Entscheidungsdatum
26.07.2018Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W240 2178759-1/10E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. FEICHTER über die Beschwerde von XXXX , StA. Somalia, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 24.10.2017, Zl. 1096589502-151854531, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 26.04.2018, zu Recht:
A) Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG
2005 idgF der Status eines Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 idgF wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Die Beschwerdeführerin, eine Staatsbürgerin von Somalia, gelangte unter Umgehung der Grenzkontrolle nach Österreich und stellte am 24.11.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Am 24.11.2015 wurde sie einer Erstbefragung unterzogen. Dabei gab sie zu ihren Fluchtgründen an, sie sei ledig, stamme aus XXXX und in Österreich würde eine Tante von ihr samt Ehemann leben (Anmerkung BVwG:
Beschwerdeführer zu W240 2178777-1 und W240 2178757-1, eigentlich handelt es sich dabei um eine Cousine eines Elternteils und deren Ehemann, welche in der Folge als Tante und Onkel bezeichnet werden, welche am 28.09.2015 nach Österreich gelangt waren und einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt haben). Die Beschwerdeführerin gab an, sie sei aus Somalia ausgereist, weil ein somalischer Mann sie unbedingt hätte heiraten wollen, da sie dies nicht gewollt hätte, sei sie von zu Hause geflüchtet. Ihre Mutter habe ihren Onkel gebeten, die Reise zu organisieren. Sie sei auch eine Woche lang von diesem Mann in ein Haus verschleppt worden. Im Falle einer Rückkehr fürchte sie umgebracht zu werden.
In der Folge langte ein Obsorgebeschluss eines österreichischen Bezirksgerichts ein, wonach der in Österreich lebenden Tante der Beschwerdeführerin (Beschwerdeführerin zu W240 2178777-1) die Pflege hinsichtlich der damals minderjährigen (und mittlerweile volljährigen) Beschwerdeführerin übertragen wurde.
Am 01.08.2017 wurde für die Beschwerdeführerin sowie für die Verwandten, mit denen die Beschwerdeführerin in Österreich im gemeinsamen Haushalt lebt (Beschwerdeführer zu W240 2178757-1 ua), Säumnisbeschwerde erhoben.
Nach Zulassung zum Asylverfahren erfolgte am 16.10.2017 eine niederschriftliche Einvernahme durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Oberösterreich. Die Beschwerdeführerin tätigte im Wesentlichen folgende Angaben:
"(...)
F: Können Sie bitte einen kurzen Lebenslauf bezüglich ihrer Person schildern? Z.B.: Wo sind Sie aufgewachsen, welche Schulausbildung haben Sie absolviert, welchen Beruf haben Sie ausgeübt etc.?
A: Ich wurde am XXXX geboren.
Ich bin von 2006 bis 2010 in die Grundschule XXXX gegangen, im Bezirk XXXX .
Nach der Grundschule ging ich weiter in eine Koranschule, auch in XXXX , knapp zwei Jahre noch, dort habe ich Arabisch gelernt und den Koran.
Danach habe ich nichts mehr gelernt und auch nicht gearbeitet, meine Mutter hat für uns gearbeitet, sie verkaufte Fleisch. Nachgefragt gebe ich an, dass ich daheim im Haushalt geholfen habe, aber ich habe nie Geld verdient.
Ich bin ledig und kinderlos.
F: Geben Sie chronologisch Ihre Wohnorte an.
A: Ich lebte immer mit meinen Geschwistern und den Eltern in XXXX in meinem Elternhaus, bis zu meiner Ausreise.
F: Wann haben Sie zuletzt daheim im Haushalt geholfen?
A: Das habe ich bis zum letzten Tag meiner Ausreise gemacht, im Juni 2015.
F: Hatten Sie ein Auto?
A: Nein.
F: Welcher Volksgruppe und Religion gehören Sie an?
A: Ich bin XXXX und Moslem.
F: Haben oder hatten Sie jemals irgendwelche Dokumente?
A: Nein.
F: Welche Angehörigen der Kernfamilie (Großeltern, Eltern, Geschwister) leben noch in ihrer Heimat?
A: Mein letzter Kontakt war vor meiner Ausreise, wo sie heute sind, weiß ich nicht. Damals haben meine Eltern und meine Geschwister im Elternhaus zusammengelebt.
Meine Eltern sind XXXX geboren) und XXXX ( XXXX geboren). Mein Vater ist Landwirt in XXXX , meine Mutter hat Fleisch verkauft. Sie hat ein Tier gekauft, geschlachtet und das Fleisch verkauft.
Ich habe fünf Geschwister, 3 Brüder und 2 Schwestern. Keiner ist verheiratet.
Die Brüder sind XXXX (heute ca. 16 Jahre), XXXX (heute ca. 14 Jahre alt), XXXX (ca. 10 heute). Meine jüngeren zwei Brüder gehen zur Schule, XXXX nicht, er hat die Mittelschule angefangen, aber er hat sie abgebrochen, danach hat er nichts mehr gemacht, er war nur zu Hause.
Die Schwestern sind XXXX (heute 18 Jahre alt) und XXXX (heute 17 Jahre alt). Sie gehen nicht zur Schule, sie haben damit aufgehört, als sie 10 waren.
F: Haben Sie weitere Verwandte im Heimatland?
A: Mein Onkel mütterlicherseits ist in Äthiopien. Meine Tante ist mit mir in Österreich. Es gibt noch mehr Familie, in XXXX und Mogadischu, aber die kenne ich nicht. Mein Vater hat mir erzählt, dass er noch Familie hat, aber die hat er uns nie vorgestellt, er sagte, er würde es einmal tun, aber zuvor habe ich das Land verlassen.
F: Wovon lebt die Familie im Herkunftsland?
A: Meine Eltern haben gearbeitet, das hat für alle gereicht.
F: Hat Ihre Familie irgendwelche Besitztümer in Ihrem Heimatland, z. B. Häuser, Grund?
A: Die Plantage gehörte ihm nicht, er war dort nur Arbeiter. Nachgefragt gebe ich an, dass ich nicht weiß, wie viel er dort verdiente. Unser Familienhaus in XXXX gehörte uns und auch das Grundstück, auf dem es steht, wie groß das Grundstück war, weiß ich nicht. Nachgefragt gebe ich an, dass das Haus zwei Zimmer hatte.
F: Wo genau in XXXX haben Sie gelebt (Adresse, Wegbeschreibung)?
A: Im Bezirk XXXX .
F: Wie könnte ich Sie finden, wenn ich Sie besuchen möchte in XXXX ?
A: Wenn Sie (Referentin) ins Zentrum kommen, da ist eine Moschee, XXXX , unser Haus ist von da vielleicht drei Minuten zu Fuß weg.
F: Wie hat Ihr Alltag in XXXX ausgesehen, was haben Sie den ganzen Tag gemacht?
A: Ich bin am Morgen aufgestanden, habe im Koran gelesen, ich habe ihm mir weiter selbst beigebracht, dann habe ich die Wohnung aufgeräumt, das Essen gekocht, mich um den Haushalt gekümmert den ganzen Tag bis zum Sonnenuntergang. Nachgefragt gebe ich an, dass ich auch zum Markt einkaufen gegangen, dort habe ich meine Mutter getroffen, sonst bin ich nie außer Haus gegangen, auch nicht in die Moschee.
F: Wann haben Sie die Ausreise angetreten?
A: Im Juni 2015, ich glaube am 20.06.2015 oder am 21.06.2015.
F: Warum können Sie sich an diesen Tag erinnern?
A: Der Kalender hier, das war neu für mich, ich kannte nur den arabischen vorher.
Frage wird wiederholt.
A: Es muss der 20. oder 21.06.2015 gewesen sein.
F: Sie weichen der Frage aus. Warum erinnern Sie sich an dieses Datum?
A: Einfach so. Nachgefragt gebe ich an, dass ich mich an das Datum erinnere, weil ich an diesem Tag XXXX verlassen habe.
F: Schildern Sie kurz Ihren Reiseweg.
A: Okay. Mein Onkel mütterlicherseits hat mich von XXXX nach Äthiopien begleitet, wir sind mit einem LKW hingefahren. Mein Onkel lebte da bereits in Äthiopien, er holte mich von Somalia ab. Ich war von Juni bis September 2015 in Äthiopien und habe dort bei meinem Onkel gelebt, er hat verheiratet und hat vier Kinder dort.
Mit einem Flugzeug bin ich dann in die Türkei, am 15.09.2015, dort war ich einen Monat lang, gelebt habe ich da bei einer Schlepperin, die kannte mein Onkel in Äthiopien bereits, sie hat mich vom Flughafen abgeholt. Am 15.10.2015 fuhr ich mit einem Schlauchboot nach Griechenland, dort war ich vier Tage lang. Mit einem Bus fuhr ich von Athen nach Mazedonien, zu Fuß und im Zug nach Serbien, dort waren wir einen Tag, weiter nach Kroatien, dort war ich nur ein paar Stunden, weiter nach Slowenien, dort war ich eine Woche in einer Unterkunft, da war Polizei, wir wurden fotografiert und haben Essen bekommen, es war ein Flüchtlingslager. Dann bin ich nach Österreich weiter.
F: Wo haben Sie die letzte Nacht vor der Ausreise verbracht?
A: Ich wurde in ein Haus gebracht in XXXX von einem älteren Mann. Nachgefragt gebe ich an, dass ich dort die letzte Nacht verbracht habe vor meiner Ausreise, ich war davor eine Woche dort gewesen.
F: Wann haben Sie den Entschluss zur Ausreise gefasst?
A: Das habe nicht ich beschlossen. Meine Mutter und mein Onkel mütterlicherseits haben das organisiert, während ich bei diesem alten Mann war. Nachgefragt gebe ich an, dass ich damit den alten Mann meine, bei dem ich eine Woche war vor meiner Ausreise. Nachgefragt gebe ich an, dass ich im Juni bei dem alten Mann war. Nachgefragt gebe ich an, dass das der 12.06.2015 war, als ich zu seinem Haus gebracht worden bin, und am 20.06.2015 verließ ich sein Haus.
F: Waren Sie vorher in einem anderen EWR-Staat und wenn ja, wie lange?
A: Nein.
F: Haben Sie Kontakt mit Ihren Verwandten im Heimatland? Wann war der letzte Kontakt? Wie gestaltet sich der Kontakt zu Ihrer Familie? Kommunizieren Sie auch über soziale Netzwerke und neue Medien?
A: Mein Onkel hatte zuletzt vor einem Jahr Kontakt mit meiner Familie, der, der in Äthiopien. Nachgefragt gebe ich an, dass ich seit einem Jahr auch mit dem Onkel in Äthiopien keinen Kontakt mehr habe, er hat mich immer angerufen, aber vielleicht hat er meine Nummer verloren. Nachgefragt gebe ich an, dass niemand in meiner Familie Telefon hat, und mein Onkel aus Äthiopien hat mich immer mit unterdrückter Nummer angerufen. Nachgefragt gebe ich an, dass auch von unseren Nachbarn niemand Telefon hat. Nachgefragt gebe ich an, dass ich versucht habe, meine Familie zu finden, und ich bin sogar mit einem Mädchen in Kontakt gekommen, das jetzt in Schweden ist, sie sagte, ich habe nicht einmal mit meiner eigenen Familie Kontakt. Sie ist nach mir ausgereist, deshalb kenne ich sie, wir waren Nachbarn in XXXX . Nachgefragt gebe ich an, dass mein Onkel aus Äthiopien immer die Familie daheim in Somalia besucht hat.
(...)
F: Hatten Sie in ihrem Herkunftsstaat aufgrund Ihres muslimischen Religionsbekenntnisses bzw. Ihrer Volksgruppenzugehörigkeit zu den XXXX irgendwelche Probleme?
A: Wegen meiner Clanzugehörigkeit hatte ich viele Probleme. Wir wurden verachtet, während ich in die Schule gegangen bin, wurde ich beleidigt von anderen Kindern.
F: Hatten Sie gröbere Probleme mit Privatpersonen (Blutfehden, Racheakte etc.)
A: Nein.
F: Nahmen Sie in ihrem Heimatland an bewaffneten oder gewalttätigen Auseinandersetzungen aktiv teil?
A: Nein.
F: Schildern Sie die Gründe, warum sie Ihr Heimatland verlassen und einen Asylantrag gestellt haben, detailliert, von sich aus, vollständig und wahrheitsgemäß.
Soweit Sie auf Ereignisse Bezug nehmen, werden Sie auch aufgefordert, den Ort und die Zeit zu nennen, wann diese stattfanden und die Personen, die daran beteiligt waren.
A: Okay. Mein Vater war ein Landarbeiter, eines Tages kam ein älterer Mann zu ihm und fragte ihn, ob ich ihn heiraten darf. Mein Vater sagte, ja, ich erlaube es, er hat Geld von dem Mann bekommen. Mein Vater hat mir erzählt, dass dieser Mann mich heiraten will, ich lehnte ab und sagte, ich wollte noch weiterlernen. Das war im Mai 2015. Meine Mutter sagte nein, meine Tochter ist noch zu jung, ich war damals 16 Jahre alt. Mein Vater hatte das Geld schon verbraucht und er sagte, wenn du nicht freiwillig mitgehst, wirst du mit Zwang hinkommen. Eine Woche ist vergangen, der ältere Mann sagte, eure Tochter soll jetzt bei mir einziehen, ich lehnte ab und sagte, ich werde nicht mit ihnen gehen, mein Vater hat mich geschlagen. Ich versuchte wegzulaufen und bin in einen Benzinkanister aus Metall gefallen, das verletzte mich am Bein und ich konnte nicht mehr weit laufen. Ich wurde gefangen, mein Vater übergab mich dem Mann und der hat mich mitgenommen. Der ältere Mann hatte schon eine Frau, eine ältere, ich war eine Woche bei ihm. Mir wurde das Bein genäht und verarztet mit Medikamenten, aber auf die Eheschließung musst ich noch warten, die hatte noch nicht stattgefunden, weil der Scheich, der uns verheiraten sollte, verreist war, er sollte in einer Woche wiederkommen. Mein Vater sagte dem alten Mann, er soll mich einsperren, sonst laufe ich weg. Eine Woche war ich dort, mein Onkel kam dann zu meiner Familie, meine Mutter erzählte ihm, was passiert war. Mein Onkel kam dann zu der älteren Frau, die bereits im Haus des alten Mannes war und hat mit ihr gesprochen, er erzählte ihr, dass er vorhatte, mich mitzunehmen. Sie war für mich eine Art Aufpasser, sie hat immer auf mich aufgepasst. Sie war sowieso dagegen, dass ihr Mann eine andere heiratet. Eines Tages schlief der alte Mann, mein Onkel kam und holte mich ab, und dann gingen wir nach Äthiopien.
(...)
F: Was würde Sie konkret erwarten, wenn Sie jetzt in ihren Herkunftsstaat zurückkehren müssten?
A: Ich habe Angst, von meinem Vater getötet zu werden, und dass der alte Mann mich heiratet.
F: Wie viel hat Ihre Schleppung nach Österreich gekostet?
A: Ich kann es nur ab der Türkei sagen, von da an hat mein Onkel 2000 USD bezahlt. Nachgefragt gebe ich an, dass die Schlepperin meinen Onkel angerufen hat und gesagt hat, er soll nochmal 2000 USD schicken.
V: Wie konnte die Schlepperin Ihren Onkel anrufen, wenn der immer mit unterdrückter Nummer telefonierte?
A: Das weiß ich nicht, die haben sich immer gegenseitig angerufen.
F: Wie konnte der Onkel es sich leisten, Ihre Schleppung bezahlen?
A: Er hat in Äthiopien Plantagen gehabt und dazu noch gearbeitet. Mein Onkel hat eine von seinen Plantagen verkauft, als er erfuhr, dass mein Vater nach Äthiopien kommen wollte, um mich zurückzuholen.
(...)
V: Ihre Geschichte heute ist nicht mehr dieselbe wie die, die Sie der Polizei erzählt haben 2015. Damals gaben Sie beispielsweise an, Ihr Fuß sei gebrochen worden beim alten Mann. Warum ändern Sie Ihre Geschichte?
A: Der damalige Dolmetscher war arabisch, kein somalischer Dolmetscher. Ihm habe ich gesagt, dass ich mir den Fuß verletzt habe, als ich weglief.
V: Vorhin haben Sie keine Probleme mit dem Dolmetsch bei der Erstbefragung angegeben, und außerdem sprechen Sie selbst ja Arabisch Ihren Angaben zufolge, Sie selbst haben das Protokoll unterschrieben, und Sie haben mir vorhin gesagt, es sei korrekt protokolliert und für Sie rückübersetzt worden.
A: Ja, ich habe ihn verstanden, wir haben uns verstanden, aber ich weiß nicht, warum da jetzt "gebrochen" steht.
V: Auch haben Sie 2015 behauptet, es habe einen erfolglosen Fluchtversuch gegeben, ehe Sie es dann wirklich schafften, dem alten Mann zu entkommen. Auch das haben Sie heute anders erzählt. Warum?
A: Das habe ich nicht gesagt. Das war nur einmal, dass ich weglaufen wollte, das war das vor meinem Vater, als ich mir den Fuß verletzt habe.
Anmerkung: Die AW wird an ihre Wahrheits- und Mitwirkungspflicht erinnert.
Anmerkung: Die AW verziert gelangweilt das Blatt, auf dem sie ihre Notizen gemacht hat, mit einer Zeichnung.
V: Das Protokoll der Erstbefragung ist diesbezüglich unmissverständlich.
A: Es gab keine Rückübersetzung, und ich habe das Protokoll nie wieder gelesen.
F: In der Version der angeblichen Ereignisse, die Sie heute erzählen, haben Sie sich also an einem Benzinkanister verletzt, und Ihr Bein sei genäht worden. Dann haben Sie also eine entsprechende sichtbare Naht? Wo?
A: Ja, hier. Der alte Mann hat mich selbst genäht und verarztet, der hatte Nadeln daheim und Medikamente.
Anmerkung: Die AW zeigt auf einen kaum sichtbaren dunkleren Streifen um die rechte Ferse entlang.
V: Ich kann keine Narbe erkennen da, wo Sie hinzeigen. Wenn dort wirklich etwas genäht wurde, dann war eine professionelle Arbeit, die keine hässlichen Narben hinterlässt.
A: Er hatte Ausrüstung.
V: Sie gaben vorhin an, Sie hätten bis zum letzten Tag vor Ihrer Ausreise daheim im Haushalt geholfen. Dann wieder haben Sie behauptet, Sie wären direkt nachdem Ihr Onkel Sie vom Haus des alten Mannes geholt habe, mit ihm nach Äthiopien gereist. Wie war es nun wirklich?
A: Ich meinte, bevor ich von meiner Familie wegging.
V: Sie sagten ausdrücklich, dies hätten Sie "bis zum letzten Tag" vor Ihrer Ausreise gemacht.
A: Nein, ich meinte kurz vor meiner Ausreise.
V: Es ergibt keinen Sinn, dass der alte Mann Sie schon eine Woche vor der Heirat zu sich nach Hause holte, wenn es keinen Vollzug der Ehe gab davor. Er musste damit rechnen, dass Sie flüchten würden.
A: Die ersten drei Tage hat er selber auf mich aufgepasst.
Vorhalt wird wiederholt.
A: Ich war verletzt, ich konnte kaum gehen.
Anmerkung: Die AW weicht erneut einer Frage aus.
Anmerkung: Die AW wird an ihre Wahrheits- und Mitwirkungspflicht erinnert.
V: Sie haben mir vorhin gesagt, Sie würden sich "einfach so" an den
20. oder 21.06.2015 erinnern, weil Sie an diesem Tag XXXX verlassen hätten. Später aber machen Sie den 20.06.2015 zu dem Tag, an dem Ihr Onkel Sie angeblich vom alten Mann geholt hat. Das wäre doch eher ein Grund, sich an den Tag zu erinnern, oder?
A: Ja, ich habe mich an den 12.06.2015 erinnert.
Vorhalt wird wiederholt
A: Das waren acht Tage, das habe ich zusammengerechnet.
Anmerkung: Die AW weicht dem Vorhalt aus.
V: Dass ausgerechnet zufällig in dem Moment, da Sie beim alten Mann auf eine Zwangsheirat gewartet haben wollen, der Onkel aus Äthiopien die Familie besucht, ist nicht glaubhaft.
A: Das war so üblich, er ist fast jeden Monat zu uns gekommen.
V: Weiters ist es nicht glaubhaft, dass Sie mit niemandem aus Ihrer Familie daheim Kontakt hätten, aber mit einer ehemaligen Nachbarin aus XXXX , die nach Ihnen ausgereist ist.
A: Ihre Familie lebt in XXXX , sie lebt in Schweden. Ich habe mit ihr Kontakt, weil ich wissen wollte, ob sie mit ihrer Familie Kontakt hat, auf Facebook sprechen wir. Nachgefragt gebe ich an, dass ich seit März dieses Jahres auf Facebook bin, mein Konto ist
XXXX .
V: In Ihrer Version haben sich Ihre Mutter und Ihr Onkel dem Willen Ihres Vaters widersetzt und die ältere Frau ihrem Mann. Weder Ihr Vater noch der ältere Mann scheinen von den Angehörigen als Autoritäten oder gar als Gefahr betrachtet worden zu sein.
A: Meine Mutter war dagegen, dass ich diesen Mann heirate.
F: Wann hat Ihr Onkel angeblich erfahren, dass Sie der Vater aus Äthiopien zurückholen wollte?
A: Das war in dem September, wo ich ausgereist bin aus Äthiopien.
(...)
F: Haben Sie Verwandte in Österreich?
A: Meine Tante.
(...)"
Im Rahmen der Einvernahme wurde Integrationsnachweise vorgelegt.
2. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich, vom 24.10.2017, Zl. 1096589502-151854531, wurde unter Spruchteil I. der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten abgewiesen, unter Spruchpunkt II. dieser Antrag auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Somalia abgewiesen, unter Spruchpunkt III. ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt, eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass die Abschiebung nach Somalia zulässig sei und unter Spruchteil IV. eine Frist für die freiwillige Ausreise von 2 Wochen eingeräumt.
In der Begründung des Bescheides wurden die oben bereits im wesentlichen Inhalt wiedergegebenen Einvernahmen dargestellt und Feststellungen zu Somalia getroffen. Es habe nicht festgestellt werden können, dass die Beschwerdeführerin einer individuell gegen ihre Person gerichtete Verfolgung aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe, etc. zu befürchten gehabt hätte oder habe. Es hätte keine asylrelevante Gefährdung für die Person der Beschwerdeführerin im Falle der Rückkehr nach Somalia festgestellt werden können.
Es hätte unter Berücksichtigung aller bekannten Umstände nicht festgestellt werden können, dass die Beschwerdeführerin im Falle ihrer Rückkehr in ihr Heimatland dort einer realen Gefahr der Verletzung von Art 2, Art 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention ausgesetzt wäre oder für sie als Zivilperson einer ernsthaften Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts mit sich bringen würde. Es habe nicht festgestellt werden können, dass sie im Falle ihrer Rückkehr nach Somalia in eine existenzbedrohende Notlage geraten würde. Es würden unter Berücksichtigung aller bekannten Tatsachen keine Umstände existieren, welche einer Rückkehrentscheidung nach Somalia entgegenstehen würden.
3. Gegen diesen Bescheid wurde fristgerecht Beschwerde erhoben und wurde insbesondere ausgeführt, die Flucht sei erfolgt, weil die Beschwerdeführerin hätte zwangsverheiratet werden sollen. Zur Beschwerdeführerin wurde darauf hingewiesen, dass diese von sexueller Ausbeutung betroffen wäre als alleinstehende Frau. Der Beschwerdeführerin sei Asyl zu gewähren, da die junge alleinstehende Beschwerdeführerin von sexueller Ausbeutung betroffen wäre im Fall einer Rückkehr. Das BFA habe lediglich geringe Abweichungen in untergeordneten Angaben festgestellt. Verwiesen wurde darauf, dass sich das BFA nirgendwo mit den Stellungnahmen auseinandersetzt.
4. Das Bundesverwaltungsgericht beraumte für den 26.04.2018 eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung an, in der die Beschwerdeführerin, vertreten durch eine ausgewiesene Vertreterin der Rechtsanwaltskanzlei RA Daigneault, einvernommen wurde. Die Verhandlung der Beschwerdeführerin wurde gemeinsam mit ihren in Österreich lebenden Tante (Beschwerdeführerin W240 2178777-1) und deren Familie abgehalten, mit diesen Personen lebt die Beschwerdeführerin im gemeinsamen Haushalt.
Ergänzend zu dem bereits übermittelten Länderinformationsblatt wurde dem Beschwerdevorbringen entsprechend folgende Dokumente zur Kenntnis gebracht und eine Frist zur Abgabe einer Stellungnahme von zwei Wochen eingeräumt.
* Weibliche Genitalverstümmelung, Information für Ärztinnen, Ärzte und Hebammen in Österreich 2013
* Home Office Country Information and Guidance, Somalia: Women fearing gender- based harm and violence 02. August 2016
* OCHA Humanitarian Bulletin, März 2018
* Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Somalia, Versorgung mit Grundnahrungsmittel in Mogadischu, 07.06.2017,
* Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Somalia, Situation der Frauen, 25.01.2016
* Anfragebeantwortung zu Somalia: Zwangsheirat von 19.08.2016
Am 14.05.2018 langte eine Stellungnahme zu den Länderberichten ein. Im Wesentlichen wurde auf die bereits behaupteten Fluchtgründe und Rückkehrbefürchtungen verwiesen.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Zur Person der Beschwerdeführerin:
Die Beschwerdeführerin ist somalische Staatsbürgerin, ledig und hat keine Kinder, stammt aus XXXX und lebt seit ihrer Antragstellung im Jahr 2015 in Österreich. Sie lebt in Österreich zusammen mit ihrer Tante, ihrem Onkel und deren minderjährigen Kinder im gemeinsamen Haushalt (Beschwerdeführer zu W240 2178777-1 ua). Sie gehört dem Clan der XXXX an. Die Beschwerdeführerin hat im Heimatstaat keine anderen familiären und sozialen Anhaltspunkte als zu Familienmitgliedern, welche sie zwangsverheiraten wollen bzw. welche sich nicht gegen den Vater wehren können, welcher die Beschwerdeführerin zwangsverheiraten will und dafür bereits eine Geldzahlung erhalten hat. Die Beschwerdeführerin ist in ihrer Heimat durch die Gefahr gegen ihren Willen verheiratet zu werden asylrelevanter Verfolgung ausgesetzt. Die Beschwerdeführerin ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Beschwerdeführerin im Fall ihrer Rückkehr nach Somalia die Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK droht.
Mit Obsorgebeschluss eines österreichischen Bezirksgerichts war der Tante der Beschwerdeführerin (Beschwerdeführerin zu W240 2178777-1), mit welcher die Beschwerdeführerin zusammen mit der Familie der Tante im gemeinsamen Haushalt lebt, die Pflege hinsichtlich der damals minderjährigen (und mittlerweile volljährigen) Beschwerdeführerin übertragen worden.
Zu Somalia wird Folgendes verfahrensbezogen festgestellt:
18. Relevante Bevölkerungsgruppen
18.1. Frauen
Die aktuelle Verfassung betont in besonderer Weise die Rolle und die Menschenrechte von Frauen und Mädchen und die Verantwortung des Staates in dieser Hinsicht. Tatsächlich ist deren Lage jedoch weiterhin besonders prekär. Frauen und Mädchen bleiben den besonderen Gefahren der Vergewaltigung, Verschleppung und der systematischen sexuellen Versklavung ausgesetzt. Wirksamer Schutz gegen solche Übergriffe - insbesondere in IDP-Lagern - ist mangels staatlicher Autorität bisher nicht gewährleistet (AA 1.1.2017).
Die somalische Regierung hat 2014 einen Aktionsplan zur Bekämpfung sexueller Übergriffe verabschiedet. Die Implementierung geschieht jedoch sehr langsam (ÖB 9.2016). Außerdem wurde im Mai 2016 ein Nationaler Gender Policy Plan verabschiedet. Dieser Plan wurde von der Somali Islamic Scholars Union verurteilt; der Somali Religious Council hat die vorgesehene 30%-Quote für Abgeordnete im somalischen Parlament als gefährlich bezeichnet (USDOS 3.3.2017).
Auch wenn Gewalt gegen Frauen in der Verfassung verboten ist (USDOS 3.3.2017), bleiben häusliche (USDOS 3.3.2017; vgl. AA 1.1.2017, ÖB 9.2016) und sexuelle Gewalt gegen Frauen ein großes Problem (UNSC 5.9.2017). Generell grassiert sexuelle Gewalt ungebremst. Im Zeitraum September 2016 bis März 2017 wurden von UNSOM alleine in den von der Dürre betroffenen Gebieten 3.200 Fälle geschlechtsspezifischer Gewalt dokumentiert (UNHRC 6.9.2017). Besonders betroffen sind davon IDPs in Flüchtlingslagern (ÖB 9.2016; vgl. USDOS 3.3.2017, UNSC 5.9.2017). Im Jahr 2015 waren 75% der Opfer sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt IDPs (ÖB 9.2016). Die IDP-Lager bieten kaum physischen oder Polizeischutz (UNSC 5.9.2017). Auch Frauen und Mädchen von Minderheiten sind häufig unter den Opfern von Vergewaltigungen. Dabei gibt es aufgrund der mit einer Vergewaltigung verbundenen Stigmatisierung der Opfer eine hohe Dunkelziffer (USDOS 3.3.2017). Die Täter sind bewaffnete Männer, darunter auch Regierungssoldaten und Milizionäre (HRW 12.1.2017; vgl. USDOS 3.3.2017, ÖB 9.2016). Im ersten Trimester 2017 wurden 28 Fälle von konfliktbezogener sexueller Gewalt dokumentiert, im letzten Trimester 2016 waren es 13. Dieser Anstieg kann vermutlich mit der wachsenden Zahl an Dürre-bedingten IDPs erklärt werden (UNSC 9.5.2017). Von staatlichem Schutz kann - zumindest für die am meisten vulnerablen Fälle - nicht ausgegangen werden (HRW 12.1.2017; vgl. ÖB 9.2016).
Vergewaltigung ist zwar gesetzlich verboten (AA 1.1.2017), die Strafandrohung beträgt 5-15 Jahre, vor Militärgerichten auch den Tod (USDOS 3.3.2017). Strafverfolgung oder Verurteilungen wegen Vergewaltigung oder anderer Formen sexueller Gewalt sind in Somalia dennoch rar (AA 1.1.2017; vgl. ÖB 9.2016, USDOS 3.3.2017). Generell herrscht Straflosigkeit, bei der Armee wurden aber einige Soldaten wegen des Vorwurfs von Vergewaltigung verhaftet (USDOS 3.3.2017). Manchmal verlangt die Polizei von den Opfern, die Untersuchungen zu ihrem eigenen Fall selbst zu tätigen. Frauen fürchten sich davor, Vergewaltigungen anzuzeigen, da sie mit möglichen Repressalien rechnen (USDOS 3.3.2017).
Al Shabaab hat Vergewaltiger zum Tode verurteilt (USDOS 3.3.2017). Andererseits gibt es Berichte die nahelegen, dass sexualisierte Gewalt von der al Shabaab gezielt als Taktik im bewaffneten Konflikt eingesetzt wird (AA 1.1.2017).
Auch traditionelle bzw. informelle Streitschlichtungsverfahren können das schwache Durchgreifen des Staates nicht ersetzen, da sie dazu neigen, Frauen zu diskriminieren und Täter nicht zu bestrafen (ÖB 9.2016). Dabei werden Vergewaltigungen oder sexuelle Übergriffe meist vor traditionellen Gerichten abgehandelt, welche entweder eine Kompensationszahlung vereinbaren oder aber eine Ehe zwischen Opfer und Täter erzwingen (USDOS 3.3.2017; vgl. UNHRC 6.9.2017). Auch Gruppenvergewaltigungen werden hauptsächlich zwischen Ältesten verhandelt. Die Opfer erhalten keine direkte Entschädigung, diese geht an die Familie (UNHRC 6.9.2017). Das patriarchalische Clansystem und xeer an sich bieten Frauen keinen Schutz. Wird ein Vergehen gegen eine Frau gemäß xeer gesühnt, dann wird zwar die Familie des Opfers finanziell kompensiert, der Täter aber nicht bestraft (SEM 31.5.2017).
In Puntland wurde im Jahr 2015 ein Gesetz gegen Vergewaltigung in Kraft gesetzt. Mit diesem Gesetz wurde die formelle Justiz als relevanter Apparat zur Prozessführung bei Vergewaltigungen eingesetzt. Die Frage darüber, ob ein Verfahren geführt wird, entscheidet der Generalstaatsanwalt, nicht das Opfer. Traditionelle Älteste werden von allen Schritten des Verfahrens ausgeschlossen. Damit ist die Anwendung informeller oder traditioneller Konfliktlösungsmechanismen bei Vergewaltigung oder Sexualverbrechen verboten. Allerdings bedarf es zur effektiven Umsetzung noch Ausbildungsmaßnahmen für die nunmehr verantwortlichen Richter. Trotzdem ist diese neue Gesetzeslage in Somalia einzigartig und zukunftsweisend (UNHRC 6.9.2017). Laut einer vom puntländischen Generalstaatsanwalt veröffentlichten Statistik über Vergewaltigungsfälle in Puntland im Jahr 2016 wurden dort 123 Prozesse gegen Vergewaltiger geführt (A 2.2017).
Auch unter der neuen Verfassung gilt in Somalia weiterhin das islamische Scharia-Recht, auf dessen Grundlage auch die Eheschließung erfolgt. Polygamie ist somit erlaubt, ebenso die Ehescheidung (ÖB 9.2016). Laut Übergangsverfassung sollen beide Ehepartner das "age of maturity" erreicht haben; als Kinder werden Personen unter 18 Jahren definiert. Außerdem sieht die Verfassung vor, dass beide Ehepartner einer Eheschließung freiwillig zustimmen müssen. Trotzdem ist die Kinderehe verbreitet. In ländlichen Gebieten verheiraten Eltern ihre Töchter manchmal schon im Alter von zwölf Jahren. Insgesamt wurden 45% der Frauen im Alter von 20-24 Jahren bereits mit 18 Jahren, 8% bereits im Alter von 15 Jahren verheiratet (USDOS 3.3.2017).
Zu von der al Shabaab herbeigeführten Zwangsehen kommt es auch weiterhin (SEMG 8.11.2017), allerdings nur in den von al Shabaab kontrollierten Gebieten (DIS 3.2017; vgl. USDOS 3.3.2017). Das Ausmaß ist unklar. Manchmal werden die Eltern der Braut bedroht. Zwangsehen der al Shabaab in städtischen Zentren sind nicht bekannt (DIS 3.2017). Die Gruppe nutzt zusätzlich das System der Madrassen (Religionsschulen), um potentielle Bräute für die eigenen Kämpfer zu identifizieren (SEMG 8.11.2017). Immer mehr junge Frauen werden radikalisiert und davon angezogen, eine "Jihadi-Braut" werden zu können (SEMG 8.11.2017; vgl. BFA 8.2017).
Al Shabaab setzt Frauen - manchmal auch Mädchen - zunehmend operativ ein, etwa für den Waffentransport in und aus Operationsgebieten; für die Aufklärung und zur Überwachung (SEMG 8.11.2017); oder als Selbstmordattentäterinnen (DIS 3.2017).
Sowohl im Zuge der Anwendung der Scharia als auch bei der Anwendung traditionellen Rechtes sind Frauen nicht in Entscheidungsprozesse eingebunden (USDOS 3.3.2017). Zudem gelten die aus der Scharia interpretierten Regeln des Zivilrechts und Strafrechts, die Frauen tendenziell benachteiligen bzw. einem (übersteigerten) paternalistischen Ansatz folgen. Für Frauen gelten entsprechend andere gesetzliche Maßstäbe als für Männer. So erhalten beispielsweise Frauen nur 50% der männlichen Erbquote. Bei der Tötung einer Frau ist im Vergleich zur Tötung eines Mannes nur die Hälfte des an die Familie des Opfers zu zahlenden "Blutgeldes" vorgesehen (AA 1.1.2017; vgl. USDOS 3.3.2017). Erwachsene Frauen und viele minderjährige Mädchen werden zur Heirat gezwungen (AA 1.1.2017). Insgesamt gibt es hinsichtlich der grundsätzlich diskriminierenden Auslegungen der zivil- und strafrechtlichen Elemente der Scharia keine Ausweichmöglichkeiten, die aus der Scharia interpretierten Regeln des Zivil- und Strafrechts gelten auch in Puntland und Somaliland. Gleichwohl gibt es politische Ansätze, die mittel- bis langfristig eine Annäherung des Status von Mann und Frau anstreben. In den von der al Shabaab kontrollierten Gebieten werden die Regeln der Scharia in extremer Weise angewandt - mit der entsprechenden weitergehenden Diskriminierung von Frauen als Folge (AA 1.1.2017).
Eigentlich wären für das Parlament 30% Sitze für Frauen vorgesehen. Bis zur Neuwahl des Parlaments stellten diese aber nur 14% von 275 Abgeordneten (USDOS 3.3.2017; vgl. UNSC 9.5.2017). Im neuen Unterhaus und im Oberhaus des Parlaments stellen Frauen nunmehr 24% der Abgeordneten. 23% der Mitglieder des Ministerkabinetts sind Frauen (UNSC 9.5.2017; vgl. UNHRC 6.9.2017). 13 von 54 Abgeordneten im Oberhaus sind Frauen (NLMBZ 11.2017). Im Ältestenrat von Puntland war noch nie eine Frau vertreten, im 66sitzigen Repräsentantenhaus sind es zwei, es gibt auch zwei Ministerinnen (USDOS 3.3.2017).
Generell haben Frauen nicht die gleichen Rechte, wie Männer, und sie werden systematisch benachteiligt (USDOS 3.3.2017). Frauen leiden unter schwerer Ausgrenzung und Ungleichheit in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Beschäftigungsmöglichkeiten (ÖB 9.2016), und unter Diskriminierung bei Kreditvergabe, Bildung und Unterbringung. Laut einem Bericht einer somaliländischen Frauenorganisation aus dem Jahr 2010 besaßen dort nur 25% der Frauen Vieh, Land oder anderes Eigentum. Allerdings werden Frauen beim Besitz und beim Führen von Unternehmen nicht diskriminiert - außer in den Gebieten der al Shabaab (USDOS 3.3.2017).
Quellen:
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AA - Auswärtiges Amt (1.1.2017): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia
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A - Sicherheitsanalyseabteilung (2.2017): Sicherheitsbericht im Februar 2017
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BFA - BFA Staatendokumentation (8.2017): Fact Finding Mission Report Somalia. Sicherheitslage in Somalia. Bericht zur österreichisch-schweizerischen FFM, http://www.bfa.gv.at/files/berichte/FFM%20Report_Somalia%20Sicherheitslage_Onlineversion_2017_08_KE_neu.pdf, Zugriff 13.9.2017
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DIS - Danish Immigration Service/Danish Refugee Council (3.2017):
South and Central Somalia Security Situation, al-Shabaab Presence, and Target Groups. Report based on interviews in Nairobi, Kenya, 3 to 10 December 2016,
https://www.nyidanmark.dk/NR/rdonlyres/57D4CD96-E97D-4003-A42A-C119BE069792/0/South_and_Central_Somalia_Report_March_2017.pdf, Zugriff 21.11.2017
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HRW - Human Rights Watch (12.1.2017): World Report 2017 - Somalia, http://www.ecoi.net/local_link/334750/476503_de.html, Zugriff 14.9.2017
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NLMBZ - (Niederlande) Ministerie von Buitenlandse Zaken (11.2017):
Algemeen Ambtsbericht Zuid- en Centraal- Somalië, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1512376193_correctie-aab-zuid-en-centraal-somalie-2017-def-zvb.pdf, Zugriff 10.1.2018
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ÖB - Österreichische Botschaft Nairobi (9.2016): Asylländerbericht Somalia
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SEM - Staatssekretariat für Migration (Schweiz) (31.5.2017): Focus Somalia - Clans und Minderheiten, https://www.sem.admin.ch/dam/data/sem/internationales/herkunftslaender/afrika/som/SOM-clans-d.pdf, Zugriff 22.11.2017
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SEMG - Somalia and Eritrea Monitoring Group (8.11.2017): Report of the SEMG on Somalia,
https://www.un.org/ga/search/view_doc.asp?symbol=S/2017/924, Zugriff 14.11.2017
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UNHRC - UN Human Rights Council (6.9.2017): Report of the independent expert on the situation of human rights in Somalia http://www.refworld.org/docid/59c12bed4.html, Zugriff 11.11.2017
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UNSC - UN Security Council (5.9.2017): Report of the Secretary-General on Somalia,
http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1505292097_n1726605.pdf, Zugriff 8.11.2017
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UNSC - UN Security Council (9.5.2017): Report of the Secretary-General on Somalia,
http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1496910356_n1712363.pdf, Zugriff 10.11.2017
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USDOS - US Department of State (3.3.2017): Country Report on Human Rights Practices 2016 - Somalia, http://www.state.gov/j/drl/rls/hrrpt/humanrightsreport/index.htm?year=2016&dlid=265300, Zugriff 13.9.2017
Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Somalia: IFA Mogadischu, Frauen vom 09.01.2014
1. Inwieweit hat man als volljährige Frau, ohne Familienbezug in der Hauptstadt Mogadishu, die Möglichkeit, sich selbstständig eine Existenz aufzubauen?
Quellenlage/Quellenbewertung
Es liegen mehrere Quellen zur Bewertung der Frage vor, ob Personen ohne Anknüpfungspunkte (Clan, Familie o.Ä.) nach Mogadischu zurückkehren können bzw. ob und für wen Mogadischu eine IFA darstellen kann.
UNHCR vertritt die eigenen Konventionen, Guidelines und Regelwerke.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte veröffentlichte ein Urteil. Dieses wurde von den Richtern im Senat mit 5:2 gefällt.
Der Bericht des UN-Generalsekretärs erscheint periodisch und befasst sich mit der Situation in Somalia im Berichtszeitraum.
Die Quellen im Bericht von DIS/Landinfo sind teils anonymisiert, es kann jedoch aufgrund der Standards der beiden Institutionen davon ausgegangen werden, dass die Quellen gewissenhaft und nach internationalen Maßstäben ausgewählt worden sind.
Die OGN stellen eine Policy der britischen Asylbehörde dar. Das darin zitierte Urteil der britischen Berufungsbehörde ist ein sog. "Benchmark-Urteil".
Zusammenfassung
Grundsätzlich rangiert laut UN und britischer Behörde Somalia an zweiter Stelle der schlimmsten Staaten für Frauen. Die somalische Gesellschaft ist auf eine Diskriminierung der Frauen ausgerichtet, Gewalt gegen Frauen in der Kultur verankert. Trotzdem gibt es zahlreiche Haushalte, in welchen die Frau den Unterhalt für die Familie verdient - etwa als Kleinhändler im städtischen Bereich. Laut UN-Generalsekretär bleiben die Anstrengungen der Regierung, um die Gewalt gegen Frauen und Mädchen einzudämmen, gering.
Der EGMR unterstreicht, dass es den Vertragsstaaten vorbehalten ist, eine Interne Fluchtalternative (IFA) festzustellen. Allerdings müssen dafür einige Dinge gegeben sein: Die Person muss das fragliche Gebiet erreichen können; sie muss im fraglichen Gebiet aufgenommen werden; sie muss sich dort niederlassen können.
Die britischen OGN beinhalten Auszüge aus einem Benchmark-Urteil der britischen Berufungsinstanz, in welchem darauf hingewiesen wird, dass Frauen v.a. im städtischen Bereich bei Vorhandensein von Clan- und Familienunterstützung eine IFA finden können. Allerdings gibt es einige Frauen, die von einer IFA unverhältnismäßig hart getroffen würden. Die - u.a. humanitären - Umstände vor Ort sind zu berücksichtigen.
Der UNHCR erklärt, dass eine IFA für Mogadischu nur dann als annehmbar erachtet werden kann, wenn die fragliche Person ausreichend Unterstützung durch die Kern- oder die erweiterte Familie in Anspruch nehmen kann und wenn gleichzeitig Clanschutz im Ort der Rückführung gegeben ist. UNHCR erachtet bei einer Absenz ausreichender Unterstützung durch die Kern- oder erweiterte Familie bei gleichzeitigem Clanschutz eine IFA in Mogadischu für folgende Personengruppen nicht als gegeben:
* Unbegleitete Minderjährige oder Jugendliche mit dem Risiko einer Zwangsrekrutierung und anderer schwerer Verstöße;
* Junge Männer mit dem Risiko, als Sympathisanten der al Shabaab erachtet und dementsprechend durch Sicherheitskräfte der Regierung drangsaliert zu werden;
* Ältere Menschen;
* Menschen mit physischen oder psychischen Behinderungen;
* Alleinstehende oder alleinerziehende Frauen ohne männlichen Schutz, vor allem Angehörige von Minderheitenclans.
Angehörige der Diaspora können ungehindert nach Mogadischu zurückkehren und tun dies auch. Es gibt diesbezüglich keine Diskriminierung. Die Rückkehrer aus der Diaspora verfügen meist über ausreichend Ressourcen. UNHCR ergänzt, dass aber einige dieser "Rückkehrer" Somalia auch schon wieder verlassen haben.
Auch aus den direkten Nachbarländern kehren Flüchtlinge nach Somalia zurück. Ähnliche Bewegungen gibt es innerhalb des Landes, wo IDPs in ihre Heimat zurückkehren.
Quellen im Bericht von DIS/Landinfo erklären, dass eine Person, die nach Mogadischu zurückkehrt, auf Kontaktpersonen oder Familienverbindungen bzw. ein Netz in Mogadischu angewiesen ist. Quellen im Bericht von DIS/Landinfo erklären, dass eine Person, die nach Mogadischu zurückkehrt, auf Kontaktpersonen oder Familienverbindungen angewiesen ist. UNHCR erläutert, dass jeder Rückkehrer auf ein Netzwerk angewiesen ist, um in der Stadt überleben zu können. Dies betrifft jedenfalls unbegleitete Minderjährige oder Jugendliche mit dem Risiko einer Zwangsrekrutierung und anderer schwerer Verstöße; junge Männer mit dem Risiko, als Sympathisanten der al Shabaab erachtet und dementsprechend durch Sicherheitskräfte der Regierung drangsaliert zu werden; ältere Menschen; Menschen mit physischen oder psychischen Behinderungen; alleinstehende oder alleinerziehende Frauen ohne männlichen Schutz, vor allem Angehörige von Minderheitenclans.
UNHCR erklärt weiter, dass Neuankömmlinge in der Stadt, die weder über Clan- noch über Familienbeziehungen verfügen, schnell in das Visier der Sicherheitskräfte kommen können.
Der UNHCR stellt fest, dass die Rückkehrer in ein städtisches Gebiet, sofern kein vordefinierter Zugang zu Unterkunft oder Broterwerb vorliegt, und wo die Person über keine ausreichenden Unterstützungsnetzwerke verfügt, sich diese Person in jener Situation wiederfinden wird, in der sich die IDPs befinden. Daher muss die bereits vorhandene Anzahl an IDPs (in Mogadischu 336.000-360.000) und deren Situation berücksichtigt werden, wenn eine Rückführung nach Mogadischu angedacht wird. Es mangelt bereits jetzt an grundlegenden Ressourcen (u.a. Land und Trinkwasser). Der UNHCR berichtet hinsichtlich der IDPs in Mogadischu von:
körperlicher Gewalt; Einschränkung der Bewegungsfreiheit;
Einschränkung des Zugangs zu Nahrung und Unterkunft;
Diskriminierung. Zusätzlich leiden die IDPs gemäß UN-Generalsekretär und UNHCR unter unvorbereiteten Delogierungen und damit einhergehend oftmals Entzug der Lebensgrundlage. Unter den Zwangsdelogierten befinden sich laut UN-Generalsekretär auch Waisenkinder, alleinerziehende Mütter, und Behinderte.
Mehrere Quellen bei DIS/Landinfo teilen die Ansicht, wonach die IDPs in Mogadischu eine gefährdete Gruppe sind.
Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung sind in Mogadischu laut UNHCR weit verbreitet. Folglich können viele Menschen ihre Grundbedürfnisse nicht abdecken.
Laut UN-Generalsekretär bleiben die humanitären Bedürfnisse trotz einiger Verbesserungen enorm, das Erreichte fragil. Die Zahl der Personen in Krisen- oder Notsituation sank ca. 870.000. Weitere 2,3 Millionen Menschen ringen damit, auch nur minimale Nahrungsbedürfnisse zu stillen. Die Unterernährungsraten bleiben hoch: 206.000 Kinder unter fünf Jahren sind akut unterernährt.
Humanitäre Kräfte helfen den Familien, ihre Grundbedürfnisse zu stillen. Dabei liegt das Hauptaugenmerk auf dem Broterwerb, auf der Vieh- und Landwirtschaft. Die FAO, UNICEF und das WFP haben Infrastruktur wieder hergestellt (z.B. Bewässerungssysteme). In den ersten neun Monaten des Jahres 2013 profitierten 35.000 Haushalte von einem Geld-für-Arbeit-Programm. Im Berichtszeitraum half das WFP ca. 853.000 Menschen pro Monat [u.a. mit Nahrungsmittelhilfe].
Mehrere Quellen im Bericht von DIS/Landinfo gehen davon aus, dass Clanschutz in Mogadischu nicht mehr von hoher Relevanz ist. Vor allem aber die IDP-Frauen von Minderheiten leiden unter sexueller Gewalt und Vergewaltigung [Anm.: Anzunehmen ist, dass alle in Mogadischu nicht stark vertretenen Clans als - lokale - Minderheiten zu erachten sind]. Die sexuelle Gewalt grassiert selbst in von der Regierung geführten IDP-Lagern.
Andere Quellen im gleichen Bericht widersprechen und erklären, dass der Clanschutz immer noch eine gewichtige Rolle spielt. Auch der UNHCR geht davon aus, dass gerade hinsichtlich des Schutzes einer Person der Clan in Mogadischu nach wie vor von großer Relevanz ist.
Dem EGMR ist bewusst, dass die Menschenrechts- und Sicherheitslage in Mogadischu gegenwärtig ernst, fragil und oftmals unberechenbar ist. Allerdings übt al Shabaab keine Kontrolle mehr über die Stadt aus; gibt es keine Frontkämpfe und keinen Artilleriebeschuss mehr;
ging die Zahl ziviler Opfer zurück;
Folglich erkennt der EGMR, dass die gegenwärtige Situation in Mogadischu keine solche ist, in welcher jede Person in der Stadt einer ernsten Gefahr gemäß Artikel 3 der Konven