Entscheidungsdatum
19.06.2018Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
L521 2188361-1/6E
Schriftliche Ausfertigung des am 25.05.2018 mündlich verkündeten Erkenntnisses
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter MMag. Mathias KOPF, LL.M. über die Beschwerde von XXXX, geb. XXXX, Staatsangehörigkeit Türkei, vertreten durch Dr. Lennart Binder, LL.M., Rechtsanwalt in 1030 Wien, Rochusgasse 2/12, sowie MigrantInnenverein St. Marx, 1090 Wien, Pulverturmgasse 4/2/R1, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 30.01.2018, Zl. 10542413508-150206582, nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 25.05.2018 zu Recht erkannt:
A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer stellte im Gefolge seiner aufgrund eines von der deutschen Botschaft in Ankara am 16.02.2015 ausgestellten Visums
C rechtmäßigen Einreise in das Bundesgebiet am 24.02.2015 vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes einen Antrag auf internationalen Schutz.
2. Im Rahmen der niederschriftlichen Erstbefragung am Tag der Antragstellung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Polizeiinspektion Traiskirchen EAST gab der Beschwerdeführer an, den Namen XXXX zu führen und Staatsangehöriger der Türkei zu sein. Er sei am XXXX in Istanbul geboren und habe dort zuletzt auch gelebt, Angehöriger der ethno-religiösen Gruppe der Assyrer und des orthodoxen Glaubens sowie ledig. Seine Eltern, vier Schwestern und ein Bruder seien im Irak oder in einem anderen Drittstaat aufhältig. Ein Cousin befinde sich in Österreich. Er habe von 1997 bis 2005 die Grundschule und von 2005 bis 2007 eine allgemein bildende höhere Schule - jeweils in Istanbul - besucht. Zuletzt sei er als Angestellter bei einem Goldschmied tätig gewesen.
Im Hinblick auf seinen Reiseweg brachte der Beschwerdeführer zusammengefasst vor, die Türkei von Istanbul ausgehend auf dem Luftweg legal mit einem Touristenvisum nach Österreich verlassen zu haben.
Zu den Gründen der Ausreise befragt, führte der Beschwerdeführer aus, am 08.07.2009 in Istanbul eine Person in Notwehr getötet zu haben. Diese Person habe damals einen Freund von ihm vergewaltigen wollen. Aufgrund einer gerichtlichen Anordnung sei er nach sieben Monaten und zehn Tagen freigelassen worden. Anschließend habe er seinen fünfzehnmonatigen Wehrdienst bei der türkischen Armee abgeleistet. Danach hätten die Angehörigen des Getöteten begonnen, ihn mit dem Umbringen zu bedrohen. Aus Angst vor Blutrache habe er eineinhalb Jahre im Irak, eineinhalb Monate in Zypern und zum Schluss etwa zwanzig Tage in Bulgarien untertauchen müssen, weil die Familie des Getöteten einer mächtigen Sippe angehöre. Während seiner Haft habe sein Vater eine Anzeige bei der türkischen Staatsanwaltschaft erstattet. Es sei ihnen mitgeteilt worden, dass man ihn erst beschützen könne, nachdem etwas passiert sei. Auch seine Familie habe während seiner Haft aus Istanbul nach XXXX ziehen müssen, um zur Ruhe zu kommen. Bei einer Rückkehr in die Türkei sei sein Leben in Gefahr.
Des Weiteren wurden vom Beschwerdeführer im Verlauf des Verfahrens ein türkischer Reisepass im Original , ein von den deutschen Behörden ausgestelltes Visum C (Reisevisum) im Original, ein österreichischer Reisepass seines im Bundesgebiet lebenden Cousins in Kopie und ein türkisches Gerichtsurteil in Kopie in Vorlage gebracht.
3. Am 27.02.2015 bestätigte der Beschwerdeführer mit seiner Unterschrift den Erhalt der Mitteilung des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gemäß § 29 Absatz 3 Z 4 AsylG vom 26.02.2015, wonach beabsichtigt sei, seinen Antrag auf internationalen Schutz zurückzuweisen, da Konsultationen mit der Bunderepublik Deutschland geführt würden.
4. Mit Telefax vom 06.03.2015 brachte die rechtfreundliche Vertertung des Beschwerdeführers die Vollmachtsbekanntgabe des Dr. Lennart Binder, LL.M., Rechtsanwalt in 1030 Wien, sowie des MigrantInnenverein St. Marx beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ein.
5. Am 11.04.2015 richtete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl an die Bunderepublik Deutschland ein Ersuchen um Aufnahme des Beschwerdeführers gemäß Artikel 12 Absatz 2 der Verordnung (EU) 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (nachfolgend Dublin III-Verordnung), welches am selben Tag elektronisch über DubliNET übermittelt wurde.
6. Mit Schreiben vom 28.05.2015 teilten die deutschen Asylbehörden mit, dass dem Übernahmeersuchen vom 11.04.2015 gemäß Artikel 12 Absatz 2 Dublin III-Verordnung entsprochen wird.
7. Im Rahmen einer niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 23.10.2015 brachte der Beschwerdeführer, in Anwesenheit eines Rechtsberaters und einer geeigneten Dolmetscherin in türkischer Sprache nach durchgeführter Rechtsberatung, im Wesentlichen vor, er fühle sich körperlich und geistig in der Lage, die Befragung zu absolvieren. Er sei seit zwei oder drei Monaten in psychiatrischer Behandlung. In Österreich befänden sich drei Onkel und mehrere Cousins und Cousinen. Er wohne derzeit bei einem Onkel, welcher ihn auch finanziell unterstütze. Des Weiteren überweise ihm seine Familie Geld nach Österreich.
Er wolle nicht nach Deutschland, da sich alle seine Verwandten in Österreich befänden. Zudem sei er seit zwei bis drei Monaten in psychiatrischer Behandlung.
Er beherrsche ein wenig Deutsch und lerne die Spache mit Hilfe seiner Verwandten und über das Internet.
Im Rahmen der Einvernahme legte der Beschwerdeführer österreichische Unterlagen bezüglich der psychiatrischen Betreuung im Original vor.
8. Mit dem Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 30.10.2015 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz ohne in die Sache einzutreten gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen und ausgesprochen, dass die Bunderepublik Deutschland gemäß Artikel 12 Absatz 2 Dublin III-Verordnung für die Prüfung des Antrages zuständig sei (Spruchpunkt I.). Gleichzeitig wurde gegen den Beschwerdeführer gemäß § 61 Absatz 1 FPG die Außerlandesbringung angeordnet und festgestellt, dass demzufolge gemäß § 61 Absatz 2 FPG eine Abschiebung in die Bunderepublik Deutschland zulässig sei (Spruchpunkt II.).
9. Gegen diesen Bescheid richtete sich eine im Wege der rechtsfreundlichen Vertretung mit Telefax vom 17.11.2015 fristgerecht eingebrachte Beschwerde.
10. Die Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 19.01.2016 gemäß § 22 Absatz 12 AsylG 2005 als verspätet zurückgewiesen.
11. Mit Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs vom 22.09.2016 wurde die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 19.01.2016 aufgehoben, weil der Beschwerdeführer durch diese Entscheidung wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in seinen Rechten verletzt wurde.
12. In dem fortgesetzten Verfahren wurde sodann mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 30.11.2016 der Beschwerde gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 30.10.2015 gemäß § 21 Absatz 3 BFA-VG stattgegeben, der Asylantrag zugelassen und der bekämpfte Bescheid behoben.
13. Nach Zulassung des Verfahrens am 28.12.2016 wurde der Beschwerdeführer am 01.06.2017 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Wien, im Beisein eines geeigneten Dolmetschers und der rechtsfreundlichen Vertretung in türkischer Sprache niederschriftlich von dem zur Entscheidung berufenen Organwalter einvernommen.
Eingangs bestätigte der Beschwerdeführer, bis dato der Wahrheit entsprechende Angaben gemacht zu haben.
Zur Person befragt gab der Beschwerdeführer an, den Namen XXXX zu führen und Staatsangehöriger der Türkei zu sein. Er sei am XXXX in Istanbul geboren und habe dort zuletzt auch bis 2009 gelebt, Staatsangehöriger der Türkei, Angehöriger der ethno-religiösen Gruppe der Assyrer und des syrisch-orthodoxen Glaubens, ledig und kinderlos. Seine Eltern, ein Bruder und eine Schwester befänden sich in XXXX. Drei Schwestern seien in Istanbul und eine Schwester in Australien aufhältig. Sein Vater beziehe eine Pension und lukriere Mieteinnahmen. Er stehe mit seinen Eltern einmal pro Monat und mit seinen Geschwistern einmal pro Woche in Kontakt. Zudem seien zahlreiche weitere Verwandte (Onkel, Tanten, Cousins, Cousinen, Großmutter väterlicherseits, Großvater mütterlicherseits) in der Türkei und drei Onkel und Cousins in Österreich wohnhaft. Er habe acht Jahre die Gesamtschule (Volks- und Hauptschule) und zwei Jahre ein Gymnasium besucht. Anschließend sei er drei Jahre in einem Juweiliergeschäft tätig gewesen.
Ferner wurden dem Beschwerdeführer Fragen bezüglich seines Privat- und Familienlebens in Österreich gestellt.
Anschließend legte der Beschwerdeführer dar, dass er einen Freund vor einer Vergewaltigung gerettet hätte, wobei aber der Täter ums Leben gekommen sei. Dieser habe sie mit einer Waffe bedroht. Er habe aus der Küche ein Messer genommen, um den Mann zu erschrecken, diesen aber hiebei unabsichtlich erstochen. Er sei zu einer dreißigmonatigen Haftstrafe verurteilt worden, aber nach sieben Monaten und zehn Tagen aus dem Gefängnis entlassen worden.
Zum Ausreisegrund befragt gab der Beschwerdeführer an, dass er aufgrund dieses Vorfalles in Gefahr sei. Man habe ihn auch bedroht. Die andere Seite sei ein großer Clan gewesen. Er habe die Gegenseite durch die Beantragung eines Visums für Deutschland täuschen wollen, aber in Wirklichkeit sei er nach Österreich, zumal er hier über Verwandte verfüge. Er habe seit drei Jahren kein Facebook und keinen Kontakt zu Freunden. Außer seiner Familie wisse niemand, dass er hier sei. Sein Vater sei bei der Polizei und dann bei der Staatsanwaltschaft gewesen. Nach dem Militärdienst hätte er wieder Drohungen erhalten. Wenn er bei der Polizei eine Anzeige machen habe wollen, habe man gesehen, dass er Christ sei und seine Anzeigen nicht ernst genommen.
Des Weiteren habe er wegen seiner Religionszugehörigkeit keine Lebenssicherheit besessen. Er habe aus diesem Grund keinen Schutz von den staatlichen Behörden erhalten.
Nachgefragt zu Details bezüglich dieser Vorfälle gab der Beschwerdeführer an, er habe den Mann am 06.07.2009 erstochen. Er sei am nächsten Tag selbst zu den Behörden gegangen. Etwa im April 2010 sei er aus der Haft entlassen worden und im Mai 2010 habe er mit dem Militärdienst begonnen. Er habe die getötete Person nicht so gut gekannt, aber diese hätte ihn zu einem Fußballverein transferieren sollen. Eines Tages habe er von ihr einen Anruf erhalten, wobei auch sein Freund anwesend gewesen sei. Die Person habe ihn aufgefordert, zu ihr nach Hause zu kommen, um über den Transfer zu reden. Er habe gedacht, dass diese Person ein Fußballmanager wäre. Erst nach der Entlassung aus dem Gefängnis hätte er mehr über diesen Mann erfahren. Die Brüder des Getöteten seien wegen Menschenhandels, Drogenverkauf und Prostitution im Gefängnis gewesen. Er würde auch die Neffen des Getöteten kennen, da sie in seinem Wohnviertel in Istanbul gelebt hätten. Nachdem er in das Gefängnis gegangen sei, hätten seine Eltern Istanbul verlassen. Sein Bruder sei bereits vorher weggegangen. Seine Eltern und sein Bruder hätten zwei- oder dreimal über Verwandte und Bekannte Drohungen erhalten. Er selbst sei zwei Wochen vor seiner Einreise in Österreich mit einer Waffe bedroht worden. Man habe auf ihn gezielt, aber nicht getroffen.
Nachgefragt zu Details bezüglich der zuletzten geschilderten Bedrohung mit einer Waffe führte der Beschwerdeführer aus, dass er sich in Istanbul mit einem Freund getroffen hätte. Die Brüder des Verstorbenen und sein Freund hätten vereinbart, dass ihn dieser nach Tepeüstü bringe. Sein Freund habe etwas in einem Geschäft für Mobiltelefone kaufen wollen. Er hätte im Fahrzeug gewartet. Der Besitzer des Geschäfts sei mit den Brüdern verwandt gewesen. Die Brüder seien vor dem Fahrzeug gestanden und ein vor dem Geschäft stehender Bus habe eine Aufnahme durch die am Geschäft befindliche Kamera verhindert. Die Brüder hätten mit der Waffe auf ihn gezielt. Er sei dann ausgestiegen und weggelaufen. Man habe ihn aufgrund der vielen Kameras nicht auf der Straße erschießen wollen. Es sei kein Schuss gefallen. Er sei dann zu der nächsten Straße geflüchtet und dort mit einem Taxi weggefahren. Die Brüder seien ihm nicht nachgerannt. Diese haben alles geplant gehabt und er hätte diesen Plan zerstört. Nach diesem Vorfall habe er das Haus zwei Wochen nicht verlassen.
Des Weiteren wurden dem Beschwerdeführer Fragen bezüglich seiner Religionszugehörigkeit gestellt und weshalb er im Jahr 2015 nach Istanbul zurückgekehrt sei.
Bei einer Rückkehr habe er Angst um sein Leben. Man wolle ihn töten. Er habe versucht, in Antalya zu leben. Dies habe aber nicht funktioniert, zumal immer wieder Bekannte dorthin gekommen seien, die ihn identifizieren könnten. In der Türkei gebe es 31 Provinzen und viele Personen, die sich untereinander kennen würden. 2009 sei er im Fernsehen und in der Zeitung gewesen. Es sei sogar ein Foto veröffentlicht worden.
Im Rahmen der Einvernahme legte der Beschwerdeführer unter anderem einen türkischen Personalausweis, einen irakischen Aufenthaltstitel, eine österreichische Bestätigung über die Zugehörigkeit zur syrisch-orthodoxen Kirche, eine türkische Strafanzeige, ein türkisches Gerichtsprotokoll und erneut das türkische Gerichturteil vor.
Im Übrigen wurden dem Beschwerdeführer bzw. dessen rechtfreundlicher Vertretung die aktuellen landeskundlichen Feststellungen zur Türkei ausgefolgt und eine Stellungnahme bis zum 15.06.2017 hiezu freigestellt.
14. Mit Schreiben vom 13.06.2017 langte im Wege der rechtsfreundlichen Vertretung eine schriftliche Stellungnahme des Beschwerdeführers beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zu den aktuellen länderkundlichen Feststellungen zur Türkei ein. Im Besonderen legte der Beschwerdeführer dar, dass nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs auch von privaten Personen oder Gruppierungen ausgehender Verfolgung asylrechtliche Relevanz zukomme, wenn der Staat nicht in der Lage oder gewillt sei, Schutz zu gewähren. Zum jetzigen Zeitpunkt bestünden in der Türkei weder ein ausreichend funktionierender Justizapparat bzw. seien staatliche Akteure aller drei Gewalten häufig nicht in der Lage - oder aufgrund konservativer Wertvorstellungen nicht gewillt -, Menschenrechte zu schützen.
Des Weiteren wurde ausgeführt, dass der Länderbericht den speziellen Fall des Beschwerdeführers nicht einmal ansatzweise behandle, weshalb beantragt wurde, die Staatendokumentation zu beauftragen, sich mit der Situation des Beschwerdeführers zu befassen und Ermittlungen durchzuführen.
Unter Verweis auf einige Medienberichte wurde auch festgehalten, dass die Familie des Getöteten aus Mardin stamme. Diese Region sei für seine Clans, Ehrenmorde und Blutrachen bekannt. Der Beschwerdeführer sei aufgrund seiner Religionszugehörigkeit spezifisch und persönlich in Gefahr, Opfer der türkischen Sicherheitskräfte zu werden.
Der Beschwerdeführer habe seine Fluchtgründe in ausführlicher, konkreter und konsistenter Weise geschildert.
Für den Fall der Abschiebung bestehe aufgrund der ausgesprochen schlechten Sicherheitslage die reale Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung.
Hinischtlich des Privat- und Familienlebens wurde festgehalten, dass sich der Beschwerdeführer in Österreich intensiv um eine Integration bemühe, die deutsche Sprache bereits in beeindruckendem Ausmaß erlerne und soziale Kontakte geknüpft habe. Ferner sei er arbeitsfähig und -willig, unbescholten und wäre im Falle der Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung keinesfalls eine Belastung für die Gebietskörperschaft.
15. Mit dem im Spruch bezeichneten Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 30.01.2018 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Z 13 AsylG 2005 wurde sein Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei ebenso abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Absatz 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Absatz 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Absatz 9 FPG festgestellt, dass dessen Abschiebung in die Türkei gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkte IV. und V.). Gemäß § 55 Absatz 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.).
Begründend führte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl - soweit für das Beschwerdeverfahren von Relevanz - nach der Wiedergabe der Einvernahmen des Beschwerdeführers und den Feststellungen zu dessen Person insbesondere aus, es habe nicht festgestellt werden können, dass der Beschwerdeführer einer Gefährdung oder Verfolgung im Herkunftsland ausgesetzt gewesen sei oder im Falle seiner Rückkehr ausgesetzt wäre. Er habe in der Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl keine asylrelevante Verfolgung glaubhaft machen können. Der Beschwerdeführer sei gesund, arbeitswillig, im arbeitsfähigen Alter, habe eine langjährige Schulausbildung in der Türkei genossen und beherrsche die türkische Sprache in Wort und Schrift. Er verfüge nach wie vor über Familienangehörige (Eltern, einen Bruder und drei Schwestern) in der Türkei, habe nach seiner Schulausbildung gearbeitet und sich sein Leben in der Türkei finanzieren können. Es habe somit ebenso wenig festgestellt werden können, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr in die Türkei in eine bedrohliche Situation geraten werde. Die dortige allgemeine Sicherheitslage sei nicht so schlecht, dass eine Rückkehr als generell unmöglich einzustufen wäre. Die Versorgung mit den Dingen des täglichen Bedarfs sei ebenfalls gegeben. Es würden insoweit keine weiteren Anhaltspunkte vorliegen, dass er nach der Rückkehr in eine ausweglose Situation geraten könnte. Aufgrund der genannten Umstände sei in einer Gesamtschau davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer bei seiner Rückkehr in die Türkei nicht in eine Notlage entsprechend Artikel 2 bzw. Artikel 3 EMRK gelange. Was das Privat- und Familienleben betrifft, so wurde festgestellt, dass der Beschwerdeführer in Österreich - abgesehen von einer Schwester und deren Familie (Ehepartner, Sohn und Tochter) - über keine Familienangehörigen verfüge, wobei es sich bei diesen ebenfalls um Asylwerber handle. Des Weiteren habe der Beschwerdeführer in Österreich drei Onkel und mehrere Cousins, wobei ein enges Verhältnis zu diesen nicht behauptet worden sei. Ein schützenswertes Familienleben im Sinne des Artikel 8 EMRK liege daher nicht vor. Der Beschwerdeführer sei laut seinen Angaben im Februar 2015 illegal in das österreichische Bundesgebiet eingereist und erst seit einem kurzen Zeitraum im Bundesgebiet. Er spreche etwas Deutsch, gehe keiner legalen Erwerbstätigkeit nach und führe in Österreich weder ein Familienleben noch eine Lebensgemeinschaft. Er gehöre in Österreich keinem Verein bzw. keiner sonstigen Organisation an und habe kein nennenswertes soziales Netz. Er stehe in keinem Abhängigkeitsverhältnis zu irgendwelchen Personen, sei Mitglied der syrisch-orthodoxen Kirche in Österreich und verfüge in seinem Herkunftsstaat über Familienangehörige. Es bestehe kein entsprechendes Privat- und Familienleben oder eine maßgebliche integrative Bindung zu Österreich.
Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl legte seiner Entscheidung aktuelle Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers zugrunde (vgl. die Seiten 12 bis 80 des angefochtenen Bescheides).
In der rechtlichen Beurteilung wird begründend dargelegt, warum der seitens des Beschwerdeführers vorgebrachte Sachverhalt keine Grundlage für eine Subsumierung unter den Tatbestand des § 3 AsylG 2005 biete und warum auch nicht vom Vorliegen einer Gefahr im Sinne des § 8 Absatz 1 AsylG 2005 ausgegangen werden könne. Zudem wurde ausgeführt, warum ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt wurde, weshalb gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt wurde, dass die Abschiebung in die Türkei zulässig sei.
16. Mit Verfahrensanordnung des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 30.01.2018 wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG amtswegig ein Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt und der Beschwerdeführer ferner mit Verfahrensanordnung des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 30.01.2018 gemäß § 52a Abs. 2 BFA-VG darüber informiert, dass er verpflichtet sei, ein Rückkehrberatungsgespräch in Anspruch zu nehmen.
17. Gegen den der bevollmächtigten Rechtvertretung am 02.02.2018 zugestellten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 30.01.2018 richtet sich die im Wege der bevollmächtigten Rechtsvertretung fristgerecht eingebrachte Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht.
In dieser werden unrichtige Feststellungen, Mangelhaftigkeit des Verfahrens und unrichtige rechtliche Beurteilung des angefochtenen Bescheids moniert und beantragt, dem Beschwerdeführer die Flüchtlingseigenschaft zuzusprechen, allenfalls subsidiären Schutz zu gewähren, einen landeskundigen Sachverständigen zu beauftragen, der sich mit der aktuellen Situation in der Türkei befasse, eine mündliche Beschwerdeverhandlung anzuberaumen, in der der Beschwerdeführer die vorgeworfene Kritik an seinem Vorbringen widerlegen könne, allenfalls eine Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig zu erklären, allenfalls einen Aufenthaltstitel aus besonders berücksichtigungswürdigen Gründen zu erteilen und allenfalls festzustellen, dass die Abschiebung in die Türkei unzulässig sei.
In der Sache bringt der Beschwerdeführer im Wesentlichen vor, aus Gründen der Blutrache, somit wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe - nämlich der Gruppe der "Familie" -, sowie wegen religiösen Gründen verfolgt worden zu sein. Mangels Schutzfähigkeit und -wiligkeit der türkischen Behörden habe der Beschwerdeführer nach Österreich flüchten müssen.
Im Hinblick auf die Beweiswürdigung sei zu entgegnen, dass der Beschwerdeführer die fluchtauslösenden Ereignisse durchaus nachvollziehbar - mit einer ausführlichen und konkreten Schilderung von Details, wie Zeit- und Ortsangaben oder Wahrnehmungen und Emotionen - dargestellt habe.
Durch die Vorgehensweise der belangten Behörde, dem Beschwerdefüher von vornherein die Glaubwürdigkeit abzusprechen, aus Gründen die sich jeglichem Verständnis entziehen, entstehe der Eindruck, dass sein Fall nicht objektiv beurteilt worden sei, sondern das Bundesamt in der Beweiswürdigung lediglich seine bereits vorgefasste Meinung ausgeführt habe. Die Behauptungen der belangten Behörde würden auch umso mehr verwundern, als die Länderberichte die zunehmende Eskalation in der Türkei belegen würden.
Der Beschwerdefüher habe eine konkrete individuelle Verfolgung vorgebracht und habe er bereits konkrete Verfogungshandlungen erlitten, die ihn in seiner Sicherheit erschüttert hätten. Auch habe der Beschwerdeführer in der Türkei keine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung.
Die Befürchtungen des Beschwerdeführers seien daher nicht spekulativ, sondern realistisch und würden durch die Länderberichte bestätigt werden. Der Beschwerdeführer sei daher durchaus gegen ihn gerichteten Verfolgungshandlungen ausgesetzt gewesen und er befürchte zu Recht, bei einem Verbleib in der Türkei verfolgt zu werden.
Zur Asylrelevanz der Verfolgung des Beschwerdeführers sei festzustellen, dass nach ständiger Judikatur auch einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden Verfolgung Asylrelevanz zukommen könne, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage sei, diese Verfolgungshandlungen zu unterbinden.
Die allgemeine Situation in der Türkei sei weiterhin und möglicherweise verschärft massiv instabil, sodass eine Abschiebung des Beschwerdeführers unverantwortlich sei. Auch in Hinblick auf die verschiedenen Vorfälle im Rahmen des Putschversuches. Der Beschwerdeführer unterliege im gesamten Staatsgebiet asylrelevanter Verfolgung, da die türkischen Behörden zumindest nicht fähig, möglicherweis auch nicht willig seien, ihre Bürger zu beschützen.
Zur allfälligen Gewährung subsidiären Schutzes sei festzustellen, dass auch die allgemeine Sicherheitslage in der Türkei eine Rückkehr nicht zulasse.
Was das Privat- und Familienleben in Österreich betrifft, so habe der Beschwerdeführer die deutsche Sprache in Eigeninitiative bereits gut erlernt und könne er sich im Alltag verständigen. Des Weiteren sei er in ein Familienleben eingebunden, dass ihm Ruhe und Sicherheit gebe. Der Beschwerdeführer sei arbeitsfähig und -willig und wäre im Falle einer Zuerkennung eines Aufenthaltstitels sicher keine Last der Gebietskörperschaft.
Die Beweiswürdigung des Bundesamtes habe sich im Wesentlichen auf das Zitieren vorgeformter, formelhafter Textbausteine, denen jeglicher Begründungswert fehle, beschränkt.
Abschließend stelle es eine Mangelhaftigkeit des Verfahrens dar, dass es die belangte Behörde verabsäumt habe, sich mit der konkreten Situation des Beschwerdeführers und der aktuellen Situation in der Türkei auseinanderzusetzen. Die Verpflichtung, ein amtswegiges Ermittlungsverfahren durchzuführen, bedeute, dass die konkrete und aktuelle Situation untersucht werde. Dies sei in diesem Fall verabsäumt worden, insbesondere dadurch, dass der belangten Behörde als Spezialbehörde ausreichend Material vorliegen müsste, aus dem die Verfolgungssituation erkennbar sei.
18. Die Beschwerdevorlage langte am 07.03.2018 beim Bundesverwaltungsgericht ein. Die Rechtssache wurde in weiterer Folge der nun zur Entscheidung berufenen Abteilung des Bundesverwaltungsgerichts zugewiesen.
19. Mit Schreiben des Bundesverwaltungsgerichts vom 15.05.2018 wurden der rechtsfreundlichen Vertretung die aktuellen Länderdokumentationsunterlagen zur Türkei zur Wahrung des Parteiengehörs übermittelt und ihr bzw. dem Beschwerdeführer die Möglichkeit eingeräumt, dazu bis zum 24.05.2017 schriftlich bzw. in der Verhandlung mündlich Stellung zu nehmen.
20. Am 25.05.2018 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung im Beisein des Beschwerdeführers und einer Vertrauensperson sowie eines Dolmetschers für die türkische Sprache durchgeführt. Im Verlauf dieser Verhandlung wurde dem Beschwerdeführer einerseits Gelegenheit gegeben, neuerlich seine Ausreisemotivation umfassend darzulegen sowie die aktuelle Lageentwicklung in der Türkei anhand aktueller länderkundlicher Berichte erörtert, welche dem Beschwerdeführer bereits zuvor mit Schreiben vom 15.05.2018 zur Stellungnahme übermittelt wurden. Ferner wurde seitens des erkennenden Richters eine Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zur Lage von Christen in der Türkei vom 26.01.2018 verlesen, als Beilage zur Verhandlungsschrift genommen und dem Beschwerdeführer Gelegenheit gegeben, hiezu eine Stellungnahme abzugeben. Schließlich wurden eine Gewerbeanmeldung vom 01.12.2017, ein Leihwagenvertrag, eine XXXXPartner-Vereinbarung vom 29.11.2017 und eine von der Erzdiözese der Syrisch-Orthodoxen Kirche von Antiochien in der Schweiz und Österreich ausgestellte Taufurkunde vorgelegt.
Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ist der mündlichen Verhandlung entschuldigt ferngeblieben.
Im Anschluss an die mündliche Verhandlung wurde das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts verkündet.
21. Mit Schriftsatz vom 28.05.2018 begehrte der Beschwerdeführer die schriftliche Ausfertigung des in der Verhandlung mündlich verkündeten Erkenntnisses.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Verfahrensbestimmungen
Gemäß § 27 des Bundesgesetzes über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz - VwGVG), BGBl. I 33/2013 idF BGBl. I Nr. 138/2017, hat das Verwaltungsgericht, soweit es nicht Rechtswidrigkeit wegen Unzuständigkeit der Behörde gegeben findet, den angefochtenen Bescheid, die angefochtene Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt und die angefochtene Weisung auf Grund der Beschwerde (§ 9 Abs. 1 Z 3 und 4 VwGVG) oder auf Grund der Erklärung über den Umfang der Anfechtung (§ 9 Abs. 3 VwGVG) zu überprüfen.
Gemäß § 28 Absatz 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen.
Gemäß § 28 Absatz 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.
2. Feststellungen:
2.1. Der Beschwerdeführer führt den im Spruch angegebenen Namen, ist Staatsangehöriger der Türkei, gehört der ethno-religiösen Gruppe der Assyrer an und bekennt sich zum syrisch-orthodoxen Glauben. Er ist ledig und kinderlos. Der Beschwerdeführer beherrscht Türkisch in Wort und Schrift und spricht etwas Kurmanci.
Der Beschwerdeführer wurde am XXXX in Istanbul geboren und wuchs dort auf. Er besuchte in den Jahren 1997 bis 2007 die Grundschule und ein Lyzeum. Im Anschluss an den Schulbesuch trat der Beschwerdeführer in das Erwerbsleben ein und arbeitete bei einem Juwelier in Istanbul bis zur Inhaftierung im Jahr 2009.
In den Jahren 2009 und 2010 verbrachte der Beschwerdeführer siebeneinhalb Monate in Istanbul in Haft. Anschließend leistete er in den Jahren 2010 und 2011 seinen Wehrdienst ab. Von 2011 bis zum Jahr 2014 hielt sich der Beschwerdeführer legal an verschiedenen Orten in der autonomen Region Kurdistan auf und ging dort einer Erwerbstätigkeit nach. Nach einem Aufenthalt von drei Monaten im türkischen Teil Zyperns im Jahr 2014 kehrte der Beschwerdeführer in die Türkei zurück, ebenso nach einem einmonatigen Aufenthalt in Bulgarien (der Beschwerdeführer erlangte dafür am 05.11.2014 in Istanbul ein bulgarisches Visum C, er beabsichtigte, illegal nach Österreich weiterzureisen, die Schleppung konnte jedoch nicht durchgeführt werden und kehrte er deshalb legal in die Türkei zurück), bis er zuletzt am 24.02.2015 seinen Herkunftsstaat legal unter Verwendung eines von der deutschen Botschaft in Ankara am 16.02.2015 ausgestellten Visums C im Luftweg verließ und mittels Direktflug nach Schwechat gelangte, wo er in der Folge einen Antrag auf internationalen Schutz stellte.
In der Zeit zwischen der Rückkehr aus dem Irak und der Ausreise am 24.02.2015 hielt sich der Beschwerdeführer wiederholt in der Türkei auf, etwa bei seinen Eltern in XXXX oder in Istanbul oder auch in Ankara, wo er sein Visum abholte.
In der Türkei leben die Eltern, der Bruder sowie drei der fünf Schwestern des Beschwerdeführers. Seine Eltern leben gemeinsam mit dem Bruder und einer Schwester in der Stadt XXXX in der gleichnamigen Provinz. Zwei Schwestern des Beschwerdeführers leben in Istanbul, eine in Australien und eine ist Asylwerberin in Österreich. Der Vater des Beschwerdeführers ist Pensionist und bezieht ein zusätzliches Einkommen aus der Vermietung von Immobilien und seine Mutter führt den Haushalt. Der Bruder des Beschwerdeführers arbeitet im Transportgewerbe und eine Schwester in einer Textilfabrik. Zwei Schwestern besuchen die Schule. Der Beschwerdeführer steht in Kontakt mit seinen Familienangehörigen im Herkunftsstaat. Darüber hinaus verfügt der Beschwerdeführer über weitere Verwandte im Herkunftsstaat, darunter seine Großmutter väterlicherseits und seinen Großvater mütterlicherseits sowie Onkel und Tanten, Cousinen und Cousins.
Der Beschwerdeführer wurde im Jahr 2009 in Istanbul zu einer Freiheitsstrafe von 30 Monaten verurteilt, da er im Zuge einer Nothilfehandlung am 06.07.2009 den Tod des XXXX verschuldete. Nach Verbüßung einer Haftstrafe von sieben Monaten und 10 Tagen sowie der Bezahlung einer Geldstrafe wurde er entlassen und der Rest von zwei Dritteln der verhängten Strafe bedingt nachgesehen.
2.2. Der Beschwerdeführer gehört keiner politischen Partei oder politisch aktiven Gruppierung an und hatte in seinem Herkunftsstaat keine Schwierigkeiten aufgrund seines Religionsbekenntnisses zu gewärtigen. Der Beschwerdeführer gehört nicht der Gülen-Bewegung an und war nicht in den versuchten Militärputsch in der Nacht vom 15.07.2016 auf den 16.07.2016 verstrickt.
Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer vor seiner Ausreise aus seinem Herkunftsstaat einer individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt durch staatliche Organe oder durch Dritte ausgesetzt war oder er im Falle einer Rückkehr dorthin einer solchen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt wäre.
Insbesondere kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer in seinem Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit durch Familienangehörige des von ihm Getöteten psychischer und/oder physischer Gewalt aus dem Motiv der Blutrache ausgesetzt ist. Ferner kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer aufgrund seiner Religionszugehörigkeit Defiziten beim Zugang zu staatlichem Schutz ausgesetzt ist.
Die türkischen Behörden sind willens und fähig, der Begehung von Gewaltverbrechen wirksam mit sicherheitsbehördlichen Maßnahmen sowie im Wege der Strafjustiz zu begegnen.
Dem Beschwerdeführer steht im Falle einer Rückkehr in die Türkei im Übrigen auch eine zumutbare und taugliche Aufenthaltsalternative in Großstädten wie Ankara, Izmir oder Adana oder in einer Touristenregion wie Antalya oder in XXXX zur Verfügung und er hat dort ebenfalls nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Übergriffe durch Familienangehörige der von ihm getöteten Person zu befürchten.
2.3. Dem Beschwerdeführer droht im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat nicht die Todesstrafe. Ebenso kann keine anderweitige individuelle Gefährdung des Beschwerdeführers festgestellt werden, insbesondere im Hinblick auf eine drohende unmenschliche Behandlung, Folter oder Strafe sowie kriegerische Ereignisse oder extremistische Anschläge in der Türkei.
2.4. Der Beschwerdeführer ist ein gesunder, arbeitsfähiger Mensch mit bestehenden Anknüpfungspunkten im Herkunftsstaat und einer - wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich - gesicherten Existenzgrundlage. Er verfügt über Berufserfahrung als Angestellter bei einem Juwelier und hat seinen Wehrdienst bereits abgeleistet. Dem Beschwerdeführer ist die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zur Sicherstellung seines Auskommens möglich und zumutbar. Ihm steht im Falle einer Rückkehr in die Türkei auch eine zumutbare und taugliche Aufenthaltsalternative in Großstädten wie Istanbul, Izmir oder Adana oder in einer Touristenregion wie Antalya, zur Verfügung, zumal in der Türkei Niederlassungsfreiheit herrscht und er insbesondere in Istanbul über familiäre Anknüpfungspunkte verfügt.
Der Beschwerdeführer verfügt über ein türkisches Ausweisdokument (Reisepass) im Original.
2.5. Der Beschwerdeführer hält sich seit dem 24.02.2015 in Österreich auf. Er reiste rechtsmäßig in Österreich ein, ist seither Asylwerber und verfügt über keinen anderen Aufenthaltstitel.
Der Beschwerdeführer ist alleinstehend und pflegt normale soziale Kontakte, vorwiegend zu seinen hier aufhältigen Verwandten. Im Bundesgebiet halten sich drei Onkel des Beschwerdeführers mit deren Familien auf, sie sind den Angaben des Beschwerdeführers zufolge österreichische Staatsbürger. Der Beschwerdeführer lebt seit dem 11.06.2015 unentgeltlich bei seinem Onkel XXXX und dessen Familie in Wien. Der Beschwerdeführer steht außerdem in Kontakt mit seinen zwei weiteren Onkeln und auch seiner Schwester sowie seinen Cousins, zumal sämtliche Familienangehörige im 21. Bezirk in Wien wohnhaft sind. Das Asylverfahren seiner Schwester XXXX, wurde am 20.07.2017 zugelassen und ist seither beim Bundesamt anhänig.
Der Beschwerdeführer engagiert sich bei der syrisch-orthodoxen Kirche von Antiochien in Wien, wurde dort am 09.03.2016 getauft und nimmt dort an pfarrlichen Aktivitäten teil und besucht das dortige Jugendzentrum sowie den Gottesdienst. Er unterstützte außerdem Bewohner eines Altersheims bei Übersiedelungen.
Der Beschwerdeführer bezog seit der Einreise bis zum 31.01.2018 (in unterschiedlicher Höhe) Leistungen der staatlichen Grundversorgung für Asylwerber. Seit dem 01.12.2017 übt er am Standort XXXX, das Gewerbe der Güterbeförderung mit Kraftfahrzeugen oder Kraftfahrzeugen mit Anhängern, deren höchst zulässiges Gesamtgewicht insgesamt 3.500 kg nicht übersteigt, aus. Zuvor war der Beschwerdeführer nicht erwerbstätig. Er bringt mit seiner Erwerbstätigkeit eigenen Angaben zufolge derzeit ca. EUR 900,00 bis 1000,00 netto monatlich ins Verdienen. Der Beschwerdeführer hat einen Leihwagenvertrag und eine "Partner-Vereinbarung" mit der XXXX GmbH (die Verwandten des Beschwerdeführers gehört) abgeschlossen und bezieht auf diesem Wege seine Aufträge als Kraftfahrer, die er mit einem gemieteten Renault Master verrichtet. Er kann auch auf andere Fahrzeuge dieses Unternehmens zurückgreifen.
Der Beschwerdeführer besuchte keine sprachlichen Qualifizierungsmaßnahmen zum Erwerb der deutschen Sprache und hat keine Prüfungen abgelegt. Er beherrscht die deutsche Sprache erst in geringem Ausmaß. Anderweitige Integrationsschritte hat der Beschwerdeführer ebenfalls nicht ergriffen.
2.6. Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafrechtlich unbescholten. Sein Aufenthalt war nie nach § 46a Abs. 1 Z 1 oder Abs. 1a FPG geduldet. Sein Aufenthalt ist nicht zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig. Er wurde nicht Opfer von Gewalt im Sinn der §§ 382b oder 382e EO.
2.7. Zur Lage im Herkunftsstaat Türkei werden folgende Feststellungen unter Heranziehung der abgekürzt zitierten und dem Beschwerdeführer offengelegten Quellen getroffen:
1. Neueste Ereignisse - Kurzinformationen
KI vom 18.4.2018, Bericht der Europäischen Kommission zur Türkei
Die Europäische Kommission (EK) veröffentlichte am 17.4.2018 ihren Länderbericht zur Türkei. Darin anerkennt laut Kommission die EU zwar, dass die Türkei angesichts der Putschversuches rasch und angemessen handeln musste, gleichzeitig zeigt sich die EU angesichts des umfassenden und kollektiven Charakters bzw. die Unverhältnismäßigkeit der Maßnahmen besorgt, die seit dem Putschversuch ergriffen wurden. Hierzu gehören etwa die weit verbreiteten Entlassungen, Verhaftungen und Festnahmen. Die Türkei sollte den Ausnahmezustand unverzüglich aufheben. Gravierende Mängel betreffen laut Bericht die bisher 31 Notstandsdekrete. Sie wurden nicht einer sorgfältigen und wirksamen Kontrolle durch das Parlament unterzogen, wodurch sie der gerichtlichen Überprüfung entzogen sind. Keines der Notstandsdekrete war bisher Gegenstand einer Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes. Diese Notverordnungen haben insbesondere bestimmte bürgerliche und politische Rechte, einschließlich der Meinungs-und Versammlungsfreiheit sowie der Verfahrensrechte, eingeschränkt. Sie haben zudem wichtige bestehende Rechtsakte geändert, die auch nach der Aufhebung des Ausnahmezustands nach Meinung der EK ihre Wirkung behalten werden. Die Zivilgesellschaft ist zunehmend unter Druck geraten, insbesondere angesichts einer großen Zahl von Verhaftungen von Aktivisten, einschließlich Menschenrechtsverteidigern, und der wiederholten Anwendung von Demonstrationsverboten, was zu einer raschen Einengung der Grundrechte und -freiheiten geführt hat. Das türkische Justizsystem ist von weiteren gravierenden Rückschlägen, insbesondere im Hinblick auf die Unabhängigkeit der Justiz, geprägt. Die Verfassungsänderungen bezüglich des Rates der Richter und Staatsanwälte (CJP) haben dessen Unabhängigkeit von der Exekutive weiter untergraben. Die CJP setzte die großangelegte Suspendierung und Versetzung von Richtern und Staatsanwälten fort. Auch in den Bereichen Versammlungs-und Vereinigungsfreiheit, Verfahrens-und Eigentumsrechte gab es gravierende Rückschläge. Die Situation in Bezug auf die Verhütung von Folter und Misshandlung gibt weiterhin Anlass zu ernster Besorgnis. In mehreren glaubwürdigen Berichten von Menschenrechtsorganisationen, so die EK, wird behauptet, dass die Aufhebung wichtiger Schutzmaßnahmen durch die Notverordnungen die Gefahr der Straffreiheit für die Täter solcher Verbrechen erhöht und zu einer Zunahme der Fälle von Folter und Misshandlung in Haft geführt hat. Diesbezügliche Klagen bergen angeblich das Risiko von Repressalien. Die Notstandsdekrete brachten zusätzliche Einschränkungen der Verfahrensrechte, einschließlich der Rechte der Verteidigung, mit sich. Die Ernennung von Treuhändern als Ersatz für kommunale Führungskräfte und gewählte Vertreter, hauptsächlich in Gemeinden mit kurdischer Mehrheit, führte zu einer erheblichen Schwächung der lokalen Demokratie. Die Sicherheitslage im Südosten ist weiterhin angespannt, wobei 2017 weniger die urbanen denn die ländlichen Gebiete betroffen waren. Die Situation der Binnenvertriebenen hat sich infolge der Gewalt im Südosten nur unwesentlich verbessert. Nur ein kleiner Prozentsatz von ihnen hat neue Unterkünfte erhalten (EC 17.4.2018). In einer Reaktion auf den Bericht teilte das türkische Außenministerium mit, dass die EK Unwillens sei, die Schwierigkeiten zu verstehen, mit denen das Land konfrontiert ist, weshalb die Kommission nicht in der Lage sei, objektiv und ausgewogen zu sein (MFA 18.4.2018).
KI vom 5.3.2018, UN-Sonderberichterstatter für Folter zu Foltervorwürfen und Verhalten der Regierung
Der UN-Sonderberichterstatter für Folter, Nils Melzer, äußerte ernste Besorgnis über die zunehmenden Vorwürfe von Folter und anderer Misshandlungen im Polizeigewahrsam seit Ende seines offiziellen Besuchs im Dezember 2016. Melzer zeigte sich beunruhigt angesichts der Behauptungen, dass eine große Anzahl von Personen, die im Verdacht stehen, Verbindungen zur Gülen-Bewegung oder zur bewaffneten Arbeiterpartei Kurdistans zu haben, brutalen Verhörmethoden ausgesetzt sind, die darauf abzielen, erzwungene Geständnisse zu erwirken oder Häftlinge zu zwingen, andere zu belasten. Zu den Missbrauchsfällen gehören schwere Schläge, Elektroschocks, Übergießen mit eisigem Wasser, Schlafentzug, Drohungen, Beleidigungen und sexuelle Übergriffe. Der Sonderberichterstatter sagte, dass die Regierungsstellen offenbar keine ernsthaften Maßnahmen ergriffen haben, um diese Anschuldigungen zu untersuchen oder die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Stattdessen wurden Beschwerden, in denen Folter behauptet wird, angeblich von der Staatsanwaltschaft unter Berufung auf jene Notstandsverordnung (Art. 9 des Dekrets Nr. 667) abgewiesen, welche Beamte von einer strafrechtlichen Verantwortung für Handlungen im Zusammenhang mit dem Ausnahmezustand freispricht.
Die Tatsache, dass die Behörden es versäumt haben, Folter und Misshandlung öffentlich zu verurteilen und das allgemeine Verbot eines solchen Missbrauchs in der täglichen Praxis durchzusetzen, scheint laut Melzer jedoch ein Klima der Straffreiheit, Selbstzufriedenheit und Duldung gefördert zu haben, das dieses Verbot und letztendlich die Rechtsstaatlichkeit ernsthaft untergräbt (OHCHR 27.2.2018). Der Sonderberichterstatter vermutet, dass sich angesichts der Massenentlassungen innerhalb der Behörden Angst breit gemacht hat, sich gegen die Regierung zu stellen. Staatsanwälte untersuchen Foltervorwürfe nicht, um nicht selber in Verdacht zu geraten (SRF 1.3.2018)
KI vom 29.1.2018, Festnahmen wegen Kritik an der türkischen Militäroperation in Syrien
Dutzende türkische Social-Media-Nutzer, darunter auch Journalisten, wurden festgenommen, weil sie die Offensive der Türkei gegen die syrisch-kurdische Miliz YPG kritisiert haben, die Ankara als Bedrohung für die Grenzsicherheit sieht. Die türkische Internetbehörde überwacht Nutzer, die Inhalte teilen, welche die türkischen Truppen an der Front demoralisieren oder die einheimische Öffentlichkeit beeinflussen könnten. Das Büro des Premierministers erlässt direkt Zugangsverbote für solche Inhalte, und gegen Nutzer, die solche Beiträge teilen, wird eine Untersuchung eingeleitet (Ahval 26.1.2018, vgl. Standard 23.1.2018). Außenminister Mevlüt Cavusoglu hatte bereits am 21.1.2018 verkündet, dass jeder, der sich gegen die türkische Afrin-Offensive ausspricht, Terroristen unterstütze (DS 21.1.2018). Diesbezüglich Verdächtige werden wegen "Beleidigung von Amtsträgern", "Anstiftung zu Hass und Feindseligkeit in der Öffentlichkeit", "Beleidigung des Präsidenten" oder "Propaganda für terroristische Vereinigungen" angeklagt (AA 27.1.2018). Der OSZE-Beauftragte für Medienfreiheit, Harlem Désir, forderte am 26.1.2018 die türkischen Behörden auf, die Terrorismusanklagen gegen Journalisten fallen zu lassen und diese freizulassen. Désir äußerte auch seine Besorgnis über die Anweisungen für die Berichterstattung über die Militäraktionen in der Region Afrin, die Redakteuren und Reportern bei einer Pressekonferenz seitens des Premierministers Binali Yildirim, des stellvertretenden Premierministers Bekir Bozdag und Verteidigungsministers Nurettin Canikli erteilt wurden. Désir erinnerte daran, dass Journalisten nicht zum Inhalt instruiert werden sollten und dass die Pressefreiheit jederzeit geachtet werden muss. Es sei die Aufgabe eines Journalisten, unterschiedliche Ansichten zu präsentieren und die Öffentlichkeit zu informieren, auch wenn der Inhalt Kritik enthält (OSCE 26.1.2018).
KI vom 11.1.2018, Notstandsdekret Nr.696 - Straffreiheit von Zivilpersonen bei Gewalttaten zur Putschverhinderung, Verlängerung des Ausnahmezustandes
Am 24.12.2017 wurde das Notstandsdekret Nr. 696 veröffentlicht. Das Notstandsdekret befasst sich unter anderem mit der Straffreiheit von Zivilisten, die während der Putschnacht vom 15. auf den 16.7.2016 Putschisten gewaltsam daran gehindert haben, die Regierung zu stürzen. Konkret heißt es unter Artikel 121, dass das Notstandsgesetz vom 11.9.2016 um den Zusatz "Zivilisten" ergänzt wird, die keinen Beamtenstatus besitzen. Das ältere Notstandsgesetz besagte, dass gegen Beamte die beim Putschversuch und in diesem Zusammenhang in nachfolgenden Terroraufständen Widerstand geleistet haben, juristisch nicht belangt werden können (Turkishpress 25.12.2017). Das aktuelle Dekret Nr.696 löste jedoch einen Sturm der Entrüstung aus. Es stellt alle Misshandlungen der Putschnacht und alle weiteren Folterhandlungen, die im Zusammenhang mit der Putschnacht stehen, von der Strafverfolgung frei. Kritiker sprechen von einer Generalamnestie und befürchten, dass dies in Zukunft einen Freifahrtschein für ungezügelte Gewalt und Misshandlungen gegen Oppositionelle bedeute und den Aktionen paramilitärischer Einheiten Vorschub leiste, da im Dekret nicht präzisiert sei, für welchen Zeitraum diese "Straffreiheit" gelten solle. Da der Begriff des "Terrors" in der Türkei so weitgefasst und vage sei, könne ein Bürger, der einen umstürzlerischen Geist wittert und eigenmächtig zur Tat schreitet, nun vor Gericht als Widerstandskämpfer durchgehen. Rechtsanwälte und Juristen, die sich zum Dekret positioniert haben, erklärten, dass vor allem der Zusatz "in diesem Zusammenhang nachfolgende Ereignisse" problematisch sei (FNS 31.12.2017). Der türkische Justizminister Abdülhamit Gül bekräftigte, dass das Notstandsdekret keine Blanko-Amnestie sei und sich ausschließlich auf die Umstände während der Putschnacht und der Periode unmittelbar danach bezöge (Turkishpress 25.12.2017, vgl. FNS 31.12.2017). Der Europarat prüfe laut Direktor für Kommunikation, Daniel Holtgen, derzeit die jüngsten Notstandsverordnungen (nebst Dekret 696 auch Dekret 695) der türkischen Regierung. Das Gremium überwache, ob die neuesten Notstandsverordnungen mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) vereinbar seien (HDN 28.12.2017). Der stellvertretende Premierminister und Regierungssprecher Bekir Bozdag verkündete am 8.1.2018, dass der Ausnahmezustand verlängert werde (Anadolu 8.1.2018). Die formale Zustimmung des Parlaments, in welchem die Regierungspartei AKP die absolute Mehrheit innehält, vorausgesetzt, wäre dies die sechste Verlängerung seit dem 21.7.2016. Während des Ausnahmezustandes sind die Grundrechte eingeschränkt und die Notstandsdekrete sind nicht vor dem Verfassungsgericht anfechtbar (Standard 8.1.2018).
KI vom 29.11.2017, Stand der Verhaftungen
Das türkische Innenministerium teilte am 27.11.2017 mit, dass im November 2.589 Personen wegen angeblicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung festgenommen wurden, wodurch sich die Gesamtzahl der im Zeitraum Oktober-November inhaftierten Personen auf 5.747 erhöht hat. Innenminister Süleyman Soylu veranschlagte am 16.11.2017 die Gesamtzahl der Inhaftierten mit 48.739. Soylu sagte auch, dass 215.092 Personen als Nutzer der Smartphone-Anwendung "ByLock" aufgelistet und bereits 23.171 Nutzer verhaftet wurden. Die türkischen Behörden glauben, dass ByLock ein Kommunikationsmittel unter den Anhängern der Gülen-Gruppe ist (TM 27.11.2017). Die regierungskritische Website, Turkey Purge, zählte allerdings bereits am 3.11.2017 rund 61.250 Inhaftierungen nebst rund 129.000 Verhaftungen sowie 146.700 Entlassungen seit dem Putschversuch vom 15.7.2016 (TP 3.11.2017).
Ein Staatsanwalt in Istanbul hat laut der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu am 29.11.2017 in einer landesweiten Operation Haftbefehle gegen 360 mutmaßliche Gülen-Mitglieder in den Streitkräften erlassen (Anadolu 29.11.2017).
KI vom 31.8.2017, Geheimdienst unter Kontrolle des Staatspräsidenten, Verlängerung der maximalen Untersuchungshaft
Mit dem Dekret 694, das am 25.8.2017 in Kraft trat, wurde der Geheimdienst MIT, der bisher dem Ministerpräsidenten unterstand, dem Präsidenten unterstellt. Auch wurde eine neue Institution namens Nationales Geheimdienstkoordinierungskomitee (MIKK) ins Leben gerufen, das vom Präsidenten geleitet wird. Der Geheimdienst erhält erstmals das Recht, gegen Mitarbeiter des Verteidigungsministeriums und der Streitkräfte nach Belieben zu ermitteln. Laut dem Dekret muss der Präsident künftig Ermittlungen gegen den Geheimdienstchef genehmigen (Focus 25.8.2017; vgl. AM 30.8.2017). Der Geheimdienst kann überdies zu jederzeit seine Mitarbeiter entlassen. Hierzu war bislang eine komplexe Prozedur von Nöten (AM 30.8.2017)
Per Dekret wurde gleichzeitig die maximale Untersuchungshaft von fünf auf sieben Jahre ausgeweitet. Das gilt für Beschuldigte, denen die Unterstützung von Terrororganisationen, Spionage oder eine Beteiligung an dem Putschversuch vom Juli 2016 vorgeworfen werden. Staatspräsident Erdogan ermächtigte sich überdies, ausländische Gefangene ohne Einschaltung der Justiz in deren Heimatländer abzuschieben oder gegen türkische Staatsbürger auszutauschen (HB 28.8.2017). Dies geschieht auf Antrag des Außenministers. Somit kann die Türkei festgehaltene Ausländer in diplomatischen Verhandlungen nützen (AL 30.8.2017)
KI vom 9.8.2017, Beschwerden an die Kommission zur Untersuchung der Notstandsmaßnahmen
Die Kommission zur Untersuchung der Notstandsmaßnahmen (the Commission on Examination of the State of Emergency Procedures), die am 23.1.2017 gegründet wurde, hat am 17.7.2017 begonnen, Einsprüche von aufgrund der Notstandsdekrete entlassenen Personen, Vereine und Firmen entgegenzunehmen. Innerhalb von drei Wochen [Stand 7.8.2017] wurden bislang rund 38.500 Beschwerden bei der Kommission eingereicht (HDN 8.8.2017). Das Verfassungsgericht hatte zuvor rund
70.800 Individualbeschwerden in Zusammenhang mit Handlungen auf der Basis der Notstandsdekrete zurückgewiesen, da die Beschwerden nicht der Kommission zur Untersuchung der Notstandsmaßnahmen vorgelegt, und somit nicht alle Rechtsmittel ausgeschöpft wurden (bianet 7.8.2017). Nebst den direkt bei der Kommission eingereichten Beschwerden werden auch jene, die vor der Gründung der Kommission bei den Verwaltungsgerichten und beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eingereicht wurden, übernommen. Der EGMR hatte zuvor 24.000 Beschwerden abgelehnt. Negative Bescheide der Kommission können bei den Verwaltungsgerichten beeinsprucht werden (HDN 8.8.2017).
KI vom 19.7.2017, Verlängerung des Ausnahmezustandes
Am 17.7.2017 wurde der Ausnahmezustand ein viertes Mal verlängert. Eine Mehrheit im Parlament in Ankara stimmte dem Beschluss der Regierung über eine Verlängerung um weitere drei Monate zu. Damit gilt der nach dem Putschversuch im Juli vergangenen Jahres verhängte Ausnahmezustand mindestens bis zum 19.10.2017. Dies ermöglicht Staatspräsident Erdogan weiterhin per Dekret zu regieren. Die beiden größten Oppositionsparteien - die kemalistische CHP und die pro-kurdische HDP - forderten sofortige Aufhebung des Ausnahmezustandes, da dieser ansonsten drohe zum Dauerzustand zu werden (TS 17.7.2017, vgl. FAZ 17.7.2017).
KI vom 19.7.2017, Stand der Massenverhaftungen und Entlassungen wegen vermeintlicher Unterstützung der Gülen-Bewegung
Am Vorabend des Jahrestages des gescheiterten Putschversuches vom 15.7.2016 verlautete das türkische Justizministerium, dass bis dato
50.510 Personen wegen Verbindungen zur Gülen-Bewegung inhaftiert wurden, darunter 7.267 Militärangehörige, 8.815 Angestellte der Polizei, rund 100 Gouverneure und deren Stellvertreter und über 2.000 MitarbeiterInnen der Justiz. 169.013 Personen hätten laut Ministerium noch rechtliche Verfahren zu erwarten und nach rund
8.100 wird wegen Verbindungen zur Gülen-Bewegung noch gefahndet. Über 43.000 Personen wurden nach vorläufiger Festnahme wieder entlassen (HDN 13.7.2017, bianet 13.7.2017). Mit der Notstandsverordnung vom 14.7.2017 wurden zusätzlich 7.395 öffentlich Bedienstete entlassen (HDN 15.7.2017). Die regierungskritische Internetplattform "Turkey Purge" zählte mit Stand 19.7.2017 rund
145.700 Entlassungen, darunter über 4.400 Richter und Staatsanwälte, sowie 56.100 Inhaftierungen (TP 19.7.2017).
In der Türkei nahm am 17.7.2017 eine von der Regierung eingerichtete Kommission ihre Arbeit auf, die Beschwerden gegen Entlassungen aus dem öffentlichen Dienst im Zusammenhang mit dem Putschversuch prüfen soll. Betroffene hätten nun zwei Monate Zeit, ihre Beschwerden einzureichen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg hat sich bislang nicht mit den Entlassungen beschäftigt, sondern Kläger aus der Türkei aufgefordert, sich zunächst an die neue Kommission zu wenden (Zeit 17.7.2017).
KI vom 27.4.2017, Massenverhaftungen und Entlassungen innerhalb der Polizei:
In der Türkei sind am 26.4.2017 9.103 Polizisten wegen angeblicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung entlassen worden. Bei Razzien gegen mutmaßliche Gülen-Anhänger in allen 81 Provinzen des Landes war es im Laufe des Tages bereits zu 1.120 Festnahmen gekommen. Ziel der Suspendierungen und der Verhaftungen sei es gewesen, die geheime Struktur der Gülen-Bewegung innerhalb der Polizei zu zerschlagen.
8.500 Sicherheitskräfte unter Beteiligung des Geheimdienstes MIT seien an den Operationen beteiligt gewesen (HDN 26.4.2017; vgl. Zeit 27.4.2017). Wegen angeblicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung hat die Türkei gleichzeitig 9.103 Polizisten entlassen (Zeit 26.4.2017; vgl. HDN 27.4.2017). Laut "TurkeyPurge" wurden somit (Stand 27.4.2017) seit dem Putschversuch vom 15.7.2016 über 134.000 Personen wegen vermeintlicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung entlassen, knapp über 100.000 festgenommen, und von letzteren 50.000 inhaftiert (TP 27.4.2017).
KI vom 19.4.2017, Verfassungsreferendum:
Am 16.4.2017 stimmten nach vorläufigen Ergebnissen bei einer Wahlbeteiligung von 84% 51,3% der türkischen Wählerschaf