Index
40/01 Verwaltungsverfahren;Norm
AVG §37;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Stoll und die Hofräte Dr. Kremla, Dr. Riedinger, Dr. Holeschofsky und Dr. Beck als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Breunlich, über die Beschwerde der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates Wien vom 9. September 1999, Zl. UVS-01/17/0076/99, betreffend Schubhaft (mitbeteiligte Partei:
JK, vertreten durch den Magistrat der Stadt Wien, Amt für Jugend und Familie, dieser vertreten durch Mag. Georg Bürstmayr, Rechtsanwalt in Wien I., Stubenring 2), zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Begründung
Mit Bescheid der Bundespolizeidirektion Wien vom 25. August 1999 wurde über die mitbeteiligte Partei unter Berufung auf § 61 Abs. 1 FrG 1997 in Verbindung mit § 57 Abs. 1 AVG die Schubhaft zur Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer Ausweisung, des Verfahrens zur Erlassung eines Aufenthaltsverbotes und der Abschiebung verhängt.
In der Begründung dieses Bescheides wurde ausgeführt, dass die mitbeteiligte Partei unangemeldet im Bundesgebiet wohnhaft gewesen sei. Sie sei ohne gültiges Reisedokument an einem näher bezeichneten Ort in Wien betreten worden, wobei festgestellt worden sei, dass sie sich seit ca. 2 Jahren nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalte, weil sie unter Umgehung der Grenzkontrolle eingereist sei. Sie sei, ohne die Bestimmungen des 2. Hauptstückes des FrG zu beachten, eingereist und besitze keinen Einreisetitel, keinen Aufenthaltstitel und keine Aufenthaltsberechtigung nach dem Asylgesetz. Im Übrigen sei sie ohne Nachweis ausreichender Mittel für ihren Unterhalt angetroffen worden. Die Verhängung der Schubhaft zur Sicherung des fremdenpolizeilichen Verfahrens bzw. die Abstandnahme von der Anwendung gelinderer Mittel sei notwendig, weil zu befürchten sei, dass sich die mitbeteiligte Partei den fremdenpolizeilichen Maßnahmen entziehen werde, weil sie im Bundesgebiet nicht gemeldet sei und kein Reisedokument oder Barmittel besitze.
Mit dem angefochtenen Bescheid vom 9. September 1999 hat die belangte Behörde der Schubhaftbeschwerde der mitbeteiligten Partei gemäß § 72 FrG Folge gegeben und die Verhängung der Schubhaft und die Fortdauer der Anhaltung ab 25. August 1999 für rechtswidrig erklärt; diese Entscheidung begründete die belangte Behörde damit, dass die mitbeteiligte Partei vor ca. 2 Jahren mit ihrer Schwester A. nach Österreich gereist sei; die Stiefschwester befinde sich derzeit in Jugoslawien. Die mitbeteiligte Partei sei in Wien nicht aufrecht gemeldet und habe sich zuletzt bei ihrem Schwager B. aufgehalten. B. sei mit ihrer Schwester Z. verheiratet, die sich derzeit ebenfalls in Jugoslawien befinde, um für sie einen Reisepass zu besorgen. Die mitbeteiligte Partei sei "Zigeunerin", sie kenne ihr Geburtsdatum nicht, ihr Alter sei 16 Jahre. Sie gehe keiner Arbeit nach und werde von ihrer Schwester erhalten. Über die mitbeteiligte Partei seien wegen einer Übertretung des Aufenthaltsgesetzes und wegen einer Übertretung des Meldegesetzes jeweils Geldstrafen verhängt worden. Mit Bescheid der Bundespolizeidirektion Wien sei über die mitbeteiligte Partei ein für die Dauer von 5 Jahren befristetes Aufenthaltsverbot erlassen worden; dies mit der Begründung, dass sie am 25. August 1999 wegen Verdachtes der Entwendung, wegen Gebrauches fremder Ausweise und Mittellosigkeit festgenommen worden sei. Sie besitze keinerlei Barmittel und sei während ihres Aufenthalts in Österreich von ihren Schwestern finanziell unterstützt worden. Sie sei ledig und für niemanden sorgepflichtig, ihre Eltern lebten in Jugoslawien. Es bestünden nur geringe Bindungen zu Österreich. Am 1. September 1999 sei ein Ersuchen der Fremdenbehörde an die Botschaft der Republik Jugoslawien um Ausstellung eines Heimreisezertifikates ergangen. Am 2. September 1999 habe die Fremdenbehörde den Polizeichefarzt ersucht, einen Befund über das tatsächliche Lebensalter der mitbeteiligte Partei zu erstellen. Nach dem Ergebnis dieser Untersuchung sei die mitbeteiligte Partei ca. 20 Jahre alt. Die belangte Behörde führte weiters aus, sie sehe sich nicht in der Lage, eine abschließende Beurteilung über das wahre und korrekte Alter der mitbeteiligte Partei abzugeben, insbesondere deshalb, weil innerhalb der äußerst kurzen Entscheidungsfrist die Einholung eines umfangreicheren Gutachtens nicht möglich gewesen sei. Das vorliegende polizeichefärztliche Gutachten sei nicht geeignet gewesen, das Vorbringen der mitbeteiligten Partei zu entkräften, weil der Gutachtensersteller auf spezifische Besonderheiten, welche in der Herkunft der mitbeteiligten Partei gelegen seien, nicht eingegangen sei und es den allgemeinen Erfahrungen entspreche, dass Personen aus südlicheren Ländern schon in jüngeren Jahren erwachsener wirkten. Sohin habe die belangte Behörde der für die mitbeteiligte Partei günstigeren Variante den Vorzug zu geben und von der Minderjährigkeit der mitbeteiligten Partei auszugehen. Damit erweise sich die Verhängung der Schubhaft schon deshalb als rechtswidrig, weil das Amt für Jugend und Familie in das Verfahren nicht eingebunden gewesen und erst im Stadium der Einbringung der Beschwerde mit der Rechtssache betraut worden sei. Im Übrigen würde - ginge man von der Volljährigkeit der mitbeteiligten Partei aus - auch das Nichtvorhandensein einer eigenen Unterkunft und eigener Barmittel nicht die Anwendung gelinderer Mittel ausschließen. Die erstinstanzliche Behörde habe die Anwendung gelinderer Mittel überhaupt nicht in Erwägung gezogen oder deren Anwendung überprüft. Um aber eine derartige Bestimmung, die aus Aspekten der Menschenrechte durchaus begrüßenswert erscheine, nicht zu einer inhaltsleeren Norm zu machen, erscheine es notwendig, deren Anwendung auf eine nachvollziehbare Art zu überprüfen, insbesondere dann, wenn aufgrund der Sachlage nicht von vornherein klargestellt sei, dass die Anwendung gelinderer Mittel nicht in Betracht komme. Die Verwendung einer bloßen Scheinbegründung, welche die den Schubhaftbescheid erlassende Behörde gewählt habe, sei nicht ausreichend und belaste den angefochtenen Bescheid schon aus diesem Grund mit Rechtswidrigkeit.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende auf Art. 131 Abs. 2 B-VG in Verbindung mit § 74 FrG gestützte Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof erwogen hat:
Die beschwerdeführende Partei wendet sich zunächst dagegen, dass sich die belangte Behörde über das polizeichefärztliche Gutachten hinsichtlich des tatsächlichen Alters der mitbeteiligten Partei mit der Behauptung, der Gutachtensersteller sei auf spezifische Besonderheiten der Herkunft nicht eingegangen, gänzlich hinweggesetzt habe.
Dieses Gutachten vom 7. September 1999 hat folgenden Inhalt:
"Anamnese:
Altersfeststellung
Geburtsdatum ungeklärt
Untersuchungsbefund:
151 cm große, 38 kg schwere Person. Scham- und Achselbehaarung ausgebildet, Achselbehaarung rasiert. Sekundäre Geschlechtsmerkmale sehr gut ausgebildet, Weisheitszähne angelegt - Gebissdefekt.
Ärztliche Beurteilung (Gutachten):
Das numerische Alter der Untersuchten ist mit über 20 Jahren anzusetzen."
Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. das hg. Erkenntnis vom 19. Februar 1992, Zl. 90/12/0140, mwN) muss ein Sachverständigengutachten einen Befund und das eigentliche Gutachten im engeren Sinn enthalten. Der Befund besteht in der Angabe der tatsächlichen Grundlagen, auf denen das Gutachten aufbaut, und der Art, wie sie beschafft wurden. Mit anderen Worten:
Befund ist die vom Sachverständigen - wenn auch unter Zuhilfenahme wissenschaftlicher Feststellungsmethoden - vorgenommene Tatsachenfeststellung. Die Schlussfolgerungen des Sachverständigen aus dem Befund, zu deren Gewinnung er seine besonderen Fachkenntnisse und Erfahrungen benötigt, bilden das Gutachten im engeren Sinn. Eine sachverständige Äußerung, die sich in der Abgabe eines Urteils (eines Gutachtens im engeren Sinn) erschöpft, aber weder die Tatsachen, auf die sich dieses Urteil gründet, noch die Art, wie diese Tatsachen beschafft wurden, erkennen lässt, ist mit einem wesentlichen Mangel behaftet und als Beweismittel unbrauchbar; die Behörde, die eine so geartete Äußerung ihrer Entscheidung zugrunde legt, wird ihrer Pflicht zur Erhebung und Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes (§ 37 AVG) nicht gerecht. Der Sachverständige muss also, damit eine Schlüssigkeitsprüfung seines Gutachtens vorgenommen werden kann, auch darlegen, auf welchem Wege er zu seinen Schlussfolgerungen gekommen ist.
Vor dem Hintergrund der oben zitierten Rechtsprechung teilt der Verwaltungsgerichtshof die Ansicht der belangten Behörde, dass das amtsärztliche Gutachten, das keinerlei Hinweise darauf enthält, auf welchem Wege der Sachverständige zu seinen Schlussfolgerungen gekommen ist, den obgenannten Anforderungen an Sachverständigengutachten nicht entspricht. Die belangte Behörde konnte daher zunächst von keinem schlüssigen amtsärztlichen Gutachten ausgehen, war jedoch im Hinblick auf die unvollständigen Tatsachengrundlagen (anders als dann, wenn ein schlüssiges und mängelfreies Gutachten vorgelegen wäre) auf Grund des widerstreitenden Vorbringens der Fremdenbehörde und der mitbeteiligten Partei verpflichtet, eine Ergänzung des Gutachtens zu veranlassen oder andere taugliche Beweismittel zur Klärung des Sachverhalts heranzuziehen.
Dies folgt vor allem aus der Verpflichtung der belangten Behörde, gemäß § 66 Abs. 4 AVG für die notwendigen Ergänzungen des Ermittlungsverfahrens zu sorgen (vgl. Thienel, Das Verfahren der Verwaltungssenate2, S 159, 166, sowie das hg. Erkenntnis vom 23. Juli 1998, Zl. 98/20/0175).
Der örtlich zuständige unabhängige Verwaltungssenat hat nach § 73 Abs. 4 FrG 1997 nicht nur festzustellen, ob zum Zeitpunkt seiner Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorliegen, sondern auch - gemäß § 73 Abs. 2 Z. 2 leg. cit. binnen einer Woche - über die Rechtmäßigkeit bzw. Rechtswidrigkeit der Anhaltung von der Erlassung des Bescheides an zu entscheiden. Der Verwaltungsgerichtshof verkennt nicht, dass im Rahmen des Beschwerdeverfahrens vor der belangten Behörde im Hinblick auf die einwöchige Entscheidungsfrist eingehende amtswegige Erhebungen von vornherein ausgeschlossen sind (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 8. September 1995, Zl. 95/02/0040); das bedeutet aber keinen Verfahrensgrundsatz des Inhaltes, dass die belangte Behörde von jeglichen Erhebungen Abstand zu nehmen und jedenfalls der für den in Schubhaft Angehaltenen günstigeren Variante den Vorzug zu geben hatte.
Da die belangte Behörde die Rechtslage insoweit verkannt und zumutbare Ermittlungen unterlassen hat, hat sie den angefochtenen Bescheid schon aus diesem Grund mit Rechtswidrigkeit seines Inhaltes belastet.
Die beschwerdeführende Partei bekämpft auch jenen Begründungsteil des angefochtenen Bescheides, wonach "selbst bei Annahme der Volljährigkeit" der mitbeteiligten Partei deren Anhaltung in Schubhaft rechtswidrig sei, weil die Voraussetzungen für die Anwendung gelinderer Mittel nicht geprüft worden seien, und bringt vor, die erstinstanzliche Behörde habe bereits bei der Erlassung des Schubhaftbescheides eine Prüfung vorgenommen und sich mit der Frage auseinander gesetzt, ob die Anordnung eines gelinderen Mittel denselben Schutzzweck wie die Verhängung der Schubhaft erfülle.
Auch mit diesem Vorbringen ist die beschwerdeführende Partei im Recht:
Der Verwaltungsgerichtshof hat in seinem (einen erwachsenen Schubhäftling betreffenden) Erkenntnis vom 23. März 1999, Zl. 98/02/0309, ausgeführt, dass es nach § 66 Abs. 1 erster Satz FrG im Ermessen der Behörde (arg.: "kann") liege, im Einzelfall von der Anordnung der Schubhaft Abstand zu nehmen. Ein Ermessensfehler in diesem Sinne liege nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. das hg. Erkenntnis vom 17. Oktober 1996, Zl. 95/19/0338, mwN) dann vor, wenn das der Ermessensübung durch die Behörde zu Grunde liegende Verwaltungsverfahren mangelhaft sei (formelle Ermessensfehler), oder wenn von der Verwaltungsbehörde bei der Ermessensübung der Sinn des Gesetzes nicht beachtet worden sei (materielle Ermessensfehler).
Die von der erstinstanzlichen Behörde diesbezüglich vorgenommene Prüfung hat ergeben, dass ausgehend vom festgestellten Sachverhalt (die mitbeteiligte Partei konnte keinerlei Reisedokumente vorweisen, war unangemeldet im Bundesgebiet wohnhaft, hielt sich seit ca. 2 Jahren nicht rechtmäßig im Bundesgebiet auf, weil sie unter Umgehung der Grenzkontrolle eingereist war und wurde ohne Nachweis ausreichender Mittel für ihren Unterhalt angetroffen) die Verhängung der Schubhaft zur Sicherung des fremdenpolizeilichen Verfahrens bzw. die Abstandnahme von der Anwendung gelinderer Mittel notwendig sei, weil befürchtet werden müsse, dass sich die mitbeteiligte Partei, die im Bundesgebiet nicht gemeldet sei und kein Reisedokument oder Barmittel besitze den fremdenpolizeilichen Maßnahmen entziehen werde. Der Verwaltungsgerichtshof vermag sohin keinen Ermessensfehler im Sinne der obigen Darlegungen zu erkennen.
Auch die Tatsache, dass seitens der erstinstanzlichen Behörde eine formelhafte Begründung des Schubhaftbescheides vorgenommen wurde, bewirkt nicht dessen Rechtswidrigkeit, kann doch entgegen der Ansicht der belangten Behörde aus dem Zusammenhang ohne jeden Zweifel ersehen werden, dass im vorliegenden Fall der Gefahr des Untertauchens der mitbeteiligten Partei nur durch ihre Belassung in Schubhaft zu begegnen war. Da auch diese Rechtsfrage von der belangten Behörde unrichtig gelöst wurde, erübrigt es sich, auf die dem unabhängigen Verwaltungssenat bei der Entscheidung über eine Schubhaftbeschwerde nach § 73 Abs. 4 FrG obliegende Prüfungsverpflichtung neuerlich einzugehen.
Aus den dargelegten Gründen war daher der angefochtene Bescheid wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG aufzuheben.
Wien, am 17. Dezember 1999
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:1999:1999020294.X00Im RIS seit
21.02.2002