TE Bvwg Erkenntnis 2018/7/24 G314 2199206-1

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Veröffentlicht am 24.07.2018
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Entscheidungsdatum

24.07.2018

Norm

BFA-VG §18 Abs5
B-VG Art.133 Abs4
FPG §67 Abs1

Spruch

G314 2199206-1/4E

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag.a BAUMGARTNER über die Beschwerde des XXXX, geboren am XXXX, slowenischer Staatsangehöriger, vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich (VMÖ), gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 02.05.2018, Zl. XXXX, betreffend die Erlassung eines Aufenthaltsverbots beschlossen und zu Recht erkannt:

A) Der Antrag, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung

zuzuerkennen, wird als unzulässig zurückgewiesen.

B) Der Beschwerde wird Folge gegeben und der angefochtene Bescheid

ersatzlos behoben.

C) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer (BF) wurde mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom 06.12.2017, XXXX, wegen der Verbrechen des schweren sexuellen Missbrauches von Unmündigen nach § 206 Abs 1 StGB verurteilt, wobei die Verhängung einer Strafe gemäß § 13 JGG unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren vorbehalten wurde.

Am 19.03.2018 wurde der BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) zur Klärung seines Aufenthaltsrechtes im Bundesgebiet einvernommen. Am 21.03.2018 wurde seine Mutter als Zeugin vernommen.

Mit dem oben angeführten Bescheid wurde gegen den BF gemäß § 67 Abs 1 und 2 FPG ein vierjähriges Aufenthaltsverbot erlassen (Spruchpunkt I.), ihm gemäß § 70 Abs 3 FPG kein Durchsetzungsaufschub erteilt (Spruchpunkt II.) und der Beschwerde die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt III.). Das Aufenthaltsverbot wurde im Wesentlichen mit der strafgerichtlichen Verurteilung des BF begründet.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die Beschwerde mit den Anträgen, eine mündliche Verhandlung durchzuführen, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen und das Aufenthaltsverbot aufzuheben, dem BF einen Durchsetzungsaufschub zu erteilen, in eventu, den angefochtenen Bescheid aufzuheben und die Sache an das BFA zurückzuverweisen. Der BF begründet die Beschwerde zusammengefasst damit, dass er nicht - wie im Bescheid festgestellt - in einer Notschlafstelle, sondern in einem Psychosozialen Wohnheim lebe. Seit 28.05.2018 gehe er wieder einer Beschäftigung nach. Die Behörde habe nicht berücksichtigt, dass er 2016 auf der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie untergebracht und bei ihm eine impulsive und ängstlich vermeidende Persönlichkeitsakzentuierung und unterdurchschnittliche Intelligenz festgestellt worden seien, wobei die Störung des Sozialverhaltens auf den familiären Rahmen beschränkt sei. Der BF lebe seit sieben Jahren in Österreich, habe hier seinen Lebensmittelpunkt und bemühe sich, ein geregeltes Leben zu führen. Seine in Österreich lebende Mutter sei seine einzige Familienangehörige.

Das BFA legte die Beschwerde und die Verwaltungsakten dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) vor, wo sie am 26.06.2018 einlangten, und beantragte, die Beschwerde als unbegründet abzuweisen.

Mit Beschluss vom 28.06.2018 (OZ 2) wurde der Beschwerde gemäß § 18 Abs 5 BFA-VG die aufschiebende Wirkung zuerkannt.

Feststellungen:

Der aktuell 19-jährige BF wuchs zunächst in Slowenien auf und besuchte dort die Volksschule. Seine Muttersprache ist Slowenisch. 2002 verstarb sein Vater. 2010 zog der BF zu seiner Mutter nach Österreich, weil diese wieder geheiratet hatte und mit ihrem Ehemann, einem österreichischen Staatsbürger, in XXXX lebte.

Der BF wohnte zunächst in einem gemeinsamen Haushalt mit seiner Mutter und seinem Stiefvater. Seit Oktober 2016 lebt er nicht mehr bei ihnen. Er steht in telefonischem Kontakt mit seiner Mutter; das Verhältnis zu seinem Stiefvater ist äußerst schwierig. Die ältere Schwester des BF lebt mit ihrem Mann in Slowenien und beabsichtigt, mit diesem berufsbedingt nach Deutschland zu ziehen.

Dem BF wurde am 08.11.2010 eine Anmeldebescheinigung ausgestellt. In Österreich besuchte er zunächst die Hauptschule und anschließend die Polytechnische Schule. Die danach begonnene Lehre brach er nach 1 1/2 Monaten ab. In weiterer Folge bezog er Arbeitslosengeld und war im Jahr 2016 für insgesamt knapp drei Monate als Arbeiter erwerbstätig. Danach war er bis Jänner 2018 tageweise geringfügig bei der Arbeitsgemeinschaft für Obdachlose beschäftigt.

Der BF spricht Deutsch. Er ist ledig und hat keine Sorgepflichten. Im August 2016 wurden bei ihm eine unterdurchschnittliche Intelligenz sowie eine impulsive und ängstlich vermeidende Persönlichkeitsakzentuierung, die sich auf das Sozialverhalten im familiären Rahmen beschränkt und nicht das Ausmaß einer Persönlichkeitsstörung erreicht, diagnostiziert. Abgesehen davon ist der BF gesund und trotz dieser Einschränkungen grundsätzlich arbeitsfähig.

Der BF wurde von seiner Mutter und seinem Stiefvater angezeigt, im Februar/März 2017 in ihrer Abwesenheit unbefugt in ihrer Wohnung in XXXX gewohnt und dort Schmuck gestohlen zu haben; diesbezüglich kam es zu einer außergerichtlichen Einigung. Am 28.03.2017 wurde er in XXXX im Besitz von Suchtgift (1 g Marihuana und 0,5 g Marihuana-Tabak-Gemisch) zum Eigenkonsum betreten.

Der Verurteilung des BF durch das Landesgericht XXXX liegt zugrunde, dass er als junger Erwachsener drei Mal (am XXXX., XXXX. und XXXX.2017) mit einem am XXXX2005 geborenen (und daher noch unmündigen) Mädchen einvernehmlich Geschlechtsverkehr hatte. Der BF hat dadurch die Verbrechen des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 StGB begangen. Gemäß § 13 JGG wurde die Verhängung einer Strafe unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren vorbehalten. Als mildernd wurden seine Unbescholtenheit und das umfassende Geständnis gewertet, als erschwerend das Zusammentreffen von drei Verbrechen. Bei der Strafzumessung wurden auch eine gewisse Intelligenzminderung, die "Tatprovokation" durch die minderjährige Sexualpartnerin des BF und der Umstand, dass der Erschwerungsgrund nur aufgrund seiner Angaben bekannt geworden sei, berücksichtigt. Das Strafgericht führte begründend aus, dass aufgrund des persönlichen Eindruckes des BF in der Verhandlung davon auszugehen sei, dass es derzeit keiner Strafe bedürfe, um ihn von der weiteren Begehung strafbarer Handlungen abzuhalten. Der Ausspruch einer Strafe sei auch aus generalpräventiven Gründen nicht unerlässlich.

Der BF hatte seine Sexualpartnerin in XXXX kennengelernt und mit ihr für zwei Monate eine Beziehung geführt. Die Taten erfolgten mit ihrer Zustimmung. Nach Bekanntwerden der Vorfälle wurde der BF von der Polizei dazu vernommen und im Rahmen eines Normverdeutlichungsgesprächs iSd § 38b SPG über rechtskonformes Verhalten und die Rechtsfolgen bei weiterem rechtswidrigen Verhalten im Zusammenhang mit derartigen Angriffen gegen die sexuelle Integrität und Selbstbestimmung belehrt.

Der BF lebt seit 05.07.2017 (mit einer Unterbrechung zwischen XXXX. und XXXX, während der er mit einem Freund zusammenwohnte) im Psychosozialen Wohnheim XXXX in XXXX, einer Übergangswohneinrichtung nach § 17 OÖ ChancengleichheitsG für volljährige Frauen und Männer, wo er auch sozialarbeiterisch betreut wird. Seit 28.05.2018 ist er über ein Arbeitskräfteüberlassungsunternehmen als Hilfsarbeiter bei einem Dachdeckerunternehmen erwerbstätig.

Beweiswürdigung:

Der Verfahrensgang und die Feststellungen ergeben sich aus dem unbedenklichen Inhalt der vorgelegten Verwaltungsakten und des Gerichtsakts des BVwG im Zusammenhang mit dem durch entsprechende Unterlagen untermauerten Vorbringen des BF. Entscheidungswesentliche Widersprüche bestehen nicht.

Die Feststellungen zur Identität des BF und zu seinen persönlichen und finanziellen Verhältnissen beruhen auf den entsprechenden Angaben im Strafurteil. Die Identität des BF wird auch durch seinen Reisepass, der dem BVwG in Kopie vorliegt, belegt.

Der Aufenthalt des BF und seiner Familie in Slowenien, die zweite Ehe seiner Mutter und die Übersiedlung nach Österreich werden anhand der Schilderung des BF vor dem BFA festgestellt. Aus dem Zentralen Melderegister (ZMR) ergibt sich damit übereinstimmend, dass der Hauptwohnsitz des BF seit Oktober 2010 durchgehend in Österreich gemeldet war. Davor liegen seit 2005 Nebenwohnsitzmeldungen bei seinem Stiefvater vor.

Die Schulbildung des BF kann ebenfalls anhand seiner Angaben bei der Einvernahme vor dem BFA festgestellt werden. Der Besuch der Haupt- und der Polytechnischen Schule in Österreich indiziert entsprechende Deutschkenntnisse, was dadurch untermauert wird, dass weder im Strafverfahren noch vor dem BFA ein Dolmetscher beigezogen wurde. Die slowenische Muttersprache des BF ist angesichts seiner Herkunft und seines Aufenthalts dort bis 2010 nachvollziehbar. Die Feststellungen zur Schwester des BF konnten anhand seiner Angaben vor dem BFA getroffen werden.

Die erstmals im November 2010 ausgestellte Anmeldebescheinigung ist im Fremdenregister dokumentiert. Die Erwerbstätigkeit und die abgebrochene Lehre des BF ergeben sich aus dem Versicherungsdatenauszug.

Die Feststellungen zum Suchtgiftkonsum des BF und zur Anzeige seiner Mutter und seines Stiefvaters basieren auf den Berichten des Stadtpolizeikommandos XXXX vom 07.05.2017. Die Mutter des BF bestätigte als Zeugin vor dem BFA, dass es in Bezug auf die Anzeige zu einer außergerichtlichen Einigung gekommen sei.

Der BF legte mit der Beschwerde eine Überlassungsmitteilung vom 28.05.2018, einen Kurzarztbrief vom 16.08.2016 und einen Bericht seiner Sozialarbeiterin vom 04.06.2018 vor. Aus diesen Unterlagen ergeben sich die Feststellungen zu seiner Erwerbstätigkeit seit Mai 2018, zu seiner Intelligenzminderung und Persönlichkeitsakzentuierung sowie zu seiner Betreuung in dem Psychosozialen Wohnheim, in dem er derzeit lebt.

Die Feststellungen zur Arbeitsfähigkeit und zum Gesundheitszustand des BF beruhen darauf, dass er derzeit erwerbstätig ist und keine aktuellen Nachweis auf weitere gesundheitliche Einschränkungen hervorgekommen sind. Aus dem Strafurteil geht hervor, dass der BF ledig ist. Hinweise auf Sorgepflichten sind im Verfahren nicht hervorgekommen und wurden auch nicht behauptet.

Die Feststellungen zu den vom BF begangenen Straftaten, zu seiner Verurteilung und zu den Strafzumessungsgründen basieren auf dem Urteil des Landesgerichts Linz. Die rechtskräftige Verurteilung des BF wird auch durch den entsprechenden Eintrag im Strafregister belegt, in dem keine weiteren Verurteilungen aufscheinen. Es gibt keine Indizien für eine strafgerichtliche Verurteilung des BF in anderen Staaten.

Aus den Angaben des BF vor dem BFA und dem Abschlussbericht der Polizei ergibt sich, dass der BF und das Opfer eine Beziehung führten und dass sie den Taten zugestimmt hatte. Die Durchführung eines Normverdeutlichungsgesprächs ist im polizeilichen Abschlussbericht vom 04.07.2017 dokumentiert.

Die Feststellung zum aktuellen Wohnsitz des BF ergibt sich aus dem ZMR. Aus dem vorgelegten Bericht der für den BF zuständigen Sozialarbeiterin geht hervor, dass es sich nicht um eine Notschlafstelle, sondern um ein Psychosoziales Wohnheim handelt. Aus der Homepage des Wohnheims (http://www.XXXX) ist ersichtlich, dass es sich dabei um eine Übergangswohneinrichtung nach § 17 OÖ ChancengleichheitsG für volljährige Frauen und Männer handelt, die wohnungslos sind, psychiatrische Diagnosen haben und/oder psychosoziale Auffälligkeiten zeigen.

Rechtliche Beurteilung:

Zu Spruchteil A):

Aufgrund der in § 18 Abs 5 BFA-VG nunmehr auch ausdrücklich angeordneten amtswegigen Prüfung der Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung durch das BVwG ist der Antrag des BF, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, weder notwendig noch zulässig und daher zurückzuweisen, zumal der Beschwerde mit dem Beschluss vom 28.06.2018 ohnedies von Amts wegen die aufschiebende Wirkung zuerkannt wurde.

Zu Spruchteil B):

Der BF ist als Staatsangehöriger von Slowenien EWR-Bürger iSd § 2 Abs 4 Z 8 FPG.

Gemäß § 67 Abs 1 FPG ist die Erlassung eines Aufenthaltsverbots gegen unionsrechtlich aufenthaltsberechtigte EWR-Bürger zulässig, wenn auf Grund ihres persönlichen Verhaltens die öffentliche Ordnung und Sicherheit gefährdet ist. Das Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Strafrechtliche Verurteilungen allein können diese Maßnahmen nicht ohne weiteres begründen. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig. Die Erlassung eines Aufenthaltsverbots gegen EWR-Bürger, die ihren Aufenthalt seit zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, ist zulässig, wenn aufgrund des persönlichen Verhaltens des Fremden davon ausgegangen werden kann, dass die öffentliche Sicherheit der Republik Österreich durch seinen Verbleib im Bundesgebiet nachhaltig und maßgeblich gefährdet würde. Gemäß § 67 Abs 2 FPG kann ein Aufenthaltsverbot für die Dauer von höchstens zehn Jahren erlassen werden. Bei einer besonders schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit (so etwa, wenn der EWR-Bürger zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von mehr als fünf Jahren verurteilt wurde), kann das Aufenthaltsverbot gemäß § 67 Abs 3 FPG auch unbefristet erlassen werden.

Art 28 Abs 2 der Freizügigkeitsrichtlinie (§ 2 Abs 4 Z 18 FPG) lautet:

"Der Aufnahmemitgliedstaat darf gegen Unionsbürger oder ihre Familienangehörigen, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, die das Recht auf Daueraufenthalt in seinem Hoheitsgebiet genießen, eine Ausweisung nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit verfügen."

Bei Unionsbürgern, die nach fünf Jahren rechtmäßigem und ununterbrochenem Aufenthalt im Bundesgebiet das Daueraufenthaltsrecht iSd § 53a NAG und Art 16 Freizügigkeitsrichtlinie erworben haben, ist nicht nur bei der Ausweisung, sondern auch bei der Erlassung eines Aufenthaltsverbots der in Art 28 Abs 2 Freizügigkeitsrichtlinie und § 66 Abs 1 letzter Satzteil FPG vorgesehene Maßstab - der im abgestuften System der Gefährdungsprognosen zwischen jenen nach dem ersten und dem fünften Satz des § 67 Abs 1 FPG angesiedelt ist - heranzuziehen (VwGH 19.05.2015, Ra 2014/21/0057). Ein Aufenthaltsverbot gegen Personen, denen das Recht auf Daueraufenthalt zukommt, setzt demnach auch voraus, dass ihr Aufenthalt eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstellt.

Bei Erlassung eines Aufenthaltsverbots ist eine einzelfallbezogene Gefährdungsprognose zu erstellen, bei der das Gesamtverhalten des Betroffenen in Betracht zu ziehen und auf Grund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahin vorzunehmen ist, ob und im Hinblick auf welche Umstände die maßgebliche Gefährdungsannahme gerechtfertigt ist. Dabei ist nicht auf die bloße Tatsache einer Verurteilung oder Bestrafung, sondern auf die Art und Schwere der zu Grunde liegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen. Bei der nach § 67 Abs 1 FPG zu erstellenden Gefährdungsprognose geht schon aus dem Gesetzeswortlaut klar hervor, dass auf das "persönliche Verhalten" abzustellen ist und strafgerichtliche Verurteilungen allein nicht ohne weiteres ein Aufenthaltsverbot begründen können (VwGH 19.02.2014, 2013/22/0309).

Gemäß Art 8 Abs 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Art 8 Abs 2 EMRK legt fest, dass der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft ist, soweit er gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

Gemäß § 9 BFA-VG ist (ua) die Erlassung eines Aufenthaltsverbots gemäß § 67 FPG, durch das in das Privat- und Familienleben eines Fremden eingegriffen wird, zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art 8 Abs 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist. Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art 8 EMRK sind gemäß § 9 Abs 2 BFA-VG insbesondere die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war, das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens, die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, der Grad der Integration, die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden, die strafgerichtliche Unbescholtenheit, Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts, die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren und die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist, zu berücksichtigen.

Bei der Festsetzung der Dauer des Aufenthaltsverbotes ist gemäß § 67 Abs 4 FPG auf alle für seine Erlassung maßgeblichen Umstände Bedacht zu nehmen, insbesondere auf die privaten und familiären Verhältnisse (VwGH 24.05.2016 Ra 2016/21/0075).

Die Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Sachverhalt ergibt Folgendes:

Aufgrund des rechtmäßigen über fünfjährigen, aber unter zehnjährigen Aufenthalts des BF in Österreich (seit Oktober 2010) ist der Gefährdungsmaßstab des § 67 Abs 1 zweiter Satz FPG ("tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt") iVm § 66 Abs 1 letzter Satzteil FPG ("schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit") anzuwenden.

Obwohl der BF wegen schwerwiegender Straftaten gegen die sexuelle Integrität einer Unmündigen verurteilt wurde, weisen die von ihm begangenen Taten - insbesondere unter Berücksichtigung, dass im Strafverfahren mit einem Schuldspruch unter Vorbehalt der Strafe das Auslangen gefunden wurde - nicht eine solche Schwere auf, dass der anzuwendende Gefährdungsmaßstab erfüllt ist. Unter Einbeziehung sämtlicher Aspekte erreichen die Delinquenz des BF und sein sonstiges persönliches Verhalten noch nicht den in § 67 Abs 1 zweiter Satz iVm § 66 Abs 1 letzter Satz FPG festgelegten Schweregrad. Dies ergibt sich insbesondere daraus, dass der zu den Tatzeitpunkten 18-jährige BF und seine 12-jährige Sexualpartnerin eine Beziehung führten, der BF nicht gewalttätig war und den Geschlechtsverkehr nicht gegen den Willen der Unmündigen vornahm, dass das strafbare Verhalten während einer kurzen Zeitspanne von nur vier Tagen gesetzt wurde, dass beim BF psychische Probleme und eine geminderte Intelligenz bestehen und dass es sich bei ihm um einen zuvor unbescholtenen Ersttäter handelt, der sofort ein umfassendes, sogar überschießendes Geständnis ablegte. Angesichts der zwischenzeitigen Stabilisierung seiner Lebensumstände (Erwerbstätigkeit, Wohnsitz in betreuter Umgebung, Einigung mit Mutter und Stiefvater) führen auch der Besitz einer geringen Suchtgiftmenge zum Eigenkonsum und die (wohl auf einem innerfamiliären Konflikt beruhende) Anzeige seiner Mutter und seines Stiefvaters zu keiner anderen Beurteilung.

Das erkennende Gericht verkennt nicht, dass es sich beim Delikt des schweren sexuellen Missbrauches von Unmündigen (§ 206 StGB) um ein schweres Verbrechen mit erheblichem sozialen Störwert handelt, was sich auch in der Strafdrohung (Freiheitsstrafe von einem bis zehn Jahren für das Grunddelikt) widerspiegelt, und dass die Zwölfjährige den sexuellen Handlungen des BF nicht wirksam zustimmen konnte. Der seiner Verurteilung zugrundeliegende Sachverhalt lässt aber den Schluss auf einen das übliche mit solchen strafbaren Handlungen verbundene Maß unterschreitenden Handlungs-, Gesinnungs- und Erfolgsunwert zu, zumal das Strafgericht nicht einmal die Verhängung einer bedingen Strafe als notwendig ansah. Voraussetzung für das Vorgehen nach § 13 JGG war, dass weder spezialpräventive noch besondere generalpräventive Gründe die Verhängung einer Strafe neben dem Schuldspruch erforderten. Gemäß § 50 Abs 1 StGB hat das Gericht, wenn der Ausspruch der Strafe - wie hier - für eine Probezeit vorbehalten wird, einem Rechtsbrecher Weisungen zu erteilen oder Bewährungshilfe anzuordnen, soweit das notwendig oder zweckmäßig ist, um ihn von weiteren mit Strafe bedrohten Handlungen abzuhalten. Dem BF wurden weder die Bewährungshilfe angeordnet noch Weisungen erteilt, was zeigt, das vom Strafgericht aufgrund der Art der Taten, der Person und des Vorlebens des BF keine besondere Wiederholungsgefahr angenommen wurde. Es sind auch keine Anzeichen für pädophile Neigungen des BF hervorgekommen.

Auch wenn der Gesinnungswandel eines Straftäters grundsätzlich daran zu messen ist, ob und wie lange er sich - nach dem Vollzug einer allfälligen Haftstrafe - in Freiheit wohlverhalten hat, für den Wegfall der aus dem bisherigen Fehlverhalten ableitbaren Gefährlichkeit in erster Linie das Verhalten in Freiheit maßgeblich ist und dieser Zeitraum umso länger anzusetzen ist, je nachdrücklicher sich die Gefährlichkeit des Fremden manifestiert hat, schließen diese Grundsätze nicht absolut aus, dass auch schon nach einer kurzen Zeit des Wohlverhaltens in Freiheit unter besonderen Umständen ein für die Gefährdungsprognose maßgeblicher Gesinnungswandel konstatiert wird (VwGH 26.04.2018, Ra 2018/21/0027). Hier liegen die Taten des BF zwar erst etwas über ein Jahr zurück; es ist aber davon auszugehen, dass der strafgerichtliche Schuldspruch und das polizeiliche Normverdeutlichungsgespräch zusammen mit der Stabilisierung seiner Lebensumstände ausreichen, um schon nach dieser kurzen Zeit eine hinreichend deutliche Abkehr von dem in der Vergangenheit gezeigten Verhaltensmuster erkennen zu können.

Im Sinne einer vernetzten Betrachtung der begangenen Straftaten, insbesondere der Art und Weise der konkreten Begehung durch den BF in Zusammenschau mit seiner Persönlichkeit und der unterdurchschnittlichen Intelligenz sind die Voraussetzungen des Gefährdungsmaßstabs gemäß § 67 Abs 1 zweiter Satz iVm § 66 Abs 1 letzter Satz FPG somit nicht erfüllt.

Eine Prüfung, ob der mit dem Aufenthaltsverbot verbundene Eingriff in das Privat- und Familienleben des BF verhältnismäßig wäre, muss daher mehr nicht vorgenommen werden. Da die Voraussetzungen für die Erlassung eines Aufenthaltsverbots gegen den BF im Ergebnis nicht vorliegen, ist der angefochtene Bescheid in Stattgebung der Beschwerde aufzuheben.

Sollte der BF in Zukunft wieder wegen entsprechend schwerwiegender Taten strafgerichtlich verurteilt werden, wird die Erlassung eines Aufenthaltsverbots gegen ihn neuerlich zu prüfen sein.

Zum Entfall der mündlichen Verhandlung:

Da bereits auf Grund der Aktenlage feststeht, dass der angefochtene Bescheid aufzuheben ist, kann eine mündliche Verhandlung gemäß § 24 Abs 2 Z 1 VwGVG entfallen.

Zu Spruchteil C):

Die bei Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommene Interessenabwägung ist im Allgemeinen nicht revisibel (VwGH 25.04.2014, Ro 2014/21/0033). Das gilt sinngemäß auch für die einzelfallbezogene Erstellung einer Gefährdungsprognose (VwGH Ra 11.05.2017, 2016/21/0022; 20.10.2016, Ra 2016/21/0284). Die Revision war nicht zuzulassen, weil sich das BVwG dabei an bestehender höchstgerichtlicher Rechtsprechung orientieren konnte und keine darüber hinausgehende grundsätzliche Rechtsfrage iSd Art 133 Abs 4 B-VG zu lösen war.

Schlagworte

Antragsbegehren, Aufenthaltsverbot aufgehoben, aufschiebende
Wirkung, Eingriff in sexuelle Selbstbestimmung, EU-Bürger,
mangelnder Anknüpfungspunkt, Minderjährigkeit, Missbrauch,
strafrechtliche Verurteilung, Zukunftsprognose, Zurückweisung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2018:G314.2199206.1.00

Zuletzt aktualisiert am

13.09.2018
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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