TE Vfgh Erkenntnis 2017/6/14 E1486/2017

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Veröffentlicht am 14.06.2017
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1
Dublin III-VO vom 26.06.2013, EU 604/2013 Art18 Abs1 litb, Art25 Abs2
AsylG 2005 §5
FremdenpolizeiG 2005 §61
BFA-VG §21 Abs5

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Zurückweisung des Antrags auf internationalen Schutz und Feststellung der Zuständigkeit Ungarns sowie Anordnung der Außerlandesbringung mangels Heranziehung und Würdigung des eine aktuelle Gesetzesänderung berücksichtigenden Berichtsmaterials zur Lage von Asylwerbern in Ungarn; Willkür auch infolge der - mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht vereinbaren - Argumentation in der Entscheidungsbegründung

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I.        Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1.       Bei dem Beschwerdeführer handelt es sich um einen afghanischen Staatsangehörigen, der am 28. Juni 2016 einen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

In einer Befragung am 28. Juni 2016 durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der Beschwerdeführer zu seiner Reiseroute an, dass er über den Iran, die Türkei, Bulgarien, Serbien und Ungarn nach Österreich gelangt sei. Ausweislich einer Eurodac-Registerauskunft wurde der Beschwerdeführer am 24. Juni 2016 in Ungarn erkennungsdienstlich behandelt.

1.1.    In der Folge richtete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) am 4. Juli 2016 ein auf Art18 Abs1 litb der Verordnung (EU) Nr 604/2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (im Folgenden: Dublin III-VO) gestütztes Wiederaufnahmeersuchen an Ungarn. Mit Schreiben vom 27. Juli 2016 teilte das BFA der ungarischen Dublin-Behörde mit, dass auf Grund des Unterbleibens der Beantwortung des Wiederaufnahmegesuchs gemäß Art25 Abs2 Dublin III-VO die Zuständigkeit Ungarns zur Überprüfung des Antrages auf internationalen Schutz eingetreten sei.

1.2.    Der Beschwerdeführer wurde am 14. September 2016 durch das BFA einvernommen. Die Niederschrift lautet auszugsweise wie folgt:

"[BFA]: Sie haben am 22.08.2016 eine Verfahrensanordnung des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (in weiterer Folge BFA genannt) gem. §29/3/4 AsylG 2005 übernommen, in welcher Ihnen die beabsichtigte Vorgehensweise des BFA mitgeteilt wurde, Ihren Antrag auf internationalen Schutz zurückzuweisen und worin Sie auch über das Führen von Dublin Konsultationen mit Ungarn informiert wurden. Ein Aufnahmeersuchen des BFA an die ungarischen Behörden blieb unbeantwortet, weswegen sich aufgrund Art25 (2) der Dublin III VO eine Zuständigkeit Ungarns (Verfristung) für die Führung Ihres Asylverfahrens ergibt. Es ist daher beabsichtigt, Ihre Ausweisung aus Österreich nach Ungarn zu veranlassen. Möchten Sie dazu eine Stellungnahme abgeben?

[Beschwerdeführer]: In Ungarn gibt es zwischen einem Tier und einem Flüchtling keinen Unterschied. Man wird wie ein Tier behandelt. Als wir die ungarische Grenze überquert haben wurden wir nach 100 Metern von ungarischen Polizisten aufgegriffen und geschlagen. Es waren Frauen, Kinder und ältere Leute die man nicht so behandeln sollte. Die haben uns getreten und geschlagen. Sie haben uns schlimmer als ein Tier behandelt. Als ich in Talham angekommen bin habe ich gesagt, dass ich Schmerzen habe da ich brutal geschlagen wurde. Damals hatte ich Nierenschmerzen. Die haben einen Spray gehabt und haben sinnlos auf alle gesprüht, man hat stundenlang brennende Augen gehabt. Nachdem wir geschlagen wurden haben sie uns alle stundenlang in der strahlenden Sonne sitzen lassen, ohne Versorgung, ohne Wasser. Obwohl sie wussten, dass wir hungrig und durstig sind haben sie uns nicht versorgt. Danach wurden wir in eine Polizeistation gebracht und wurden in einem kleinen Zimmer, in dem man nicht mal sitzen konnte weil es so dreckig war eingesperrt. Wir mussten uns auch in diesem Zimmer erleichtern. Wir haben gebettelt aber wir haben nichts zu essen bekommen auch die Kinder nicht. Die Polizisten haben alle Flüchtlinge erniedrigt, beschimpft, bespuckt. [...]

[BFA]: Von wem wurden Sie geschlagen?

[Beschwerdeführer]: Von ungarischen Polizisten.

[BFA]: Wann und wo war dieser Vorfall?

[Beschwerdeführer]: Das war an einem Vormittag aber ich kann mich an das Datum nicht mehr genau erinnern. Das war im Grenzgebiet zwischen Serbien und Ungarn. 100 Meter in Richtung Ungarn. Beim Schichtwechsel kam die neue Schicht und hat wieder angefangen zu prügeln.

[BFA]: Können Sie über die involvierten Polizisten irgendwelche Angaben machen wie z.B. Namen, Dienstrang, Einheit?

[Beschwerdeführer]: Nein.

[BFA]: Haben Sie irgendetwas gegen diese Misshandlungen durch die ungarischen Polizisten unternommen?

[Beschwerdeführer]: Als wir angekommen sind kam ein Dolmetscher und sagte, wenn wir uns über Polizisten beschweren werden wir angeklagt und für 2 Monate eingesperrt. Wir haben Angst gehabt als wir das gehört haben. Nachgefragt war das in Gefängnis. Nachdem wir aufgegriffen worden sind kamen wir in ein Gefängnis, dort gab es einen Dolmetscher und der hat uns das gesagt. Wir waren 21 Leute. Ich war nicht alleine, zu jedem hat der Dolmetscher das gesagt. Ich habe gedacht wenn ich als Flüchtling so geschlagen werde, was passiert wenn ich als Täter eingesperrt werde. Ich hatte Angst und habe mich nicht beschwert."

2.       Mit Bescheid vom 10. Oktober 2016 wies das BFA den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz – ohne in die Sache einzutreten – gemäß §5 Abs1 AsylG 2005 als unzulässig zurück und sprach aus, dass für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz Ungarn zuständig sei (Spruchpunkt I). Es ordnete gemäß §61 Abs1 FPG die Außerlandesbringung an und sprach aus, dass gemäß §61 Abs2 FPG die Abschiebung nach Ungarn zulässig sei (Spruchpunkt II).

Das BFA traf Feststellungen zur Lage in Ungarn, welche von der Staatendokumentation des BFA zusammengestellt worden seien und dem Stand vom Juni 2016 entsprechen würden. Begründend führte es im Wesentlichen aus, dass infolge des mit Ungarn geführten Konsultationsverfahrens die Zuständigkeit Ungarns feststehe. Dem Beschwerdeführer drohe nach Überstellung in Ungarn keine Art3 EMRK widersprechende Behandlung.

Insbesondere schenkte das BFA den Aussagen des Beschwerdeführers in der Einvernahme am 14. September 2016, er sei in Ungarn misshandelt worden, keinen Glauben. Im Bescheid wird dazu u.a. Folgendes ausgeführt:

"Ihr gesamtes diesbezügliches Vorbringen stützt sich lediglich auf Ihre Behauptungen und ist einer Verifizierung nicht zugänglich. Zu den behaupteten Übergriffen gaben Sie im Verfahren kein einziges Detail zu involvierten Polizisten an, weder einen Namen, noch eine Dienstnummer, noch eine Abteilung. Auch gaben Sie im Verfahren weder eine Örtlichkeit, wo dies passiert sein soll, noch einen genaueren Zeitpunkt der behaupteten Geschehnisse an. Unter diesen Gesichtspunkten ist festzuhalten, dass es sich in Ihrem Fall ausschließlich um ein weder be- noch widerlegbares Vorbringen hinsichtlich der behaupteten Übergriffe handelt.

[...]

Der von Ihnen behauptete Sachverhalt, wonach Sie in Ungarn von der Polizei geschlagen worden seien, erfüllt die geforderten Voraussetzungen im Sinne einer 'zumutbaren' Mitwirkung nicht. Ihr lediglich in den Raum gestelltes Vorbringen, welches sich weder be- noch widerlegbar darstellt, ist zudem keiner Verifizierung zugänglich. Es wäre sehr wohl in Ihrer Sphäre gelegen, zumindest Anstrengungen dahingehend zu unternehmen, konkretere Informationen zu den handelnden Personen zu eruieren, oder den gesamten Sachverhalt in Ungarn zur Anzeige zu bringen. Nachdem Sie nicht einmal diese Minimalerfordernisse einer Mitwirkung erfüllt haben und dadurch nicht einmal ansatzweise eine Überprüfbarkeit Ihres Vorbringens möglich ist, kann Ihren lediglich in den Raum gestellten Behauptungen kein besonderes Gewicht beigemessen werden. Die von Ihnen aufgestellten Behauptungen erfüllen somit in keinster Weise die vom Verwaltungsgerichtshof für eine Glaubhaftmachung erforderliche 'zumutbare' Mitwirkung Ihrerseits im Verfahren."

3.       Der Beschwerdeführer brachte gegen diesen Bescheid eine Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht beim BFA ein, das die Beschwerde dem Bundesverwaltungsgericht vorlegte; die Beschwerde langte ausweislich der Aktenlage am 9. November 2016 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

3.1.    In der Beschwerde wurde u.a. beantragt, ihr die aufschiebende Wirkung gemäß §17 Abs1 BFA-VG auf Grund der befürchteten Verletzung der Art3 EMRK und Art4 GRC zuzuerkennen.

In der Sache machte der Beschwerdeführer zunächst geltend, dass Ungarn im Sinne der maßgeblichen Bestimmungen der Dublin III-VO gar nicht als der für die Prüfung seines Asylantrages zuständige Mitgliedstaat der Europäischen Union anzusehen sei. Darüber hinaus sei die Überstellung nach Ungarn auf Grund drohender Verletzung von Art3 EMRK unzulässig. Es gebe zwei höchst aktuelle Länderberichte – eine Information des UNHCR "Die Situation von Asylsuchenden nach einer Rücküberstellung nach Ungarn gemäß der Dublin-Verordnung" vom 9. September 2016 sowie einen Bericht von Amnesty International "Stranded hope: Hungary's sustained attack on the rights of refugees and migrants" vom 27. September 2016 –, die mit einer Vielzahl weiterer Berichte auf systemische Mängel im ungarischen Asylsystem hindeuten würden. Im Einzelnen würden dem Beschwerdeführer eine willkürliche Inhaftierung in Ungarn sowie unmenschliche Haftbedingungen und die Kettenabschiebung nach Serbien oder Griechenland drohen. Human Rights Watch habe weiters in einem Bericht vom 13. Juli 2016 Misshandlungen durch die ungarische Polizei bzw. das ungarische Militär an Flüchtlingen, die illegal die ungarische Grenze überqueren, geschildert.

3.2.    Am 19. Jänner 2017 wurde der Beschwerdeführer auf dem Luftweg nach Ungarn überstellt.

3.3.    Die Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis vom 16. März 2017 gemäß §5 AsylG 2005 und §61 FPG als unbegründet ab und stellte gemäß §21 Abs5 erster Satz BFA-VG fest, dass die Anordnung der Außerlandesbringung zum Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheids rechtmäßig war.

Im Zuge der Schilderung des Verfahrensgangs gibt das Bundesverwaltungsgericht die zur Lage in Ungarn vom BFA getroffenen Feststellungen wieder ("unkorrigiert und nunmehr gekürzt durch das Bundesverwaltungsgericht"). Das Bundesverwaltungsgericht stellt an späterer Stelle fest, dass es "sich den oben wiedergegebenen Feststellungen des angefochtenen Bescheids zur Allgemeinsituation im Mitgliedstaat Ungarn an[schließt]". Beweiswürdigend führt es hiezu aus, dass die Gesamtsituation des Asylwesens im zuständigen Mitgliedstaat aus den "umfangreichen und durch aktuelle Quellen belegten Länderfeststellungen des angefochtenen Bescheides" resultiere. Das BFA habe neben Ausführungen zur Versorgungslage von Asylwerbern in Ungarn auch Feststellungen zur dortigen Rechtslage und Vollzugspraxis getroffen. Die Beschwerde habe die Richtigkeit dieser Feststellungen nicht konkret in Zweifel gezogen.

Im Rahmen der Prüfung einer möglichen Verletzung von Art3 EMRK und Art4 GRC führt das Bundesverwaltungsgericht aus, dass auf Grund der ungarischen Rechtslage bzw. der Vollziehungspraxis keine systematische Verletzung von Rechten der EMRK erfolgen und diesbezüglich auch keine maßgebliche Wahrscheinlichkeit im Sinne eines "real risk" bestehen würde.

Zu dem Vorbringen des Beschwerdeführers, in Ungarn misshandelt worden zu sein, führt das Bundesverwaltungsgericht u.a. Folgendes aus:

"Der Beschwerdeführer ist der Richtigkeit der Länderberichte nicht auf entsprechendem fachlichem Niveau entgegengetreten und er hat im Verfahren nicht dargetan, dass er während seines Voraufenthaltes in Ungarn einer unmenschlichen Behandlung ausgesetzt gewesen sei. Dem Vorbringen lässt sich entnehmen, dass der Beschwerdeführer nach dem illegalen Grenzübertritt polizeilich angehalten und in einem Lager untergebracht wurde. Die vom Beschwerdeführer geschilderte schlechte Versorgungslage und die Unterbringung auf engem Raum sowie der Einsatz von Reizgas sind eine Folge der illegalen Einreise des Beschwerdeführers nach Ungarn gewesen.

[...]

Der Umstand, dass der Beschwerdeführer nach seinen Angaben beim Voraufenthalt in Ungarn gemeinsam mit anderen Fremden auf engem Raum angehalten worden und nur schlecht versorgt worden sei, wobei er von ungarischen Polizisten auch geschlagen worden sei, bildet keinen Beleg dafür, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rücküberstellungen nach Ungarn dem realen Risiko etwaiger Übergriffe ausgesetzt sein sollte. Nach der Darstellung des Beschwerdeführers sei die entsprechende Behandlung im Zusammenhang mit der Anhaltung nach dem illegalem Grenzübertritt und der Durchsetzung der erkennungsdienstlichen Behandlung des Beschwerdeführers nach dessen illegaler Einreise nach Ungarn erfolgt. Da bei einer Rücküberstellungen des Beschwerdeführers im Rahmen des Dublin-Verfahrens eine geordnete Übergabe an die ungarischen Behörden erfolgt ist, war davon auszugehen, dass es höchst unwahrscheinlich ist, dass der Beschwerdeführer etwaigen Übergriffen ausgesetzt sein sollte.

[...]

Jedenfalls hätte der Beschwerdeführer die Möglichkeit, etwaige konkret drohende oder eingetretene Verletzungen ihrer Rechte, etwa durch eine unmenschliche Behandlung im Sinne des Art3 EMRK, bei den zuständigen Behörden in Ungarn und letztlich beim EGMR geltend zu machen."

Zur Frage der möglichen Inhaftnahme des Beschwerdeführers nach seiner Rückkehr nach Ungarn führt das Bundesverwaltungsgericht u.a. Folgendes aus:

"Die festgestellte Praxis der ungarischen Behörden bei der Handhabung asylrechtlicher Haft zeigt, dass in der Zeit vom 01.01.2016 bis 13.06.2016 1536 Personen im Haft befanden, was angesichts von rund 20.000 gestellten Asylanträge Jahr 2016 lediglich einen geringen Anteil darstellt. Vor dem Hintergrund dieser Vollzugspraxis ist nicht zu erkennen, dass die ungarischen Behörden die asylrechtlicher Haft in exzessiver Weise verhängen und es hat der Beschwerdeführer auch nicht fallbezogen konkret dargetan, dass gerade er im Falle einer Überstellung nach Ungarn dort unberechtigt in asylrechtlicher Haft angehalten werden sollte, zumal dies auch während seines Voraufenthaltes in Ungarn nicht der Fall gewesen ist."

4.       Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende, gemäß Art144 B-VG erhobene Beschwerde, in der die Verletzung näher bezeichneter verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.

Begründend wird in der Beschwerde im Wesentlichen ausgeführt, dass das vom Bundesverwaltungsgericht zur Beurteilung der Situation von Asylwerbern in Ungarn herangezogene Berichtsmaterial nicht hinreichend aktuell gewesen sei. Außerdem habe das Bundesverwaltungsgericht eine Auseinandersetzung mit der Gesetzesänderung in Ungarn vom 7. März 2017, die eine ausnahmslose Inhaftierung von Asylsuchenden für die Dauer ihres Asylverfahrens vorsehe, unterlassen.

5.       Das Bundesverwaltungsgericht hat die Verwaltungs- und Gerichtsakten vorgelegt und von der Erstattung einer Äußerung Abstand genommen.

II.      Erwägungen

1.       Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.

1.1.    Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s. etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg.cit. gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl. zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s. etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).

Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).

1.2.    Solche Fehler sind dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:

2.       Die Entscheidung, einen Fremden auszuweisen oder in anderer Form außer Landes zu schaffen, kann die Verantwortlichkeit des Staates nach der EMRK bzw. der GRC begründen, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme glaubhaft gemacht worden sind, dass der Fremde konkret Gefahr liefe, in dem Land, in das er ausgewiesen werden soll, Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden (vgl. VfSlg 13.837/1994, 14.119/1995, 14.998/1997).

Dies gilt – bei Vorliegen der Voraussetzungen des Art3 Abs2 zweiter und dritter Satz Dublin III-VO – auch dann, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union gemäß Dublin III-VO für die Prüfung eines im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten gestellten Asylantrages zuständig ist. Insofern muss geprüft werden, ob es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung mit sich bringen. Daraus ergibt sich die Verpflichtung, den zur Beurteilung der Verpflichtung zum Selbsteintritt wesentlichen Sachverhalt festzustellen und zu würdigen (vgl. VfSlg 19.264/2010, 19.794/2013, 19.878/2014).

2.1.    Das Bundesverwaltungsgericht geht davon aus, dass eine "flächendeckende" Inhaftierungspraxis in Ungarn nicht ersichtlich sei, und beruft sich auf die bereits vom BFA in seinem Bescheid herangezogenen Länderberichte, die in den entscheidungsrelevanten Abschnitten zum großen Teil mit Ende 2015 oder einem davor gelegenen Zeitpunkt datiert sind. Jüngeren Datums sind im Wesentlichen nur eine Auskunft eines Verbindungsbeamten des BMI in Ungarn sowie ein Ergebnisprotokoll eines Expertentreffens zwischen BFA und BAH (ca. Mitte 2016).

2.2.    Der allgemeinen Berichterstattung in den Medien sowie Mitteilungen u.a. von UNHCR vom 7. März 2017 ("Internierung von Asylsuchenden in Ungarn alarmierend") und vom Kommissar für Menschenrechte des Europarates vom 8. März 2017 ("Menschenrechtskommissar besorgt über neues Asylantragsgesetz in Ungarn: automatische Festnahme erlaubt") war zu entnehmen, dass am 7. März 2017 das ungarische Parlament ein Gesetz beschlossen hat, das die Rechtslage bezüglich der Inhaftierung von Asylwerbern in Ungarn ändert. Laut der erwähnten Mitteilung von UNHCR sieht das Gesetz vor, "dass Asylsuchende, darunter auch viele Kinder, während ihres Asylverfahrens in Ungarn interniert werden sollen. In der Praxis bedeutet das, dass alle in Ungarn aufhältigen Asylsuchenden für die gesamte Dauer ihres Asylverfahrens in Containern untergebracht werden sollen. Diese befinden sich, umgeben von hohem Stacheldraht, an der Grenze zu Serbien. Mit diesem neuen Gesetz verstößt Ungarn sowohl gegen europäisches, als auch gegen internationales Recht. Die geplante Verordnung stellt schwerwiegende körperliche und psychische Belastungen für Frauen, Männer und Kinder dar, die bereits großes Leid erfahren mussten."

2.3.    Angesichts dieser Entwicklungen geht der Verfassungsgerichtshof davon aus, dass sich mit 7. März 2017 auf Grund des beschlossenen Gesetzesvorhabens im ungarischen Asylsystem eine wesentliche Veränderung der Sachlage abgezeichnet hat.

Mit diesen Umständen setzt sich das Bundesverwaltungsgericht in der angefochtenen Entscheidung vom 16. März 2017 jedoch nicht auseinander. Vielmehr geht das Bundesverwaltungsgericht in keiner Weise auf das umfangreiche, durch eine Vielzahl von Berichten – darunter die erwähnte Information des UNHCR, dessen Wertungen im Kontext der Prüfung des Art3 Abs2 zweiter und dritter Satz Dublin III-VO maßgebliches Gewicht beizumessen ist (EuGH 30.5.2013, Rs. C-528/11, Halaf, Rz 44 mwN) – untermauerte Vorbringen in der Beschwerde zur Lage von Asylwerbern in Ungarn ein. Es stellt keine eigenen Ermittlungen zur Situation von im Rahmen der Dublin III-VO rücküberstellten Asylwerbern in Ungarn an, sondern legt seiner Entscheidung ausschließlich die im Bescheid des BFA vom 10. Oktober 2016 getroffenen Feststellungen zugrunde.

Das Bundesverwaltungsgericht hätte aber Berichtsmaterial heranziehen und würdigen müssen, das die für Asylwerber in Ungarn neu entstandene Situation berücksichtigt (vgl. VfSlg 19.878/2014, 20.021/2015). Da die tatsächlich einbezogenen Berichte diesen Anforderungen nicht gerecht werden, hat das Bundesverwaltungsgericht das angefochtene Erkenntnis mit Willkür belastet.

Dem Erfordernis der Berücksichtigung einer hinreichend aktuellen Berichtslage steht im Übrigen auch der Umstand nicht entgegen, dass das Bundesverwaltungsgericht gemäß §21 Abs5 BFA-VG über eine Beschwerde gegen eine aufenthaltsbeendende Maßnahme, bei der sich der Fremde zum Zeitpunkt der Erlassung der Beschwerdeentscheidung nicht mehr im Bundesgebiet aufhält, festzustellen hat, ob die aufenthaltsbeendende Maßnahme zum Zeitpunkt ihrer Erlassung richtig war. Denn im Rahmen der gemäß §5 AsylG 2005 zu prüfenden Zuständigkeit Österreichs im Wege der allfälligen Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach der Dublin III-VO hat das Bundesverwaltungsgericht die maßgebliche Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt seiner Entscheidung zu berücksichtigen.

3.       Das Bundesverwaltungsgericht hat das angefochtene Erkenntnis aber auch aus einem weiteren Grund mit Willkür belastet:

Das Bundesverwaltungsgericht stuft das Vorbringen des Beschwerdeführers, in Ungarn Misshandlungen durch die Polizei ausgesetzt gewesen zu sein, erkennbar – offenbar in Übereinstimmung mit dem BFA – als unglaubwürdig ein, wenn es davon ausgeht, dass der Beschwerdeführer nicht dargetan habe, dass er "während seines Voraufenthaltes in Ungarn einer unmenschlichen Behandlung ausgesetzt gewesen sei". Eine weitergehende Begründung nimmt das Bundesverwaltungsgericht nicht vor; im Besonderen setzt es das Vorbringen des Beschwerdeführers nicht in Bezug zu (auch in der Beschwerde angeführten) frei zugänglichen Länderinformationen, die ebenso über eine wie die vom Beschwerdeführer geschilderte Vorgehensweise und Behandlung durch die ungarische Polizei berichten (vgl. etwa Human Rights Watch, 13.7.2016 "Ungarn: Migranten an Grenze misshandelt"; Amnesty International, September 2016 "Stranded Hope: Hungary's sustained attack on the rights of refugees and migrants").

Vielmehr beschränkt sich das Bundesverwaltungsgericht darauf, das Vorbringen des Beschwerdeführers mit dem Hinweis zu verwerfen, dass die "geschilderte schlechte Versorgungslage und die Unterbringung auf engem Raum sowie der Einsatz von Reizgas [...] eine Folge der illegalen Einreise des Beschwerdeführers nach Ungarn gewesen [sei]". Damit gibt das Bundesverwaltungsgericht zu erkennen, dass es die vom Beschwerdeführer geschilderten Misshandlungen allein schon deshalb als offenbar rechtmäßig und nicht weiter beachtlich ansieht, weil dieser die Staatsgrenze nach Ungarn illegal überschritten habe. Einer solchen, mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht zu vereinbarenden Argumentation kommt kein Begründungswert zu (vgl. VfGH 18.9.2014, E642/2014; 29.11.2016, E2151/2015; 24.2.2017, E2701/2016). Im Übrigen ist auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 14. März 2017 im Fall Ilias und Ahmed, Appl. 47287/15, hinzuweisen, in dem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine Verletzung von Art13 iVm Art3 EMRK hinsichtlich der Haftbedingungen in einer Transitzone festgestellt hat. Auch mit diesem, vor dem Zeitpunkt des angefochtenen Erkenntnisses ergangenen Urteil hat sich das Bundesverwaltungsgericht nicht auseinandergesetzt.

III.    Ergebnis

1.       Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

2.       Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

3.       Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– enthalten.

Schlagworte

Asylrecht, Fremdenpolizei, Außerlandesbringung, Ermittlungsverfahren, Entscheidungsbegründung, EU-Recht

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2017:E1486.2017

Zuletzt aktualisiert am

05.09.2018
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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