TE Bvwg Erkenntnis 2018/7/18 I420 2187149-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 18.07.2018
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Entscheidungsdatum

18.07.2018

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs4
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §34 Abs2
B-VG Art.133 Abs4

Spruch

I420 2187151-1/9E

I420 2187149-1/9E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Dr. Magdalena HONSIG-ERLENBURG als Einzelrichterin über die Beschwerde der XXXX geb. XXXX StA. Nigeria, sowie des minderjährigen XXXX geb. XXXX StA. Nigeria, gesetzlich vertreten durch seine Mutter, beide vertreten durch die ARGE Rechtsberatung Diakonie und Volkshilfe, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 09.01.2018, Zl. 1127806010-161190444/BMI-BFA_BGLD_RD und 1130255705-161281148/ BMI-BFA_BGLD_RD, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 14.06.2018, zu Recht erkannt:

A)

Den Beschwerden wird stattgegeben. XXXX wird gemäß § 3 Abs. 1 und Abs. 4 AsylG 2005 und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 und Abs. 4 AsylG 2005 iVm § 34 Abs. 2 AsylG 2005 der Status von Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX und XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

Die Verfahren der am XXXX geborenen Erstbeschwerdeführerin sowie ihres minderjährigen Sohnes, des am XXXX geborenen Zweitbeschwerdeführers, sind im Sinne des § 34 AsylG 2005 gemeinsam als Familienverfahren zu führen.

Die Erstbeschwerdeführerin stellte nach illegaler Einreise in Österreich am 30.08.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Am 30.08.2016 wurde die Erstbeschwerdeführerin durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes einvernommen. Zu ihrem Fluchtgrund befragt gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass die Lebensqualität in Nigeria schlecht sei und sie keine Arbeit gefunden habe.

Am XXXX wurde der Zweitbeschwerdeführer geboren und am 21.09.2016 brachte die Erstbeschwerdeführerin als gesetzliche Vertreterin einen Asylantrag für diesen ein.

In einer niederschriftlichen Einvernahme durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) am 14.12.2017 gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass die Ehefrauen bzw. Lebensgefährtinnen ihres Vaters sowie deren Kinder ihr die Schuld am Tod ihres Vaters gegeben hätten. Ihr Vater sei verstorben als die Erstbeschwerdeführerin acht Jahre gewesen sei. Die Familie des Vaters hätte ihre Mutter, ihren Bruder und sie immer wieder beschimpft. Als eines Tages ihr Bruder von der Familie des Vaters brutal geschlagen worden sei, habe ihre Mutter sie aus der gemeinsamen Wohnung geworfen. Die damals fünfzehnjährige Erstbeschwerdeführerin sei zu einer Freundin gezogen, welche mit fremden, reichen Männern via Internet Kontakt gehabt habe. Die Freundin habe sie aufgefordert, ebenfalls diese Arbeit zu verrichten. Eine Nachbarin habe der Erstbeschwerdeführerin schließlich vorgeschlagen, sie nach Niger zu bringen, um dort als Friseurin arbeiten zu können. Die Erstbeschwerdeführerin habe sich mit der Nachbarin auf die Reise begeben, habe jedoch zu spät bemerkt, dass die Nachbarin sie nach Libyen gebracht habe, um sie dort als Prostituierte an einen arabischen Mann zu verkaufen. Als sich die Erstbeschwerdeführerin geweigert habe, für diesen Mann zu arbeiten, sei sie zusammengeschlagen worden. Die Erstbeschwerdeführerin habe dort als Prostituierte arbeiten müssen. Eines Tages sei ihr mit der Hilfe eines Kunden die Flucht nach Italien gelungen. In Italien habe sie den Vater des Zweitbeschwerdeführers, einen nigerianischen Staatsangehörigen, kennen gelernt und habe einige Monate mit diesem zusammengelebt.

Mit Schreiben vom 27.12.2017 übermittelte der Erstbeschwerdeführerin eine Stellungnahme zu den Länderfeststellungen.

In der Folge wurden die Anträge der Erstbeschwerdeführerin und des Zweitbeschwerdeführers mit den im Spruch genannten Bescheiden des BFA vom 09.01.2018 hinsichtlich der Zuerkennung des Status von Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I. der angefochtenen Bescheide). Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 wurden die Anträge auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Nigeria abgewiesen (Spruchpunkt II. der angefochtenen Bescheide). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde der Erstbeschwerdeführerin und dem Zweitbeschwerdeführers gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III. der angefochtenen Bescheide). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurden gegen die Erstbeschwerdeführerin und den Zweitbeschwerdeführer Rückkehrentscheidungen gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV. der angefochtenen Bescheide). Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung der Erstbeschwerdeführerin und des Zweitbeschwerdeführers gemäß § 46 FPG nach Nigeria zulässig sei (Spruchpunkt V. der angefochtenen Bescheide). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI. der angefochtenen Bescheide). Das Vorbringen der Erstbeschwerdeführerin wurde als nicht glaubhaft angesehen, zumal es sich bei Familienstreitigkeiten um keine asylrelevante Verfolgung handle. Es sei auch nicht davon auszugehen, dass der Erstbeschwerdeführerin und dem Zweitbeschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Nigeria Gefahren drohen würden, die eine Erteilung des subsidiären Schutzes rechtfertigen würden. Es hätten sich keine Anhaltspunkte ergeben, dass die Erstbeschwerdeführerin bei ihrer Rückkehr ihre Lebensbedürfnisse nicht weiterhin befriedigen können würde. Ferner könne davon ausgegangen werden, dass die Erstbeschwerdeführerin in Nigeria Freunde und Verwandte habe. Außerdem sei laut einer Anfragebeantwortung der Staatendokumentation eine Rückführung alleinstehender Frauen nach Nigeria zumutbar.

Gegen die im Spruch genannten Bescheide wurde fristgerecht am 01.02.2018 Beschwerde erhoben sowie eine Vollmacht für die Vertretung durch die ARGE Rechtsberatung - Diakonie und Volkshilfe vorgelegt. Es wurde beantragt, das Bundesverwaltungsgericht möge die oben angeführten Bescheide zur Gänze beheben und der Erstbeschwerdeführerin und dem Zweitbeschwerdeführer Asyl gemäß § 3 AsylG gewähren; in eventu die angefochtenen Bescheide zur Gänze beheben und die Angelegenheit zur neuerlichen Durchführung des Verfahrens und Erlassung neuer Bescheide an das Bundesamt zurückverweisen (§ 66 Abs. 2 AVG, § 28 Abs. 3 und 4 VwGVG); für den Fall der Abweisung des obigen Beschwerdeantrages gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG feststellen, dass den Beschwerdeführern der Status von subsidiär Schutzberechtigten zukommt; sowie feststellen, dass die gemäß § 52 FPG erlassene Rückkehrentscheidung gemäß § 9 Abs. 3 BFA-VG auf Dauer unzulässig ist und feststellen, dass die Vorrausetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung (plus) gemäß § 55 AsylG vorliegen und ihnen daher gemäß § 58 Abs. 2 AsylG eine Aufenthaltsberechtigung (plus) von Amts wegen zu erteilen ist; sowie in eventu feststellen, dass die Vorrausetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz gemäß § 57 AsylG vorliegen und ihnen daher eine Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz gemäß § 57 Abs. 1 AsylG von Amts wegen zu erteilen ist; sowie eine mündliche Verhandlung gemäß § 24 Abs. 1 VwGVG mit einer weiblichen Richterin und einer weiblichen Dolmetscherin durchführen.

Die Beschwerdevorlagen langten am 05.02.2018 beim Bundesverwaltungsgericht, Außenstelle Innsbruck, ein.

Das Bundesverwaltungsgericht führte am 14.06.2018 eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung durch, an der die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer sowie ihre Rechtsvertretung teilnahmen. Im Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Englisch wurde die Erstbeschwerdeführerin u.a. zu ihrer Identität, zur aktuellen Situation im Herkunftsstaat, zu den Fluchtgründen sowie zu ihrem Leben in Österreich ausführlich befragt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer sind Staatsangehörige Nigerias. Sie sind somit Drittstaatsangehörige im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 20b Asylgesetz. Die Identität der Erstbeschwerdeführerin und des Zweitbeschwerdeführers stehen fest.

Die Erstbeschwerdeführerin hält sich seit spätestens 30.08.2016 in Österreich auf. Der Zweitbeschwerdeführer wurde am XXXX in Österreich geboren.

Die Beschwerdeführer leiden an keinen schweren gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Der minderjährige Zweitbeschwerdeführer ist der Sohn der Erstbeschwerdeführerin. Er wurde in Österreich geboren, zu seinem Vater besteht kein Kontakt bzw. liegt keine Vaterschaftsanerkennung vor.

Die Erstbeschwerdeführerin lebte vor ihrer Ausreise im Jahr 2014 in Benin City. Sie wurde im Alter von 15 Jahren von ihrer Mutter aus der gemeinsamen Wohnung geworfen, war auf sich alleine gestellt und musste selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen. Die Erstbeschwerdeführerin kam bei einer älteren Freundin, welche als Prostituierte arbeitete, unter. Sie wurde unter Vorspiegelung falscher Tatsachen dazu genötigt, Nigeria zu verlassen, indem ihr von einer Nachbarin dieser Freundin erklärt worden war, sie werde in Niger eine Ausbildung sowie Anstellung als Friseurin finden. Tatsächlich wurde die Erstbeschwerdeführerin in Libyen der Prostitution zugeführt. Von dort aus gelang ihr mit Hilfe eines Freiers die Flucht nach Italien.

Der Vater der Erstbeschwerdeführerin ist bereits verstorben. Die Familie des verstorbenen Vaters sowie die Mutter und der Bruder der Erstbeschwerdeführerin leben Benin City, wobei kein Kontakt zu diesen besteht: Die Familie des Vaters wirft der Erstbeschwerdeführerin vor, am Tod ihres Vaters Schuld zu sein und die Mutter der Erstbeschwerdeführerin verstieß sie, nachdem der Bruder der Erstbeschwerdeführerin aufgrund der Familienstreitigkeiten von der Familie des verstorbenen Vaters zusammengeschlagen wurde.

Die Erstbeschwerdeführerin muss mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit befürchten, in Nigeria Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe "Opfer von systematisch organisiertem Frauenhandel" zu erleiden. Die Erstbeschwerdeführerin liefe im Falle einer Rückkehr Gefahr, von den Personen, die für ihre Außerlandesbringung verantwortlich waren, oder von anderen Personen, die sich ihre Zwangslage zunutze machen würden, wiederum zur Prostitution gezwungen oder andersweitig verfolgt zu werden. Bei der Erstbeschwerdeführerin handelt es sich nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes um ein Opfer organisierten Menschenhandels zum Zwecke sexueller Ausbeutung.

Insbesondere aufgrund des Umstandes, dass die Erstbeschwerdeführerin auf keinen familiären Rückhalt zurückgreifen könnte (war es doch gerade ihre Mutter, welche sie im Alter von 15 Jahren verstoßen hatte) und dass es sich um eine alleinerziehende Mutter eines Kleinkindes handelt, kann nicht von einer innerstaatlichen Fluchtalternative ausgegangen werden; vielmehr besteht die reale Gefahr, dass sie in eine existenzbedrohende Notlage gerät oder aufgrund ihrer Zwangslage wieder Opfer von Frauenhandel oder Zwangsprostitution wird.

Es liegen keine Asylausschlussgründe im Sinne des § 6 AsylG 2005 vor; die Erstbeschwerdeführerin ist strafrechtlich unbescholten.

Aufgrund des Umstandes, dass es sich um ein Familienverfahren nach § 34 AsylG 2005 handelt, ist dem Zweitbeschwerdeführer der gleiche Status zuzuerkennen wie seiner Mutter, der Erstbeschwerdeführerin.

2. Beweiswürdigung:

Die erkennende Einzelrichterin des Bundesverwaltungsgerichtes hat nach dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung über die Beschwerde folgende Erwägungen getroffen:

Der oben unter Punkt I. angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unzweifelhaften und unbestrittenen Akteninhalt der vorgelegten Verwaltungsakten des BFA und des vorliegenden Gerichtsaktes des Bundesverwaltungsgerichtes. Auskünfte aus dem Strafregister, dem Zentralen Melderegister (ZMR) und der Grundversorgung (GVS) wurden ergänzend zum vorliegenden Akt eingeholt.

Soweit in der gegenständlichen Rechtssache Feststellungen zur Identität der Beschwerdeführer getroffen wurden, beruhen diese auf den in den angefochtenen Bescheiden getroffenen und unbestritten gebliebenen Feststellungen sowie auf den Geburtsurkunden der Beschwerdeführer.

Laut Artikel 25 (1c) des Kapitels III der Verfassung Nigerias aus dem Jahr 1999, welche noch immer in Kraft ist, ist jede Person durch Geburt nigerianischer Staatsbürger, wenn ein Elternteil die nigerianische Staatsbürgerschaft hat. Aufgrund der nigerianischen Staatsbürgerschaft der Erstbeschwerdeführerin ist daher auch für den Zweitbeschwerdeführer von einer solchen auszugehen.

Die Feststellung bezüglich der strafgerichtlichen Unbescholtenheit der Erstbeschwerdeführerin entspricht dem Amtswissen des Bundesverwaltungsgerichtes durch Einsichtnahme in das Strafregister der Republik Österreich.

Die Feststellungen zum Gesundheitszustand der Beschwerdeführer ergeben sich aus den Aussagen der Erstbeschwerdeführerin vor dem BFA und in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht. Auch aus der Aktenlage sind keinerlei Hinweise auf gesundheitliche Beeinträchtigungen ableitbar bzw. liegen keine entsprechenden Befunde vor.

Das BFA verneinte das Vorhandensein der Voraussetzungen für die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus und begründete dies damit, dass die Erstbeschwerdeführerin Nigeria aus wirtschaftlichen Gründen verlassen habe und sie keine Verfolgung oder Bedrohung durch den nigerianischen Staat zu befürchten habe. Für den Zweitbeschwerdeführer seien keine eigenen Fluchtgründe vorgebracht worden.

Konkret führte das BFA im angefochtenen Bescheid aus, dass die Erstbeschwerdeführerin - wie in der Erstbefragung angegeben - Nigeria aus wirtschaftlichen Gründen verlassen. Das im behördlichen Verfahren erläuterte Vorbringen, dass sie von der Familie ihres Vaters aufgrund von Familienstreitigkeiten bedroht worden sei, stelle keine Bedrohung gegen Leib und Leben dar. Das Vorbringen, dass sie aufgefordert worden sei, als Prostituierte in Libyen zu arbeiten, sei nicht asylrelevant, da es sich außerhalb Nigerias zugetragen habe. Auch wenn es sich bei den Familienstreitigkeiten um eine Verfolgung durch Privatpersonen handelt, welche nicht asylrelevant ist, übersieht die belangte Behörde jedoch hinsichtlich des Fluchtvorbringens zur Prostitution außerhalb Nigerias, dass die Erstbeschwerdeführerin Opfer von Menschenhandel zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung wurde und sich die "Tathandlung" nicht nur auf Libyen bezieht, sondern dass das Anwerben der Erstbeschwerdeführerin und ihre Täuschung über die tatsächlichen Umstände der Reise in Nigeria erfolgt sind: Die Erstbeschwerdeführerin hatte bereits im behördlichen Verwaltungsverfahren angegeben, dass die Nachbarin einer Freundin ihr eine Stelle als Friseurin in Libyen versprochen habe. Tatsächlich sei sie in Libyen in ein Bordell gebracht und zur Prostitution gezwungen worden. Das BFA hatte diesen Aspekt in dem angefochtenen Bescheid unberücksichtigt gelassen und hat es unterlassen, einer durch das diesbezüglich konsistente und schlüssige Vorbringen der Erstbeschwerdeführerin indizierten näheren Erörterung eines etwaigen Frauenhandels-Aspektes der Fluchtgeschichte nachzukommen. Die belangte Behörde bestritt das Vorbringen der Erstbeschwerdeführerin auch nicht. Die Erstbeschwerdeführerin wiederholte in der mündlichen Beschwerdeverhandlung plausibel und konsistent, dass sie in Nigeria von einer Frau mit der Aussicht auf eine Tätigkeit als Friseurin nach Libyen gelockt und dort gegen ihren Willen an einen arabischen Mann verkauft wurde. Die Erstbeschwerdeführerin berichtete gleichbleibend von Misshandlungen durch diesen arabischen Mann, bei welchem sie untergebracht war und welcher sie (und auch andere Mädchen) zur Prostitution zwang. Die Erstbeschwerdeführerin wurde im Haus festgehalten und musste dort der Prostitution nachgehen. Erst mit Hilfe eines Freiers ist der Erstbeschwerdeführerin die Flucht nach Italien gelungen. Aufgrund des in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindrucks und des Amtswissens über den Menschenhandel mit nigerianischen Frauen ist es aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichtes glaubhaft, dass die Erstbeschwerdeführerin Opfer von Menschenhandel war.

Die Fluchtgeschichte der Erstbeschwerdeführerin erfüllt auch viele der typischen Kriterien eines Falles von Frauenhandel. Sie hatte - wie sie in der mündlichen Verhandlung gleichbleibend und glaubhaft angab - keinen familiären Rückhalt, lebte auf sich allein gestellt in Benin City und wurde als minderjähriges Mädchen mit dem Versprechen auf ein besseres Leben nach Libyen gelockt.

Dies entspricht den Informationen, die dem Bundesverwaltungsgericht zu Frauenhandel in Nigeria vorliegen: Nigeria ist eine der Drehscheiben des internationalen Frauen- und Menschenhandels: So wurden beispielsweise im Rahmen eines Screenings von über 160 Asylverfahren nigerianischer Antragstellerinnen aus den Jahren 2009 und 2010 festgestellt, dass in nahezu einem Drittel der Fälle Indikatoren für Menschenhandel in den Verfahrensakten dokumentiert waren (Krohn, Opfer von Menschenhandel im Asylverfahren, in:

IOM/UNHCR/BAMF: Identifizierung und Schutz von Opfern des Menschenhandels im Asylsystem, Nürnberg 2012). In den Statistiken des deutschen Bundeskriminalamtes erscheint Nigeria als besonders relevantes Herkunftsland von Opfern von Menschenhandel aus Staaten außerhalb Europas, mit weitverzweigten und grenzüberschreitend agierenden Menschenhandelsstrukturen (BKA, Bundeslagebild Menschenhandel 2012, S. 8; zitiert nach Janetzek, Lindner, Opfer von Menschenhandel im Asylverfahren - Teil I, Asylmagazin 4/2014, S. 105-113). Die meisten Opfer stammen aus Benin City, der Hauptstadt des Bundesstaats Edo. Die überwiegende Mehrheit der Opfer von Menschenhandel, die zum Zweck der Prostitution nach Europa verbracht werden, gehört zur ethnischen Gruppe der Edo. Die Rekrutierung Minderjähriger hat zugenommen, wohl weil sich erwachsene Frauen, vor allem in den Städten, der Risiken stärker bewusst sind, denen sie beim Menschenhandel ausgesetzt sind. Vielen Frauen, die Opfer von Menschenhandel wurden, ist der Verlust der Unterstützung durch Familie oder Gemeinschaft gemeinsam. Die nigerianische Regierung hat mit mehreren Maßnahmenpaketen versucht, gegen das Phänomen Handel mit Frauen anzugehen; dazu gehört insbesondere auch die Errichtung einer Agentur zur Bekämpfung des Menschenhandels, der National Agency for Prohibition of Traffic in Persons and other related matters (NAPTIP), im August 2003, zu deren Auftrag Untersuchung, Verfolgung, Überwachung, Beratung, Wiedereingliederung, Aufklärung und Fortbildung gehören. Es wird jedoch trotz all dieser Bemühungen geschätzt, dass die staatlichen Ausgaben in diesem Bereich unzureichend sind, insbesondere im Hinblick auf die Befriedigung der Nachfrage nach NAPTIP-Diensten. Die Entscheidung darüber, dass eine Frau zum Arbeiten nach Europa geht, geht in manchen Fällen von der Familie aus. Prostitution wird in Nigeria moralisch nicht akzeptiert, weshalb die heimkehrenden Mädchen von ihren Gemeinschaften zwei Reaktionen erwarten können. Kommt das Mädchen mit Geld zurück, wird es von der Gesellschaft akzeptiert, auch wenn die Gemeinschaft weiß, dass es in Europa als Prostituierte gearbeitet hat. Wurde das Mädchen jedoch abgeschoben oder kommt es ohne Geld, grenzt die Gemeinschaft das Mädchen aus, und sogar die eigene Familie kann das Mädchen ablehnen. Ein Problem für zurückgekehrte Opfer ist das Fehlen sozialer Unterstützungsnetze; je länger das Opfer in Europa gelebt hat, desto eher fehlt es ihm an solchen Netzen. Viele haben den Eindruck, in Nigeria könne man ohne Familie keinen Erfolg haben, und denken: "In Nigeria bist du ohne deine Familie nichts." Die Unterstützung durch Unterstützungsorganisationen kann soziale Netze nicht ersetzen, auch können sich die Organisationen nicht ständig um die heimgekehrten Opfer kümmern. Für manche Frauen besteht die einzige Möglichkeit, sich den Lebensunterhalt nach Ablauf der Unterstützung durch Unterstützungsorganisationen zu verdienen, in der Prostitution. Für zurückkehrende Opfer von Menschenhandel stehen mehrere Unterkünfte zur Verfügung, die von der NAPTIP und verschiedenen Unterstützungsorganisationen betrieben werden. Es ist nicht genau bekannt, wie viele Frauen sich in den NAPTIP-Unterkünften aufhalten. Von den Quellen werden unterschiedliche maximale Aufenthaltszeiten genannt; manche sprechen von sechs Wochen, andere von einer Spanne zwischen zwei und sechs Wochen. Haben Frauen nach sechs Wochen noch immer keinen sicheren Aufenthaltsort oder Mittel für ihren Lebensunterhalt, kann der Aufenthalt in der NAPTIP-Unterkunft verlängert werden. Nach Angaben der IOM bleiben nur die Frauen länger als zwei Wochen in den Unterkünften, die gegen Menschenhändler ausgesagt haben und deren Fälle von der NAPTIP untersucht werden. Auf der anderen Seite sind Frauen, die in einer NAPTIP-Unterkunft leben, stigmatisiert, weil jeder davon ausgeht, dass sie im Ausland als Prostituierte gearbeitet haben. Daher schicken die NAPTIP-Mitarbeiter sie so bald wie möglich zu ihren Familien oder in Unterkünfte in anderen Gebieten Nigerias (Bericht des European Asylum Support Office (EASO) vom Oktober 2015 zu "Nigeria: Sexhandel mit Frauen"; abrufbar unter https://www.ecoi.net/file_upload/1226_1457689242_bz0415678den.pdf). Laut IOM sind 80% der Mädchen und Frauen, die von Nigeria nach Italien kommen, Opfer von Menschenhandel (Report from the Commission to the European Parliament and the Council on the progress made in the fight against trafficking in human beings vom 19.5.2016, 9).

Im aktuellen Country Narrative zu Nigeria des US Department of State aus dem Trafficking in Persons Report 2017 (abrufbar unter https://www.state.gov/documents/organization/271344.pdf) wird festgestellt, dass nigerianische Frauen zunehmend in Libyen ausgebeutet werden, nachdem ihnen die Reise nach Europa in Aussicht gestellt worden war.

Insgesamt kommt die erkennende Richterin nach Abhaltung einer mündlichen Verhandlung und in Gesamtschau der Aktenlage zum Ergebnis, dass die Erstbeschwerdeführerin Nigeria unter Vorspiegelung falscher Tatsachen (einer Tätigkeit als Friseurin) verließ und in Libyen zur Prostitution gezwungen wurde. Sie versuchte der Zwangslage zu entkommen, indem sie nach Italien flüchtete. Das Vorbringen der Erstbeschwerdeführerin war plausibel und nachvollziehbar und steht in Einklang mit den oben wiedergegebenen Berichten zu Frauen, die von Nigeria nach Libyen bzw. Europa verbracht wurden, um hier der Prostitution nachzugehen. Das Bundesverwaltungsgericht kommt daher zum Schluss, dass es sich beim Vorbringen der Erstbeschwerdeführerin um eine stringente und durchaus schlüssige Wiedergabe der Geschehnisse handelt und das Vorbringen somit als glaubhaft zu werten ist.

Das Vorbringen der Erstbeschwerdeführerin erscheint als einer der typischen Fälle, in denen eine Frau, welche sich in einer Situation der Hilfsbedürftigkeit befand, nach Libyen gebracht und hier zur Prostitution gezwungen wurde. Es ist nicht generell davon auszugehen, dass alle Frauen, die Opfer des Frauenhandels werden, automatisch den Status eines Flüchtlings zuerkannt bekommen. Zur Frage, ob in Menschenhandelsfällen aus Art. 4 EMRK ein Refoulement-Verbot abzuleiten sei, hat sich der EGMR im Jahr 2011 erstmals geäußert. Im Verfahren einer nigerianischen Zwangsprostituierten, welche Frankreich nach Abweisung ihres Asylgesuchs ausweisen wollte, erwog der Gerichtshof, dass sich aufgrund des absoluten Charakters von Art. 4 EMRK grundsätzlich eine Verpflichtung Frankreichs ergeben kann, eine erneute Rekrutierung der Beschwerdeführerin in ein Prostitutionsnetzwerk in Nigeria zu verhindern. Die Pflicht, gestützt auf Art. 4 EMRK von einer Ausweisung abzusehen, besteht im konkreten Fall jedoch nur, wenn gegenüber den Behörden ein unmittelbares Risiko ("risque imminent") einer erneuten Rekrutierung oder von Vergeltungsmaßnahmen glaubhaft gemacht wird (vgl. Entscheidung des EGMR V.F. gegen Frankreich vom 29.11.2011, 7196/10).

Wie oben zu entnehmen ist, bieten die verschiedenen Institutionen in Nigeria, insbesondere NAPTIP, Opfern von Frauenhandel bei ihrer Rückkehr Unterstützung. Diese ist allerdings quantitativ und auch zeitlich befristet. Die Frauen werden möglichst bald zu ihren Familien zurückgeschickt. Nun hat die Erstbeschwerdeführerin keinen Familienverband, zu dem sie zurückkehren könnte; sie steht mit keinem ihrer Familienmitglieder in Kontakt und kann sich keine Unterstützung von dieser Seite erwarten, da die Familie ihres verstorbenen Vaters ihr die Schuld an dessen Tod gibt und auch ihre Mutter sie verstoßen hat.

Als Ursache für das Risiko eines Re-Trafficking von Rückkehrerinnen nennt der EGMR die fehlende Unterstützung, ja Ablehnung durch ihre Familien: "( ) les femmes expulsées d'un pays d'Europe et renvoyées au Nigeria sont souvent stigmatisées et rejetées par leurs familles ou communautés, généralement parce qu'elles n'ont pas remboursé leur dette. De plus, les rapports internationaux disponibles ( ) mettent en lumière la difficulté de subsister au Nigéria en dehors d'un lien communautaire, de même que de se relocaliser en dehors de tout lien social. ( ) La relocalisation est particulièrement malaisée pour les jeunes femmes seules retournées d'Europe et qui n'ont pas de formation ou d'éducation leur permettant d'être indépendante" (vgl. Entscheidung des EGMR V.F. gegen Frankreich vom 29.11.201, 7196/10; bestätigt wird dies auch den Bericht des European Asylum Support Office (EASO) vom Oktober 2015 zu "Nigeria: Sexhandel mit Frauen", insbes. S. 36 ff.; Finnish Immigration Service, Country Information Service, Public theme report: Human Trafficking of Nigerian Women to Europe, 24. März 2015 insbes. S. 24 ff., beide mit Hinweisen auf aktuelle Studien aus diversen europäischen Staaten). Zwangsprostituierte, die ohne Geld und/oder krank aus Europa zurückkehren, werden von ihren Familien häufig abgelehnt und wieder in die Prostitution gezwungen. NGOs können soziale Beziehungsnetze nicht ersetzen und die Frauen - wenn überhaupt - nur für kurze Zeit begleiten und unterstützen, so dass diesen häufig nur die Prostitution bleibt, um überleben zu können (vgl. dazu Urteil des Schweizer Bundesverwaltungsgerichtes vom 18.07.2016, D-6806/2013, S. 38; abrufbar unter

http://www.ksmm.admin.ch/dam/data/ksmm/dokumentation/informationen/urteil-bvger-2016-07-18-d.pdf).

Die Erstbeschwerdeführerin hat im Falle einer Rückkehr keine familiäre oder soziale Unterstützung zu erwarten; sie wurde bereits als Minderjährige Opfer von Menschenhandel und Zwangsprostitution und ist für den Zweitbeschwerdeführer, der ein Kleinkind ist, verantwortlich. Es besteht daher die maßgebliche Wahrscheinlichkeit, dass sie erneut in die Hände von Menschenhändlern gerät. Eine innerstaatliche Fluchtalternative ist auch nicht gegeben, da ihr diese aufgrund ihrer besonderen Vulnerabilität (alleinerziehende Mutter, keine soliden familiären Bindungen, keine abgeschlossene Berufsausbildung, mehrjährige Abwesenheit) nicht zumutbar ist.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A):

Die Erstbeschwerdeführerin hat glaubhaft vorgebracht, dass sie unter Vorgabe falscher Tatsachen zur Ausreise aus Nigeria bewegt und in Libyen zur Prostitution gezwungen worden war.

Das Vorbringen wirft die Frage auf, ob es sich bei der Erstbeschwerdeführerin um ein Opfer von Menschen- bzw. Frauenhandel handeln könnte und ob ihr gegebenenfalls deswegen Asyl zu gewähren wäre. Grundsätzlich kann es durchaus Fälle geben, wo eine Asylrelevanz wegen Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe von systematisch organisiertem Frauenhandel gegeben ist (vgl. dazu VwGH, 23.02.2011, 2011/23/0064, und AsylGH 14.05.2009, C 15 263.728-0/2008, bzw. BVwG vom 11.04.2016, W211 1425426-1, sowie BVwG vom 18.05.2015, I403 2107012-1, und oder auch die Definition der "geschlechtsspezifischen Verfolgung" auf www.unhcr.at, wo explizit auch Frauenhandel genannt ist).

Unter "Menschenhandel" ist im Sinne des Art. 2 Abs. 1 S. 2 der Richtlinie 2011/36/EU (Verhütung und Bekämpfung des Menschenhandels; Umsetzungsfrist: April 2013) "die Anwerbung, Beförderung, Verbringung, Beherbergung oder Aufnahme von Personen, einschließlich der Übergabe oder Übernahme der Kontrolle über diese Personen, durch die Androhung oder Anwendung von Gewalt oder anderer Formen der Nötigung, durch Entführung, Betrug, Täuschung, Missbrauch von Macht oder Ausnutzung besonderer Schutzbedürftigkeit oder durch Gewährung oder Entgegennahme von Zahlungen oder Vorteilen zur Erlangung des Einverständnisses einer Person, die die Kontrolle über die andere Person hat, zum Zwecke der Ausbeutung" zu verstehen.

Ausbeutung im Sinne der genannten Richtlinie umfasst mindestens die Ausnutzung der Prostitution anderer oder andere Formen sexueller Ausbeutung sowie Zwangsarbeit oder erzwungene Dienstleistungen (einschließlich Betteltätigkeiten, Sklaverei oder sklavereiähnliche Praktiken, Leibeigenschaft oder die Ausnutzung strafbarer Handlungen oder die Organentnahme). Ausbeutung liegt vor, sobald eine Person genötigt wird (unter Androhung oder Anwendung von Gewalt, Entführung, Betrug, Täuschung usw.), wobei es keine Rolle spielt, dass das Opfer seine Zustimmung gegeben hat.

Im Fall der Erstbeschwerdeführerin, die unter Vorspiegelung falscher Tatsachen nach Libyen verbracht und dort zur Prostitution gezwungen worden war, liegt ein Fall von Menschenhandel vor, der seinen Ausgang im Herkunftsstaat der Erstbeschwerdeführerin, in Nigeria, genommen hat. Nigeria ist, wie bereits festgestellt wurde, eine Drehscheibe des internationalen Frauen- und Menschenhandels. Die Geschichte der Erstbeschwerdeführerin deckt sich mit den typischen

Erfahrungen von Betroffenen: Auffallend ist, dass viele Frauen der Gruppe möglicher Menschenhandelsbetroffener angeben, vor der Flucht ihre Familie verloren oder mit dieser gebrochen zu haben. (Krohn,

Opfer von Menschenhandel im Asylverfahren, in: IOM/UNHCR/BAMF:

Identifizierung und Schutz von Opfern des Menschenhandels im Asylsystem, Nürnberg 2012, S. 34). Die Erstbeschwerdeführerin wurde das Opfer organisierten Menschenhandels zum Zwecke sexueller Ausbeutung. Opfer von Menschenhandel können Flüchtlinge im Sinne von Art. 1 A (2) der GFK sein, aber nur, wenn sie alle der dort genannten Voraussetzungen für das Vorliegen der Flüchtlingseigenschaft erfüllen (UNHCR-Richtlinien zum Schutz von Opfern von Menschenhandel; vgl. auch EGMR, Statement of Facts - 49113/09, L.R. gegen Vereinigtes Königreich).

Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist einem Fremden, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht wegen Drittstaatsicherheit oder Zuständigkeit eines anderen Staates zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1, Abschnitt A, Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention droht und keiner der in Art. 1 Abschnitt C oder F der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Endigungs- oder Ausschlussgründe vorliegt.

Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich in Folge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Die Erstbeschwerdeführerin ist Mitglied einer bestimmten sozialen Gruppe, der in Nigeria Verfolgung droht. Mitglieder dieser Gruppe sind nach Nigeria zurückkehrende Frauen, die Opfer von Menschenhandel geworden sind und die sich hiervon befreit haben. Es handelt sich um eine klar definierbare, nach außen wahrnehmbare und von der Gesellschaft wahrgenommene und ausgegrenzte Gruppe (vgl. dazu VG Stuttgart, 16.05.2014, GZ: A 7 K1405/12 oder auch Asylgerichtshof, 14.05.2009, GZ: C15 263.728-0/2008).

Wenn die Erstbeschwerdeführerin an ihren Herkunftsort zurückkehren würde, müsste sie Verfolgungshandlungen durch das Menschenhandelsnetzwerk bzw. durch ihre Familie fürchten. Im Fall der Erstbeschwerdeführerin liegt daher ein Asylgrund vor und ist auch davon auszugehen, dass sie wohlbegründete Furcht haben muss, im Falle einer Rückkehr wieder in eine Situation zu geraten, in der sie zur Prostitution gezwungen wird.

Bei dieser Verfolgung handelt es sich allerdings um eine von nichtstaatlichen Akteuren ausgehende, welche nur dann, wenn der nigerianische Staat die Erstbeschwerdeführerin nicht zu schützen vermögen würde, asylrelevant ist. Die erkennende Richterin des Bundesverwaltungsgerichtes geht davon aus, dass der nigerianische Staat nicht in der Lage ist, der Erstbeschwerdeführerin ausreichenden Schutz vor dieser durch Privatpersonen drohenden Verfolgung zu bieten, zumal nicht ausgeschlossen werden kann, dass sie von der Nachbarin, welche sie nach Libyen lockte, Verfolgung zu fürchten hat. Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist für die Frage, ob eine ausreichend funktionierende Staatsgewalt besteht, entscheidend, ob für einen von dritter Seite aus den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen Verfolgten trotz staatlichen Schutzes der Eintritt eines - asylrelevante Intensität erreichenden - Nachteils aus dieser Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. Für einen Verfolgten macht es nämlich keinen Unterschied, ob er auf Grund staatlicher Verfolgung mit der maßgeblichen Wahrscheinlichkeit einen Nachteil zu erwarten hat oder ihm dieser Nachteil auf Grund einer von dritten Personen ausgehenden, vom Staat nicht ausreichend verhinderbaren Verfolgung mit derselben Wahrscheinlichkeit droht. In beiden Fällen ist es ihm nicht möglich bzw. im Hinblick auf seine wohlbegründete Furcht nicht zumutbar, sich des Schutzes seines Heimatlandes zu bedienen (vgl. VwGH, 28.10.2009, 2006/01/0793 sowie 13.11.2008, 2006/01/0191).

Eine Schutzwilligkeit des nigerianischen Staates ist durchaus anzunehmen. Bereits 2003 wurden in Nigeria alle Formen des Menschenhandels verboten und die National Agency for the Prohibition of Trafficking in Persons (NAPTIP) etabliert. Es stellt sich allerdings die Frage der Schutzfähigkeit des nigerianischen Staates, die etwa durch das VG Stuttgart in seinem Urteil vom 16.05.2014 (A7 K 1405/12) mit folgenden Worten verneint worden war: "Die Maßnahmen der Regierung sind jedoch nicht weitgreifend. NAPTIP hat zwar nach eigenen Angaben zwischen 2008 und 2011 die Verurteilung von mindestens 120 Menschenhändlern erreicht. NAPTIP, aber auch der National Immigration Service und UNODC gehen von einer weitaus höheren Dunkelziffer des Menschenhandels aus. Das NAPTIP ist unterfinanziert, und die wenigen Einrichtungen für Opfer sind in einem schlechten Zustand. Es werden nur mangelhafte Maßnahmen zur Rehabilitation und keine zur Reintegration der Opfer angeboten. Rückgeführte Opfer sind gefährdet, von den Händlern und den "Madames" bedroht und unter Druck gesetzt zu werden. Sie müssen mit Diskriminierung durch die Familie und das soziale Umfeld und mit Vergeltung des Sponsors rechnen (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Nigeria - Update vom März 2010; Österreichisches Rotes Kreuz/ACCORD, "Nigeria - Frauen, Kinder, sexuelle Orientierung, Gesundheitsversorgung, 21.06.2011; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 28.08.2013)."

Diese Einschätzung deckt sich durchaus mit jener des US Department of State im bereits erwähnten Country Narrative zu Nigeria aus dem Trafficking in Persons Report 2017: Die nigerianische Regierung würde die Minimumstandards im Kampf gegen Menschenhandel nicht vollkommen einhalten; es wurde empfohlen die Finanzierung von NAPTIP zu erhöhen. Opfer von Menschenhandel würden Unterstützung in einem der 9 Schutzzentren mit einer Gesamtkapazität von 313 Plätzen finden. Theoretisch könnten diese Plätze auch rückgeführten Opfern von Menschenhandel zur Verfügung stehen, doch würde es keinen Hinweis geben, dass dies bereits erfolgt sei. In der Regel wird der Aufenthalt nur für sechs Wochen gewährt. Aus Sicht der erkennenden Richterin kann, selbst für den unwahrscheinlichen Fall, dass die Erstbeschwerdeführerin einen der rund 300 Plätze in einem NAPTIP-Zentrum erhalten würde, nicht davon ausgegangen werden, dass die Erstbeschwerdeführerin nach sechs Wochen keine Verfolgung mehr zu befürchten hätte.

Von einer Schutzfähigkeit des nigerianischen Staates kann daher nicht ausgegangen werden; diesbezüglich ist auch auf das Faktum zu verweisen, dass die Verschleppung zwecks Zuführung zur Prostitution in Nigeria keinesfalls als Einzelschicksal gesehen werden kann (vgl. dazu VwGH, 23.02.2011, 2011/23/0064).

Doch auch dies bedeutet noch nicht automatisch die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für alle vom Menschenhandel betroffenen nigerianischen Frauen. So hat der EGMR in der Vergangenheit Beschwerden zurückgewiesen, mit denen nigerianische Frauen gegen eine Rückkehrentscheidung nach Nigeria vorgehen wollten, indem sie auf die Gefahr einer Zwangsprostitution in Nigeria verwiesen (vgl. EGMR, V.F vs. France, 7196/10; 29.11.2011 oder auch EGMR, Idemugia

v. France, 27.03.2012). Der EGMR erkannte gewisse Fortschritte in der Bekämpfung des Menschenhandels durch die nigerianischen Behörden an und ging vor allem von einer innerstaatlichen Fluchtalternative aus.

Besteht für den Asylwerber die Möglichkeit, in einem Gebiet seines Heimatstaates, in dem er keine Verfolgung zu befürchten hat, Aufenthalt zu nehmen, so liegt eine inländische Flucht- bzw. Schutzalternative vor, welche die Asylgewährung ausschließt (vgl. VwGH 24.3.1999, 98/01/0352; VwGH 21.3.2002, 99/20/0401; VwGH 22.5.2003, 2001/20/0268, mit Verweisen auf Vorjudikatur).

Es würde sich daher im konkreten Fall die Frage stellen, ob eine innerstaatliche Fluchtalternative vorliegt und ob diese der Erstbeschwerdeführerin zumutbar wäre. Dies ist allerdings aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls ausgeschlossen: Die Erstbeschwerdeführerin hat im Falle einer Rückkehr keine familiäre oder soziale Unterstützung zu erwarten; sie wurde bereits als junge Frau Opfer von Menschenhandel und Zwangsprostitution und ist für den fast zweijährigen Zweitbeschwerdeführer verantwortlich. Es besteht daher die maßgebliche Wahrscheinlichkeit, dass sie nicht in der Lage wäre, für sich und ihren Sohn zu sorgen und sich ein Existenzminimum zu sichern. Eine Ansiedelung fernab von ihrem Familienverband wäre ihr daher nicht zumutbar; eine Ansiedelung in ihrem Familienverband würde bedeuten, dass sie mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit, wieder der Prostitution bzw. dem Frauenhandel zugeführt würde.

Auf Grund der Ermittlungsergebnisse ist daher davon auszugehen, dass sich die Erstbeschwerdeführerin aus wohlbegründeter Furcht vor asylrelevanter Verfolgung, nämlich aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der von Menschenhandel bedrohten Frauen, außerhalb Nigerias befindet und im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Das Vorliegen eines Asylausschlussgrundes (Artikel 1 Abschnitt D, F der GFK und § 6 AsylG 2005) oder eines Endigungsgrundes (Artikel 1 Abschnitt C der GFK) ist nicht hervorgekommen.

Der Erstbeschwerdeführerin war daher gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuzuerkennen. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 war die Entscheidung über die Asylgewährung mit der Feststellung zu verbinden, dass der Erstbeschwerdeführerin damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Die Erstbeschwerdeführerin stellte ihren Antrag auf internationalen Schutz am 30.08.2016 und damit nach dem 15.11.2015, wodurch § 3 Abs. 4 AsylG 2005 idF des Bundesgesetzes BGBl. I 24/2016 ("Asyl auf Zeit") Anwendung findet.

Zur Zuerkennung des Status von Asylberechtigten an den Zweitbeschwerdeführer ist nachfolgendes festzuhalten:

Gemäß § 34 Abs. 2 AsylG 2005 hat die Behörde aufgrund eines Antrages eines Familienangehörigen eines Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt worden ist, dem Familienangehörigen mit Bescheid den Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn

1. dieser nicht straffällig geworden ist (§ 2 Abs. 3);

2. die Fortsetzung eines bestehenden Familienlebens im Sinne des Artikel 8 EMRK mit dem Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wurde, in einem anderen Staat nicht möglich ist und

3. gegen den Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wurde, kein Verfahren zur Aberkennung des Asylstatus anhängig ist (§ 7).

Gemäß Abs. 4 leg. cit. hat die Behörde Anträge von Familienangehörigen eines Asylwerbers gesondert zu prüfen; die Verfahren sind unter einem zu führen, und es erhalten unter den Voraussetzungen der Absätze 2 und 3 alle Familienangehörigen den gleichen Schutzumfang.

Familienangehörige sind gemäß § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG 2005, wer Elternteil eines minderjährigen Kindes, Ehegatte oder zum Zeitpunkt der Antragstellung minderjähriges lediges Kind eines Asylwerbers oder eines Fremden ist, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten oder des Asylberechtigten zuerkannt wurde, sofern die Ehe bei Ehegatten bereits im Herkunftsstaat bestanden hat; dies gilt weiters auch für eingetragene Partner, sofern die eingetragene Partnerschaft bereits im Herkunftsstaat bestanden hat.

Der Zweitbeschwerdeführer ist der minderjährige Sohn der Erstbeschwerdeführerin und damit Familienangehöriger der Erstbeschwerdeführerin im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG 2005.

Da nunmehr der Erstbeschwerdeführerin der Status der Asylberechtigten zuerkannt wird, ist auch dem Zweitbeschwerdeführer nach § 34 Abs. 2 iVm Abs. 4 AsylG 2005 der gleiche Schutzumfang zuzuerkennen. Hinweise darauf, dass dem Zweitbeschwerdeführer die Fortsetzung des bestehenden Familienlebens mit der Erstbeschwerdeführerin in einem anderen Staat möglich wären, sind im Verfahren nicht hervorgekommen.

Daher war spruchgemäß zu entscheiden.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

Im gegenständlichen Fall wurde keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung aufgeworfen. Die vorliegende Entscheidung basiert auf den oben genannten Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofes.

Schlagworte

Asyl auf Zeit, Asylgewährung von Familienangehörigen,
Familienverfahren

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2018:I420.2187149.1.00

Zuletzt aktualisiert am

13.09.2018
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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