TE Bvwg Erkenntnis 2018/7/26 W156 2174809-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 26.07.2018
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Entscheidungsdatum

26.07.2018

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §34 Abs3
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art.133 Abs4

Spruch

W156 2174809-1/8E

W156 2174802-1/6E

W156 2174805-1/6E

W156 2174799-1/6E

W156 2174807-1/6E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Alexandra KREBITZ als Einzelrichterin über die Beschwerden von R XXXX N XXXX ,

XXXX , H XXXX M XXXX H XXXX , XXXX , H XXXX M XXXX R XXXX , XXXX , H

XXXX C XXXX , XXXX und H XXXX T XXXX , XXXX , alle Staatsangehörigkeit Afghanistan, alle vertreten durch MigrantInnenverein St. Marx, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 11.10.2017, Zahlen XXXX , XXXX , XXXX ,

XXXX , XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 07.06.2018 zu Recht erkannt:

A) I. Die Beschwerden gegen Spruchpunkt I. der angefochtenen

Bescheide werden gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

II. Den Beschwerden gegen Spruchpunkt II. der angefochtenen Bescheide wird stattgegeben und mj. XXXX , mj. XXXX und mj. XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 sowie XXXX und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 iVm § 34 Abs. 3 AsylG 2005 der Status von subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird mj. XXXX , mj. XXXX und mj.

XXXX , XXXX und XXXX jeweils eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum XXXX 19 erteilt.

B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG (jeweils) nicht

zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE :

I. Verfahrensgang:

1. Die Beschwerdeführer, ein Ehepaar und seine drei minderjährigen Kinder, sind afghanische Staatsangehörige. Sie stellten (mit Ausnahme der in Österreich nachgeborenen Fünftbeschwerdeführerin) am 09.05.2015 Anträge auf internationalen Schutz in Österreich. Für die Fünftbeschwerdeführerin wurde am 03.10.2017 ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt.

2. Die Erstbeschwerdeführerin gab bei ihrer Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 20.01.2016 im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari an, dass sie am XXXX in der Provinz G XXXX geboren worden sei. Sie sei afghanische Staatsangehörige, gehöre der Volksgruppe der Hazara an und bekenne sich zum schiitisch-islamischen Glauben. Ihre Muttersprache sei Dari. Sie sei mit dem Zweitbeschwerdeführer traditionell verheiratet und habe mit ihm 2 Kinder (zum Zeitpunkt der Erstbefragung, Anm.).

Der Zweitbeschwerdeführer gab bei seiner Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes am im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari an, dass er am XXXX in der Provinz G XXXX geboren worden sei. Er sei afghanischer Staatsangehöriger, gehöre der Volksgruppe der Hazara an und bekenne sich zum schiitisch-islamischen Glauben. Seine Muttersprache sei Dari. Er sei mit der Erstbeschwerdeführerin traditionell verheiratet, mit der er 2 Kinder habe.

Zu den Fluchtgründen befragt, brachten beide Beschwerdeführer vor, dass sie Afghanistan wegen der Sicherheitslage verlassen und 11 Jahre im Iran gelebt hätten. Der Zweitbeschwerdeführer habe wegen fehlender Dokumente dort nicht arbeiten können und die Kinder nicht zur Schule gehen könne. Bei einer Rückkehr fürchten sie um die Zukunft der gemeinsamen Kinder.

3. Anlässlich der jeweils am 10.10.2017 im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari durchgeführten Einvernahmen vor dem BFA, Regionaldirektion Steiermark, wiederholten die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer ihre Angaben zu Staatsangehörigkeit, Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, Muttersprache und Herkunftsort. Präzisierend und ergänzend wurde seitens der Beschwerdeführer im Wesentlichen folgendes angegeben:

Die Erstbeschwerdeführerin sei in G XXXX geboren worden. Sie habe Afghanistan mit 8 Jahren zusammen mit ihren Eltern verlassen. Sie habe im Iran gelebt und dort 6 Jahre die Grundschule besucht. Im Iran habe sie ihren Mann kennengelernt und geheiratet. Ihr Vater habe in Afghanistan Feinde gehabt. Soweit sie weiß, sei dieser sei als Schafhirte in eine Auseinandersetzung geraten und dabei seien 3 Paschtunen getötet worden. Ihre Eltern seien mit ihr in den Iran geflüchtet. Sie habe in Afghanistan keine Verwandten mehr. Sie selbst könne wegen der Blutrache nicht zurück nach Afghanistan. Sie fürchte, dass auch ihr Mann in Afghanistan bedroht werden könnte, Blutrache bleibe für immer. Aus Gründen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Überzeugung sei sie nicht bedroht oder verfolgt worden.

Der Zweitbeschwerdeführer gab an, dass er in G XXXX geboren sei und dort bis zu seinem 27. Lebensjahr gewohnt habe. Er habe 2 Jahre bei einem Mullah lesen und schreiben gelernt. Er habe auch gelernt Häuser zu bauen. In Afghanistan habe er ein Lebensmittelgeschäft gehabt, dort habe er auch Waffen verkauft und Waren mit LKW transportiert. Vor 11 Jahren habe er Afghanistan verlassen, von da an habe er im Iran gelebt. Er sei immer wieder abgeschoben worden, aber auch freiwillig wieder nach Afghanistan zurückgekehrt. Seine Familie habe in dieser Zeit in Afghanistan gelebt. Er sei jedoch immer wieder in den Iran zurückgekommen. Er habe in Afghanistan Feinde gehabt. Seine Familie sei ständig bedroht worden. Sein Bruder habe im Krieg mitgekämpft und sei für Sprengungen zuständig gewesen, daher habe die Familie viele Feinde bekommen. Seine Eltern seien schon verstorben. Im Iran habe er dann geheiratet und mit seiner Frau 2 Kinder bekommen. Aus Gründen seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Überzeugung sei er nicht bedroht oder verfolgt worden.

4. Mit den nunmehr angefochtenen Bescheiden des BFA vom 11.10.2017 wurden die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status von Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde den Beschwerdeführern gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurden gegen die Beschwerdeführer Rückkehrentscheidungen nach § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen. Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung der Beschwerdeführer nach Afghanistan gemäß 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt III.). Schließlich wurde ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise der Beschwerdeführer gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidungen beträgt (Spruchpunkt IV.).

Die belangte Behörde traf Feststellungen zu den Beschwerdeführern, zu den Gründen für das Verlassen ihres Herkunftsstaates, zur Situation im Falle ihrer Rückkehr sowie zur Lage in Afghanistan.

Beweiswürdigend führte das BFA im Wesentlichen aus, dass die Identität der Beschwerdeführer mangels Vorlage von unbedenklichen Identitätsdokumenten nicht feststehe. Die Feststellungen zu Staatsangehörigkeit, Herkunft, Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, Familienstand sowie Gesundheitszustand würden sich aus den glaubhaften Angaben der Erstbeschwerdeführerin und des Zweitbeschwerdeführers ergeben.

Die vorgebrachten Fluchtgründe seien im Ergebnis nicht asylrelevant. Unter Zugrundelegung des Fluchtvorbringens sei nicht feststellbar, dass den Beschwerdeführern in Afghanistan Verfolgung aus Gründen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Überzeugung drohe.

Es habe auch nicht festgestellt werde können, dass die Familie im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan dort einer realen Gefahr der Verletzung des Art2, Art 3 EMRK oder der Prot. Nr 6 oder 13. Zur Konvention ausgesetzt wären.

Aufgrund der in Afghanistan und im Iran gesammelten Lebenserfahrung und der Möglichkeit innerstaatlicher Fluchtalternativen, der Staatsangehörigkeit und der Sprachkenntnisse wäre es ihnen möglich, nach Afghanistan zurückzukehren. Eine innerstaatliche Fluchtalternative nach Kabul wäre zumutbar.

Die Aussagen der Beschwerdeführer zu ihrem Privatleben in Österreich wurden vom BFA für glaubhaft befunden. Wesentliche familiäre Anknüpfungspunkte oder soziale Kontakte seien nicht festgestellt worden. Eine ausgeprägte Integration in Österreich liege nicht vor.

Im Anschluss unterzog die belangte Behörde den von ihr festgestellten Sachverhalt unter Bezugnahme auf die einzelnen Spruchpunkte der Bescheide einer rechtlichen Beurteilung.

5. Gegen diese Bescheide des BFA richten sich die fristgerecht erhobenen Beschwerden, mit denen die Bescheide in allen Spruchpunkten angefochten wurden.

Die Beschwerdeführer hätten wegen einer Blutfehde in den Iran flüchten müssen. Im Falle einer Rückkehr würde ihnen wegen ihrer "westlichen Lebensausrichtung" Verfolgung drohen. Eine eigentliche Beurteilung der Befürchtungen der Beschwerdeführer sei dem Bescheid nicht zu entnehmen. Die Verfolgung sei asylrelevant, da die afghanischen Behörden nicht in der Lage seien, Personen vor Gewalt der Islamisten zu schützen. Die Erstbeschwerdeführerin könne als Frau mit westlicher Orientierung keinen Schutz staatlicher Behörden erwarten. Zudem sei sie aufgrund der Verfahrensdauer in Österreich schon heimisch geworden, sie habe die Rechte und Lebensweisen der Frauen in Ö als selbstverständlich angenommen. Sie habe in ihrer Einvernahme ausführlich erklärt, worin die gegen sie gerichtete Verfolgungsgefahr bestehe.

Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan bestehe die reale Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung aufgrund der schlechten Sicherheitslage in Afghanistan. Zudem verfügen die Beschwerdeführer über kein familiäres Auffangnetz.

Es werde der Antrag gestellt, den Beschwerdeführern Flüchtlingseigenschaft zuzusprechen, allenfalls subsidiären Schutz zu gewähren, allenfalls den angefochtenen Bescheid aufzuheben und zur Ergänzung an die 1. Instanz zurückzuweisen, einen landeskundigen Sachverständigen hinzuzuziehen, eine mündliche Beschwerdeverhandlung anzuberaumen, allenfalls eine RKE auf Dauer für unzulässig zu erklären, allenfalls einen Aufenthaltstitel aus besonders berücksichtigungswürdigen Gründen zu erteilen, allenfalls festzustellen, dass eine Abschiebung nach Afghanistan unzulässig sei.

6. Die Beschwerden und die Verwaltungsakten langten am 27.10.2017 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

7. Am 07.06.2018 führte das Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der die Beschwerdeführer und ihr Rechtsvertreter teilnahmen und der ein Dolmetscher für die Sprache Dari/Farsi beigezogen wurde. Die belangte Behörde entschuldigte sich unter Verweis auf dienstliche und personelle Gründe für die Nichtteilnahme an der Verhandlung und beantragte schriftlich die Abweisung der Beschwerden sowie die Übersendung des Verhandlungsprotokolls. Die Niederschrift der mündlichen Verhandlung wurde dem BFA im Anschluss an die Verhandlung übermittelt.

Die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer wurden vom erkennenden Gericht eingehend zu ihrer Identität, Herkunft, zu den persönlichen Lebensumständen, zu ihren Fluchtgründen sowie zu ihrem Privat- und Familienleben in Österreich befragt.

Im Zuge der Verhandlung wurden vom erkennenden Gericht auch die Berichte über die allgemeine Lage im Herkunftsstaat der Beschwerdeführer in das Verfahren eingebracht. Weiters wurde ihnen der Bericht "Accord: Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Information zu Blutrache/Blutfehden (a-9394-1)" übergeben.

Betreffend ihre Integration in Österreich legten die Beschwerdeführer Bestätigungen über den (zumindest teilweisen) Besuch von Deutschkursen sowie Unterstützungserklärungen vor. Der Zweitbeschwerdeführer legte weiters eine Tazkira vor.

8. Die Beschwerdeführer gaben schriftlich eine Stellungnahme zu den Länderberichten und dem Accord-Bericht ab.

Der Accord-Bericht bestätige das Vorbringen der Erstbeschwerdeführerin als relevant iSd GFC, GRC und EMRK. Es sei deutlich, dass auch Frauen durch die Blutrache bedroht seien. Solch ein Fall liege bei der Erstbeschwerdeführerin vor.

Weiters gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass Frauen, die ein selbstbestimmtes Leben führen wollen, in Afghanistan nach wie vor von Gewalt bedroht seien. Es sei der Beschwerdeführerin selbst in urbanen Zentren nicht möglich, ein freies Leben als Frau - wie sie es in Ö kennengelernt habe - zu führen. Auch für den Zweitbeschwerdeführer stelle dies eine Gefahr dar, da er durch die Unterstützung seiner Frau und seinem Eintreten für die Gleichberechtigung ebenfalls in Gefahr wäre, als verwestlicht wahrgenommen zu werden.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Auf Grundlage der Niederschriften über die Erstbefragungen der Erstbeschwerdeführerin und des Zweitbeschwerdeführers, der Niederschriften über die weiteren Einvernahmen der Erstbeschwerdeführerin und des Zweitbeschwerdeführers durch die belangte Behörde, des Beschwerdevorbringens, der mündlichen Beschwerdeverhandlung sowie der Länderberichte zur Lage in Afghanistan, der dazu erstatteten Stellungnahme der Beschwerdeführer und der von ihnen vorgelegten Unterlagen werden folgende Feststellungen getroffen:

1.1. Zu Person, Fluchtgründen und Rückkehrmöglichkeit der Beschwerdeführer

1.1.1. Die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer sind seit über 10 Jahren traditionell verheiratet. Sie sind die leiblichen Eltern des Drittbeschwerdeführers, der Viertbeschwerdeführerin und des Fünftbeschwerdeführers.

Die Beschwerdeführer führen die im Spruch dieser Erkenntnisse angeführten Namen und Geburtsdaten. Sie sind afghanische Staatsangehörige sowie Angehörige der Volksgruppe der Hazara und bekennen sich zum schiitischen Glauben. Ihre Muttersprache ist Dari.

Die Erstbeschwerdeführerin stammt aus G XXXX , J XXXX , D XXXX XXXX . Sie ist verheiratet und hat drei Kinder. Im Alter von ca. 8 Jahren ging die Erstbeschwerdeführerin mit ihrer Familie in den Iran. Dort heiratete sie ihren Ehemann. Sie hat keine Verwandten mehr in Afghanistan. Sie hat in einer Koranschule ein wenig lesen und schreiben gelernt. Im Herkunftsland besitzt ihre Familie möglicherweise noch ein paar Grundstücke. Die Eltern der Beschwerdeführerin sind noch am Leben.

Der Zweitbeschwerdeführer stammt ebenfalls aus G XXXX , J XXXX , D XXXX XXXX . Er verfügt über keine Schulausbildung, hat jedoch auf Persisch lesen und schreiben gelernt. In Afghanistan betrieb der Beschwerdeführer eine Landwirtschaft und ein Geschäft und führte Transporte mit LKW durch. Im Iran arbeitete er als Bauleiter. Vor ca 11 Jahren hat er Afghanistan alleine verlassen, während seine Familie weiterhin in Afghanistan lebte. Er hatte fünf Schwestern und drei Brüder. In Afghanistan besitzt die Familie noch landwirtschaftliche Grundstücke und ein Haus. Seine Eltern sind bereits verstorben, ein Bruder wurde in Afghanistan getötet.

Die Beschwerdeführer stellten am 09.11.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Der in Österreich nachgeborene Fünftbeschwerdeführer stellte am 03.10.2017 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Die Beschwerdeführer sind gesund und in Österreich strafrechtlich unbescholten bzw. noch strafunmündig.

1.1.2. Es konnte nicht festgestellt werden, dass die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer und deren Familie im Herkunftsstaat einer individuellen gegen sie gerichteten Verfolgung ausgesetzt waren oder im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan einer solchen ausgesetzt wären.

Die Beschwerdeführer hätten im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan auch keine Verfolgung durch den Staat zu befürchten.

Die Beschwerdeführer sind in ihrem Herkunftsstaat nicht vorbestraft (der Drittbeschwerdeführer, die Viertbeschwerdeführerin und der Fünftbeschwerdeführer sind noch nicht strafmündig). Die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer haben sich im Herkunftsstaat nicht politisch betätigt, waren nicht Mitglied einer politischen Partei oder Bewegung und hatten keine Probleme mit den Behörden im Herkunftsstaat.

Weiters konnte nicht festgestellt werden, dass die Beschwerdeführer ohne Hinzutreten weiterer wesentlicher individueller Merkmale mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine gegen sie gerichtete Verfolgung oder Bedrohung durch staatliche Organe oder (von staatlichen Organen geduldet:) durch Private, sei es vor dem Hintergrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit (Hazara), ihrer Religion (schiitische Moslem), Nationalität (Afghanistan), Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Gesinnung zu erwarten hätten.

Die weiblichen Beschwerdeführerinnen (Erstbeschwerdeführerin, Viertbeschwerdeführerin) wären im Herkunftsstaat alleine aufgrund ihres Geschlechts keiner asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt.

Bei der Erstbeschwerdeführerin handelt es sich nicht um eine auf Eigen- und Selbstständigkeit bedachte Frau, die in ihrer persönlichen Wertehaltung und in ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als "westlich" bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist. Die Erstbeschwerdeführerin hat bisher nicht erfolgreich eine Deutschprüfung abgelegt. Sie verfügte zum Zeitpunkt der Verhandlung über geringe Deutschkenntnisse. Sie kümmert sich in Österreich überwiegend um den Haushalt und ihre drei Kinder. Ihr Ehemann unterstützt sie dabei nur in geringem Umfang. Die Erstbeschwerdeführerin zeigte sich (auf Nachfrage) an den Berufen als Fahrerin oder Krankenpflegerin interessiert, hat aber keine konkreten Schritte unternommen, um sich über eine allfällige Ausbildung und Einstiegsmöglichkeiten zu informieren. Sie nimmt in Österreich kaum am sozialen Leben Teil, ist nicht Mitglied in einem Verein und übernimmt derzeit keine ehrenamtlichen Tätigkeiten. Sie informiert sich im Internet über das tagespolitische Geschehen in Österreich. Der wesentliche Unterschied zwischen ihrem Alltag in Afghanistan und ihrem Alltag in Österreich besteht darin, dass sie in Österreich auch ohne (männliche) Begleitung das Haus verlässt.

Bei der Erstbeschwerdeführerin war letztlich keine derart fortgeschrittene Persönlichkeitsentwicklung zu erkennen, aufgrund derer eine Verinnerlichung eines "westlichen Verhaltens" oder eine "westliche Lebensführung" als wesentlicher Bestandteil ihrer Identität angenommen werden kann.

Hinsichtlich der Viertbeschwerdeführerin ist aufgrund ihres jungen und anpassungsfähigen Alters keine derart fortgeschrittene Persönlichkeitsentwicklung abzusehen, aufgrund derer eine Verinnerlichung eines "westlichen Verhaltens" oder eine "westlichen Lebensführung" als wesentlicher Bestandteil ihrer Identität angenommen werden könnte.

Die Viertbeschwerdeführerin wäre in Afghanistan aufgrund ihres Geschlechts auch nicht von der Inanspruchnahme von Bildungsmöglichkeiten (insbesondere Schulbesuch) ausgeschlossen oder maßgeblich beschränkt. In Afghanistan besteht Schulpflicht. Auch faktisch ist, insbesondere in den Städten, ein Schulangebot für Mädchen (und Jungen) vorhanden. Vor diesem Hintergrund ist auch keine asylrelevante Verfolgung der minderjährigen Viertbeschwerdeführerin für den Fall zu befürchten, dass die Eltern ihr bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine grundlegende Bildung zukommen lassen wollten. Es ist im Übrigen nicht ersichtlich, dass Mädchen in den urbanen Zentren Afghanistans - wie etwa in Kabul oder Mazar-e Sharif - durch regierungsfeindliche Gruppierungen oder sonstige Privatpersonen gewaltsam am Besuch von allgemeinen Bildungseinrichtungen gehindert werden.

Schließlich konnte nicht festgestellt werden, dass dem Drittbeschwerdeführer, der Viertbeschwerdeführerin und dem Fünftbeschwerdeführer alleine aufgrund ihres Alters bzw. vor dem Hintergrund der Situation von Kindern in Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit physische und/oder psychische Gewalt asylrelevanter Intensität drohen würde.

1.1.3. Eine Rückkehr der Beschwerdeführer in ihre Herkunftsprovinz G XXXX scheidet aus, weil diese als volatile Provinz eingestuft, wo regierungsfeindliche aufständische Gruppen in den verschiedenen Distrikten aktiv sind und regelmäßig Operationen durchführen und den Beschwerdeführern dort aufgrund der vorherrschenden Sicherheitslage ein Eingriff in ihre körperliche Unversehrtheit drohen würde, zumal die Erreichbarkeit der Provinz (etwa von Kabul aus) auf sicherem Weg nicht gewährleistet werden kann.

Dem Zweitbeschwerdeführer wäre es jedoch möglich und zumutbar, sich stattdessen in der Hauptstadt Kabul oder auch in Mazar-e Sharif niederzulassen. Er ist mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates und einer in Afghanistan gesprochenen Sprache (Dari) vertraut. Er ist in einem afghanischen Familienverband aufgewachsen und verfügt über eine gewisse Bildung. Er verfügt in Kabul oder Mazar-e Sharif über keine familiären Anknüpfungspunkte. Angesichts seines guten Gesundheitszustandes, seiner Arbeitsfähigkeit und seiner Berufserfahrung könnte er sich dennoch in Kabul oder Mazar-e Sharif eine Existenz aufbauen und diese - zumindest anfänglich - mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten sichern, wobei er seine Berufserfahrung als Kaufmann, Landwirt, Transporteur oder vom Bau nutzen könnte. Der Zweitbeschwerdeführer konnte auch bisher durch seine beruflichen Tätigkeiten für sich und seine Familie sorgen. Ihm wäre daher auch der Aufbau einer Existenzgrundlage in Kabul oder Mazar-e Sharif möglich. Der Zweitbeschwerdeführer wäre in der Lage, in Kabul oder Mazar-e Sharif eine einfache Unterkunft zu finden. Der Zweitbeschwerdeführer hätte zudem die Möglichkeit, finanzielle Unterstützung in Form der Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen. Im Ergebnis ist aufgrund der Schreib- und Lesekompetenz, der Arbeitsfähigkeit und der bisherigen Berufserfahrung von einer Selbst- und Familienerhaltungsfähigkeit des Zweitbeschwerdeführers auszugehen.

Der Erstbeschwerdeführerin wäre es alleine nicht möglich und zumutbar, sich in der Hauptstadt Kabul oder in Mazar-e Sharif niederzulassen. Sie verfügt zwar über eine geringe Schulbildung, jedoch über keine Berufsausbildung und ist noch nie selbst für ihren Unterhalt aufgekommen. Da jedoch der Zweitbeschwerdeführer für ihren Unterhalt sorgen könnte und dies auch in der Vergangenheit seit der Eheschließung getan hat, wäre der Erstbeschwerdeführerin eine Rückkehr nach Kabul oder Mazar-e Sharif im Familienverband sehr wohl möglich und zumutbar.

Beim Drittbeschwerdeführer, bei der Viertbeschwerdeführerin und beim Fünftbeschwerdeführer handelt es sich um unmündige Minderjährige im Alter von zehn Jahren, sieben Jahren und einem Jahr, die im Familienverband mit ihren Eltern leben und weder über eigenes Vermögen noch über eine eigene Möglichkeit der Existenzsicherung verfügen. In Afghanistan besteht eine hohe Zahl an minderjährigen zivilen Opfern. Vor allem Kinder sind zudem besonders von Unterernährung betroffen. Ungefähr zehn Prozent der Kinder sterben vor ihrem fünften Geburtstag. Auch bestünde für die minderjährigen Beschwerdeführer die Gefahr, dass sie Kinderarbeit leisten müssen, falls der Zweitbeschwerdeführer zu wenig verdienen würde, um die gesamte Familie zu erhalten. In Anbetracht der festgestellten individuellen und familiären Situation der Beschwerdeführer und der besonderen Schutzbedürftigkeit von minderjährigen Kindern war seitens des Bundesverwaltungsgerichtes im Lichte einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, der hohen Zahl an minderjährigen Opfern auch in zentralen Regionen und Städten, der dadurch eingeschränkten Bewegungsfreiheit der minderjährigen Beschwerdeführer sowie der schwierigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für ihre erforderliche Versorgung im Herkunftsstaat festzustellen, dass der Drittbeschwerdeführer, die Viertbeschwerdeführerin und die Fünftbeschwerdeführerin bei einer Ansiedelung nach Kabul oder Mazar-e Sharif einem realen Risiko ausgesetzt wären, in eine existenzbedrohende (Not-)Lage zu geraten.

1.2. Zur Lage in Afghanistan

Dem Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht werden insbesondere folgende Quellen zugrunde gelegt:

* Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 30.01.2018;

1.2.1 Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 02.03.2017 (letzte Kurzinformation eingefügt am 30.01.2018):

"... 1. Neueste Ereignisse - Integrierte Kurzinformationen

KI vom 30.01.2018: Angriffe in Kabul (betrifft: Abschnitt 3 Sicherheitslage)

Landesweit haben in den letzten Monaten Aufständische, inklusive der Taliban und des IS, ihre Angriffe auf afghanische Truppen und Polizisten intensiviert (The Guardian; vgl. BBC 29.1.2018). Die Gewalt Aufständischer gegen Mitarbeiter/innen von Hilfsorganisationen hat in den letzten Jahren zugenommen (The Guardian 24.1.2018). Die Taliban erhöhen ihre Operationen, um ausländische Kräfte zu vertreiben; der IS hingegen versucht seinen relativ kleinen Einflussbereich zu erweitern. Kabul ist in diesem Falle für beide Gruppierungen interessant (Asia Pacific 30.1.2018).

Im Stadtzentrum und im Diplomatenviertel wurden Dutzende Hindernisse, Kontrollpunkte und Sicherheitskameras errichtet. Lastwagen, die nach Kabul fahren, werden von Sicherheitskräften, Spürhunden und weiteren Scannern kontrolliert, um sicherzustellen, dass keine Sprengstoffe, Raketen oder Sprengstoffwesten transportiert werden. Die zeitaufwändigen Kontrollen führen zu langen Wartezeiten; sollten die korrekten Papiere nicht mitgeführt werden, so werden sie zum Umkehren gezwungen. Ebenso werden die Passagiere in Autos von der Polizei kontrolliert (Asia Pacific 30.1.2018).

Angriff auf die Marshal Fahim Militärakademie 29.1.2019

Am Montag den 29.1.2018 attackierten fünf bewaffnete Angreifer einen militärischen Außenposten in der Nähe der Marshal Fahim Militärakademie (auch bekannt als Verteidigungsakademie), die in einem westlichen Außendistrikt der Hauptstadt liegt. Bei dem Vorfall wurden mindestens elf Soldaten getötet und 15 weitere verletzt, bevor die vier Angreifer getötet und ein weiterer gefasst werden konnten. Der Islamische Staat bekannte sich zu dem Vorfall (Reuters 29.1.2018; vgl. NYT 28.1.2018).

Quellen zufolge operiert der IS in den Bergen der östlichen Provinz Nangarhar (The Guardian 29.1.2018); die Provinzhauptstadt Jalalabad wird als eine Festung des IS erachtet, dessen Kämpfer seit 2015 dort aktiv sind (BBC 24.1.2018). Nachdem der IS in Ostafghanistan unter anhaltenden militärischen Druck gekommen war, hatte dieser immer mehr Angriffe in den Städten für sich beansprucht. Nationale und Internationale Expert/innen sehen die Angriffe in den Städten als Überlappung zwischen dem IS und dem Haqqani-Netzwerk (einem extremen Arm der Taliban) (NYT 28.1.2018).

Angriff im Regierungs- und Diplomatenviertel in Kabul am 27.1.2018

Bei einem der schwersten Angriffe der letzten Monate tötete am Samstag den 27.1.2018 ein Selbstmordattentäter der Taliban mehr als 100 Menschen und verletzte mindestens 235 weitere (Reuters 28.1.2018; vgl. The Guardian 28.1.2018). Eine Bombe - versteckt in einem Rettungswagen - detonierte in einem schwer gesicherten Bereich der afghanischen Hauptstadt (The Guardian 27.1.2018; vgl. The Guardian 28.1.2018). Der Vorfall ereignete sich im Regierungs- und Diplomatenviertel und wird als einer der schwersten seit dem Angriff vom Mai 2017 betrachtet, bei dem eine Bombe in der Nähe der deutschen Botschaft explodiert war und 150 Menschen getötet hatte (Reuters 28.1.2018).

Die Taliban verlautbarten in einer Aussendung, der jüngste Angriff sei eine Nachricht an den US-amerikanischen Präsidenten, der im letzten Jahr mehr Truppen nach Afghanistan entsendete und Luftangriffe sowie andere Hilfestellungen an die afghanischen Sicherheitskräfte verstärkte (Reuters 28.1.2018).

Angriff auf die NGO Save the Children am 24.1.2018

Am Morgen des 24.1.2018 brachte ein Selbstmordattentäter ein mit Sprengstoff beladenes Fahrzeug am Gelände der Nichtregierungsorganisation (NGO) Save The Children in der Provinzhauptstadt Jalalabad zur Explosion. Mindestens zwei Menschen wurden dabei getötet und zwölf weitere verletzt. Zum Zeitpunkt des Angriffs befanden sich 50 Mitarbeiter/innen im Gebäude. Der IS bekannte sich zu diesem Vorfall (BBC 24.1.2018; vgl. Reuters 24.1.2018).

Der jüngste Angriff auf eine ausländische Hilfseinrichtung in Afghanistan unterstreicht die wachsende Gefahr, denen Mitarbeiter/innen von Hilfsorganisationen in Afghanistan ausgesetzt sind (The Guardian 24.1.2018).

Das Gelände der NGO Save the Children befindet sich in jener Gegend von Jalalabad, in der sich auch andere Hilfsorganisationen sowie Regierungsgebäude befinden (BBC 24.1.2018). In einer Aussendung des IS werden die Autobombe und drei weitere Angriffe auf Institutionen der britischen, schwedischen und afghanischen Regierungen (Reuters 24.1.2018).

Angriff auf das Hotel Intercontinental in Kabul am 20.1.2018

Der Angriff bewaffneter Männer auf das Luxushotel Intercontinental in Kabul, wurde von afghanischen Truppen abgewehrt, nachdem die ganze Nacht um die Kontrolle über das Gebäude gekämpft worden war (BBC 21.1.2018).Fünf bewaffnete Männer mit Sprengstoffwesten hatten sich Zutritt zu dem Hotel verschafft (DW 21.1.2018). Die exakte Opferzahl ist unklar. Einem Regierungssprecher zufolge sollen 14 Ausländer/innen und vier Afghan/innen getötet worden sein. Zehn weitere Personen wurden verletzt, einschließlich sechs Mitglieder der Sicherheitskräfte (NYT 21.1.2018). 160 Menschen konnten gerettet werden(BBC 21.1.2018). Alle Fünf Angreifer wurden von den Sicherheitskräften getötet (Reuters 20.1.2018). Die Taliban bekannten sich zu dem Angriff (DW 21.1.2018).

Wie die Angreifer die Sicherheitsvorkehrungen durchbrechen konnten, ist Teil von Untersuchungen. Erst seit zwei Wochen ist eine private Firma für die Sicherheit des Hotels verantwortlich. Das Intercontinental in Kabul ist trotz des Namens nicht Teil der weltweiten Hotelkette, sondern im Besitz der afghanischen Regierung. In diesem Hotel werden oftmals Hochzeiten, Konferenzen und politische Zusammentreffen abgehalten (BBC 21.1.2018). Zum Zeitpunkt des Angriffes war eine IT-Konferenz im Gange, an der mehr als 100 IT-Manager und Ingenieure teilgenommen hatten (Reuters 20.1.2018; vgl. NYT 21.1.2018).

Insgesamt handelte es sich um den zweiten Angriff auf das Hotel in den letzten acht Jahren (NYT 21.1.2018). Zu dem Angriff im Jahr 2011 hatten sich ebenso die Taliban bekannt (Reuters 20.1.2018).

Unter den Opfern waren ausländische Mitarbeiter/innen der afghanischen Fluggesellschaft Kam Air, u.a. aus Kirgisistan, Griechenland (DW 21.1.2018), der Ukraine und Venezuela. Die Fluglinie verbindet jene Gegenden Afghanistans, die auf dem Straßenweg schwer erreichbar sind (NYT 29.1.2018).

KI vom 21.12.2017: Aktualisierung der Sicherheitslage in Afghanistan - Q4.2017 (betrifft: Abschnitt 3 Sicherheitslage)

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor höchst volatil - der Konflikt zwischen regierungsfeindlichen Kräften und Regierungskräften hält landesweit an (UN GASC 20.12.2017). Zur Verschlechterung der Sicherheitslage haben die sich intensivierende Zusammenstöße zwischen Taliban und afghanischen Sicherheitskräften beigetragen (SIGAR 30.10.2017; vgl. SCR 30.11.2017).

Die afghanischen und internationalen Sicherheitskräfte verstärkten deutlich ihre Luftoperationen (UN GASC 20.12.2017; vgl. SIGAR 30.10.2017), die in 22 Provinzen registriert wurden. So haben sich im Berichtszeitraum der Vereinten Nationen (UN) Luftangriffe um 73% gegenüber dem Vorjahreswert erhöht (UN GASC 20.12.2017). Der Großteil dieser Luftangriffe wurde in der südlichen Provinz Helmand und in der östlichen Provinz Nangarhar erfasst (UN GASC 20.12.2017; vgl. SIGAR 30.10.2017), die als Hochburgen des IS und der Taliban gelten (SIGAR 30.10.2017). Verstärkte Luftangriffe hatten wesentliche Auswirkungen und führten zu hohen Opferzahlen bei Zivilist/innen und regierungsfeindlichen Elementen (UN GASC 20.12.2017). Zusätzlich ist die Gewalt in Ostafghanistan auf die zunehmende Anzahl von Operationen der ANDSF und der Koalitionskräfte zurück zu führen (SIGAR 30.10.2017).

Landesweit kam es immer wieder zu Sicherheitsoperationen, bei denen sowohl aufständische Gruppierungen als auch afghanische Sicherheitskräfte Opfer zu verzeichnen hatten (Pajhwok 1.12.2017; TP 20.12.2017; Xinhua 21.12.2017; Tolonews 5.12.2017; NYT 11.12.2017).

Den Vereinten Nationen zufolge hat sich der Konflikt seit Anfang des Jahres verändert, sich von einer asymmetrischen Kriegsführung entfernt und in einen traditionellen Konflikt verwandelt, der von bewaffneten Zusammenstößen zwischen regierungsfeindlichen Elementen und der Regierung gekennzeichnet ist. Häufigere bewaffnete Zusammenstöße werden auch als verstärkte Offensive der ANDSF-Operationen gesehen um die Initiative von den Taliban und dem ISKP zu nehmen - in diesem Quartal wurde im Vergleich zum Vorjahr eine höhere Anzahl an bewaffneten Zusammenstößen erfasst (SIGAR 30.10.2017).

Sicherheitsrelevante Vorfälle

Die Vereinten Nationen (UN) registrierten im Berichtszeitraum (15.9. - 15.11.2017) 3.995 sicherheitsrelevante Vorfälle; ein Rückgang von 4% gegenüber dem Vorjahreswert. Insgesamt wurden von 1.1.-15.11.2017 mehr als 21.105 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert, was eine Erhöhung von 1% gegenüber dem Vorjahreswert andeutet. Laut UN sind mit 62% bewaffnete Zusammenstöße die Hauptursache aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, gefolgt von IEDs [Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung/Sprengfallen], die in 17% der sicherheitsrelevanten Vorfälle Ursache waren. Die östlichen Regionen hatten die höchste Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen zu verzeichnen, gefolgt von den südlichen Regionen - zusammen wurde in diesen beiden Regionen 56% aller sicherheitsrelevanten Vorfälle registriert. Gezielte Tötungen und Entführungen haben sich im Vergleich zum Vorjahreswert um 16% erhöht (UN GASC 20.12.2017).

Laut der internationalen Sicherheitsorganisation für NGOs (INSO) wurden vom 1.1.-30.11.2017 24.917 sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan registriert (Stand: Dezember 2017) (INSO o.D.).

(Grafik: Staatendokumentation gemäß Daten aus INSO o.D. nicht darstellbar)

Zivilist/innen

Im Gegensatz zum Vergleichszeitraum des letzten Jahres registrierte die UNAMA zwischen 1.1. und 30.9.2017 8.019 zivile Opfer (2.640 Tote und 5.379 Verletzte). Dies deutet insgesamt einen Rückgang von fast 6% gegenüber dem Vorjahreswert an (UNAMA 10.2017); konkret hat sich die Anzahl getöteter Zivilist/innen um 1% erhöht, während sich die Zahl verletzter Zivilist/innen um 9% verringert hat (UN GASC 20.12.2017).Wenngleich Bodenoffensiven auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer waren - führte der Rückgang der Anzahl von Bodenoffensiven zu einer deutlichen Verringerung von 15% bei zivilen Opfern. Viele Zivilist/innen fielen Selbstmordattentaten, sowie komplexen Angriffen und IEDs zum Opfer - speziell in den Provinzen Kabul, Helmand, Nangarhar, Kandahar und Faryab (UNAMA 10.2017).

Zivile Opfer, die regierungsfreundlichen Kräften zugeschrieben wurden, sind um 37% zurückgegangen: Von insgesamt 849 waren 228 Tote und 621 Verletzte zu verzeichnen. Im Gegensatz dazu erhöhte sich die Anzahl ziviler Opfer, die regierungsfeindlichen Elementen zugeschrieben werden, um 7%: von den 1.150 zivilen Opfer starben 225, während 895 verletzt wurden. Die restlichen Opfer konnten keiner Tätergruppe zugeschrieben werden (UNAMA 10.2017).

(Grafik nicht darstellbar)

High-profile Angriffe:

Am 31.10.2017 sprengte sich ein Selbstmordattentäter in der ‚Green Zone' der Hauptstadt Kabul in die Luft. Der angebliche Täter soll Quellen zufolge zwischen 12-13 Jahren alt gewesen sein. Mindestens vier Menschen starben bei dem Angriff und ein Dutzend weitere wurden verletzt. Dies war der erste Angriff in der ‚Green Zone' seit dem schweren Selbstmordattentat im Mai 2017 (BBC 31.10.2017; vgl. Telegraph 31.10.2017). der IS bekannte sich zu diesem Vorfall Ende Oktober 2017 (BBC 31.10.2017; vgl. Telegraph 31.10.2017; UN GASC 20.12.2017)

Am 20.10.2017 sprengte sich ein Angreifer in der Shia Imam Zamam Moschee in Kabul in die Luft; dabei wurden mindestens 30 Menschen getötet und 45 weitere verletzt. Der IS bekannt sich zu diesem Angriff (Independent 20.10.2017; vgl. BBC 21.10.2017; UN GASC 20.12.2017). In dem Distrikt Solaina, in der westlichen Provinz Ghor, wurde ebenso eine Moschee angegriffen - in diesem Fall handelt es sich um eine sunnitische Moschee. Die tatsächliche Opferzahl ist umstritten: je nach Quellen sind zwischen 9 und 39 Menschen bei dem Angriff gestorben (Independent 20.10.2017; vgl. NYT 20.10.2017; al Jazeera 20.10.2017).

Am 19.10.2017 wurde im Rahmen eines landesweit koordinierten Angriffes der Taliban 58 afghanische Sicherheitskräfte getötet: ein militärisches Gelände, eine Polizeistationen und ein militärischer Stützpunkt in Kandahar wären beinahe überrannt worden (Independent 20.10.2017; vgl. BBC 21.10.2017). Einige Tage vor diesem Angriff töteten ein Selbstmordattentäter und ein Schütze mindestens 41 Menschen, als sie ein Polizeiausbildungszentrum in der Provinzhauptstadt Gardez stürmten (Provinz Paktia) (BBC 21.10.2017). In der Woche davor wurden 14 Offiziere der Militärakademie auf dem Weg nach Hause getötet, als ein Selbstmordattentäter den Minibus in die Luft sprengte in dem sie unterwegs waren (NYT 20.10.2017). Die afghanische Armee und Polizei haben dieses Jahr schwere Verluste aufgrund der Taliban erlitten (BBC 21.10.2017).

Am 7.11.2017 griffen als Polizisten verkleidete Personen/regierungsfeindliche Kräfte eine Fernsehstation ‚Shamshad TV' an; dabei wurde mindestens eine Person getötet und zwei Dutzend weitere verletzt. Die afghanischen Spezialkräfte konnten nach drei Stunden Kampf, die Angreifer überwältigen. Der IS bekannt sich zu diesem Angriff (Guardian 7.11.2017; vgl. NYT 7.11.2017; UN GASC 20.12.2017).

Bei einem Selbstmordangriff im November 2017 wurden mindestens neun Menschen getötet und einige weitere verletzt; die Versammelten hatten einem Treffen beigewohnt, um den Gouverneur der Provinz Balkh - Atta Noor - zu unterstützen; auch hier bekannte sich der IS zu diesem Selbstmordattentat (Reuters 16.11.2017; vgl. UN GASC 20.12.2017)

Interreligiöse Angriffe

Serienartige gewalttätige Angriffe gegen religiöse Ziele, veranlassten die afghanische Regierung neue Maßnahmen zu ergreifen, um Anbetungsorte zu beschützen: landesweit wurden 2.500 Menschen rekrutiert und bewaffnet, um 600 Moscheen und Tempeln vor Angriffen zu schützen (UN GASC 20.12.2017).

Seit 1.1.2016 wurden im Rahmen von Angriffen gegen Moscheen, Tempel und andere Anbetungsorte 737 zivile Opfer verzeichnet (242 Tote und 495 Verletzte); der Großteil von ihnen waren schiitische Muslime, die im Rahmen von Selbstmordattentaten getötet oder verletzt wurden. Die Angriffe wurden von regierungsfeindlichen Elementen durchgeführt - hauptsächlich dem IS (UNAMA 7.11.2017).

Im Jahr 2016 und 2017 registrierte die UN Tötungen, Entführungen, Bedrohungen und Einschüchterungen von religiösen Personen - hauptsächlich durch regierungsfeindliche Elemente. Seit 1.1.2016 wurden 27 gezielte Tötungen religiöser Personen registriert, wodurch 51 zivile Opfer zu beklagen waren (28 Tote und 23 Verletzte); der Großteil dieser Vorfälle wurde im Jahr 2017 verzeichnet und konnten großteils den Taliban zugeschrieben werden. Religiösen Führern ist es möglich, öffentliche Standpunkte durch ihre Predigten zu verändern, wodurch sie zum Ziel von regierungsfeindlichen Elementen werden (UNAMA 7.11.2017).

ANDSF - afghanische Sicherheits- und Verteidigungskräfte

Informationen zur Stärke der ANDSF und ihrer Opferzahlen werden von den US-amerikanischen Kräften in Afghanistan (USFOR-A) geheim gehalten; im Bericht des US-Sonderbeauftragten für den Aufbau in Afghanistan (SIGAR) werden Schätzungen angegeben:

Die Stärke der ANDSF ist in diesem Quartal zurückgegangen; laut USFOR-A Betrug die Stärke der ANDSF mit Stand August 2017 etwa 320.000 Mann - dies deutet einen Rückgang von 9.000 Mann gegenüber dem vorhergehenden Quartal an. Dennoch erhöhte sich der Wert um

3.500 Mann gegenüber dem Vorjahr (SIGAR 30.10.2017). Die Schwundquote der afghanischen Nationalpolizei war nach wie vor ein großes Anliegen; die Polizei litt unter hohen Opferzahlen (UN GASC 20.12.2017).

Im Rahmen eines Memorandum of Understanding (MoU) zwischen dem afghanischen Verteidigungs- und Innenministerium wurde die afghanische Grenzpolizei (Afghan Border Police) und die afghanische Polizei für zivile Ordnung (Afghan National Civil Order Police) dem Verteidigungsministerium übertragen (UN GASC 20.12.2017). Um sogenanntem ‚Geisterpersonal' vorzubeugen, werden seit 1.1.2017 Gehälter nur noch an jenes Personal im Innen- und Verteidigungsministerium ausbezahlt, welches ordnungsgemäß registriert wurde (SIGAR 30.10.2017).

Regierungsfeindliche Gruppierungen

Taliban

Der UN zufolge versuchten die Taliban weiterhin von ihnen kontrolliertes Gebiet zu halten bzw. neue Gebiete unter ihre Kontrolle zu bringen - was zu einem massiven Ressourcenverbrauch der afghanischen Regierung führte, um den Status-Quo zu halten. Seit Beginn ihrer Frühjahrsoffensive unternahmen die Taliban keine größeren Versuche, um eine der Provinzhauptstädte einzunehmen. Dennoch war es ihnen möglich kurzzeitig mehrere Distriktzentren einzunehmen (SIGAR 30.10.2017):

Die Taliban haben mehrere groß angelegte Operationen durchgeführt, um administrative Zentren einzunehmen und konnten dabei kurzzeitig den Distrikt Maruf in der Provinz Kandahar, den Distrikt Andar in Ghazni, den Distrikt Shib Koh in der Farah und den Distrikt Shahid-i Hasas in der Provinz Uruzgan überrennen. In allen Fällen gelang es den afghanischen Sicherheitskräften die Taliban zurück zu drängen - in manchen Fällen mit Hilfe von internationalen Luftangriffen. Den afghanischen Sicherheitskräften gelang es, das Distriktzentrum von Ghorak in Kandahar unter ihre Kontrolle zu bringen - dieses war seit November 2016 unter Talibankontrolle (UN GASC 20.12.2017).

Im Rahmen von Sicherheitsoperationen wurden rund 30 Aufständische getötet; unter diesen befand sich - laut afghanischen Beamten - ebenso ein hochrangiger Führer des Haqqani-Netzwerkes (Tribune 24.11.2017; vgl. BS 24.11.2017). Das Haqqani-Netzwerk zählt zu den Alliierten der Taliban (Reuters 1.12.2017).

Aufständische des IS und der Taliban bekämpften sich in den Provinzen Nangarhar und Jawzjan (UN GASC 20.12.2017). Die tatsächliche Beziehung zwischen den beiden Gruppierungen ist wenig nachvollziehbar - in Einzelfällen schien es, als ob die Kämpfer der beiden Seiten miteinander kooperieren würden (Reuters 23.11.2017).

IS/ISIS/ISKP/ISIL-KP/Daesh

Der IS war nach wie vor widerstandsfähig und bekannte sich zu mehreren Angriff auf die zivile Bevölkerung, aber auch auf militärische Ziele [Anm.: siehe High-Profile Angriffe] (UN GASC 20.12.2017). Unklar ist, ob jene Angriffe zu denen sich der IS bekannt hatte, auch tatsächlich von der Gruppierung ausgeführt wurden bzw. ob diese in Verbindung zur Führung in Mittleren Osten stehen. Der afghanische Geheimdienst geht davon aus, dass in Wahrheit manche der Angriffe tatsächlich von den Taliban oder dem Haqqani-Netzwerk ausgeführt wurden, und sich der IS opportunistischerweise dazu bekannt hatte. Wenngleich Luftangriffe die größten IS-Hochburgen in der östlichen Provinz Nangarhar zerstörten; hielt das die Gruppierungen nicht davon ab ihre Angriffe zu verstärken (Reuters 1.12.2017).

Sicherheitsbeamte gehen davon aus, dass der Islamische Staat in neun Provinzen in Afghanistan eine Präsenz besitzt: im Osten von Nangarhar und Kunar bis in den Norden nach Jawzjan, Faryab, Badakhshan und Ghor im zentralen Westen (Reuters 23.11.2017). In einem weiteren Artikel wird festgehalten, dass der IS in zwei Distrikten der Provinz Jawzjan Fuß gefasst hat (Reuters 1.12.2017).

Politische Entwicklungen

Der Präsidentenpalast in Kabul hat den Rücktritt des langjährigen Gouverneurs der Provinz Balkh, Atta Mohammad Noor, Anfang dieser Woche bekanntgegeben. Der Präsident habe den Rücktritt akzeptiert. Es wurde auch bereits ein Nachfolger benannt (NZZ 18.12.2017). In einer öffentlichen Stellungnahme wurde Mohammad Daud bereits als Nachfolger genannt (RFE/RL 18.12.2017). Noor meldete sich zunächst nicht zu Wort (NZZ 18.12.2017).

Wenngleich der Präsidentenpalast den Abgang Noors als "Rücktritt" verlautbarte, sprach dieser selbst von einer ‚Entlassung' - er werde diesen Schritt bekämpfen (RFE/RL 20.12.2017). Atta Noors Partei, die Jamiat-e Islami, protestierte und sprach von einer ‚unverantwortlichen, hastigen Entscheidung, die sich gegen die Sicherheit und Stabilität in Afghanistan sowie gegen die Prinzipien der Einheitsregierung' richte (NZZ 18.12.2017).

Die Ablösung des mächtigen Gouverneurs der nordafghanischen Provinz Balch droht Afghanistan in eine politische Krise zu stürzen (Handelsblatt 20.12.2017). Sogar der Außenminister Salahuddin Rabbani wollte nach Angaben eines Sprechers vorzeitig von einer Griechenlandreise zurückkehren (NZZ 18.12.2017).

Atta Noor ist seit dem Jahr 2004 Gouverneur der Provinz Balkh und gilt als Gegner des Präsidenten Ashraf Ghani, der mit dem Jamiat-Politiker Abdullah Abdullah die Einheitsregierung führt (NZZ 18.12.2017). Atta Noor ist außerdem ein enger Partner der deutschen Entwicklungshilfe und des deutschen Militärs im Norden von Afghanistan (Handelsblatt 20.12.2017).

In der Provinz Balkh ist ein militärischer Stützpunkt der Bundeswehr (Handelsblatt 20.12.2017).

KI vom 25.9.2017: Aktualisierung der Sicherheitslage in Afghanistan - Q3.2017 (betrifft: Abschnitt 3 Sicherheitslage)

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor höchst volatil; die Regierung und die Taliban wechselten sich während des Berichtszeitraumes bei Kontrolle mehrerer Distriktzentren ab - auf beiden Seiten waren Opfer zu beklagen (UN GASC 21.9.2017). Der Konflikt in Afghanistan ist gekennzeichnet von zermürbenden Guerilla-Angriffen, sporadischen bewaffneten Zusammenstößen und gelegentlichen Versuchen Ballungszentren zu überrennen. Mehrere Provinzhauptstädte sind nach wie vor in der Hand der Regierung; dies aber auch nur aufgrund der Unterstützung durch US-amerikanische Luftangriffe. Dennoch gelingt es den Regierungskräften kleine Erfolge zu verbuchen, indem sie mit unkonventionellen Methoden zurückschlagen (The Guardian 3.8.2017).

Der afghanische Präsident Ghani hat mehrere Schritte unternommen, um die herausfordernde Sicherheitssituation in den Griff zu bekommen. So hielt er sein Versprechen den Sicherheitssektor zu reformieren, indem er korrupte oder inkompetente Minister im Innen- und Verteidigungsministerium feuerte, bzw. diese selbst zurücktraten; die afghanische Regierung begann den strategischen 4-Jahres Sicherheitsplan für die ANDSF umzusetzen (dabei sollen die Fähigkeiten der ANDSF gesteigert werden, größere Bevölkerungszentren zu halten); im Rahmen des Sicherheitsplanes sollen Anreize geschaffen werden, um die Taliban mit der afghanischen Regierung zu versöhnen; Präsident Ghani bewilligte die Erweiterung bilateraler Beziehungen zu Pakistan, so werden unter anderen gemeinsamen Anti-Terror Operationen durchgeführt werden (SIGAR 31.7.2017).

Zwar endete die Kampfmission der US-Amerikaner gegen die Taliban bereits im Jahr 2014, dennoch werden, laut US-amerikanischem Verteidigungsminister, aufgrund der sich verschlechternden Sicherheitslage 3.000 weitere Soldaten nach Afghanistan geschickt. Nach wie vor sind über 8.000 US-amerikanische Spezialkräfte in Afghanistan, um die afghanischen Truppen zu unterstützen (BBC 18.9.2017).

Sicherheitsrelevante Vorfälle

In den ersten acht Monaten wurden insgesamt 16.290 sicherheitsrelevante Vorfälle von den Vereinten Nationen (UN) registriert; in ihrem Berichtszeitraum (15.6. bis 31.8.2017) für das dritte Quartal, wurden 5.532 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert - eine Erhöhung von 3% gegenüber dem Vorjahreswert. Laut UN haben sich bewaffnete Zusammenstöße um 5%

erhöht und machen nach wie vor 64% aller registrierten Vorfälle aus. 2017 gab es wieder mehr lange bewaffnete Zusammenstöße zwischen Regierung und regierungsfeindlichen Gruppierungen. Im Gegensatz zum Vergleichszeitraums des Jahres 2016, verzeichnen die UN einen Rückgang von 3% bei Anschlägen mit Sprengfallen [IEDs - improvised explosive device], Selbstmordangriffen, Ermordungen und Entführungen - nichtsdestotrotz waren sie Hauptursache für zivile Opfer. Die östliche Region verzeichnete die höchste Anzahl von Vorfällen, gefolgt von der südlichen Region (UN GASC 21.9.2017).

Laut der internationalen Sicherheitsorganisation für NGOs (INSO) wurden in Afghanistan von 1.1.-31.8.2017 19.636 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert (Stand: 31.8.2017) (INSO o.D.).

(Grafik: Staatendokumentation gemäß Daten aus INSO o.D. nicht darstellbar)

Zivilist/innen

Landesweit war der bewaffnete Konflikt weiterhin Ursache für Verluste in der afghanischen Zivilbevölkerung. Zwischen dem 1.1. und 30.6.2017 registrierte die UNAMA 5.243 zivile Opfer (1.662 Tote und 3.581 Verletzte). Dies bedeutet insgesamt einen Rückgang bei zivilen Opfern von fast einem 1% gegenüber dem Vorjahreswert. Dem bewaffneten Konflikt in Afghanistan fielen zwischen 1.1.2009 und 30.6.2017 insgesamt 26.512 Zivilist/innen zum Opfer, während in diesem Zeitraum 48.931 verletzt wurden (UNAMA 7.2017).

Im ersten Halbjahr 2017 war ein Rückgang ziviler Opfer bei Bodenoffensiven zu verzeichnen, während sich die Zahl ziviler Opfer aufgrund von IEDs erhöht hat (UNAMA 7.2017).

Die Provinz Kabul verzeichnete die höchste Zahl ziviler Opfer - speziell in der Hauptstadt Kabul: von den 1.048 registrierten zivilen Opfer (219 Tote und 829 Verletzte), resultierten 94% aus Selbstmordattentaten und Angriffen durch regierungsfeindliche Elemente. Nach der Hauptstadt Kabul verzeichneten die folgenden Provinzen die höchste Zahl ziviler Opfer: Helmand, Kandahar, Nangarhar, Uruzgan, Faryab, Herat, Laghman, Kunduz und Farah. Im ersten Halbjahr 2017 erhöhte sich die Anzahl ziviler Opfer in 15 von Afghanistans 34 Provinzen (UNAMA 7.2017)

(Grafik nicht darstellbar)

High-profile Angriffe:

Der US-Sonderbeauftragten für den Aufbau in Afghanistan (SIGAR), verzeichnete in seinem Bericht für das zweite Quartal des Jahres 2017 mehrere high-profil Angriffe; der Großteil dieser fiel in den Zeitraum des Ramadan (Ende Mai bis Ende Juni). Einige extremistische Organisationen, inklusive dem Islamischen Staat, behaupten dass Kämpfer, die während des Ramadan den Feind töten, bessere Muslime wären (SIGAR 31.7.2017).

Im Berichtszeitraum (15.6. bis 31.8.2017) wurden von den Vereinten Nationen folgende High-profile Angriffe verzeichnet:

Ein Angriff auf die schiitische Moschee in der Stadt Herat, bei dem mehr als 90 Personen getötet wurden (UN GASC 21.9.2017; vgl.: BBC 2.8.2017). Zu diesem Attentat bekannte sich der ISIL-KP (BBC 2.8.2017). Taliban und selbsternannte ISIL-KP Anhänger verübten einen Angriff auf die Mirza Olang Region im Distrikt Sayyad in der Provinz Sar-e Pul; dabei kam es zu Zusammenstößen mit regierungsfreundlichen Milizen. Im Zuge dieser Kämpfe, die von 3.- 5. August anhielten, wurden mindestens 36 Menschen getötet (UN GASC 21.9.2017). In Kabul wurde Ende August eine weitere schiitische Moschee angegriffen, dabei wurden mindestens 28 Zivilist/innen getötet; auch hierzu bekannte sich der ISIL-KP (UN GASC 21.9.2017; vgl.: NYT 25.8.2017).

Manche high-profile Angriffe waren gezielt gegen Mitarbeiter/innen der ANDSF und afghanischen Regierungsbeamte gerichtet; Zivilist/innen in stark bevölkerten Gebieten waren am stärksten von Angriffen dieser Art betroffen (SIGAR 31.7.2017).

‚Green Zone' in Kabul

Kabul hatte zwar niemals eine formelle ‚Green Zone'; dennoch hat sich das Zentrum der afghanischen Hauptstadt, gekennzeichnet von bewaffneten Kontrollpunkten und Sicherheitswänden, immer mehr in eine militärische Zone verwandelt (Reuters 6.8.2017).

Eine Erweiterung der sogenannten Green Zone ist geplant; damit wird Verbündeten der NATO und der US-Amerikaner ermöglicht, auch weiterhin in der Hauptstadt Kabul zu bleiben ohne dabei Risiken ausgesetzt zu sein. Kabul City Compound - auch bekannt als das ehemalige Hauptquartier der amerikanischen Spezialkräfte, wird sich ebenso innerhalb der Green Zone befinden. Die Zone soll hinkünftig vom Rest der Stadt getrennt sein, indem ein Netzwerk an Kontrollpunkten durch Polizei, Militär und privaten Sicherheitsfirmen geschaffen wird. Die Erweiterung ist ein großes öffentliches Projekt, das in den nächsten zwei Jahren das Zentrum der Stadt umgestalten soll; auch sollen fast alle westlichen Botschaften, wichtige Ministerien, sowie das Hauptquartier der NATO und des US-amerikanischen Militärs in dieser geschützten Zone sein. Derzeit pendeln tagtäglich tausende Afghaninnen und Afghanen durch diese Zone zu Schulen und Arbeitsplätzen (NYT 16.9.2017).

Nach einer Reihe von Selbstmordattentaten, die hunderte Opfer gefordert haben, erhöhte die afghanische Regierung die Sicherheit in der zentralen Region der Hauptstadt Kabul - dieser Bereich ist Sitz ausländischer Botschaften und Regierungsgebäude. Die Sicherheit in diesem diplomatischen Bereich ist höchste Priorität, da, laut amtierenden Polizeichef von Kabul, das größte Bedrohungsniveau in dieser Gegend verortet ist und eine bessere Sicherheit benötigt wird. Die neuen Maßnahmen sehen 27 neue Kontrollpunkte vor, die an 42 Straßen errichtet werden. Eingesetzt werden mobile Röntgengeräte, Spürhunde und Sicherheitskameras. Außerdem werden 9 weitere Straßen teilweise gesperrt, während die restlichen sechs Straßen für Autos ganz gesperrt werden. 1.200 Polizist/innen werden in diesem Bereich den Dienst verrichten, inklusive spezieller Patrouillen auf Motorrädern. Diese Maßnahmen sollen in den nächsten sechs Monaten schrittweise umgesetzt werden (Reuters 6.8.2017).

Ein erweiterter Bereich, die sogenannte ‚Blue Zone' soll ebenso errichtet werden, die den Großteil des Stadtzentrums beinhalten soll - in diesem Bereich werden strenge Bewegungseinschränkungen, speziell für Lastwagen, gelten. Lastwagen werden an einem speziellen externen Kontrollpunkt untersucht. Um in die Zone zu gelangen, müssen sie über die Hauptstraße (die auch zum Flughafen führt) zufahren (BBC 6.8.2017; vgl. Reuters 6.8.2017).

ANDSF - afghanische Sicherheits- und Verteidigungskräfte

Die Stärkung der ANDSF ist ein Hauptziel der Wiederaufbaubemühungen der USA in Afghanistan, damit diese selbst für Sicherheit sorgen können (SIGAR 20.6.2017). Die Stärke der afghanischen Nationalarmee (Afghan National Army - ANA) und der afghanischen Nationalpolizei (Afghan National Police - ANP), sowie die

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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