2016 fand eine Konferenz zur Bildung eines Bundesstaates aus Hiiraan und Middle Shabelle statt. In der Folge wurde im Oktober 2016 der Bundesstaat Hirshabelle eingerichtet: Ein Parlament wurde zusammengestellt und ein Präsident - Ali Abdullahi Osoble - gewählt. Anführer der Hawadle haben eine Teilnahme verweigert (USDOS 3.3.2017). Das Kabinett wurde Mitte März 2017 vom Parlament bestätigt (BFA 8.2017; vgl. UNSC 9.5.2017). Der Großteil der Regierung von HirShabelle befindet sich in Mogadischu. Die Bildung des Bundesstaates scheint alte Clan-Konflikte neu angeheizt zu haben, die Hawadle fühlen sich marginalisiert (BFA 8.2017).

4) Galmudug (Galgaduud, Teile von Mudug): 2015 wurde eine Regionalversammlung gebildet und Abdikarim Hussein Guled als Präsident gewählt hat (EASO 2.2016). Die Regionalversammlung war von der Bundesregierung eingesetzt worden. Ausgewählt wurden die 89 Mitglieder von 40 Ältesten, welche wiederum 11 Clans repräsentierten. Die Gruppe Ahlu Sunna wal Jama'a (ASWJ), die Teile der Region Galgaduud kontrolliert, hat den Prozess boykottiert und eine eigene Verwaltung eingerichtet (USDOS 3.3.2017). Die GIA wird von Hawiye/Habr Gedir/Sa'ad dominiert (EASO 2.2016). Am 25.2.2017 trat der Präsident von Galmudug, Abdikarim Hussein Guled, zurück (UNSC 9.5.2017). Am 3.5.2017 wurde Ahmed Duale Geele "Xaaf" vom Regionalparlament von Galmudug zum neuen Präsidenten gewählt (UNSC 5.9.2017). Auch der neue Präsident hat noch keine Lösung mit der ASWJ herbeigeführt (UNSOM 13.9.2017).

Quellen:

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BFA - BFA Staatendokumentation (8.2017): Fact Finding Mission Report Somalia. Sicherheitslage in Somalia. Bericht zur österreichisch-schweizerischen FFM, http://www.bfa.gv.at/files/berichte/FFM%20Report_Somalia%20Sicherheitslage_Onlineversion_2017_08_KE_neu.pdf, Zugriff 13.9.2017

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BS - Bertelsmann Stiftung (2016): BTI 2016 - Somalia Country Report,

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DW - Deutsche Welle (10.2.2017): Kommentar: Farmajo, der neue Präsident Somalias - Wie viele Löcher hat der Käse? http://www.dw.com/de/kommentar-farmajo-der-neue-pr%C3%A4sident-somalias-wie-viele-l%C3%B6cher-hat-der-k%C3%A4se/a-37496267, Zugriff 24.11.2017

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EASO - European Asylum Support Office (8.2014): South and Central Somalia: Country Overview,

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USDOS - US Department of State (3.3.2017): Country Report on Human Rights Practices 2016 - Somalia, http://www.state.gov/j/drl/rls/hrrpt/humanrightsreport/index.htm?year=2016&dlid=265300, Zugriff 13.9.2017

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WB - World Bank (18.7.2017): Somalia Economic Update, http://documents.worldbank.org/curated/en/552691501679650925/Somalia-economic-update-mobilizing-domestic-revenue-to-rebuild-Somalia, Zugriff 20.11.2017

2.1. Puntland

Der so genannte Puntland State of Somalia hat sich 1998 mit internationaler Unterstützung konstituiert. Er strebt keine Unabhängigkeit von Somalia an. Es konnten einigermaßen stabile staatliche Strukturen etabliert werden (AA 1.1.2017; vgl. BS 2016). Die staatlichen Organe in Puntland sind insgesamt weniger fragil als die zentralstaatlichen (AA 1.1.2017). Dabei konnte Puntland die Verwaltungskapazitäten weiter ausbauen. Gleichzeitig ist Puntland auf Bundesebene ein wichtiger Akteur. Grundlegende staatliche Dienste (z.B. Infrastruktur, Behörden) sind in Puntland gegeben. Das Verwaltungssystem ist aber urban konzentriert und reicht nicht bis in entlegene Gebiete (BS 2016).

Im Jänner 2014 kam es zum dritten Mal zu einem friedlichen Machtwechsel an der Spitze von Puntland. Allerdings fand dieser Machtwechsel nicht auf der Grundlage einer allgemeinen Wahl statt (AA 1.1.2017). Zwar war eine solche geplant, doch wurde die Wahl aufgrund gewaltsamer Proteste abgesagt. Gewählt wurde Präsident Abdiweli Mohamed Ali "Gaas" im Prinzip von Ältesten (BS 2016). Das Parlament, das den Präsidenten wählte, war unter Einbeziehung traditioneller Strukturen mit Clan-Bezug von einem durch den vorherigen Präsidenten eingesetzten Auswahlausschuss ernannt worden (AA 1.1.2017). Dabei folgte die Wahl von Präsident Gaas dem Rotationsprinzip der drei Hauptclans von Puntland (BS 2016).

Obwohl das Parlament schon im Jahr 2012 eine Verfassung beschlossen hat, die ein Mehrparteiensystem vorsieht (USDOS 3.3.2017), hat Puntland noch keine wirklich demokratischen Strukturen geschaffen. Präsident und Parlament werden durch den Beschluss von Ältesten entschieden (BS 2016).

Politische Auseinandersetzungen werden in der Regel zwar nicht gewaltsam ausgetragen, aber die Sicherheitslage ist im Umfeld der Wahlen sehr angespannt. Staatliche Sicherheitskräfte agieren mit Sondervollmachten (AA 1.1.2017).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (1.1.2017): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia

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BS - Bertelsmann Stiftung (2016): BTI 2016 - Somalia Country Report,

https://www.bti-project.org/fileadmin/files/BTI/Downloads/Reports/2016/pdf/BTI_2016_Somalia.pdf, Zugriff 20.11.2017

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USDOS - US Department of State (3.3.2017): Country Report on Human Rights Practices 2016 - Somalia, http://www.state.gov/j/drl/rls/hrrpt/humanrightsreport/index.htm?year=2016&dlid=265300, Zugriff 13.9.2017

3. Sicherheitslage und Situation in den unterschiedlichen Gebieten

Vergleicht man die Areas of Influence der Jahre 2012 und 2017, hat es kaum relevante Änderungen gegeben. Die Regierung und ihre Verbündeten kontrollieren zwar viele Städte, darüber hinaus ist eine Kontrolle aber kaum gegeben. Behörden oder Verwaltungen gibt es nur in den größeren Städten. Der Aktionsradius lokaler Verwaltungen reicht oft nur wenige Kilometer weit. Selbst bei Städten wie Kismayo oder Baidoa ist der Radius nicht sonderlich groß. Das "urban island scenario" besteht also weiterhin, viele Städte unter Kontrolle von somalischer Armee und AMISOM sind vom Gebiet der al Shabaab umgeben. Folglich befinden sich Große Teile des Raumes in Süd-/Zentralsomalia unter der Kontrolle oder zumindest unter dem Einfluss der al Shabaab (BFA 8.2017).

Dahingegen können nur wenige Gebiete in Süd-/Zentralsomalia als frei von al Shabaab bezeichnet werden - etwa Dhusamareb oder Guri Ceel. In Puntland gilt dies für größere Gebiete, darunter Garoowe (BFA 8.2017).

Hinsichtlich der Lesbarkeit untenstehender Karte sind die folgenden Kommentare zu berücksichtigen:

Eine vollständige und inhaltlich umfassende Darstellung kann nicht gewährleistet werden; die

Gebietsgrenzen sind relativ, jedoch annähernd (z.B. Problematik der unterschiedlichen Einflusslage bei Tag und Nacht; der Fluktuation entlang relevanter Nachschubwege). Um die Karten übersichtlich zu gestalten, wurde eine Kategorisierung der auf somalischem Boden operierenden (Konflikt-)Parteien vorgenommen (BFA 8.2017):

a) Alle auf irgendeine Art und Weise mit der somalischen Regierung verbundenen und gleichzeitig gegen al Shabaab gestellten Kräfte wurden als "anti-al-Shabaab Forces" zusammengefasst. Diese Kategorie umfasst neben Bundeskräften (SNA) auch Kräfte der Bundesstaaten (etwa Jubaland, Galmudug, Puntland) sowie AMISOM und bi-lateral eingesetzte Truppen (und damit de facto auch die Liyu Police).

b) Die ASWJ wurde nicht in diese Kategorie aufgenommen, da sie zwar gegen al Shabaab kämpft, die Verbindung zur Bundesregierung aber momentan unklar ist.

c) Einige Clans verfügen über relative Eigenständigkeit, die auch mit Milizen abgesichert ist. Dies betrifft in erster Linie die Warsangeli (Sanaag), Teile der Dulbahante (Sool) und die Macawusleey genannte Miliz in Hiiraan. Keine dieser Milizen ist mit Somaliland, einem somalischen Bundesstaat, mit der somalischen Bundesregierung oder al Shabaab verbunden; sie agieren eigenständig, verfügen aber nur über eingeschränkte Ressourcen.

Operational Areas

d) Operationsgebiete, in welchen die markierten Parteien über relevanten Einfluss verfügen (einfarbig): Dort können die Parteien auf maßgebliche Mittel (Bewaffnung, Truppenstärke, Finanzierung, Struktur, Administration u.a.) zurückgreifen, um auch längerfristig Einfluss zu gewährleisten. Es sind dies die Republik Somaliland;

Puntland; teilweise auch Galmudug; AMISOM in Tandem mit der somalischen Regierung bzw. mit Bundesstaaten; äthiopische Kräfte im Grenzbereich; al Shabaab; Ahlu Sunna Wal Jama'a in Zentralsomalia;

e) Einige Gebiete (schraffiert) - vorwiegend in Süd-/Zentralsomalia - unterliegen dabei dem Einfluss von zwei dermaßen relevanten Parteien.

f) Alle in der Karte eingetragenen Städte und Orte wurden einer der o. g. Parteien zugeordnet. Sie gelten als nicht schraffiert, die Kommentare unter 4.1.2 sind zu berücksichtigen. Soweit bekannt wurden den Städten AMISOM-Stützpunkte oder Garnisonen bi-lateral eingesetzter Truppen zugeordnet. In den Städten ohne eine derartige Präsenz gibt es eine SNA-Präsenz, oder aber Sicherheitskräfte der einzelnen Bundesstaaten; oder Somalilands.

g) Operationsgebiete, in welchen kleinere Parteien über eingeschränkten Einfluss verfügen (strichliert): Dort sind neben den o. g. relevanten Parteien noch weitere Parteien mit eingeschränkter Ressourcenlage aktiv. Ihr Einfluss in diesen Operationsgebieten ist von wechselnder Relevanz und hängt von den jeweiligen verfügbaren Ressourcen und deren Einsatz ab (BFA 8.2017).

Al Shabaab (AS)

Ziel der al Shabaab ist es, die somalische Regierung und ihre Alliierten aus Somalia zu vertreiben und in Groß-Somalia ein islamisches Regime zu installieren. Außerdem verfolgt al Shabaab auch eine Agenda des globalen Dschihads und griff im Ausland Ziele an (EASO 2.2016). Je höher der militärische Druck auf al Shabaab anwächst, je weniger Gebiete sie effektiv kontrollieren, desto mehr verlegt sich die Gruppe auf asymmetrische Kriegsführung (Entführungen, Anschläge, Checkpoints) und auf Drohungen. Al Shabaab wird bei der Anwendung dieser Taktik immer besser und stärker. Dabei ist auch die al Shabaab in ihrer Entscheidungsfindung nicht völlig frei. Die Gruppe unterliegt durch die zahlreichen Verbindungen z.B. zu lokalen Clan-Ältesten auch gewissen Einschränkungen (BFA 8.2017).

Seit 2011 wurden die militärischen Kapazitäten der al Shabaab durch AMISOM und somalische Kräfte sowie durch innere Streitigkeiten beachtlich dezimiert (UKHO 7.2017). Die al Shabaab stellt aber weiterhin eine potente Bedrohung dar (UNSC 9.5.2017). Die Stärke der al Shabaab wird im Schnitt mit ungefähr 7.000 Mann beziffert (BFA 8.2017; vgl. LI 20.12.2017). Die Gruppe ist technisch teilweise besser ausgerüstet als die SNA und kann selbst gegen AMISOM manchmal mit schweren Waffen eine Überlegenheit herstellen. Außerdem verfügt die al Shabaab mit dem Amniyad über das landesweit beste Aufklärungsnetzwerk (BFA 8.2017). Die Gruppe hat sich bei Rückschlägen in der Vergangenheit als resilient und anpassungsfähig erwiesen. Der innere Kern blieb allzeit geeint, auch wenn es bei al Shabaab zu Streitigkeiten und Fraktionierung gekommen ist. Die taktische Entwicklung der Gruppe; ihre wachsenden Fähigkeiten; und die Ausführung komplexer Angriffe auf städtische und ländliche Ziele hat dies jedenfalls bewiesen (UNSC 9.5.2017). In der Vergangenheit hat die Gruppe auch eine konventionell-militärische Bedrohung dargestellt, etwa beim Angriff auf einen kenianischen Stützpunkt bei Kulbiyow im Jänner 2017. Beim Überrennen von AMISOM-Stützpunkten ist al Shabaab auch an schwere Waffen gelangt (SEMG 8.11.2017).

Die Regionalhauptstadt Buale (Middle Juba) sowie die Bezirkshauptstädte Saakow, Jilib (Middle Juba), Jamaame (Lower Juba), Sablaale, Kurtunwaarey (Lower Shabelle), Diinsoor (Bay), Tayeeglow (Bakool), Ceel Buur, Ceel Dheere (Galgaduud) befinden sich unter Kontrolle der al Shabaab. Alle anderen Regional- und Bezirkshauptstädte werden von anti-al-Shabaab-Truppen gehalten. Viele der Städte sind gleichzeitig auch Garnisonsstädte der AMISOM (BFA 8.2017). Eine andere Quelle nennt ebenfalls die o.g. Städte als unter Kontrolle der al Shabaab befindlich, fügt aber die Stadt Xaradheere (Mudug) hinzu und zieht Diinsoor ab (LI 20.12.2017).

In ihrem Gebiet hält al Shabaab vor allem in Städten und größeren Dörfern eine permanente Präsenz aufrecht. Abseits davon operiert al Shabaab in kleinen, mobilen Gruppen (LI 20.12.2017). Die Gruppe verfügt nicht nur über Kämpfer und Agenten, sie kann auch auf Sympathisanten zurückgreifen (NLMBZ 11.2017). Nominell ist die Reichweite der al Shabaab in Süd-/Zentralsomalia damit unbegrenzt. Sie ist in den meisten Landesteilen offen oder verdeckt präsent. Die Gruppe ist in der Lage, überall zuschlagen zu können (BFA 8.2017). Die al Shabaab übt über das Jubatal Kontrolle aus und kann sich auch in vielen anderen Gebieten Süd-/Zentralsomalias frei bewegen (USDOS 3.3.2017). Al Shabaab beherrscht weiterhin große Teile des ländlichen Raumes in Süd-/Zentralsomalia, v.a. in Bay, Gedo, Lower Shabelle und Middle Juba (AI 22.2.2017; vgl. BFA 8.2017). Auch rund um Städte in Süd-/Zentralsomalia, die von nationalen oder regionalen Sicherheitskräften und/oder AMISOM gehalten werden (SEMG 8.11.2017), kontrolliert al Shabaab den ländlichen Raum und wichtige Versorgungsstraßen (SEMG 8.11.2017; vgl. UKHO 7.2017). Dadurch gelingt es der Gruppe, große Teile der Bevölkerung von einer Versorgung abzuschneiden (SEMG 8.11.2017).

Die al Shabaab übt auch über manche Orte, die eigentlich der Jurisdiktion der Regierung angehören, ein Maß an Kontrolle aus:

Humanitäre Organisationen und Empfänger humanitärer Hilfe werden besteuert oder in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt (SEMG 8.11.2017). Es gelingt der al Shabaab selbst nominell sichere Teile Mogadischus zu infiltrieren (BFA 8.2017). Außerdem verfügt die Gruppe in vielen Teilen Somalias über Verbindungen in alle Gesellschaftsebenen und -Bereiche (SEMG 8.11.2017). Generell variiert die Präsenz der al Shabaab konstant (BFA 8.2017).

Völkerrechtlich kommen der al Shabaab als de facto-Regime Schutzpflichten gegenüber der Bevölkerung in den von ihnen kontrollierten Gebieten gemäß des 2. Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen zu (AA 1.1.2017). Staatlicher Schutz ist in der Gebieten der al Shabaab nicht verfügbar (UKHO 7.2017).

Die Fähigkeit der al Shabaab, in den von ihr beherrschten Gebieten eine effektive Verwaltung zu betreiben, ist ungebrochen. Zusätzlich verfügt die Gruppe über Kapazitäten, um in neu eroberten Gebieten unmittelbar Verwaltungen zu installieren (BFA 8.2017). Die Gebiete der al Shabaab werden als relativ sicher beschrieben. Dort herrscht Frieden und eine Absenz an Clan-Konflikten (UNSOM 18.9.2017). In den von ihr kontrollierten Gebieten verfügt die al Shabaab über effektive Verwaltungsstrukturen, eine Art von Rechtsstaatlichkeit und eine effektive Polizei. Die Verwaltung der al Shabaab wurzelt auf zwei Grundsätzen: Angst und Berechenbarkeit (BFA 8.2017).

Die al Shabaab finanziert sich über unterschiedliche Steuern. Allein aus Abgaben auf den (illegalen) Holzkohlehandel lukriert die Gruppe pro Jahr - nach konservativen Schätzungen - 10 Millionen US-Dollar.

Auch von anderen Wirtschaftstreibenden werden Steuern eingehoben: In Mogadischu reicht die Spannweite von zehn US-Dollar monatlich für einfache Markthändler bis zu 70.000 US-Dollar für große Firmen. Im ländlichen Raum werden auch Viehmärkte besteuert. Außerdem verlangt al Shabaab entlang von Hauptverbindungsstraßen Gebühren und hebt den Zakat ein (SEMG 8.11.2017). Die Zahlung der Abgaben erfolgt in der Form von Geld, Tieren, landwirtschaftlichen Produkten oder anderen Werten. Die Höhe der Besteuerung hat in den vergangenen Jahren kontinuierlich zugenommen (LI 20.12.2017).

Einerseits zwingt al Shabaab mancherorts Kinder zum Besuch der eigenen Madrassen; andererseits konnte z.B. in einem ländlichen Ort in Middle Juba eine neue Schule eröffnet werden, die sogar Englisch im Lehrplan hat. Dafür musste die Gemeinde aber eine Sonderabgabe leisten (SEMG 8.11.2017).

Die Menschen auf dem Gebiet der al Shabaab sind einer höchst autoritären und repressiven Herrschaft unterworfen. Während dies zwar einerseits zur Stärkung der Sicherheit beiträgt (weniger Kriminalität und Gewalt durch Clan-Milizen) (BS 2016), versucht al Shabaab alle Aspekte des öffentlichen und privaten Lebens der Menschen zu kontrollieren (BS 2016; vgl. DIS 9.2015). Alle Bewohner der Gebiete von al Shabaab müssen strenge Vorschriften befolgen, z. B. Kleidung, Eheschließung, Steuerzahlung, Teilnahme an militärischen Operationen, Rasieren, Spionieren, Bildung etc. (DIS 9.2015). Mit den damit verbundenen harten Bestrafungen wurde ein generelles Klima der Angst geschaffen (BS 2016). Das Brechen von Vorschriften kann zu schweren Strafen bis hin zum Tod führen (DIS 9.2015).

Die al Shabaab hat im Juni 2017 für die Bundesstaaten Galmudug, Puntland und Hirshabelle ein Verbot der Verwendung des Somali Shilling ausgerufen. Wirtschaftstreibende weichen daher teilweise auf den US-Dollar und den Äthiopischen Birr aus (UNSC 5.9.2017).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (1.1.2017): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia

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AI - Amnesty International (22.2.2017): Amnesty International Report 2016/17 - The State of the World's Human Rights - Somalia, http://www.ecoi.net/local_link/336580/479258_de.html, Zugriff 14.9.2017

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BFA - BFA Staatendokumentation (8.2017): Fact Finding Mission Report Somalia. Sicherheitslage in Somalia. Bericht zur österreichisch-schweizerischen FFM, http://www.bfa.gv.at/files/berichte/FFM%20Report_Somalia%20Sicherheitslage_Onlineversion_2017_08_KE_neu.pdf, Zugriff 13.9.2017

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BS - Bertelsmann Stiftung (2016): BTI 2016 - Somalia Country Report,

https://www.bti-project.org/fileadmin/files/BTI/Downloads/Reports/2016/pdf/BTI_2016_Somalia.pdf, Zugriff 20.11.2017

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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