TE Bvwg Erkenntnis 2018/7/23 L519 2194191-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 23.07.2018
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Entscheidungsdatum

23.07.2018

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art.133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55

Spruch

L519 2194191-1/9E

SCHRIFTLICHE AUSFERTIGUNG DES AM 30.05.2018 MÜNDLICH VERKÜNDETEN

ERKENNTNISSES

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. Isabella ZOPF als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX, StA. Türkei, vertreten durch Verein Menschenrechte Österreich, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, RD NÖ, Außenstelle Wr. Neustadt vom 06.04.2018, Zl. XXXX, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 30.05.2018 zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerde wird gemäß § 3 Abs. 1 und § 8 Abs. 1, § 10 Abs. 1 Z 3, § 57 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005 idgF, § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG), BGBl. I Nr. 87/2012 idgF und § 52 Abs. 2 Z 2, § 52 Abs. 9 iVm § 46 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG), BGBl. I Nr. 100/2005 idgF, als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

I.1. Der Beschwerdeführer (in weiterer Folge kurz als "BF" bezeichnet), ein Staatsangehöriger der Türkei, brachte nach nicht rechtmäßiger Einreise bei der belangten Behörde am 17.02.2017 einen Antrag auf internationalen Schutz ein, nachdem er bereits zweimal in Ungarn sowie einmal in Deutschland im Jahr 2016 Asylanträge gestellt hatte.

Ein Rückübernahmeersuchen nach der Dublin III-Verordnung an Ungarn blieb erfolglos.

Erstinstanzlich brachte der BF zusammengefasst vor, dass er die Türkei verlassen habe, da dort diverse Repressalien gerade gegen die kurdische Bevölkerung vorlägen und er den Militärdienst nicht ableisten könne. Darüber hinaus hätte die Polizei im Rahmen einer Auseinandersetzung nicht den BF, sondern die Nationalisten unterstützt. Die Heimatstadt des BF sei zudem vom Staat zerstört worden, das Haus der Familie gäbe es nicht mehr.

Der BF legte einen türkischen Personalausweis vor.

I.2. Der Antrag des BF auf internationalen Schutz wurde folglich mit im Spruch genannten Bescheid der belangten Behörde gemäß § 3 Abs 1 AsylG 2005 abgewiesen und der Status eines Asylberechtigten nicht zuerkannt (Spruchpunkt I.). Gem. § 8 Abs 1 AsylG wurde der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei nicht zugesprochen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 2 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung in die Türkei gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.).

I.2.1. Im Rahmen der Beweiswürdigung erachtete die belangte Behörde das Vorbringen des BF als glaubwürdig, aber nicht asylrelevant.

I.2.2. Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Türkei traf die belangte Behörde ausführliche, aktuelle Feststellungen mit nachvollziehbaren Quellenangaben.

I.2.3. Rechtlich führte die belangte Behörde aus, dass weder ein unter Art. 1 Abschnitt A Ziffer 2 der GKF noch unter § 8 Abs. 1 AsylG zu subsumierender Sachverhalt hervorkam.

Es hätten sich weiter keine Hinweise auf einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG ergeben und stelle die Rückkehrentscheidung auch keinen ungerechtfertigten Eingriff in Art. 8 EMRK (§§ 55, 10 Abs. 2 AsylG 2005) dar.

I.3. Gegen diesen Bescheid wurde mit im Akt ersichtlichen Schriftsatz innerhalb offener Frist Beschwerde erhoben.

Vorgebracht wurde, dass die türkischen Behörden nicht gewillt wären, dem BF den notwendigen Schutz zu bieten. Der BF bekenne sich als Atheist und wolle in der Türkei nicht den Militärdienst antreten, weshalb er gesucht werden würde. Ein Bruder und ein Onkel des BF seien wegen Anhängerschaft zur PKK im Gefängnis gewesen. Dem BF drohe im Falle der Rückkehr die politische und strafrechtliche Verfolgung. Da der BF wegen seiner Teilnahme an Protestmärschen "rechtswidrig angehalten und inhaftiert wird, begriff er" (sic!), dass er in der Türkei in Gefahr sei. Der BF habe gegen die Regierung demonstriert und sei deshalb sein Leben in Gefahr. Im Falle der Rückkehr würde er strafrechtlich verfolgt werden.

In der Folge wurde aus dem Amnesty International Report, dem Bericht der Schweizer Flüchtlingshilfe zur Situation von die PKK unterstützenden Kurden sowie den Länderfeststellungen im Bescheid und weiteren Berichten zitiert.

Vor dem Hintergrund, dass das Vorbringen des BF Deckung in den Länderberichten fände, sei es erstaunlich, dass das BFA dem BF die Glaubwürdigkeit abspreche.

1.4 Für den 30.05.2018, 09.00 Uhr lud das erkennende Gericht die Verfahrensparteien zu einer Beschwerdeverhandlung.

Gemeinsam mit der Ladung wurden -in Ergänzung bzw. Wiederholung zu den bereits bei der belangten Behörde stattgefundenen Belehrungen-Informationsblätter hinsichtlich der Obliegenheit zur Mitwirkung im Verfahren übermittelt und wurde der BF aufgefordert, Bescheinigungsmittel vorzulegen. Hingewiesen wurde darauf, dass die Verhandlung in Abwesenheit des BF durchgeführt werden kann, wenn der BF die Verhandlung unentschuldigt versäumt und sind Verhinderungsgründe sofort mitzuteilen.

Die Verhandlung wurde in Abwesenheit des BF durchgeführt und waren eine Behördenvertreterin sowie der Rechtsvertreter des BF anwesend.

Der Rechtsvertreter verwies auf das Urteil Ülke gegen die Türkei und legte in der Verhandlung den Bericht der Schweizer Flüchtlingshilfe zur Lage der Kurden in der Türkei, denen Unterstützung oder Mitgliedschaft in der PKK vorgeworfen wird, vor.

Das Erkenntnis wurde gemäß § 29 Abs. 2 VwGVG mündlich verkündet.

I.5. Am 30.05.2018 um 11.13 Uhr langte beim Bundesverwaltungsgericht eine Krankmeldung einer Allgemeinmedizinerin ein, wonach der BF wegen der Diagnose "V.a. Anämie, Hyperlipidämie, rezidiv Infekte und Depressio" (Blutarmut, Cholesterin, wiederkehrender Infekt und nicht näher eingeordnete Depression) am 30.05.2018 in Behandlung war und von 29.05.2018 bis 30.05.2018 arbeitsunfähig gewesen ist.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

II.1.1. Der Beschwerdeführer:

Beim Beschwerdeführer handelt es sich um einen türkischen Staatsangehörigen, welcher der Volksgruppe der Kurden angehört und Moslem ist. Er ist Drittstaatsangehöriger und stammt aus XXXX, Provinz XXXX.

Es liegen EURODAC Treffermeldungen der Kategorie 1 für Ungarn (XXXX) und Deutschland (XXXX) vor.

Er ist ein junger, weitgehend gesunder, arbeitsfähiger Mann mit bestehenden familiären Anknüpfungspunkten im Herkunftsstaat und einer -wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreichgesicherten Existenzgrundlage.

Der BF hat in der Türkei acht Jahre die Grundschule besucht und im Anschluss als Elektriker gearbeitet. Aus beruflichen Gründen pendelte er zuletzt zwischen Istanbul und seiner Heimatstadt. Er spricht Türkisch, Kurdisch und etwas Deutsch. Er besucht einen Deutschkurs, hat aber noch keine Prüfung abgelegt.

Die Eltern und drei Geschwister leben nach wie vor in der Türkei in der Heimatstadt des BF, wo dieser auch aufwuchs. Ein Bruder des BF arbeitet in Antalya, ein Bruder lebt in Deutschland. Der Vater des BF arbeitet als Wachmann, die Mutter zeitweise in der Landwirtschaft.

In Österreich bestehen keine familiären Kontakte, in der Freizeit besucht der BF einen kurdischen Verein und spielt Fußball.

Der BF ist strafrechtlich unbescholten. Er bezieht Leistungen der Grundversorgung.

Der BF hat Blutarmut, erhöhtes Cholesterin und eine nicht näher klassifizierte Depression. Diese Erkrankungen sind in der Türkei behandelbar und nicht lebensbedrohend.

Die Identität des BF steht fest.

II.1.2. Die Lage im Herkunftsstaat Türkei

Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Türkei werden folgende Feststellungen getroffen:

KI vom 29.1.2018, Festnahmen wegen Kritik an der türkischen Militäroperation in Syrien (relevant für Abschnitt: 12. Meinungs- und Pressefreiheit / Internet)

Dutzende türkische Social-Media-Nutzer, darunter auch Journalisten, wurden festgenommen, weil sie die Offensive der Türkei gegen die syrisch-kurdische Miliz YPG kritisiert haben, die Ankara als Bedrohung für die Grenzsicherheit sieht. Die türkische Internetbehörde überwacht Nutzer, die Inhalte teilen, welche die türkischen Truppen an der Front demoralisieren oder die einheimische Öffentlichkeit beeinflussen könnten. Das Büro des Premierministers erlässt direkt Zugangsverbote für solche Inhalte, und gegen Nutzer, die solche Beiträge teilen, wird eine Untersuchung eingeleitet (Ahval 26.1.2018, vgl. Standard 23.1.2018). Außenminister Mevlüt Cavusoglu hatte bereits am 21.1.2018 verkündet, dass jeder, der sich gegen die türkische Afrin-Offensive ausspricht, Terroristen unterstütze (DS 21.1.2018). Diesbezüglich Verdächtige werden wegen "Beleidigung von Amtsträgern", "Anstiftung zu Hass und Feindseligkeit in der Öffentlichkeit", "Beleidigung des Präsidenten" oder "Propaganda für terroristische Vereinigungen" angeklagt (AA 27.1.2018).

Der OSZE-Beauftragte für Medienfreiheit, Harlem Désir, forderte am 26.1.2018 die türkischen Behörden auf, die Terrorismusanklagen gegen Journalisten fallen zu lassen und diese freizulassen. Désir äußerte auch seine Besorgnis über die Anweisungen für die Berichterstattung über die Militäraktionen in der Region Afrin, die Redakteuren und Reportern bei einer Pressekonferenz seitens des Premierministers Binali Yildirim, des stellvertretenden Premierministers Bekir Bozdag und Verteidigungsministers Nurettin Canikli erteilt wurden. Désir erinnerte daran, dass Journalisten nicht zum Inhalt instruiert werden sollten und dass die Pressefreiheit jederzeit geachtet werden muss. Es sei die Aufgabe eines Journalisten, unterschiedliche Ansichten zu präsentieren und die Öffentlichkeit zu informieren, auch wenn der Inhalt Kritik enthält (OSCE 26.1.2018).

Quellen:

Ahval (26.1.2018): Turkey asks Twitter, Facebook, YouTube to remove posts on Afrin op,

https://ahvalnews.com/freedom-speech/turkey-asks-twitter-facebook-youtube-remove-posts-afrin-op, Zugriff 29.1.2018

AA - Anadolu Agency (27.1.2018): Turkey remands 16 for PYD/PKK promotion on social media,

http://aa.com.tr/en/turkey/turkey-remands-16-for-pyd-pkk-promotion-on-social-media/1044501, Zugriff 29.1.2018

DS - Daily Sabah (21.1.2018): Anyone who opposes Turkey's Afrin op will be siding with terrorists: FM Çavusoglu, https://www.dailysabah.com/war-on-terror/2018/01/21/anyone-who-opposes-turkeys-afrin-op-will-be-siding-with-terrorists-fm-cavusoglu, Zugriff 29.1.2018

OSCE - Organization for Security and Co-operation in Europe (26.1.2018): OSCE media freedom representative calls on Turkey to release detained journalists and respect everyone's right to express ideas freely, http://www.osce.org/fom/368261, Zugriff 29.1.2018

Der Standard (23.1.2018): Feldzug gegen Kurden: Kein Platz für Kritiker bei Erdogans Krieg,

https://derstandard.at/2000072760808/Kurdenmiliz-Tuerkische-Armee-bombardiert-Doerfer-in-Syrien?ref=rec, Zugriff 29.1.2018

KI vom 11.1.2018, Notstandsdekret Nr.696 - Straffreiheit von Zivilpersonen bei Gewalttaten zur Putschverhinderung _Verlängerung des Ausnahmezustandes (relevant für Abschnitt: 4. Rechtsschutz/Justizwesen)

Am 24.12.2017 wurde das Notstandsdekret Nr. 696 veröffentlicht. Das Notstandsdekret befasst sich unter anderem mit der Straffreiheit von Zivilisten, die während der Putschnacht vom 15. auf den 16.7.2016 Putschisten gewaltsam daran gehindert haben, die Regierung zu stürzen. Konkret heißt es unter Artikel 121, dass das Notstandsgesetz vom 11.9.2016 um den Zusatz "Zivilisten" ergänzt wird, die keinen Beamtenstatus besitzen. Das ältere Notstandsgesetz besagte, dass gegen Beamte die beim Putschversuch und in diesem Zusammenhang in nachfolgenden Terroraufständen Widerstand geleistet haben, juristisch nicht belangt werden können (Turkishpress 25.12.2017).

Das aktuelle Dekret Nr.696 löste jedoch einen Sturm der Entrüstung aus. Es stellt alle Misshandlungen der Putschnacht und alle weiteren Folterhandlungen, die im Zusammenhang mit der Putschnacht stehen, von der Strafverfolgung frei. Kritiker sprechen von einer Generalamnestie und befürchten, dass dies in Zukunft einen Freifahrtschein für ungezügelte Gewalt und Misshandlungen gegen Oppositionelle bedeute und den Aktionen paramilitärischer Einheiten Vorschub leiste, da im Dekret nicht präzisiert sei, für welchen Zeitraum diese "Straffreiheit" gelten solle. Da der Begriff des "Terrors" in der Türkei so weitgefasst und vage sei, könne ein Bürger, der einen umstürzlerischen Geist wittert und eigenmächtig zur Tat schreitet, nun vor Gericht als Widerstandskämpfer durchgehen. Rechtsanwälte und Juristen, die sich zum Dekret positioniert haben, erklärten, dass vor allem der Zusatz "in diesem Zusammenhang nachfolgende Ereignisse" problematisch sei (FNS 31.12.2017). Der türkische Justizminister Abdülhamit Gül bekräftigte, dass das Notstandsdekret keine Blanko-Amnestie sei und sich ausschließlich auf die Umstände während der Putschnacht und der Periode unmittelbar danach bezöge (Turkishpress 25.12.2017, vgl. FNS 31.12.2017).

Der Europarat prüfe laut Direktor für Kommunikation, Daniel Holtgen, derzeit die jüngsten Notstandsverordnungen (nebst Dekret 696 auch Dekret 695) der türkischen Regierung. Das Gremium überwache, ob die neuesten Notstandsverordnungen mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) vereinbar seien (HDN 28.12.2017).

Der stellvertretende Premierminister und Regierungssprecher Bekir Bozdag verkündete am 8.1.2018, dass der Ausnahmezustand verlängert werde (Anadolu 8.1.2018). Die formale Zustimmung des Parlaments, in welchem die Regierungspartei AKP die absolute Mehrheit innehält, vorausgesetzt, wäre dies die sechste Verlängerung seit dem 21.7.2016. Während des Ausnahmezustandes sind die Grundrechte eingeschränkt und die Notstandsdekrete sind nicht vor dem Verfassungsgericht anfechtbar (Standard 8.1.2018).

Quellen:

-

AA - Anadolu Agency (8.1.2018): State of emergency to be extended 'once again',

http://aa.com.tr/en/todays-headlines/state-of-emergency-to-be-extended-once-again/1025440, Zugriff 11.1.2018

-

FNS - Friedrich Naumann Stiftung (31.12.2017): TÜRKEI BULLETIN 24/17 (Berichtszeitraum: 18. - 31. Dezember 2017), http://bit.ly/2CaXijh, Zugriff 11.1.2018

-

HDN - Hürriyet Daily News (28.12.2017): CoE examining latest decree laws, likely to ask for information from Ankara: Official, http://www.hurriyetdailynews.com/coe-examining-latest-decree-laws-likely-to-ask-for-information-from-ankara-official-124923, Zugriff 11.1.2018

-

Turkishpress (25.12.2017): Türkei: Streit um Notstandsdekret 696, https://turkishpress.de/news/politik/25-12-2017/tuerkei-streit-um-notstandsdekret-696, Zugriff 11.1.2018

-

Der Standard (8.1.2018): Ausnahmezustand in der Türkei soll zum sechsten Mal verlängert werden, https://derstandard.at/2000071713337/Ausnahmezustand-in-der-Tuerkei-soll-zum-sechsten-Mal-verlaengert-werden?ref=rss, Zugriff 11.1.2018

KI vom 29.11.2017, Stand der Verhaftungen (relevant für Abschnitt: 2. Politische Lage).

Das türkische Innenministerium teilte am 27.11.2017 mit, dass im November 2.589 Personen wegen angeblicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung festgenommen wurden, wodurch sich die Gesamtzahl der im Zeitraum Oktober-November inhaftierten Personen auf 5.747 erhöht hat. Innenminister Süleyman Soylu veranschlagte am 16.11.2017 die Gesamtzahl der Inhaftierten mit 48.739. Soylu sagte auch, dass 215.092 Personen als Nutzer der Smartphone-Anwendung "ByLock" aufgelistet und bereits 23.171 Nutzer verhaftet wurden. Die türkischen Behörden glauben, dass ByLock ein Kommunikationsmittel unter den Anhängern der Gülen-Gruppe ist (TM 27.11.2017). Die regierungskritische Website, Turkey Purge, zählte allerdings bereits am 3.11.2017 rund 61.250 Inhaftierungen nebst rund 129.000 Verhaftungen sowie 146.700 Entlassungen seit dem Putschversuch vom 15.7.2016 (TP 3.11.2017).

Ein Staatsanwalt in Istanbul hat laut der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu am 29.11.2017 in einer landesweiten Operation Haftbefehle gegen 360 mutmaßliche Gülen-Mitglieder in den Streitkräften erlassen (Anadolu 29.11.2017).

Quellen:

-

Anadolu Agency (29.11.2017): Turkey issues arrest warrants for FETO suspects,

http://aa.com.tr/en/todays-headlines/turkey-issues-arrest-warrants-for-feto-suspects/984501, Zugriff 29.11.2017

-

Turkish Minute (27.11.2017): Turkey detains close to 6,000 over Gülen links in last two months, https://www.turkishminute.com/2017/11/27/turkey-detains-close-to-6000-over-gulen-links-in-last-two-months/, Zugriff 29.11.2017

-

Turkish Purge (3.11.2017): Turkey widens post-coup purge, https://turkeypurge.com/, Zugriff 29.11.2017

KI vom 19.4.2017, Verfassungsreferendum (relevant für Abschnitt: 2. Politische Lage)

Am 16.4.2017 stimmten nach vorläufigen Ergebnissen bei einer Wahlbeteiligung von 84% 51,3% der türkischen Wählerschaft für die von der regierenden AKP initiierte und von der rechtsnationalistischen "Partei der Nationalistischen Bewegung" (MHP) unterstützte Verfassungsänderung, welche ein exekutives Präsidialsystem vorsieht (HDN 16.4.2017).

Die gemeinsame Beobachtungsmisson der OSZE und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte in einer Stellungnahme am 17.4.2017 sowohl die Kampagne als auch die Mängel des Referendums. Das Referendum sei unter ungleichen Wettbewerbsbedingungen von statten gegangen. Der Staat habe nicht garantiert, dass die WählerInnen unparteiisch und ausgewogen informiert wurden. Zivilgesellschaftliche Organisationen konnten an der Beobachtung des Referendums nicht teilhaben. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des bestehenden Ausnahmezustands hätten negative Auswirkungen gehabt (OSCE/PACE 17.4.2017). Cezar Florin Preda, der Leiter der PACE-Delegation sagte, dass das Referendum nicht die Standards des Europarates erfüllte und die rechtlichen Rahmenbedingungen nicht adäquat für die Durchführung eines genuinen demokratischen Prozesses waren (PACE 17.4.2017). Laut OSZE wurden im Vorfeld des Referendums Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terrorsympathisanten oder Unterstützer des Putschversuchens vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017). Noch während des Referendums entschied die Oberste Wahlbehörde überraschend, auch von ihr nicht gekennzeichnete Stimmzettel und Umschläge gelten zu lassen. Die Beobachtungsmission der OSZE und des Europarates bezeichneten dies als Verstoß gegen das Wahlgesetz, wodurch Schutzvorkehrungen gegen Wahlbetrug beseitigt wurden (Zeit 17.4.2017; vgl. PACE 17.7.2017).

Die oppositionelle Republikanische Volkspartei (CHP) und die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) legten bei der Obersten Wahlkommission Beschwerde ein, wonach 2,5 Millionen Wahlzettel ohne amtliches Siegel verwendet wurden. Die Kommission wies die Beschwerde zurück (AM 17.4.2017). Gegner der Verfassungsänderung demonstrierten in den größeren Städten des Landes gegen die vermeintlichen Manipulationen. Der Vize-Vorsitzende der CHP, Bülent Tezcan bezeichnete das Referendum als "organisierten Diebstahl" und kündigte an, den Fall vor das türkische Verfassungsgericht und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu bringen, so nötig (AM 18.7.2017). Die EU-Kommission hat die türkische Regierung aufgefordert, die mutmaßlichen Unregelmäßigkeiten zu untersuchen (Zeit 18.4.2017). Die OSZE kritisiert eine fehlende Bereitschaft der türkischen Regierung zur Klärung von Manipulationsvorwürfen, denn laut Michael Georg Link, Direktor des OSZE-Büros für demokratische Institutionen und Menschenrechte stand fest, dass die Entscheidung der Wahlkommission, falsch oder gar nicht gestempelte Wahlzettel als gültig zu werten, ein Verstoß gegen türkisches Recht darstellte (FAZ 19.4.2017). Daraufhin kündigte die Oberste Wahlkommission eine Prüfung der Vorwürfe an (Spiegel 19.4.2017).

Quellen:

? AM - Al Monitor (17.4.2017): Where does Erdogan's referendum win leave Turkey?

http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2017/04/turkey-erdogan-referendum-victory-further-uncertainty.html, Zugriff 19.4.2017

? AM - Al Monitor (18.4.2017): Calls for referendum annulment rise in Turkey,

http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2017/04/turkey-referendum-fraud.html, Zugriff 19.4.2017

? Die Zeit (17.4.2017): Beobachter bemängeln Unregelmäßigkeiten im Wahlablauf,

http://www.zeit.de/politik/ausland/2017-04/osze-tuerkei-referendum-wahlbeobachter-kritik, Zugriff 19.4.2017

? Die Zeit (18.4.2017): EU fordert Untersuchung von Manipulationsvorwürfen,

http://www.zeit.de/politik/ausland/2017-04/tuerkei-eu-kommission-untersuchung-referendum-wahlbeobachter, zugriff 19.4.2017

? FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung (19.4.2017): OSZE kritisiert Erdogans Umgang mit Manipulationsvorwürfen, http://www.faz.net/aktuell/tuerkei-referendum-osze-kritisiert-erdogans-umgang-mit-manipulationsvorwuerfen-14977732.html, Zugriff 19.4.2017

? HDN - Hürriyet Daily News (16.4.2017): Turkey approves presidential system in tight referendum, http://www.hurriyetdailynews.com/live-turkey-votes-on-presidential-system-in-key-referendum.aspx?pageID=238&nID=112061&NewsCatID=338, Zugriff 19.4.2017

? OSCE/PACE - Organization for Security and Cooperation in Europe/ Parliamentary Assembly of the Council of Europe (17.4.2017):

INTERNATIONAL REFERENDUM OBSERVATION MISSION, Republic of Turkey - Constitutional Referendum, 16 April 2017 - Statement of Preliminary Findings and Conclusions,

https://www.osce.org/odihr/elections/turkey/311721?download=true, Zugriff 19.4.2017.

? PACE - Parliamentary Assembly of the Council of Europe (17.4.2017): Turkey's constitutional referendum: an unlevel playing field,

http://assembly.coe.int/nw/xml/News/News-View-EN.asp?newsid=6596&lang=2&cat=31, Zugriff 19.4.2017

? Spiegel Online (19.4.2017): Wahlkommission prüft Beschwerden über Manipulationen,

http://www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkei-referendum-wahlkommission-prueft-beschwerden-ueber-manipulationen-a-1143822.html, Zugriff 19.4.2017

KI vom 9.3.2017, Parlamentarische Versammlung des Europarates und UN-Hochkommissar für Menschenrechte zur Lage in der Türkei (relevant für die Abschnitte: 3. Sicherheitslage, 11. Allgemeine Menschenrechtslage, 12. Meinungs- und Pressefreiheit)

Das Monitoring-Komitee der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) rief am 8.3.2017 zur Wiederaufnahme des Monitoring-Verfahrens in Bezug auf die Türkei auf. Das Monitoring-Komitee zeigte sich besorgt, dass es im Zuge des Ausnahmezustandes zu einer ernsthaften Verschlechterung der Funktionsfähigkeit der demokratischen Institutionen gekommen ist. Die türkische Regierung hätte überdies unverhältnismäßige Maßnahmen ergriffen, die jenseits dessen gehen, was die türkische Verfassung und das Völkerrecht erlauben. Das Komitee zeigte sich wegen des Ausmaßes der durchgeführten Säuberungen in der Verwaltung, der Armee, der Justiz und des Bildungswesens besorgt. Es zeigte sich angesichts der wiederholten Verletzungen der Medienfreiheit und der Anzahl der inhaftierten Journalisten alarmiert, und bezeichnete dies als "inakzeptabel in einer demokratischen Gesellschaft". Die Aufhebung der parlamentarischen Immunität, insbesondere der Abgeordneten der pro-kurdischen HDP, die mit 93% überproportional betroffen waren, führe laut Komitee zu ernsthaften Einschränkungen der demokratischen Debatte am Vorabend des Verfassungsreferendums, das für den 16. April 2017 vorgesehen ist. Das Komitee fordert die Aufhebung des Ausnahmezustandes, den Stopp der Notstandsverordnungen sowie die Freilassung aller Parlamentarier und Journalisten bis zu deren Prozessende (PACE 8.3.2017).

Am 8.3.2017 zeigte sich der Hochkommissar für Menschenrechte der Vereinten Nationen, Zeid Ra'ad Al Hussein, in seiner Rede vor dem UN-Menschenrechtsrat besorgt, dass die unter dem Ausnahmezustand ergriffenen Maßnahmen scheinbar die Kritik und nicht den Terrorismus im Visier haben. Die Tatsache, dass Zehntausende nach dem versuchten Putsch entlassen, verhaftet, inhaftiert oder verfolgt worden sind - darunter auch zahlreiche demokratisch gewählte Volksvertreter, Richter und Journalisten - wecken die ernsthafte Besorgnis, ob ordentliche Gerichtsverfahren garantiert werden können. Die Menschenrechtssituation in der Südosttürkei ist laut Hochkommissar nach wie vor zutiefst beunruhigend. Ohne Zugang zum Gebiet hat das Fernüberwachungsverfahren des Büros des Hochkommissars glaubwürdige Hinweise auf hunderte von Todesfällen erhalten, was auf unverhältnismäßige Sicherheitsmaßnahmen als Reaktion auf gewalttätige Angriffe hindeutet (UN-OHCHR 8.3.2017).

Quellen:

-

PACE - Parliamentary Assembly of the Council of Europe / Monitoring Committee (8.3.2017): The Monitoring Committee calls for the monitoring procedure in respect of Turkey to be re-opened, http://assembly.coe.int/nw/xml/News/News-View-EN.asp?newsid=6538&lang=2&cat=3, Zugriff 9.3.2017

-

UN-OHCHR - UN-Office of the High Commissioner for Human Rights (8.3.2017): High Commissioner for Human Rights presents Annual Report to the Human Rights Council, http://www.ohchr.org/EN/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=21316&LangID=E, Zugriff 9.3.2017

KI vom 22.2.2017, Verurteilung von Parlamentariern der pro-kurdischen HDP (relevant für die Abschnitte: 2. Politische Lage, 13.1. Opposition und 17.1. Kurden)

Am 20.2.2017 hat die Demokratische Partei der Völker (HDP) beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EMRK) eine Beschwerde wegen der andauernden Inhaftierung ihrer beiden Ko-Vorsitzenden Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag eingereicht. Die HDP begründete dies u.a. mit dem Umstand, dass das Verfassungsgericht seit 95 Tagen keine Untersuchungen durchgeführt habe, und dadurch die beiden Parlamentarier ihren legislativen Aufgaben nicht nachkommen können (HDN 20.2.2017).

Die Staatsanwaltschaft in Diyarbakir fordert seit Jänner 2017 bis zu 142 Jahre Haft für Demirtas. Ihm werden unter anderem die Leitung der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK und Terrorpropaganda vorgeworfen (TS 17.1.2017). Ein Gericht im osttürkischen Dogubeyazit befand inzwischen am 21.2.2017 Selahattin Demirtas der "Herabwürdigung der türkischen Nation, des türkischen Staates und seiner Institutionen " schuldig und verurteilte ihn zu fünf Monaten Haft. Zudem wurde am 21.2.2017 Figen Yüksekdag ihr Parlamentsmandat aberkannt. Grund ist das Urteil des obersten Verwaltungsgerichts, das eine vorherige Verurteilung der Politikerin zu einer zehnmonatigen Haftstrafe wegen Terrorpropaganda bestätigt hatte (AM 21.2.2017; vgl. Zeit 21.2.2017). Idris Baluken, ein weiterer HDP-Abgeordneter, der eng mit den damaligen Friedensgesprächen zwischen der Regierung und dem inhaftierten PKK-Führer, Abdullah Öcalan, engagiert war, wurde nach Beanstandungen eines Appellationsgerichts erneut verhaftet (AM 21.2.2017).

Quellen:

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AM - Al Monitor (21.2.2017): Pro-Kurdish HDP leader kicked out of Turkish parliament,

http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2017/02/turkey-unseats-figen-yuksedag-kurdish-bloc-leader.html, Zugriff 22.2.2017

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Die Zeit (21.2.2017): Gericht verurteilt HDP-Chef zu fünf Monaten Gefängnis,

http://www.zeit.de/politik/ausland/2017-02/tuerkei-selahattin-demirtas-haftstrafe-figen-yueksekdag-mandat, Zugriff 22.2.2017

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HDN (20.2.2017): Opposition HDP applies to Euro court over arrest of co-leaders,

http://www.hurriyetdailynews.com/opposition-hdp-applies-to-euro-court-over-arrest-of-co-leaders.aspx?pageID=238&nID=109967&NewsCatID=338, Zugriff 22.2.2017

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TS - tagesschau.de (17.1.2017): 142 Jahre Haft für Demirtas? http://www.tagesschau.de/ausland/haftstrafe-demirtas-101.html, Zugriff 22.2.2017

1. Politische Lage

Die Türkei ist eine parlamentarische Republik, deren rechtliche Grundlage auf der Verfassung von 1982 basiert. In dieser durch das Militär initiierten und vom Volk angenommenen Verfassung wird das rechtsstaatliche Prinzip der Gewaltenteilung verankert. Die Türkei ist laut Verfassung eine demokratische, laizistische, soziale und rechtsstaatliche Republik, welche die Menschenrechte achtet und sich dem Nationalismus Atatürks verbunden fühlt (bpb 11.8.2014). Oberhaupt des Staates ist der Staatspräsident (IFES 2016a). Recep Tayyip Erdogan, der zuvor zwölf Jahre lang Premierminister war, gewann am 10.8.2014 die erstmalige direkte Präsidentschaftswahl, bei der auch zum ersten Mal im Ausland lebende türkische Staatsbürger an nationalen Wahlen teilnahmen (bpb 11.8.2014; vgl. BBC 8.12.2015; vgl. Presse 10.8.2014).

Nach einer Unterredung mit Staatspräsident Erdogan kündigte Ministerpräsident Ahmet Davutoglu am 5.5.2016 seinen Rücktritt als Partei- und Regierungschef an. Davutoglu galt zuletzt als Erdogans Widersacher auf dem Weg zu einem Umbau der Türkei zur Präsidialrepublik (WZ 5.5.2016; vgl. SD 5.5.2016). Die Spannungen zwischen Davutoglu und seiner Partei erreichten am 29.4.2016 einen Höhepunkt, als das Zentrale Exekutivkomitee der AKP beschloss, Davutoglu die Befugnis zur Ernennung der lokalen Parteiführer zu entziehen (HDN 5.5.2016). Neuer Ministerpräsident wurde Ende Mai Binali Yildirim, der sich durch eine besondere, selbstbekundete Loyalität zu Staatspräsident Erdogan auszeichnet (NZZ 29.5.2016).

Der Ministerpräsident und die auf seinen Vorschlag hin vom Staatspräsidenten ernannten Minister bzw. Staatsminister bilden den Ministerrat, der die Regierungsgeschäfte führt. Überdies ernennt der Staatspräsident 14 von 17 Mitglieder des Verfassungsgerichtes für zwölf Jahre. In der Verfassung wird die Einheit des Staates festgeschrieben, wodurch die türkische Verwaltung zentralistisch aufgebaut ist. Es gibt mit den Provinzen, den Landkreisen und den Gemeinden (belediye/mahalle) drei Verwaltungsebenen. Die Gouverneure der 81 Provinzen werden vom Innenminister ernannt und vom Staatspräsidenten bestätigt. Den Landkreisen steht ein vom Innenminister ernannter Regierungsvertreter vor. Die Bürgermeister und Dorfvorsteher werden vom Volk direkt gewählt, doch ist die politische Autonomie auf der kommunalen Ebene stark eingeschränkt (bpb 11.8.2014).

Das türkische Parlament, die Große Türkische Nationalversammlung, wird für vier Jahre gewählt. Gewählt wird nach dem Verhältniswahlrecht in 85 Wahlkreisen. Im Unterschied zu unabhängigen KandidatInnen gilt für politische Parteien landesweit eine Zehn-Prozent-Hürde (OSCE 18.8.2015).

2015 fanden zweimal Parlamentswahlen statt. Die Wahlen vom 7.6.2015 veränderten die bisherigen Machtverhältnisse in der Legislative. Die seit 2002 alleinregierende AKP (Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei) verlor zehn Prozent der Wählerstimmen und ihre bisherige absolute Mehrheit. Dies war auch auf den Einzug der pro-kurdischen HDP (Demokratische Partei der Völker) zurückzuführen, die deutlich die nötige Zehn-Prozent-Hürde für den Einzug ins Parlament schaffte (AM 8.6.2015; vgl. HDN 9.6.2015). Der Wahlkampf war überschattet von zahlreichen Attacken auf Parteilokale und physischen Übergriffen auch mit Todesopfern. Die OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) kritisierte überdies den Druck auf regierungskritische Medien sowie die unausgewogene Berichterstattung, insbesondere des staatlichen Fernsehens zugunsten der regierenden AKP. Überdies hat Staatspräsident Erdogan im Wahlkampf eine aktive Rolle zugunsten seiner eigenen Partei eingenommen, obwohl die Verfassung den Staatspräsidenten zur Neutralität verpflichtet (OSCE 8.6.2015).

Die Parlamentswahlen vom 1.11.2015, die als Folge der gescheiterten Regierungsbildung abgehalten wurden, endeten mit einem unerwartet deutlichen Wahlsieg der seit 2002 alleinregierenden AKP. Die AKP gewann fast die Hälfte der abgegebenen Stimmen, was einen Zuwachs von rund neun Prozent im Vergleich zu den Juni-Wahlen bedeutete. Da die pro-kurdische HDP, zwar unter Verlusten, die nötige Zehn-Prozenthürde für den Einzug ins Parlament schaffte, verfehlte die AKP die Verfassungsmehrheit, um das von ihrem Vorsitzenden und gegenwärtigen Staatspräsident, Recep Tayyip Erdogan, angestrebte Präsidialsystem zu errichten (Guardian 2.11.2015; vgl. Standard 2.11.2015).

Im 550-köpfigen Parlament sind vier Parteien vertreten: die islamisch-konservative AKP mit 49,5 Prozent der Wählerstimmen und 317 Mandaten (Juni 2015: 258), die sozialdemokratische CHP (Republikanische Volkspartei) mit 25,3 Prozent und 134 Sitzen (bislang 132), die rechts-nationalistische MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung) mit 11,9 Prozent und 40 Sitzen (bislang 80) sowie die pro-kurdische HDP mit 10,8 Prozent und 59 (bislang 80) Mandaten (IFES 2016b).

Der polarisierte Wahlkampf war überschattet von einer Gewalteskalation, insbesondere durch das Attentat vom 10.10.2015 in Ankara, bei welchem über 100 Menschen starben. Nebst Attacken vor allem auf Mitglieder und Parteilokale der pro-kurdischen HDP wurden mehrere HDP-Mitglieder festgenommen. Überdies wurden Mitglieder aller drei parlamentarischen Oppositionsparteien wegen Verunglimpfung von Amtsvertretern und Beleidigung des Staatspräsidenten angezeigt. Insbesondere im Südosten des Landes war infolge der verschlechterten Sicherheitslage und der darauf folgenden Errichtung von speziellen Sicherheitszonen und der Verhängung von Ausgangssperren ein freier Wahlkampf nicht möglich. Die zunehmende Anwendung von Bestimmungen des Anti-Terrorismus- und des Strafgesetzbuches während des Wahlkampfes führte dazu, dass gegen eine große Anzahl von Journalisten, Benutzern Sozialer- und Informationsmedien Untersuchungen wegen Verleumdung oder Terrorismusverdacht eingeleitet wurden. Zudem gab es Fälle von Gewalt gegen Medienhäuser und Journalisten (OSCE/ODHIR 23.10.2015; vgl. OSCE/ODHIR 2.11.2015).

Laut dem Bericht der Europäischen Kommission vom November 2016 sind Fortschritte in der Anpassung des Gesetzesrahmens an die Europäischen Standards ausgeblieben. Weiterhin bedarf es einer umfassenden Reform des parlamentarischen Regelwerkes, um die Inklusion die Transparenz und die Qualität der Gesetzgebung sowie eine effektive Aufsicht der Exekutive zu verbessern. Die parlamentarische Aufsicht über die Exekutive blieb schwach. Wann immer das Parlament seine Instrumente der Befragung oder der Untersuchungsausschüsse anwandte, blieben weiterführende Maßnahmen der Regierung unzureichend. Die Fähigkeit des Parlaments seine Schlüsselfunktionen, nämlich die Gesetzgebung und Aufsicht der Exekutive, auszuüben, blieb bis zum 15.7.2016 von politischer Konfrontation überschattet. Die Gesetzgebung wurde oft ohne ausreichende Debatte im Parlament und ohne Konsultation der Beteiligten vorbereitet und verabschiedet. Nach der Erklärung des Ausnahmezustandes und seiner Ausweitung war die Rolle des Parlaments im Gesetzgebungsverfahren beschränkt. Es gab weder Fortschritte bei der Reform der parlamentarischen Regeln und Verfahren noch hinsichtlich der Wahl- und Parteiengesetzgebung nach Europäischen Standards. Der im Dezember 2013 zum Stillstand gekommene Verfassungsreformprozess wurde im Februar 2016 wiederbelebt. Allerdings brachen die Diskussionen im Vermittlungsausschuss des Parlaments bald zusammen, da es zur Blockade wegen des von der regierenden AKP vorgeschlagenen Präsidialsystems kam (EC 9.11.2016).

In der Nacht vom 15.7. auf den 16.7.2016 kam es zu einem versuchten Staatsstreich durch Teile der türkischen Armee. Insbesondere Istanbul und Ankara waren von bewaffneten Auseinandersetzungen betroffen. In Ankara kam es u.a. zu Angriffen auf die Geheimdienstzentrale und das Parlamentsgebäude. In Istanbul wurde der internationale Flughafen vorrübergehend besetzt. Der Putsch scheiterte jedoch. Kurz vor Mittag des 16.7.16 erklärte der türkische Ministerpräsident Yildirim, die Lage sei vollständig unter Kontrolle (NZZ 17.7.2016). Mehr als 300 Menschen kamen ums Leben (Standard 18.7.2016). Sowohl die regierende islamisch-konservative Partei AKP als auch die drei im Parlament vertretenen Oppositionsparteien - CHP, MHP und die pro-kurdische HDP - hatten sich gegen den Putschversuch gestellt (SD 16.7.2016). Unmittelbar nach dem gescheiterten Putsch wurden 3.000 Militärangehörige festgenommen. Gegen 103 Generäle wurden Haftbefehle ausgestellt (WZ 19.7.2016a). Das Innenministerium suspendierte rund 8.800 Beamte, darunter 7.900 Polizisten, über 600 Gendarmen sowie 30 Provinz- und 47 Distriktgouverneure (HDN 18.7.2016). Über 150 Höchstrichter und zwei Verfassungsrichter wurden festgenommen (WZ 19.7.2016a; vgl. HDN 18.7.2016). Die Vereinigung der österreichischen Richterinnen und Richter zeigte sich tief betroffenen über die aktuellen Entwicklungen in der Türkei. Laut Richtervereinigung dürfen in einem demokratischen Rechtsstaat Richterinnen und Richter nur in den in der Verfassung festgelegten Fällen und nach einem rechtsstaatlichen und fairen Verfahren versetzt oder abgesetzt werden (RIV 18.7.2016).

Staatspräsident Erdogan und die Regierung sahen den im US-amerikanischen Exil lebenden Führer der Hizmet-Bewegung, Fethullah Gülen, als Drahtzieher der Verschwörung und forderten dessen Auslieferung (WZ 19.7.2016b). Präsident Erdogan und Regierungschef Yildirim sprachen sich für die Wiedereinführung der 2004 abgeschafften Todesstrafe aus, so das Parlament zustimmt (TS 19.7.2016; vgl. HDN 19.7.2016). Neben zahlreichen europäischen Politikern machte daraufhin auch die EU-Außenbeauftragte, Federica Mogherini, klar, dass eine EU-Mitgliedschaft der Türkei unvereinbar mit Einführung der Todesstrafe ist. Zudem sei die Türkei Mitglied des Europarates und somit an die europäische Menschrechtskonvention gebunden (Spiegel 19.7.2016).

Die Erklärung des Ausnahmezustandes vom 20. Juli führte zu erheblichen Gesetzesänderungen, die durch Dekrete ohne vorherige Konsultation des Parlaments angenommen wurden, obwohl eine begrenzte Konsultation der Oppositionsparteien vorgenommen wurde. Im Einklang mit Artikel 120 der Verfassung werden die Erlasse im Rahmen des Ausnahmezustands innerhalb von 30 Tagen dem Parlament zur Genehmigung unterbreitet. Die Einrichtung einer parlamentarischen Kommission, die Vertreter aller vier Parteien einschließt und Stellungnahmen zu den Dekreten erhält, die während des Ausnahmezustands erlassen werden sollen, wird geprüft (EC 9.11.2016).

Gegen die Dekrete kann nicht vor dem Verfassungsgericht vorgegangen werden. Während des Ausnahmezustands können nach Artikel 15 Grundrechte eingeschränkt oder ausgesetzt werden. Auch dürfen Maßnahmen ergriffen werden, die von den Garantien in der Verfassung abweichen. Voraussetzung ist allerdings, dass Verpflichtungen nach internationalem Recht nicht verletzt werden. Unverletzlich bleibt das Recht auf Leben. Niemand darf zudem gezwungen werden, seine Religionszugehörigkeit, sein Gewissen, seine Gedanken oder seine Meinung zu offenbaren, oder deswegen bestraft werden. Strafen dürfen nicht rückwirkend verhängt werden. Auch im Ausnahmezustand gilt die Unschuldsvermutung (DTJ 21.7.2016). Der Generalsekretär des Europarates, Thorbjørn Jagland, machte unter Zitierung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) klar, wonach jegliche Beeinträchtigung von Rechten der Situation angemessen sein muss, und dass unter keinen Umständen von Artikel 2 - das Recht auf Leben, Artikel 3 - das Verbot von Folter und unmenschlicher Behandlung oder Bestrafung und Artikel 7 - keine Bestrafung jenseits des Gesetzes, abgewichen werden darf. Opfer von Verletzungen der Menschenrechtskonvention durch die Türkei, infolge der verabschiedeten Maßnahmen unter dem Ausnahmezustand, hätten laut Jagland weiterhin das Recht, den EGMR anzurufen (CoE 25.7.2016).

Der nach dem Putschversuch verhängte Ausnahmezustand ist Anfang Jänner 2017 bis zum 19. April 2017 verlängert worden. Das Parlament in Ankara stimmte dem Antrag der Regierung auf Verlängerung um weitere drei Monate zu. Vize-Ministerpräsident Numan Kurtulmus begründete dies unter anderem mit anhaltenden terroristischen Angriffen auf die Türkei (FAZ 3.1.2017).

Seit dem gescheiterten Militärputsch vom 15. Juli wurden in der Türkei bereits mehr als 42.000 Menschen festgenommen und etwa 120.000 weitere entlassen oder vom Dienst suspendiert. Rund 600 Unternehmen von angeblich Gülen-nahen Geschäftsleuten wurden unter staatliche Zwangsverwaltung gestellt. Das enteignete Firmenvermögen beläuft sich auf geschätzte zehn Mrd. US-Dollar (FNS 1/2017). Laut "TurkeyPurge.com", einer Internetplattform, die aktuelle Informationen zur staatlichen Verfolgung von vermeintlichen Unterstützern des gescheiterten Putschen oder militanter Organisationen sammelt, waren mit Stand 5.2.2017 rund 124.000 Personen entlassen worden, davon fast 7.000 Akademiker sowie über

3.800 Richter und Staatsanwälte. Fast 91.000 Personen waren festgenommen worden, wovon über 44.500 inhaftiert wurden (TP 17.1.2017).

Sowohl die türkische Regierung, Staatspräsident Erdogan als auch die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) erklärten Ende Juli 2015 angesichts der bewaffneten Auseinandersetzungen den seit März 2013 bestehenden Waffenstillstand bzw. Friedensprozess für beendet (Spiegel 25.7.2015; vgl. DF 28.7.2015).

Hinsichtlich des innerstaatlichen Konfliktes forderte das EU-Parlament einen sofortigen Waffenstillstand im Südosten der Türkei und die Wiederaufnahme des Friedensprozesses, damit eine umfassende und tragfähige Lösung zur Kurdenfrage gefunden werden kann. Die kurdische Arbeiterpartei (PKK) sollte die Waffen niederlegen, terroristische Vorgehensweisen unterlassen und friedliche und legale Mittel nutzen, um ihren Erwartungen Ausdruck zu verleihen (EP 14.4.2016; vgl. Standard 14.4.2016).

Die Europäische Kommission bekräftigt das Recht der Türkei die Kurdische Arbeiterpartei (PKK), die weiterhin in der EU als Terrororganisation gilt, zu bekämpfen. Allerdings müssten die Anti-Terrormaßnahmen angemessen sein und die Menschenrechte geachtet werden. Die Lösung der Kurdenfrage durch einen politischen Prozess ist laut EK der einzige Weg, Versöhnung und Wiederaufbau müssten ebenfalls von der Regierung angegangen werden. Die Gesetzesänderung, welche die Aufhebung der Immunität einer großen Zahl von Parlamentariern bewirkte sowie die darauf folgende Festnahme und Inhaftierung mehrerer Abgeordneter der [pro-kurdischen] HDP Anfang November 2016, die beiden Ko-Vorsitzenden eingeschlossen, werden mit großer Sorge gesehen (EC 9.11.2016).

Die von Staatschef Erdogan angestrebte Verfassungsreform für ein Präsidialsystem in der Türkei ist vom Parlament am 21.1.2017 verabschiedet worden. In Kraft treten können die Änderungen allerdings erst, wenn das Volk in einem Referendum zustimmt. Für das von der regierenden AKP vorgelegte Reformpaket aus 18 Artikeln stimmten 339 Abgeordneten, 142 waren dagegen. Die notwendige Drei-Fünftel-Mehrheit von mindestens 330 Stimmen wurde auch mit Hilfe von Abgeordneten aus der ultranationalistischen Oppositionspartei MHP erzielt. Die Umsetzung der Verfassungsreform soll schrittweise erfolgen und bis Ende 2019 vollständig abgeschlossen sein. Das Präsidialsystem würde Staatspräsident Erdogan deutlich mehr Macht verleihen und das Parlament schwächen. Der Präsident würde zugleich als Staats- und Regierungschef amtieren und könnte weitgehend per Dekret regieren. Sein Einfluss auf die Justiz würde weiter zunehmen Die besagten Dekrete treten mit Veröffentlichung im Amtsanzeiger in Kraft. Eine nachträgliche Zustimmung durch das Parlament (wie im derzeit geltenden Ausnahmezustand) ist nicht vorgesehen. Die Dekrete werden nur dann unwirksam, falls das Parlament zum Thema des jeweiligen Erlasses ein Gesetz verabschiedet. Per Dekret kann der Präsident auch Ministerien errichten, abschaffen oder umorganisieren (DTJ 23.1.2017; vgl. FAZ 21.1.2017). Obwohl Präsidentschaftsdekrete einer Überprüfung durch das Verfassungsgericht unterliegen, dürfte das Gericht nicht mehr unabhängig und unparteiisch genug sein. Nach der Verfassungsänderung hätte das Verfassungsgericht 15 Mitglieder, die meisten direkt oder indirekt vom Präsidenten ernannt. Darüber hinaus wird der Präsident auch eine wichtige Rolle bei der Formierung des Obersten Rates der Richter und Staatsanwälte (HSYK) spielen (WP 24.1.2017). Laut Ministerpräsident Yildirim sollte das Referendum Anfang April 2017 stattfinden (TM 26.1.2017).

Quellen:

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AM - Al Monitor (8.6.2015): Turkey Pulse: What's next for Turkey? http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2015/06/turkey-elections-what-next-coalitions-akp-chp-hdp.html?utm_source=Al-Monitor+Newsletter+%5BEnglish%5D&utm_campaign=16d225108b-June_08_2015&utm_medium=email&utm_term=0_28264b27a0-16d225108b-102453981, Zugriff 24.1.2017

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BBC News (8.12.2015): Turkey country profile, http://www.bbc.com/news/world-europe-17988453, Zugriff 24.1.2017

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bpb - Bundeszentrale für politische Bildung (11.8.2014): Das politische System der Türkei,

http://www.bpb.de/internationales/europa/tuerkei/184968/das-politische-system-der-tuerkei, Zugriff 24.1.2017

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CoE - Council of Europe, Human Rights Europe (25.7.2016):

Thorbjørn Jagland: Council of Europe focussed on protecting human rights and democracy in Turkey, http://www.humanrightseurope.org/2016/07/thorbjorn-jagland-council-of-europe-focussed-on-protecting-human-rights-and-democracy-in-turkey/, Zugriff 25.1.2017

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Der Standard (14.4.2016): EU-Parlament kritisiert Rückschritte der Türkei,

http://derstandard.at/2000034877696/EU-Parlament-kritisiert-Rueckschritte-der-Tuerkei, Zugriff 25.1.2017

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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