TE Bvwg Erkenntnis 2018/8/1 W238 2170960-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 01.08.2018
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Entscheidungsdatum

01.08.2018

Norm

BBG §40
BBG §41
BBG §45
B-VG Art.133 Abs4

Spruch

W238 2170960-1/8E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Claudia MARIK als Vorsitzende und die Richterin Mag. Julia JERABEK sowie den fachkundigen Laienrichter Dr. Ludwig RHOMBERG als Beisitzer über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , gegen den Bescheid des Sozialministeriumservice, Landesstelle Wien, vom 08.08.2017, OB XXXX , betreffend Abweisung des Antrags auf Ausstellung eines Behindertenpasses zu Recht erkannt:

A) Der Beschwerde wird gemäß § 28 Abs. 1 und 2 VwGVG, §§ 1 Abs. 2, 40 Abs. 1 und 2, 41 Abs. 1, 42 Abs. 1 und 2 sowie 45 Abs. 1 und 2 BBG Folge gegeben und der angefochtene Bescheid wie folgt abgeändert:

Mit einem festgestellten Grad der Behinderung von fünfzig von Hundert (50 v.H.) erfüllt XXXX die Voraussetzungen für die Ausstellung eines Behindertenpasses, sodass ihrem darauf gerichteten Antrag vom 23.05.2017 stattzugeben ist.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Die Beschwerdeführerin beantragte am 23.05.2017 unter Vorlage medizinischer Beweismittel (erneut) die Ausstellung eines Behindertenpasses.

2. Seitens des Sozialministeriumservice, Landesstelle Wien (im Folgenden als belangte Behörde bezeichnet), wurde daraufhin ein Sachverständigengutachten einer Ärztin für Allgemeinmedizin eingeholt. In dem - auf Grundlage einer persönlichen Untersuchung der Beschwerdeführerin am 19.07.2017 erstatteten - Gutachten vom 20.07.2017 wurden als Ergebnis der Begutachtung die Funktionseinschränkungen den Leidenspositionen

Lfd. Nr.

Bezeichnung der körperlichen, geistigen oder sinnesbedingten Funktionseinschränkungen, welche voraussichtlich länger als sechs Monate andauern werden

Pos.Nr.

GdB%

1

Rezidivierende depressive Episoden. Wahl der Position mit oberem Rahmensatz, da dissoziative Zustände und posttraumatische Wesensveränderungen, jedoch nur mäßig stabilisiert.

03.06.01

40

2

Degenerative Veränderungen der Wirbelsäule. Wahl der Position mit dem oberen Rahmensatz, da endlagige Bewegungseinschränkung gegeben ist.

02.01.01

20

3

Mischkopfschmerz/Migräne. Wahl der Position mit dem oberen Rahmensatz, da Chronifizierung.

04.11.01

20

zugeordnet und

nach der Einschätzungsverordnung ein Gesamtgrad der Behinderung von 40 v.H. festgestellt. Begründend wurde ausgeführt, dass der führende Grad der Behinderung unter Position 1 durch die weiteren Leiden nicht erhöht werde, da keine ungünstige wechselseitige Leidensbeeinflussung gegeben sei. Es handle sich um einen Dauerzustand.

Im Vergleich zum Vorgutachten (Anm.: vom 12.04.2016) wurde ausgeführt, dass es zu einer Befundverschlechterung von Leiden 1 gekommen sei. Leiden 2 sei hinzugekommen. Leiden 3 bestehe unverändert. Im Ergebnis komme es zu einer Anhebung des Gesamtgrades der Behinderung um eine Stufe.

3. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid der belangten Behörde vom 08.08.2017 wurde der Antrag der Beschwerdeführerin auf Ausstellung eines Behindertenpasses gemäß §§ 40, 41 und 45 BBG abgewiesen, da die Beschwerdeführerin mit dem festgestellten Grad der Behinderung von 40 v.H. die Voraussetzungen für die Ausstellung eines Behindertenpasses nicht erfülle. In der Begründung verwies die belangte Behörde auf das eingeholte ärztliche Sachverständigengutachten, wonach der Grad der Behinderung 40 v.H. betrage. Das dem Bescheid zugrunde gelegte Sachverständigengutachten wurde der Beschwerdeführerin als Beilage des Bescheides übermittelt.

4. Gegen diesen Bescheid erhob die Beschwerdeführerin fristgerecht Beschwerde. Begründend wurde darin insbesondere ausgeführt, dass die Beschwerdeführerin aufgrund der chronischen Kopf- und Rückenschmerzen Probleme in Bezug auf Merkfähigkeit, Gedächtnis, Konzentration und Aufmerksamkeit habe. Die Depressionen, die Persönlichkeitsstörung bzw. die Traumafolgestörungen würden nachweislich erhebliche Gedächtnisstörungen, Schlafstörungen sowie Konzentrationsprobleme bewirken. Die psychiatrischen Erkrankungen stünden mit den körperlichen Leiden in Wechselwirkung. Ihre Belastbarkeit und ihre Leistungsfähigkeit seien dauerhaft verringert. Auch die verordnete Psychopharmaka- bzw. Schmerzmedikation wirke aufmerksamkeits- und konzentrationsmindernd. Zudem sei sie von der MA 40 als arbeitsunfähig erachtet worden. Aufgrund ihrer eingeschränkten Merkfähigkeit und Desorientierung sei sie auf eine Begleitperson bei Behörden- und Arztterminen angewiesen.

5. Die Beschwerde und der bezughabende Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht seitens der belangten Behörde am 19.09.2017 vorgelegt.

6. Mit Schreiben des Bundesverwaltungsgerichtes vom 20.09.2017 wurde die Beschwerdeführerin zur Vorlage des in der Beschwerde ins Treffen geführten Gutachtens betreffend Arbeitsunfähigkeit sowie zur Stellungnahme aufgefordert, inwieweit der Inhalt des Gutachtens nach Auffassung der Beschwerdeführerin ihren aktuellen Gesundheitszustand widerspiegle.

7. Mit Eingabe vom 10.10.2017 legte die Beschwerdeführerin ein Gutachten der PVA vom 16.02.2017, einen psychiatrischen Befund vom 27.10.2016 sowie eine Medikamentenliste vor. Ergänzend führte sie aus, dass aufgrund ihrer schweren und traumatisierenden Lebensgeschichte sowie der daraus resultierenden chronisch-psychischen Störungen und körperlichen Folgeerkrankungen nicht absehbar sei, wann sie wieder arbeitsfähig sei. Sie stehe in regelmäßiger psychiatrischer Behandlung und psychosozialer Betreuung. Ihr Ziel sei es, in einer therapeutischen Tagesstruktur eingegliedert zu werden.

8. In weiterer Folge wurden seitens des Bundesverwaltungsgerichtes Begutachtungen der Beschwerdeführerin durch eine Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie sowie durch eine Fachärztin für Unfallchirurgie und Ärztin für Allgemeinmedizin veranlasst.

8.1. In dem auf Basis einer persönlichen Untersuchung der Beschwerdeführerin erstatteten Gutachten einer Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie vom 19.01.2018 wurde auszugsweise Folgendes ausgeführt (Wiedergabe ergänzt um die zugehörigen Fragestellungen des Bundesverwaltungsgerichtes):

"Neurologischer Status:

Im Kopf- und im Hirnnervenbereich keine Auffälligkeiten. Keine Halbseitenzeichen. Seitengleiche Verhältnisse bezüglich Tonus, Kraft, Sensibilität und Reflexe. Keine pathologischen Reflexe. Sämtliche Koordinationsversuche regelrecht. Romberg, Unterberger, Zehen- und Fersenstand unauffällig. Gangbild unauffällig

Psychischer Status:

Bewusstseinsklar und allseits orientiert. Keine Denkstörungen. Keine psychotische Symptomatik. Konzentration, Aufmerksamkeit und Merkfähigkeit herabgesetzt. Gedankenductus verlangsamt und unkonzentriert. Befindlichkeit schlecht, depressiv, ängstlich, misstrauisch, leicht paranoid, nicht ins Positive zu affizieren. Instabil. Flashbacks und Intrusionen. Albträume. Keine Suizidalität.

Eingesehene Befunde:

Befund XXXX vom 2.1.2018: Diagnosen: andauernde Persönlichkeitsveränderung nach Extrembelastung, Verdacht auf multiple Persönlichkeitsstörung, rezidivierende depressive Störung, generalisierte Angststörung, Insomnie, Migräne

Patientenbrief AKH Gynäkologie vom 13.10.2017: Dysplasie der Cervix uteri, Konisation und Curettage am 12.10.2017

Medikamentenliste, Stand 31.3.2017

Beantwortung der gestellten Fragen:

1) Gesonderte Einschätzung des Grades der Behinderung für jede festgestellte Gesundheitsschädigung:

1. Andauernde Persönlichkeitsveränderung nach posttraumatischer Belastungsstörung

Position 03.05.02 50 %

Unterer Rahmensatz, da ernsthafte Beeinträchtigung der meisten sozialen Bereiche und Einschränkung der beruflichen Leistungsfähigkeit, aber noch ambulant führbar.

2. Mischkopfschmerz/Migräne Position 04.11.01 20 %

Oberer Rahmensatz, da Chronifizierung.

2) Stellungnahme, ab wann der Grad der Behinderung anzunehmen ist:

Der Grad der Behinderung ist ab Antragstellung anzunehmen.

3) Fachspezifische Stellungnahme zu den im Verwaltungsverfahren vorgelegten Unterlagen, soweit in das Fachgebiet Psychiatrie fallend:

Aus all den Unterlagen geht immer nur hervor, dass ‚Traumafolgen', ‚Suizidversuche', ‚Schmerzen', etc. vorliegen. Auch dass BF nicht reden kann oder will, etc.

Dies zeigt, wie schwer eine Beurteilung des Sachverhaltes ist, wenn keine Außenanamnese vorliegt. Ohne die genaue Schilderung des Dolmetschers, der die Familie und die genauen Umstände beschrieben hat, wäre es sehr viel schwieriger gewesen, das gesamte Trauma der BF zu erfassen und zu verstehen. Traumatisierte Menschen sind oft nicht in der Lage, über das Erlebte zu sprechen. Oft auch nach Jahren nicht. Aktenmäßig erwiesen sind: ‚chronische Schmerzen', die organisch nicht hinlänglich erklärbar sind, ‚Traumafolgestörungen', ‚dissoziative und psychotische Phasen', ‚ein ernstzunehmender Suizidversuch durch Einnahme von Tabletten'. Auch ohne Genaueres zu wissen, spricht dies für ein schweres Trauma oder für schwere Traumata.

4) Fachspezifische Stellungnahme zur Begründung des Antrags vom 23.05.2017, zu den Einwendungen in der Beschwerde vom 04.09.2017 und im ergänzenden Vorbringen vom 10.10.2017:

Die Frage, wie sich die Traumafolgen auf die Arbeitsfähigkeit auswirken, müssen nicht in einzelnen Symptomen aufgelistet und begründet werden, sondern bedeuten im Gesamten, dass die traumatisierte Person nicht in der Lage ist, die geistige, körperliche und seelische Fähigkeit aufzubringen, wie sie für eine berufliche Tätigkeit wenigstens zur Hälfte erforderlich ist.

5) Fachspezifische Stellungnahme zu den im Beschwerdeverfahren vorgelegten Unterlagen, insbesondere zum Gutachten der PVA vom 16.02.2017 sowie zum Befund vom 27.10.2016 samt Medikamentenliste vom 31.03.2017:

Das PVA-Gutachten listet sogar noch Daten auf, die mir bei der Begutachtung nicht bekannt gemacht wurden, wie Kopfverletzung durch Gewalteinwirkung durch den Ehemann 2006, mehrfache Suizidversuche 2005, 2007, 2009 und 2016. Dies bestärkt noch mehr die Schwere der traumatisierenden Ereignisse.

Der Befund von ESRA vom 27.10.2016 und die Medikamentenliste vom 31.3.2017 führen zu keinen neuen Erkenntnissen.

6) Begründung zu einer allfälligen zum angefochtenen Sachverständigengutachten vom 20.07.2017 abweichenden Beurteilung:

Die Diagnose lautet nicht primär ‚rezidivierende Depression', sondern hauptsächlich posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) und im Rahmen dieser PTBS andauernde Persönlichkeitsveränderung, in deren Rahmen verschiedene Symptome inkludiert sind, wie Angst, Panik, Depressionen, dissoziative Zustände etc.

Darum wurde das Erkrankungsbild auch nicht unter den ‚affektiven Störungen' eingestuft, sondern unter den posttraumatischen Belastungsstörungen und daher kommt es laut Einschätzungsverordnung zu einer Einstufung auf 50 %.

7) Stellungnahme, ob bzw. wann eine Nachuntersuchung erforderlich ist:

Eine Nachuntersuchung ist nicht erforderlich."

8.2. In dem ebenfalls auf Basis einer persönlichen Untersuchung der Beschwerdeführerin erstatteten - zusammenfassenden - Gutachten einer Fachärztin für Unfallchirurgie und Ärztin für Allgemeinmedizin vom 23.04.2018 wurde insbesondere Folgendes ausgeführt (Wiedergabe ergänzt um die zugehörigen Fragestellungen des Bundesverwaltungsgerichtes):

"STATUS:

Allgemeinzustand gut, Ernährungszustand gut.

Größe 162 cm, Gewicht 53 kg, 34 a

Caput/Collum: klinisch unauffälliges Hör- und Sehvermögen

Thorax: symmetrisch, elastisch

Atemexkursion seitengleich, sonorer Klopfschall, VA. HAT rein, rhythmisch

Abdomen: klinisch unauffällig, keine pathologischen Resistenzen tastbar, kein Druckschmerz.

Integument: unauffällig

Schultergürtel und beide oberen Extremitäten:

Rechtshänder. Der Schultergürtel steht horizontal, symmetrische Muskelverhältnisse, Bandmaß Unterarm rechts 23 cm, links 22,5 cm.

Die Durchblutung ist ungestört, die Sensibilität wird als ungestört angegeben.

Die Benützungszeichen sind seitengleich vorhanden.

Schulter rechts: endlagige Bewegungsschmerzen werden angegeben, sonst unauffälliges Gelenk.

Sämtliche weiteren Gelenke sind bandfest und klinisch unauffällig.

Aktive Beweglichkeit: Schultern, Ellbogengelenke, Unterarmdrehung, Handgelenke, Daumen und Langfinger seitengleich frei beweglich. Grob- und Spitzgriff sind uneingeschränkt durchführbar. Der Faustschluss ist komplett, Fingerspreizen beidseits unauffällig,

Händedruck rechts schwächer als links, die grobe Kraft in etwa seitengleich proximal und distal KG 5/5, Tonus und Trophik unauffällig.

Nacken- und Schürzengriff sind uneingeschränkt durchführbar.

Becken und beide unteren Extremitäten:

Freies Stehen sicher möglich, Zehenballengang und Fersengang beidseits ohne Anhalten und ohne Einsinken durchführbar.

Der Einbeinstand ist ohne Anhalten möglich. Die tiefe Hocke ist möglich.

Die Beinachse ist im Lot. Symmetrische Muskelverhältnisse.

Beinlänge ident.

Die Durchblutung ist ungestört, keine Ödeme, keine trophischen Störungen, die Sensibilität wird als ungestört angegeben. Die Beschwielung ist in etwa seitengleich. Sämtliche Gelenke sind bandfest und klinisch unauffällig.

Aktive Beweglichkeit: Hüften, Knie, Sprunggelenke und Zehen sind seitengleich frei beweglich.

Das Abheben der gestreckten unteren Extremität ist beidseits bis 60° bei KG 5 möglich.

Wirbelsäule:

Schultergürtel und Becken stehen horizontal, in etwa im Lot, regelrechte Krümmungsverhältnisse. Die Rückenmuskulatur ist symmetrisch ausgebildet, mäßig Hartspann, kein Klopfschmerz über der Wirbelsäule.

Aktive Beweglichkeit:

HWS: in allen Ebenen endlagig eingeschränkt

BWS/LWS: FBA: 10 cm, F und R endlagig eingeschränkt Lasegue bds. negativ, Muskeleigenreflexe seitengleich mittellebhaft auslösbar.

Gesamtmobilität - Gangbild:

Kommt selbständig gehend mit Halbschuhen ohne Hilfsmittel, das Gangbild hinkfrei und unauffällig.

Das Aus- und Ankleiden wird selbständig im Sitzen durchgeführt.

Status psychicus: Unter Berücksichtigung der Sprachbarriere ausreichend kooperativ und kommunikationsfähig.

STELLUNGNAHME:

1) Einschätzung des Grades der Behinderung inkl. Zusammenfassung:

1. Andauernde Persönlichkeitsveränderung nach posttraumatischer Belastungs-störung 03.05.02 50 %

Unterer Rahmensatz, da ernsthafte Beeinträchtigung der meisten sozialen Bereiche und Einschränkung der beruflichen Leistungsfähigkeit, aber noch ambulant führbar.

2. Degenerative Veränderungen der Wirbelsäule 02.01.01 20 %

Oberer Rahmensatz, da endlagige Bewegungseinschränkung gegeben ist.

3. Mischkopfschmerz/Migräne 04.11.01 20 %

Oberer Rahmensatz, da Chronifizierung.

2) Einschätzung und Begründung des Gesamtgrades der Behinderung, wobei auch auf eine allfällige Erhöhung durch wechselseitige Leidensbeeinflussung eingegangen werden möge:

Der Gesamtgrad der Behinderung beträgt 50 %.

Maßgebend für die Bestimmung des Gesamtgrades der Behinderung ist, zu eruieren, ob die führende Funktionsbeeinträchtigung durch die übrigen Leiden aufgrund maßgeblicher funktioneller Relevanz erhöht wird bzw. das Gesamtbild in funktioneller Hinsicht maßgeblich negativ beeinflusst wird und die Auswirkungen des führenden Leidens durch die anderen Leiden erheblich verstärkt werden.

Die Auswirkungen des führenden Leidens werden durch Leiden 2 und 3 nicht erheblich verstärkt, da teilweise Leidensüberschneidung besteht.

3) Stellungnahme, ab wann der Gesamtgrad der Behinderung anzunehmen ist:

Der Grad der Behinderung ist ab Antragstellung anzunehmen.

4) Fachspezifische Stellungnahme zu den im Verwaltungsverfahren vorgelegten Unterlagen, soweit in das Fachgebiet der Unfallchirurgie und Allgemeinmedizin fallend:

MRT der HWS vom 21.3.2017 (Chondrose und flache mediane Bandscheibenprotrusion C5/C6, sonst unauffälliger Befund, keine Vertebrostenose, keine Myelopathie) - Befunde der bildgebenden Diagnostik werden der Beurteilung zugrunde gelegt, maßgeblich für die Einschätzung behinderungsrelevanter Leiden nach der EVO sind jedoch objektivierbare Funktionseinschränkungen. Der Befund wird in vollem Umfang berücksichtigt.

Attest Dr. XXXX , Ärztin für Allgemeinmedizin vom 9.5.2017 (seit längerem bei folgenden Diagnosen in Behandlung: kleine und charakteristische Parenchymläsionen rechtes Neurokranium, flache mediane Bandscheibenprotrusion C5/C6, zervikale Arthrose, ventrale Discopathie im oberen/mittleren BWS Drittel, Depression, Psychosomatose, emotionale und instabile persönliche Störung, Migräneattacken, generelle Angststörung, nichtorganische Insomnie. Patienten steht unter Dauermedikation und unter psychiatrischer Behandlung) - Sämtliche Diagnosen werden in der Beurteilung berücksichtigt. Parenchymläsionen im rechten Neurokranium ohne neurologisches Defizit erreichen kein behinderungsrelevantes Ausmaß. Bezügl. MRT-Befund Stellungnahme siehe oben. Die weiteren Diagnosen fallen in das psychiatrische Fachgebiet.

Bescheid MA 40 vom 7.3.2017 (Grundbetrag 837,76, Mietbeihilfe 189,25, Sonderzahlungen für Mai und Oktober) - für die medizinische Beurteilung nicht von Relevanz.

5) Fachspezifische Stellungnahme zur Begründung des Antrags vom 23.05.2017, den Einwendungen In der Beschwerde vom 04.09.2017 und im ergänzenden Vorbringen vom 10.10.2017:

Chronische Kopf- und Rückenschmerzen werden in der Beurteilung in vollem Umfang berücksichtigt, höhergradige Funktionseinschränkungen der Wirbelsäule liegen nicht vor, eine analgetische Dauermedikation ist nicht etabliert.

Eine maßgebliche ungünstige wechselseitige Leidensbeeinflussung mit den psychiatrischen Leiden, welche zu einer höheren Einstufung führte, liegt nicht vor, da eine teilweise Leidensüberschneidung besteht.

Die weiteren Einwendungen betreffen nicht das psychiatrische Fach.

Die BF sei seit vielen Jahren zusätzlich in neurologischer und orthopädischer Behandlung und habe körperlich chronische Schmerzen als auch Traumafolgestörungen. Sie habe schwere Kopf- und Rückenschmerzen, Unterleibschmerzen.

Dem wird entgegengehalten, dass weder eine Dauermedikation etabliert ist noch maßgebliche Funktionseinschränkungen vorliegen.

Unterleibschmerzen sind nicht durch fachärztliche Untersuchungen und Behandlungsprotokolle belegt.

6) Fachspezifische Stellungnahme zu den im Beschwerdeverfahren vorgelegten Unterlagen, insbesondere zum Gutachten der PVA vom 16.02.2017 sowie zur Medikamentenliste vom 31.03.2017:

Ärztliches Gutachten PVA vom 16.2.2017 (rezidivierende Migräneattacken, Zervikalsyndrom) - keine neuen Erkenntnisse, Diagnosen werden in der Einschätzung in vollem Umfang berücksichtigt.

Aktuelle Medikationsliste datiert mit 31.3.2017 (Seroquel, Trittico, Topilex, Relpax, Dulasolan, Temesta) - betreffen das psychiatrische Fachgebiet.

Nachgereichte Befunde, soweit in das Fachgebiet der Unfallchirurgie und Allgemeinmedizin fallend, es gilt die Neuerungsbeschränkung ab 19.9.2017:

Röntgen gesamte Wirbelsäule, rechtes Sprunggelenk und beide Kniegelenke vom 2.3.2018 (Wirbelsäule: skoliotische Achsenabweichung BWS und LWS, mäßige Höhenreduktion Bandscheibenräume L4 bis S1.

Beide Knie: Varusfehlstellung, sonst unauffällig. Rechtes

Sprunggelenk: unauffällig.) - Hilfsbefunde der bildgebenden Diagnostik stehen in Einklang mit den klinisch objektivierbaren Funktionseinschränkungen, keine neuen Erkenntnisse.

MRT der HWS vom 21.3., das Jahr leider nicht eindeutig zu erkennen (Chondrose und flacher medianer Bandscheiben-Protrusion C5/C6, sonst unauffällig) - Hilfsbefund der bildgebenden Diagnostik steht in Einklang mit den klinisch objektivierbaren Funktionseinschränkungen, keine neuen Erkenntnisse.

Attest Dr. XXXX , Ärztin für Allgemeinmedizin vom 12.03.2018 (seit längerem bei folgenden Diagnosen in Behandlung: kleine und charakteristische Parenchymläsionen rechtes Neurokranium, flache mediane Bandscheibenprotrusion C5/C6, Skoliose HWS, BWS und LWS, mäßige Höhenreduktion Bandscheibenräume L4 bis S1, Cerväcaiarthrose, ventrale Discopathie im oberen/mittleren BWS Drittel, Varusfehlstellung beider Kniegelenke, hochgradige Dysplasie der Cervix uteri, Zustand nach Curettage, Depression, Psychosomatose, emotionale und instabile persönliche Störung, Migräneattacken, generelle Angststörung, nichtorganische Insomnie. Patientin steht unter Dauermedikation und unter psychiatrischer Behandlung) - Zustand nach Curettage bei Dysplasie der Cervix uteri erreicht nicht das Ausmaß eines behinderungsrelevanten Leidens. Im Übrigen bekannte Diagnoseliste, das vertretene Fach betreffend, keine neuen Erkenntnisse, an der getroffenen Einstufung wird festgehalten.

Befund Universitätsfrauenklinik vom 13. 10. 2017 (hochgradige Dysplasie der Cervix uteri, CIN III, Konisation und endozervikale Curettage, postoperativ unauffälliger Befund) - Zustand nach Curettage bei Dysplasie der Cervix uteri erreicht nicht das Ausmaß eines behinderungsrelevanten Leidens.

MRT des Neurokraniums vom 12.10.2017 (vergrößerte Lymphknoten beidseits zervikal, akzentuierter Parotislymphknoten links) - Keine Funktionseinschränkungen objektivierbar, daher keine einschätzungswürdigen Leiden vorliegend.

7) Begründung einer allfälligen zum angefochtenen Sachverständigengutachten vom 20.07.2017 abweichenden Beurteilung:

Leiden 1 (andauernde Persönlichkeitsveränderung nach posttraumatischer Belastungsstörung) wird um eine Stufe angehoben, siehe nervenfachärztliches Sachverständigengutachten vom 19.01.2018.

Die weiteren Leiden werden unverändert eingestuft.

Der Gesamtgrad der Behinderung wird um eine Stufe angehoben, da Verschlimmerung von Leiden 1.

8) Stellungnahme, ob bzw. wann eine Nachuntersuchung erforderlich ist.

Nachuntersuchung 04/2019 erforderlich, da Besserung möglich."

9. Mit Schreiben des Bundesverwaltungsgerichtes vom 22.05.2018 wurden die Beschwerdeführerin und die belangte Behörde über das Ergebnis der Beweisaufnahme informiert und ihnen in Wahrung des Parteiengehörs die Gelegenheit eingeräumt, dazu binnen zwei Wochen eine Stellungnahme abzugeben. Weiters wurde in diesem Zusammenhang mitgeteilt, dass das Bundesverwaltungsgericht in Aussicht nimmt, über die Beschwerde ohne Abhaltung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung aufgrund der Aktenlage zu entscheiden, sofern eine mündliche Verhandlung vor Gericht nicht ausdrücklich beantragt wird.

Die Verfahrensparteien ließen dieses Schreiben unbeantwortet.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Die Beschwerdeführerin stellte am 23.05.2017 einen Antrag auf Ausstellung eines Behindertenpasses.

Die Beschwerdeführerin hat ihren Wohnsitz bzw. gewöhnlichen Aufenthalt im Inland.

Bei der Beschwerdeführerin bestehen folgende Funktionseinschränkungen, die voraussichtlich länger als sechs Monate andauern werden:

1) Andauernde Persönlichkeitsveränderung nach posttraumatischer Belastungsstörung bei ernsthafter Beeinträchtigung der meisten sozialen Bereiche und Einschränkung der beruflichen Leistungsfähigkeit, jedoch noch ambulant führbar;

2) Degenerative Veränderungen der Wirbelsäule mit endlagiger Bewegungseinschränkung;

3) Mischkopfschmerz/Migräne bei Chronifizierung.

Hinsichtlich der bei der Beschwerdeführerin bestehenden Funktionseinschränkung, deren Ausmaßes, wechselseitiger Leidensbeeinflussung und medizinischer Einschätzung werden die diesbezüglichen Beurteilungen im Sachverständigengutachten einer Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie vom 19.01.2018 sowie im zusammenfassenden Sachverständigengutachten einer Fachärztin für Unfallchirurgie und Ärztin für Allgemeinmedizin vom 23.04.2018 der nunmehrigen Entscheidung zugrunde gelegt.

Der Gesamtgrad der Behinderung der Beschwerdeführerin beträgt 50 v. H.

2. Beweiswürdigung:

2.1. Das Datum der Einbringung des Antrags basiert auf dem Akteninhalt.

2.2. Die Feststellung, dass die Beschwerdeführerin ihren Wohnsitz bzw. gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat, ergibt sich aus dem vom Bundesverwaltungsgericht erstellten Auszug aus dem Zentralen Melderegister.

2.3. Der festgestellte Gesamtgrad der Behinderung basiert auf den vom Bundesverwaltungsgericht eingeholten Sachverständigengutachten einer Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie vom 19.01.2018 sowie einer Fachärztin für Unfallchirurgie und Ärztin für Allgemeinmedizin vom 23.04.2018. Darin wurde auf die Art der Leiden der Beschwerdeführerin, deren Ausmaß und wechselseitige Leidensbeeinflussung vollständig, nachvollziehbar und widerspruchsfrei eingegangen. Die Gutachten setzen sich umfassend und nachvollziehbar mit den von der Beschwerdeführerin vorgelegten Befunden, den von ihr erhobenen Einwendungen und dem durch die belangte Behörde eingeholten Sachverständigengutachten auseinander. Die getroffenen Einschätzungen stimmen mit den im Rahmen von klinischen Untersuchungen der Beschwerdeführerin und anhand der Befundlage festgestellten Funktionsbeeinträchtigungen überein. Die Funktionseinschränkungen wurden auch entsprechend den Bestimmungen der Einschätzungsverordnung richtig zugeordnet.

Die im Beschwerdeverfahren eingeholten Gutachten weichen im Ergebnis vom Vorgutachten ab und begründen widerspruchsfrei und schlüssig die nunmehr höhere Einschätzung des Gesamtgrades der Behinderung. Die höhere Einschätzung der im Vorgutachten noch als rezidivierende depressive Episode bezeichneten andauernden Persönlichkeitsveränderung nach posttraumatischer Belastungsstörung resultiert aus der Heranziehung der Positionsnummer 03.05.02 (Neurotische Belastungsreaktionen, somatoforme Störungen und posttraumatische Belastungsstörung PTSD mittleren Grades) mit dem unteren Rahmensatz von 50 v.H. Berücksichtigt wurde im nervenfachärztlichen Gutachten die anhand der Befundlage festgestellte Krankengeschichte der Beschwerdeführerin. Im Lichte der von der befassten Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie ins Treffen geführten ernsthaften Beeinträchtigung der meisten sozialen Bereiche und der beruflichen Leistungsfähigkeit ergibt sich somit ein Ausmaß der Erkrankung, dem durch die vorliegende Einschätzung adäquat Rechnung getragen wurde.

Hinsichtlich der bei der Beschwerdeführerin bestehenden degenerativen Veränderungen der Wirbelsäule wurde im unfallchirurgischen Gutachten korrekt die Positionsnummer 02.01.01 unter Heranziehung des oberen Rahmensatzes von 20 v.H. gewählt.

Bei Funktionseinschränkungen der Wirbelsäule sind allgemeine einschätzungsrelevante Kriterien etwa die Beweglichkeit und Belastbarkeit, Gelenksfunktionen, Funktionen der Muskel, Sehnen, Bänder und Gelenkskapsel, Messungen des Bewegungsradius, Entzündungsaktivität (Schmerzen, Schwellung) sowie Ausmaß der beteiligten Gelenke, Körperregionen und organische Folgebeteiligung. Bei radiologischen Befunden ist die Korrelation mit der klinischen Symptomatik für die Einschätzung relevant. Die konkrete Differenzierung zwischen Funktionseinschränkungen geringen, mittleren und schweren Grades wird insbesondere auch anhand der Häufigkeit und Dauer akuter Episoden, des Ausmaßes radiologischer und/oder morphologischer Veränderungen, des Vorliegens klinischer Defizite, des jeweiligen Therapie- und Medikationsbedarfs sowie des Ausmaßes der Einschränkungen im Alltag und Arbeitsleben vorgenommen.

Die konkret vorgenommene Einschätzung wurde von der befassten Fachärztin für Unfallchirurgie und Ärztin für Allgemeinmedizin schlüssig mit der bei der Beschwerdeführerin bestehenden endlagigen Bewegungseinschränkung begründet. Eine analgetische Dauermedikation ist hingegen nicht etabliert.

Funktionseinschränkungen der Wirbelsäule mittleren oder schweren Grades, die u.a. mit maßgeblichen Einschränkungen im Alltag einhergehen und daher auch einen höheren Grad der Behinderung begründen als im Fall der Beschwerdeführerin, konnten im Rahmen der persönlichen Untersuchung hingegen nicht festgestellt werden.

Bei der Beschwerdeführerin bestehende(r) Migräne/Mischkopfschmerz wurde im nervenfachärztlichen Gutachten richtigerweise der Positionsnummer 04.11.01 unter Heranziehung des oberen Rahmensatzes von 20 v.H. zugeordnet, da bereits eine Chronifizierung besteht.

Die in der Beschwerde vorgebrachten Unterleibsschmerzen wurden weder durch fachärztliche Untersuchungen noch durch Behandlungsprotokolle belegt, weshalb diese keiner Einschätzung unterzogen werden konnten. Auch erreichen weder der Zustand nach Curettage bei Dysplasie der Cervix uteri noch vergrößerte Lymphknoten beidseits cervikal mit akzentuiertem Parotislymphknoten links bzw. Parenchymläsionen im rechten Neurokranium mangels objektivierbarer Funktionseinschränkungen das Ausmaß behinderungsbedingter Leiden.

Insgesamt kam es aufgrund der Verschlimmerung des führenden Leidens 1 zu einer Erhöhung des Gesamtgrades der Behinderung um eine Stufe auf 50 v.H. Der Gesamtgrad der Behinderung wurde im zusammenfassenden Gutachten insbesondere damit schlüssig begründet, dass eine maßgebliche ungünstige wechselseitige Leidensbeeinflussung der physischen Leiden mit den psychischen Leiden, welche zu einer höheren Einstufung führen würde, nicht vorliegt, zumal eine teilweise Leidensüberschneidung besteht.

Die Beschwerdeführerin nahm das Ermittlungsergebnis unwidersprochen zur Kenntnis. Die belangte Behörde hat sich zu den Gutachten im Rahmen des Parteiengehörs ebenfalls nicht geäußert.

Seitens des Bundesverwaltungsgerichtes bestehen folglich keine Zweifel an der Richtigkeit, Vollständigkeit und Schlüssigkeit der vorliegenden Sachverständigengutachten vom 19.01.2018 und vom 23.04.2018. Sie werden in freier Beweiswürdigung der gegenständlichen Entscheidung zugrunde gelegt.

3. Rechtliche Beurteilung:

3.1. Die Beschwerde ist rechtzeitig und auch sonst zulässig. Die Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichtes und die Entscheidung durch einen Senat unter Mitwirkung eines fachkundigen Laienrichters ergeben sich aus §§ 6, 7 BVwGG iVm § 45 Abs. 3 und 4 BBG.

Zu A) Stattgebung der Beschwerde:

3.2. Die gegenständlich maßgeblichen Bestimmungen des Bundesbehindertengesetzes (BBG) lauten auszugsweise:

"BEHINDERTENPASS

§ 40. (1) Behinderten Menschen mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt im Inland und einem Grad der Behinderung oder einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 50% ist auf Antrag vom Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen (§ 45) ein Behindertenpaß auszustellen, wenn

1. ihr Grad der Behinderung (ihre Minderung der Erwerbsfähigkeit) nach bundesgesetzlichen Vorschriften durch Bescheid oder Urteil festgestellt ist oder

2. sie nach bundesgesetzlichen Vorschriften wegen Invalidität, Berufsunfähigkeit, Dienstunfähigkeit oder dauernder Erwerbsunfähigkeit Geldleistungen beziehen oder

3. sie nach bundesgesetzlichen Vorschriften ein Pflegegeld, eine Pflegezulage, eine Blindenzulage oder eine gleichartige Leistung erhalten oder

4. für sie erhöhte Familienbeihilfe bezogen wird oder sie selbst erhöhte Familienbeihilfe beziehen oder

5. sie dem Personenkreis der begünstigten Behinderten im Sinne des Behinderteneinstellungsgesetzes, BGBl. Nr. 22/1970, angehören.

(2) Behinderten Menschen, die nicht dem im Abs. 1 angeführten Personenkreis angehören, ist ein Behindertenpaß auszustellen, wenn und insoweit das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen auf Grund von Vereinbarungen des Bundes mit dem jeweiligen Land oder auf Grund anderer Rechtsvorschriften hiezu ermächtigt ist."

"§ 41. (1) Als Nachweis für das Vorliegen der im § 40 genannten Voraussetzungen gilt der letzte rechtskräftige Bescheid eines Rehabilitationsträgers (§ 3), ein rechtskräftiges Urteil eines Gerichtes nach dem Arbeits- und Sozialgerichtsgesetz, BGBl. Nr. 104/1985, ein rechtskräftiges Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes oder die Mitteilung über die Gewährung der erhöhten Familienbeihilfe gemäß § 8 Abs. 5 des Familienlastenausgleichsgesetzes 1967, BGBl. Nr. 376. Das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen hat den Grad der Behinderung nach der Einschätzungsverordnung (BGBl. II Nr. 261/2010) unter Mitwirkung von ärztlichen Sachverständigen einzuschätzen, wenn

1. nach bundesgesetzlichen Vorschriften Leistungen wegen einer Behinderung erbracht werden und die hiefür maßgebenden Vorschriften keine Einschätzung vorsehen oder

2. zwei oder mehr Einschätzungen nach bundesgesetzlichen Vorschriften vorliegen und keine Gesamteinschätzung vorgenommen wurde oder

3. ein Fall des § 40 Abs. 2 vorliegt.

(2) Anträge auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme von Zusatzeintragungen oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung sind ohne Durchführung eines Ermittlungsverfahrens zurückzuweisen, wenn seit der letzten rechtskräftigen Entscheidung noch kein Jahr vergangen ist. Dies gilt nicht, wenn eine offenkundige Änderung einer Funktionsbeeinträchtigung glaubhaft geltend gemacht wird.

(...)"

"§ 42. (1) Der Behindertenpass hat den Vornamen sowie den Familien- oder Nachnamen, das Geburtsdatum eine allfällige Versicherungsnummer und den festgestellten Grad der Behinderung oder der Minderung der Erwerbsfähigkeit zu enthalten und ist mit einem Lichtbild auszustatten. Zusätzliche Eintragungen, die dem Nachweis von Rechten und Vergünstigungen dienen, sind auf Antrag des behinderten Menschen zulässig. Die Eintragung ist vom Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen vorzunehmen.

(...)"

"§ 45. (1) Anträge auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme einer Zusatzeintragung oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung sind unter Anschluß der erforderlichen Nachweise bei dem Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen einzubringen.

(2) Ein Bescheid ist nur dann zu erteilen, wenn einem Antrag gemäß Abs. 1 nicht stattgegeben, das Verfahren eingestellt (§ 41 Abs. 3) oder der Pass eingezogen wird. Dem ausgestellten Behindertenpass kommt Bescheidcharakter zu.

(3) In Verfahren auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme von Zusatzeintragungen oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung hat die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts durch den Senat zu erfolgen.

(4) Bei Senatsentscheidungen in Verfahren gemäß Abs. 3 hat eine Vertreterin oder ein Vertreter der Interessenvertretung der Menschen mit Behinderung als fachkundige Laienrichterin oder fachkundiger Laienrichter mitzuwirken. Die fachkundigen Laienrichterinnen oder Laienrichter (Ersatzmitglieder) haben für die jeweiligen Agenden die erforderliche Qualifikation (insbesondere Fachkunde im Bereich des Sozialrechts) aufzuweisen.

(...)"

3.3. §§ 2 und 3 der Einschätzungsverordnung, BGBl. II 261/2010 idF BGBl. II 251/2012, sehen Folgendes vor:

"Grad der Behinderung

§ 2. (1) Die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen sind als Grad der Behinderung zu beurteilen. Der Grad der Behinderung wird nach Art und Schwere der Funktionsbeeinträchtigung in festen Sätzen oder Rahmensätzen in der Anlage dieser Verordnung festgelegt. Die Anlage bildet einen Bestandteil dieser Verordnung.

(2) Bei Auswirkungen von Funktionsbeeinträchtigungen, die nicht in der Anlage angeführt sind, ist der Grad der Behinderung in Analogie zu vergleichbaren Funktionsbeeinträchtigungen festzulegen.

(3) Der Grad der Behinderung ist nach durch zehn teilbaren Hundertsätzen festzustellen. Ein um fünf geringerer Grad der Behinderung wird von ihnen mit umfasst. Das Ergebnis der Einschätzung innerhalb eines Rahmensatzes ist zu begründen."

"Gesamtgrad der Behinderung

§ 3. (1) Eine Einschätzung des Gesamtgrades der Behinderung ist dann vorzunehmen, wenn mehrere Funktionsbeeinträchtigungen vorliegen. Bei der Ermittlung des Gesamtgrades der Behinderung sind die einzelnen Werte der Funktionsbeeinträchtigungen nicht zu addieren. Maßgebend sind die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander.

(2) Bei der Ermittlung des Gesamtgrades der Behinderung ist zunächst von jener Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, für die der höchste Wert festgestellt wurde. In der Folge ist zu prüfen, ob und inwieweit dieser durch die weiteren Funktionsbeeinträchtigungen erhöht wird. Gesundheitsschädigungen mit einem Ausmaß von weniger als 20 vH sind außer Betracht zu lassen, sofern eine solche Gesundheitsschädigung im Zusammenwirken mit einer anderen Gesundheitsschädigung keine wesentliche Funktionsbeeinträchtigung verursacht. Bei Überschneidungen von Funktionsbeeinträchtigungen ist grundsätzlich vom höheren Grad der Behinderung auszugehen.

(3) Eine wechselseitige Beeinflussung der Funktionsbeeinträchtigungen, die geeignet ist, eine Erhöhung des Grades der Behinderung zu bewirken, liegt vor, wenn

-

sich eine Funktionsbeeinträchtigung auf eine andere besonders nachteilig auswirkt,

-

zwei oder mehrere Funktionsbeeinträchtigungen vorliegen, die gemeinsam zu einer wesentlichen Funktionsbeeinträchtigung führen.

(4) Eine wesentliche Funktionsbeeinträchtigung ist dann gegeben, wenn das Gesamtbild der Behinderung eine andere Beurteilung gerechtfertigt erscheinen lässt, als die einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen alleine."

3.4. Zunächst ist festzuhalten, dass der Grad der Behinderung im Beschwerdefall - wie dies auch die belangte Behörde zu Recht annahm - nach der Einschätzungsverordnung einzuschätzen war. Die Ermittlung des Gesamtgrades der Behinderung bei mehreren Funktionsbeeinträchtigungen hat nicht im Wege der Addition der einzelnen Werte der Funktionsbeeinträchtigungen zu erfolgen, sondern es ist bei Zusammentreffen mehrerer Leiden zunächst von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, für welche der höchste Wert festgestellt wurde, und dann ist zu prüfen, ob und inwieweit durch das Zusammenwirken aller zu berücksichtigenden Funktionsbeeinträchtigungen eine höhere Einschätzung des Grades der Behinderung gerechtfertigt ist (vgl. den eindeutigen Wortlaut des § 3 Einschätzungsverordnung sowie die auf diese Rechtslage übertragbare Rechtsprechung, VwGH 17.07.2009, 2007/11/0088; 22.01.2013, 2011/11/0209 mwN). Bei ihrer Beurteilung hat sich die Behörde eines oder mehrerer Sachverständiger zu bedienen, wobei es dem Antragsteller freisteht, zu versuchen, das im Auftrag der Behörde erstellte Gutachten durch die Beibringung eines Gegengutachtens eines Sachverständigen seiner Wahl zu entkräften (vgl. VwGH 30.04.2014, 2011/11/0098; 21.08.2014, Ro 2014/11/0023).

Gegenständlich wurden seitens des Bundesverwaltungsgerichtes zwecks Beurteilung des Beschwerdevorbringens Sachverständigengutachten aus den Fachgebieten Psychiatrie und Neurologie, Unfallchirurgie und Allgemeinmedizin eingeholt, die auf Basis persönlicher Untersuchungen der Beschwerdeführerin erstattet wurden und - sowohl hinsichtlich der Einschätzung der einzelnen Funktionseinschränkungen als auch hinsichtlich der Ermittlung des Gesamtgrades der Behinderung - den von der Judikatur (sowie von der Einschätzungsverordnung) aufgestellten Anforderungen entspricht.

3.5. Wie unter Punkt II.2.3. eingehend ausgeführt wurde, werden der gegenständlichen Entscheidung die schlüssigen Sachverständigengutachten vom 19.01.2018 und vom 23.04.2018 zugrunde gelegt, wonach der Grad der Behinderung der Beschwerdeführerin - entgegen der Feststellung im angefochtenen Bescheid - 50 v.H. beträgt. Wie ebenfalls bereits im Rahmen der Beweiswürdigung dargelegt, wurden die vorliegenden Gutachten von den Verfahrensparteien nicht bestritten.

Mit einem Gesamtgrad der Behinderung von 50 v.H. sind die Voraussetzungen für die Ausstellung eines Behindertenpasses gemäß § 40 Abs. 1 BBG, wonach behinderten Menschen mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt im Inland und einem Grad der Behinderung oder einer Minderung der Erwerbstätigkeit von mindestens 50 v.H. ein Behindertenpass auszustellen ist, erfüllt.

Der Beschwerde war daher stattzugeben und der angefochtene Bescheid spruchgemäß abzuändern. Die belangte Behörde hat der Beschwerdeführerin folglich einen Behindertenpass mit einem Grad der Behinderung von 50 v. H. auszustellen. Angemerkt wird, dass im zusammenfassenden Sachverständigengutachten vom 23.04.2018 im Hinblick auf eine mögliche Besserung eine Nachuntersuchung für April 2019 vorgeschlagen wurde.

Soweit die Beschwerdeführerin im Beschwerdeschriftsatz auf das Erfordernis einer Begleitperson Bezug nimmt, ist festzuhalten, dass die Vornahme einer solchen Zusatzeintragung in den Behindertenpass nicht Gegenstand des vorliegenden Beschwerdeverfahrens war, da im angefochtenen Bescheid lediglich über den Antrag auf Ausstellung eines Behindertenpasses abgesprochen wurde. Der Beschwerdeführerin steht es jedoch frei, beim Sozialministeriumservice einen Antrag auf Vornahme der Zusatzeintragung "Begleitperson" in den Behindertenpass einzubringen. Die Behörde wird sodann ein Ermittlungsverfahren durchzuführen und den Antrag zu erledigen haben.

3.6. Zum Entfall einer mündlichen Verhandlung

Der im Beschwerdefall maßgebliche Sachverhalt ergibt sich aus dem Akt der belangten Behörde und den im Beschwerdeverfahren eingeholten - vom erkennenden Gericht als schlüssig erachteten - Gutachten einer Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie sowie einer Fachärztin für Unfallchirurgie und Ärztin für Allgemeinmedizin, die von den Verfahrensparteien im Rahmen des Parteiengehörs unwidersprochen zur Kenntnis genommen wurden. Die strittigen Tatsachenfragen gehören dem Bereich an, der von Sachverständigen zu beleuchten ist. All dies lässt - gerade auch vor dem Hintergrund des Umstandes, dass eine Verhandlung nicht beantragt wurde - die Einschätzung zu, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten ließ und eine Entscheidung ohne vorherige Verhandlung im Beschwerdefall nicht nur mit Art. 6 EMRK und Art. 47 GRC kompatibel ist, sondern auch im Sinne des Gesetzes (§ 24 Abs. 1 VwGVG) liegt, weil damit dem Grundsatz der Zweckmäßigkeit, Raschheit, Einfachheit und Kostenersparnis (§ 39 Abs. 2a AVG) gedient ist, gleichzeitig aber das Interesse der materiellen Wahrheit und der Wahrung des Parteiengehörs nicht verkürzt wird.

Ergänzend ist im Beschwerdefall aus dem Blickwinkel von Art. 6 EMRK (Art. 47 GRC) auf den Umstand hinzuweisen, dass die Beschwerdeführerin vom Bundesverwaltungsgericht bei Einräumung des Parteiengehörs auf die Möglichkeit hingewiesen wurde, die Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu beantragen, indem ihr seitens des Verwaltungsgerichtes mitgeteilt wurde, dass - sollte sie eine mündliche Verhandlung vor Gericht nicht ausdrücklich beantragen - eine Entscheidung ohne vorherige Verhandlung in Aussicht genommen werde. Die Beschwerdeführerin hat sich daraufhin nicht mehr geäußert.

Gemäß § 24 Abs. 3 VwGVG hat der Beschwerdeführer die Durchführung einer Verhandlung bereits in der Beschwerde oder im Vorlageantrag zu beantragen. Zu den einen Entfall der Verhandlung nach Art. 6 EMRK rechtfertigenden Umständen gehört auch der (ausdrückliche oder schlüssige) Verzicht auf die mündliche Verhandlung. Nach der Rechtsprechung kann die Unterlassung eines Antrags auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung von der Rechtsordnung unter bestimmten Umständen als (schlüssiger) Verzicht auf eine solche gewertet werden. Zwar liegt ein solcher Verzicht dann nicht vor, wenn eine unvertretene Partei weder über die Möglichkeit einer Antragstellung belehrt wurde, noch Anhaltspunkte dafür bestehen, dass sie von dieser Möglichkeit hätte wissen müssen (vgl. VfSlg. 16.894/2003 und 17.121/2004; VwGH 26.04.2010, 2004/10/0024; VwGH 12.08.2010, 2008/10/0315; VwGH 30.01.2014, 2012/10/0193). Dies ist hier aber angesichts des erwähnten Umstands eines entsprechenden Hinweises an die Beschwerdeführerin und der ihr explizit eingeräumten Gelegenheit zur Antragstellung nicht der Fall. Die unterbliebene Antragstellung kann vor diesem Hintergrund als schlüssiger Verzicht im Sinne der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 EMRK gewertet werden.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Dieser Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Die angewendeten Teile des Bundesbehindertengesetzes sind - soweit im Beschwerdefall relevant - eindeutig. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen.

Schlagworte

Behindertenpass, Grad der Behinderung, Sachverständigengutachten

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2018:W238.2170960.1.00

Zuletzt aktualisiert am

21.09.2018
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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