TE Bvwg Erkenntnis 2018/6/13 L521 2152598-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 13.06.2018
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Entscheidungsdatum

13.06.2018

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §2 Abs1 Z13
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
AVG §6
BFA-VG §9
B-VG Art.133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch

L521 2152598-1/9E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter MMag. Mathias Kopf, LL.M. über die Beschwerde von XXXX Staatsangehörigkeit Irak, vertreten durch Mag. Dr. Bernhard Rosenkranz, Rechtsanwalt in 5020 Salzburg, Plainstraße 23, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 24.03.2017, Zl. 1078584106-150833029, nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 07.05.2018 zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

II. Der Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG 2005 wird gemäß § 6 AVG 1991 mangels Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichtes zurückgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer stellte im Gefolge seiner schlepperunterstützten unrechtmäßigen Einreise in das Bundesgebiet am 18.07.2015 vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes einen Antrag auf internationalen Schutz.

Im Rahmen der niederschriftlichen Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Landespolizeidirektion Wien am 19.07.2015 gab der Beschwerdeführer an, den Namen XXXX zu führen und Staatsangehöriger des Irak zu sein. Er sei am XXXXin Bagdad geboren und habe dort zuletzt auch im Bezirk al-Mansour gelebt, Angehöriger der arabischen Volksgruppe, Moslem der schiitischen Glaubensrichtung und ledig. Er habe mehrere Jahre die Grundschule besucht und sei zuletzt als Textilverkäufer beruflich tätig gewesen.

Im Hinblick auf seinen Reiseweg brachte der Beschwerdeführer zusammengefasst vor, den Irak legal von Bagdad ausgehend auf dem Luftweg in die Türkei verlassen zu haben. In weiterer Folge sei er schlepperunterstützt auf dem Seeweg nach Griechenland gelangt und von Athen aus auf dem Landweg über Mazedonien, Serbien und Ungarn mit verschiedenen Fahrzeugen und teilweise im Fußweg nach Österreich verbracht worden.

Zu den Gründen seiner Ausreise aus dem Irak befragt, führte der Beschwerdeführer aus, den Irak aufgrund des dort herrschenden Bürgerkrieges verlassen zu haben. Die Sicherheitslage sei katastrophal. Der Tod lauere überall.

2. Am 10.05.2016 brachte der Beschwerdeführer beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl einen irakischen Personalausweis im Original und einen irakischen Staatsbürgerschaftsnachweis im Original sowie eine irakische Lebensmittelkarte in Vorlage.

3. Nach Zulassung des Verfahrens wurde der Beschwerdeführer am 30.01.2017 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Salzburg, im Beisein einer Vertrauensperson und eines geeigneten Dolmetschers in arabischer Sprache niederschriftlich vor dem zur Entscheidung berufenen Organwalter einvernommen.

Eingangs bestätigte der Beschwerdeführer, bis dato der Wahrheit entsprechende Angaben getätigt zu haben. Eine Rückübersetzung der Erstbefragung sei nicht erfolgt. Sein Name laute XXXX. Bei XXXX handle es sich um den Vornamen seines Vaters. Seine Reise von der Einreise in die Europäische Union bis Österreich habe zudem nicht einen Monat, sondern 14 Tage gedauert. Des Weiteren würden die Geburtsdaten seiner Geschwister nicht stimmen und hätte er Verwandte in Europa. Schließlich sei bei einer Rückkehr in den Irak sein Leben in Gefahr, was in der Niederschrift der Erstbefragung auch anders angeführt worden sei. Was die Ausreisegründe betrifft, so habe sich an diesen seit der Erstbefragung nichts geändert, aber die Situation habe sich verschlimmert.

Zur Person und seinen Lebensumständen befragt gab der Beschwerdeführer an, ledig zu sein und keine Kinder zu haben. In der Bundesrepublik Deutschland befinde sich ein Onkel und in Schweden sei eine Cousine aufhältig. Seine Eltern und Geschwister befänden sich in Bagdad. Er stehe mit diesen einmal pro Woche per Internet in Kontakt und gehe es seinen Familienangehörigen gut. Er habe zehn Jahre die Grundschule besucht. Seine Familie habe im Irak ein Haus und er selbst ein Bekleidungsgeschäft besessen. Des Weiteren sei er als Gerüstbauer und als Tischler beruflich tätig gewesen.

Den Irak habe er verlassen, da am 25.07.2014 einige Personen einer Miliz in seinem Frauenbekleidungsgeschäft erschienen seien. Das Oberhaupt der Schiiten Ali as-Sistani habe dargelegt, dass jeder Iraker verpflichtet sei, seine Heimat zu verteidigen. Aufgrund dieser Aussage hätten sich die Milizen über jeden Jugendlichen im Bezirk zwecks der Befreiung von Mossul informiert. Tatsächlich habe es damals ein solches Vorhaben nicht gegeben, sondern seien alle in den Krieg nach Syrien geschickt worden. Er habe diesen Personen entgegnet, dass er zu jung für den Krieg sei und sich nicht mit den Waffen auskennen würde. Er wolle lediglich arbeiten. Aufgrund eines an diesem Tag in der Nähe erfolgten Selbstmordattentats habe er die Kontrolle über sich verloren und zu schimpfen begonnen, woraufhin er von den Milizen geschlagen und bedroht worden sei. In seinem Pass/ Ausweis stehe, dass er Moslem sei, er würde aber an keine Religion glauben. Er würde vermuten, dass die Milizen dies - eventuell von seinen Freunden - erfahren oder sonst gemerkt hätten. Er habe sich daraufhin für etwa 25 Tage bei Freunden versteckt. Man habe überall nach ihm gesucht, weshalb er sich zur Ausreise entschlossen habe. Am 22.08.2014 sei er von Bagdad nach Kurdistan gegangen. Nach einem einwöchigen Aufenthalt sei er von dort am 29.08.2014 legal in die Türkei gereist.

Im Hinblick auf seinen Reiseweg brachte der Beschwerdeführer zusammengefasst vor, am 22.08.2014 von Bagdad ausgehend mit dem Bus nach Erbil und von dort mit dem Flugzeug in die Türkei gereist zu sein, wo er für zehn Monate geblieben sei. Anschließend habe er sich nach Izmir begeben und sei auf dem Seeweg nach Griechenland gelangt. Nach einem zweitägigen Aufenthalt in Athen sei er auf dem Landweg über Mazedonien, Serbien und Ungarn mit verschiedenen Transportmitteln nach Österreich gelangt.

In der Folge wurden dem Beschwerdeführer auch Fragen bezüglich seiner Integration in Österreich gestellt.

Die Fragen, ob er in seinem Heimatland oder außerhalb seines Heimatlandes politisch tätig oder Mitglied einer politischen Organisation oder Partei gewesen sei, es jemals eine konkrete Verfolgung seiner Person alleine aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit gegeben habe, es jemals eine Verfolgung seiner Person alleine aufgrund seiner Religionszugehörigkeit gegeben habe, er nach wie vor gläubiger Moslem sei, er irgendwelche Probleme mit irakischen oder internationalen Behörden (Polizei, Gericht etc.) habe bzw. jemals gehabt habe oder er irgendwelche Probleme - außer den genannten - mit privaten Personen, Personengruppen, Banden, kriminellen Organisationen habe oder jemals gehabt habe, verneinte der Beschwerdeführer.

Dem Beschwerdeführer wurde abschließend angeboten, die länderkundlichen Feststellungen zur Lage im Irak ausgehändigt zu erhalten, um hiezu binnen zwei Wochen eine Stellungnahme abgeben zu können. Der Beschwerdeführer lehnte dies ab.

4. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 24.03.2017 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG 2005 erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG 2005 unter einem festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers in den Irak gemäß § 46 FPG 2005 zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 2005 wurde ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt IV.).

Begründend führte die belangte Behörde nach der Wiedergabe der Einvernahme des Beschwerdeführers und den Feststellungen zu dessen Person im Wesentlichen aus, es könne nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Irak einer persönlichen Bedrohung oder Verfolgung ausgesetzt gewesen sei oder im Fall einer Rückkehr ausgesetzt wäre. Eine Rückkehr in den Irak sei dem Beschwerdeführer zumutbar und möglich, da unter Berücksichtigung seiner Erwerbsfähigkeit nicht festgestellt werde könne, dass ihm im Fall einer Rückkehr die Existenzgrundlage entzogen wäre.

In der Beweiswürdigung wird diesbezüglich dargelegt, der Beschwerdeführer habe in seiner Erstbefragung lediglich die allgemeine Sicherheitslage als Ausreisegrund angegeben, was für dessen Unglaubwürdigkeit spreche. Ferner habe der Beschwerdeführer bei seiner Einvernahme keine gegen ihn gerichtete konkrete persönliche Bedrohung bzw. Verfolgung nachvollziehbar darlegen können und habe sich sein Vorbringen allgemein als wenig detailreich dargestellt.

In rechtlicher Hinsicht folgerte die belangte Behörde, der Beschwerdeführer habe keine Verfolgung im Sinn der Genfer Flüchtlingskonvention zu gewärtigen, sodass kein internationaler Schutz zu gewähren sei, wobei im Rahmen einer Eventualbegründung ausgeführt wurde, dass dem Beschwerdeführer bei Glaubhaftunterstellung seines Vorbringens die Möglichkeit der Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative offen stünde und er staatlichen Schutz in Anspruch nehmen könne. Dem Beschwerdeführer sei der Status eines subsidiär Schutzberechtigten nicht zuzuerkennen, da er im Irak seine existenziellen Grundbedürfnisse so wie bisher aus eigener Kraft durch selbständige Arbeit sichern könne und keine reale Gefahr einer Verletzung in elementaren Rechten sowie keine Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts drohe. Dem Beschwerdeführer sei schließlich kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 zu erteilen.

5. Mit Verfahrensanordnung des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 22.03.2017 wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG amtswegig ein Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt und der Beschwerdeführer ferner mit Verfahrensanordnung des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 24.03.2017 gemäß § 52a Abs. 2 BFA-VG darüber informiert, dass er verpflichtet sei, ein Rückkehrberatungsgespräch in Anspruch zu nehmen.

6. Gegen den dem Beschwerdeführer am 28.03.2017 durch Hinterlegung zugestellten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl richtet sich die im Wege einer gewillkürten Vertretung fristgerecht eingebrachte Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht.

In dieser wird inhaltliche Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheids sowie Verletzung von Verfahrensvorschriften moniert und beantragt, den angefochtenen Bescheid abzuändern und dem Antrag auf internationalen Schutz Folge zu geben und dem Beschwerdeführer den Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen oder hilfsweise den Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen und die Rückkehrentscheidung samt der Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung ersatzlos zu beheben sowie einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nach §§ 57 und 55 AsylG zu erteilen. Abschließend wird jedenfalls eine mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht begehrt, damit der Beschwerdeführer seinen christlichen Glauben nachweisen könne.

Im Übrigen wird zu Beginn der Familienname des Beschwerdeführers mit XXXX oder XXXXoder XXXX oder XXXX benannt, wobei die genaue Übersetzung ein Dolmetscher vorzunehmen habe. Des Weiteren wird darauf hingewiesen, dass auf Seite 2 des bekämpften Bescheides aktenwidrig angeführt worden sei, dass der Beschwerdeführer der sunnitischen Glaubensrichtung angehöre, wobei er im Zuge der Erstbefragung am 19.07.2015 ausgeführt habe, der schiitischen Glaubensrichtung anzugehören.

Unter auszugsweiser Zitierung mehrerer Länderberichte (etwa

ACCORD-Anfragebeantwortung: Aktuelle Menschenrechtslage, insbesondere Rekrutierung durch Schia-Milizen, vom 22.08.2016,

ACCORD-Anfragebeantwortung: Lage von Binnenflüchtlingen, insbesondere in der Region Kurdistan, vom 17.11.2016, Bericht von

Human Rights Watch - Iraq: Pro-Government Militias¿ Trail of Death, vom 31.07.2014 und Bericht des Immigration and Refugee Board of

Canada - Iraq: Information on the treatment of Atheists and apostates by society and authorities in Erbil; state protection available, vom 02.09.2016) wird in der Folge ausgeführt, dass die Milizen vom ehemaligen Premierminister Nuri Kamil Mohammed Hasan AL-MALIKI gegründet worden seien und im Auftrag des Staates gekämpft hätten. Es würde als Pflicht angesehen werden, sich freiwillig für den Kampf zu melden. Des Weiteren könne es auch in der Autonomen Region Kurdistan gefährlich sein, sich öffentlich als Atheist zu bekennen, weshalb dies umso mehr für das restliche Staatsgebiet des Irak gelte. Radikale islamische Gruppen würden religiöse und ethnische Minderheiten, vor allem Atheisten, Christen und Jesiden, terrorisieren. Kritiker des Islam würden verhaftet und seien willkürlichen Übergriffen ausgeliefert. Schließlich werden die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in der Autonomen Region Kurdistan dargelegt.

Was die Beweiswürdigung betrifft, so führe das Bundesamt fett geschrieben aus, der Beschwerdeführer wäre dann bedroht. Der gewillkürten Vertretung sei nicht bekannt, worauf sich die belangte Behörde beziehe und gehe die gewillkürte Vertretung davon aus, dass weder der Organwalter, noch der Dolmetscher den auf Seite 8 des Bescheides angeführten Satz "Die Milizen sagten zu mir, sie bedrohten mich, wenn ich noch einen Tag bleiben würde, dann wüssten sie was sie mit mir machen." verstanden habe. Hiebei sei zu berücksichtigen, dass der Beschwerdeführer mit Beschimpfung der "Sadra" den Milizenführer Muktada AL-SADR gemeint habe. Des Weiteren werde präzisiert, dass der Beschwerdeführer nach der Beschimpfung von AL-SADR sofort geschlagen worden sei. Es sei ihm ein Zahn ausgeschlagen und eine Verletzung an der Oberlippe zugefügt worden. Insoweit es die belangte Behörde unterlassen habe, den Sachverhalt zu ermitteln, sei es zu einer ungenauen Protokollierung gekommen. Der belangten Behörde sei es kein Anliegen gewesen, den Fluchtgrund genauer zu ermitteln, sodass Mutmaßungen des Beschwerdeführers eventuell etwas eigen klingen. Jedenfalls habe der Beschwerdeführer zum Ausdruck bringen wollen, dass es die Milizen nicht bei der Körperverletzung belassen hätten, sondern ihn später bei Freunden und seiner Familie gesucht hätten. Der Beschwerdeführer vermute, dass dadurch auch seine atheistische Haltung entdeckt worden sei und die Milizen ihn nunmehr auch aufgrund seiner atheistischen Einstellung verfolgen würden. Ferner sei nicht nachvollziehbar, aus welchen Gründen die belangte Behörde erwähne, dass der Beschwerdeführer zehn Monate ohne Verfolgung in der Türkei verbracht habe. Schließlich sehe die belangte Behörde in Kenntnis des § 19 AsylG, der deutlich mache, dass die erste Einvernahme insbesondere der Ermittlung der Identität und der Reiseroute des Fremden diene und sich ausdrücklich nicht auf die näheren Fluchtgründe zu beziehen habe, in unzulässiger Weise eine Diskrepanz zur zweiten Einvernahme, in der der Beschwerdeführer seine individuellen Fluchtgründe anführe.

In der Sache bringt der Beschwerdeführer nach Wiederholung seiner bereits vorgebrachten Ausreisegründe im Wesentlichen vor, dass selbst wenn die belangte Behörde seinem Vorbringen keinen Glauben schenke, der Atheismus des Beschwerdeführers ein Faktum sei und werde er im Falle einer Rückkehr in den Irak dort einer asylrechtlich relevanten Gefahr ausgesetzt sein.

Ferner bestehe für den Beschwerdeführer keine innerstaatliche Fluchtalternative.

Der Beschwerde sind die zuvor angeführten Länderberichte angeschlossen.

7. Die Beschwerdevorlage langte am 10.04.2017 beim Bundesverwaltungsgericht ein. Die Rechtssache wurde in weiterer Folge der nun zur Entscheidung berufenen Abteilung des Bundesverwaltungsgerichts zugewiesen.

8. Am 07.05.2018 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung im Beisein des Beschwerdeführers und eines Dolmetschers für die arabische Sprache durchgeführt. Im Verlauf dieser Verhandlung wurde dem Beschwerdeführer Gelegenheit gegeben, neuerlich seine Ausreisemotivation umfassend darzulegen sowie die aktuelle Lageentwicklung im Irak anhand aktueller Länderdokumentationsunterlagen sowie vierer Anfragebeantwortungen einerseits zu Atheisten in Bagdad und andererseits zu den Rekrutierungspraktiken schiitischer Milizen erörtert. Dem Beschwerdeführer wurden ferner die erörterten länderkundlichen Berichte ausgehändigt und ihm die Möglichkeit zur Abgabe einer Stellungnahme eingeräumt. Seitens des Beschwerdeführers wurden ein Mietvertrag in arabischer Sprache, ein medizinischer Bericht in arabischer Sprache und Unterlagen bezüglich der Integration in Österreich (Österreichisches Sprachdiplom Deutsch - Niveau A1 und A2, Deutschkursbestätigung, Teilnahmebestätigung bezüglich eines Basisworkshops für RadiomacherInnen, Bestätigung über die Verrichtung ehrenamtlicher Tätigkeit, ein Referenzschreiben und eine Bestätigung des bfi) vorgelegt.

Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ist der mündlichen Verhandlung entschuldigt ferngeblieben.

Bis zum Entscheidungszeitpunkt wurde vom Beschwerdeführer keine Stellungnahme in Vorlage gebracht.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Die Identität des Beschwerdeführers steht fest. Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger des Irak, Angehöriger der arabischen Volksgruppe und Moslem der schiitischen Glaubensrichtung. Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer sich mit dem Atheismus ernsthaft beschäftigt hat und in fundierter Weise eine atheistische Weltanschauung vertritt. Er wurde am XXXX in Bagdad geboren und lebte dort gemeinsam mit seinen Eltern in einem im Eigentum seiner Familie stehenden Haus.

Der Beschwerdeführer besuchte im Irak mehrere Jahre die Schule. Im Anschluss übte der Beschwerdeführer unterschiedliche Erwerbstätigkeiten, etwa als Spengler, Tischler, Gerüstbauer und Schaufensterdekorateur, aus. Des Weiteren besaß der Beschwerdeführer ein eigenes Modegeschäft.

Die Eltern und die drei Brüder sowie drei Schwestern des Beschwerdeführers halten sich auch derzeit in Bagdad auf. Der Beschwerdeführer steht mit seiner Mutter alle zwei Wochen in Kontakt. Sein Vater befindet sich im Ruhestand und seine Mutter leitet den Haushalt. Zwei seiner Brüder sind als Tontechniker bzw. Universitätsangestellter erwerbstätig. Der dritte Bruder leidet an einer Behinderung. Die Schwestern des Beschwerdeführers sind verheiratet und führen jeweils ihren eigenen Haushalt.

Ende August 2014 verließ der Beschwerdeführer den Irak legal von Bagdad ausgehend auf einem nicht feststellbaren Weg in die Türkei und reiste in weiterer Folge schlepperunterstützt nach Österreich, wo er am 18.07.2015 nach Betretung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes den verfahrensgegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

1.2. Der Beschwerdeführer gehört keiner politischen Partei oder politisch aktiven Gruppierung an und hatte in seinem Herkunftsstaat keine Schwierigkeiten aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit und seines Religionsbekenntnisses zu gewärtigen.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer vor seiner Ausreise aus seinem Herkunftsstaat einer individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt durch staatliche Organe oder durch Dritte ausgesetzt war oder er im Falle einer Rückkehr in seinem Herkunftsstaat einer solchen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt wäre. Insbesondere kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer in seinem Herkunftsstaat vor der Ausreise Drohungen oder Übergriffen einer schiitischen Miliz oder eines ihrer Mitglieder ausgesetzt war oder er einer - auch nur versuchten - Zwangsrekrutierung durch diese Miliz unterlag bzw. er der Gefahr einer Zwangsrekrutierung oder von Übergriffen durch diese Gruppierungen im Falle einer Rückkehr in seinem Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt wäre.

1.3. Es kann nicht festgestellt werden, dass dem Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat die Todesstrafe droht. Ebenso kann keine anderweitige individuelle Gefährdung des Beschwerdeführers festgestellt werden, insbesondere im Hinblick auf eine drohende unmenschliche Behandlung, Folter oder Strafe sowie kriegerische Ereignisse oder extremistische Anschläge im Irak.

Der Beschwerdeführer ist ein vollkommen gesunder, arbeitsfähiger Mensch mit hinreichender Ausbildung in der Schule und Berufserfahrung als Spengler, Tischler, Gerüstbauer und Schaufensterdekorateur. Des Weiteren besaß der Beschwerdeführer ein eigenes Modegeschäft. Der Beschwerdeführer verfügt über eine - wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich - gesicherte Existenzgrundlage in seinem Herkunftsstaat sowie über familiäre Anknüpfungspunkte und eine hinreichende Versorgung mit Nahrung und Unterkunft durch seine Familie. Der Beschwerdeführer verfügt über irakische Ausweisdokumente (Personalausweis und Staatsbürgerschaftsnachweis) im Original.

1.4. Der Beschwerdeführer hält sich seit etwa Mitte Juli 2015 in Österreich auf. Er reiste rechtswidrig in Österreich ein, ist seither Asylwerber und verfügt über keinen anderen Aufenthaltstitel. Er ist strafgerichtlich unbescholten.

Der Beschwerdeführer bezieht seit der Antragstellung bis dato Leistungen der staatlichen Grundversorgung für Asylwerber und bewohnt eine Unterkunft für Asylwerber in der Gemeinde Salzburg. Er ist nicht legal erwerbstätig, er verrichtete jedoch ab Anfang Jänner 2017 gemeinnützige Arbeiten für die Lebenshilfe Salzburg. Eine konkrete Erwerbstätigkeit am regulären Arbeitsmarkt hat der Beschwerdeführer nicht in Aussicht, ihm wurde jedoch im Rahmen des Bildungsprojekts "XXXX" aufgrund seines sehr positiven Eindrucks und positiver Testergebnisse eine Eignung für den Beruf als Metalltechniker bestätigt, weshalb er seit 02.05.2018 als Quereinsteiger an einem Qualifizierungsprojekt (4 Tage pro Woche praktische Ausbildung in einer Lehrwerkstatt und ein Tag Berufsschulunterricht) teilnimmt, um anschließend in ein reguläres Lehrverhältnis vermittelt werden zu können. Die sozialpädagogische Leitung des Bildungsprojekts "XXXX" attestiert dem Beschwerdeführer, in der bisherigen Zusammenarbeit einen äußerst respektvollen, zuverlässigen und zielstrebigen Eindruck gemacht zu haben.

Der Beschwerdeführer ist für keine Person im Bundesgebiet sorgepflichtig und alleinstehend. Er hat in Österreich keine Verwandten und pflegt im Übrigen normale soziale Kontakte, insbesondere im Rahmen seiner Freizeitaktivitäten. Am 26. und 27. Jänner 2018 absolvierte der Beschwerdeführer den Basisworkshop für RadiomacherInnen.

Der Beschwerdeführer hat in den vergangenen Jahren an sprachlichen Qualifizierungsmaßnahmen und Sprachkursen, laut eigenen Angaben zuletzt auf dem Niveau B1, teilgenommen. Er hat am 19.06.2017 eine Prüfung auf dem Niveau A2 bestanden und verfügt über grundlegende Kenntnisse der deutschen Sprache. Die sozialpädagogische Leitung des Bildungsprojekts "Auf Linie 150" attestiert ihm, sich bereits gute Deutschkenntnisse angeeignet zu haben.

1.5. Zur Rekrutierung von Kämpfern durch schiitische Milizen im Irak werden folgende Feststellungen unter Heranziehung der angeführten Quellen getroffen:

Die Volksmobilisierungseinheiten (Popular Mobilisation Front, PMF, arabisch: al-Haschd al-Schaabi) unterhalten eine eigene Website in arabischer Sprache, auf der unter anderem über die militärischen Erfolge der PMF beim Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) berichtet wird. Auf dieser Website finden sich eine Vielzahl von Artikeln über die Verpflichtung Freiwilliger in den PMF. Die jüngsten Artikel beziehen sich dabei besonders auf den Anschluss Freiwilliger in der Provinz Ninawa zur Teilnahme an der Befreiung der Stadt Mossul. Zwangsrekrutierung durch schiitische Milizen im Irak sind grundsätzlich möglich. Familien von Binnenvertriebenen werden zum Teil nur durch einen Checkpoint gelassen, wenn sich die erwachsenen Männer bereit erklären, sich den paramilitärischen Einheiten der al-Haschd al-Schaabi anzuschließen. Es wird berichtet, dass bei einer Weigerung damit gedroht werde, die Binnenflüchtlinge in ihre Heimatprovinzen zurückzuschicken. UNHCR berichtet in einer wöchentlichen Aktualisierung zum Thema Schutz in Mossul vom Jänner 2017, dass die Organisation mit Sorge Vorwürfe der Zwangsrekrutierung von Männern und auch von Minderjährigen in gerade befreiten Gebieten der Stadt Mossul vermerkt habe. Es sei ebenfalls berichtet worden, dass Personen, die aus dem östlichen Teil der Stadt fliehen würden, von Stammesmilizen dazu gezwungen würden, zur Militäroffensive beizutragen, indem sie Mahlzeiten vorbereiten, Waffen transportieren oder selbst zu den Waffen greifen müssten. Binnenflüchtlinge würden Berichten zufolge Gefahr laufen, der Verbindung zu bewaffneten Gruppen beschuldigt zu werden, wenn sie es ablehnen oder nur zögerlich mitmachen würden. Ein männlicher "Freiwilliger" pro Familie würde die Familie Berichten zufolge vom Vorwurf freisprechen, einer bewaffneten Gruppe anzugehören. Bei den Binnenflüchtlingen handelt es sich oft um Sunniten oder um Angehörige religiöser Minderheiten wie den Schabak. Zu anders motivierten Fällen von Zwangsrekrutierung liegen indes keine Informationen vor.

Carnegie Endowment for International Peace (CEIP), ein globales Netzwerk von Think Tanks zum Thema Politikforschung und Förderung des Friedens mit Hauptsitz in den USA, berichtet in einem Artikel vom Februar 2016, dass es bei schiitischen Milizen keine offizielle Wehrpflicht/Zwangsrekrutierung gibt, obwohl die große Anzahl an Rekrutierten dies vermuten lassen würde. Viele irakische Schiiten würden sich statt beim irakischen Militär paramilitärischen Einheiten unter dem Schirm der Volksverteidigungseinheiten (Popular Mobilization Forces, PMF) anschließen würden, die die größte Bodentruppe im Kampf gegen die Gruppe Islamischer Staat (IS) stellen würden. Eine kürzlich veröffentlichte Umfrage habe ergeben, dass 99 Prozent der irakischen Schiiten die PMF beim Kampf gegen den IS unterstützen würden. Daher gebe es eine erhebliche Anzahl von Rekruten, die sich beeilen würden, sich den PMF anzuschließen. Laut Angaben mehrerer sachkundiger Quellen in Bagdad hätten sich mehr als 75 Prozent der in mehrheitlich schiitischen Provinzen lebenden Männer im Alter von 18 bis 30 Jahren bei den PMF gemeldet. Obwohl die meisten dieser Rekruten Reservisten seien, die nicht kämpfen würden, zeige diese Anzahl doch den Rückhalt der PMF in diesen Gebieten. Die hohe Anzahl von Rekruten würde normalerweise auf eine Form von Wehrpflicht hindeuten. Jedoch gebe es keine formale Pflichtrekrutierung. Die PMF würden sich stattdessen nach der Fatwa des religiösen Führers Ayatollah Sistani richten, die die Rekrutierung sehr vorsichtig auf so viele Rekruten beschränke, die notwendig seien, um den IS zu bekämpfen. Ein Rekrutierungsbeamter der PMF in Nadschaf habe indes angegeben, dass sich mehr als genug Rekruten gemeldet hätten. Sie hätten keine Probleme damit, Mitglieder unterschiedlichen sozialen Hintergrunds und aus verschiedenen geographischen Regionen zu gewinnen. Seinen Angaben nach seien Studenten die einzige erkennbare Gruppe, die nicht den PMF beitreten würden.

Schiitische Milizen rekrutieren aktiv neue Mitglieder, obwohl die Milizen an sich sehr beliebt sind und keine Schwierigkeiten bei der Rekrutierung neuer Kämpfer bestehen. Eine große Rolle bei der Rekrutierung spielt die religiöse Komponente. Nach dem Aufruf des einflussreichen schiitischen Geistlichen Ayatollah Sistani, meldeten sich unzählige Freiwillige zum Kampf gegen den IS. Die Rekrutierung erfolgt außerdem Großteils in Moscheen und auch im Internet bzw. in Sozialen Medien. Erwähnenswert ist auch der gesellschaftliche Druck, welcher von der Familie oder sogar von Behörden ausgeht, sich am Kampf gegen den IS zu beteiligen. Neben der religiösen Motivation, sich den schiitischen Milizen anzuschließen, gibt es noch die finanzielle Motivation. Schiitische Kämpfer verdienen einigen Quellen zufolge mehr als in der irakischen Armee; andere Quellen sprechen von weitaus niedrigeren Summen oder von fehlender Bezahlung. Oftmals werden Minderjährige für den Kampf gegen den IS rekrutiert.

Das Counter Extremism Project (CEP), eine unabhängige politische Organisation zur Bekämpfung extremistischer Ideologien und deren Finanzierung mit Sitz in London, erwähnt in einer vermutlich im März 2017 aktualisierten Übersicht zur pro-iranischen Miliz Asa'ib Ahl al-Haqq (AAH) die Rekrutierungspraktiken dieser Miliz. In Bezugnahme auf verschiedene Quellen zumeist aus den Jahren 2014 und 2015 schreibt CEP, dass die Rekrutierungsstrategie von AAH auf zwei Strategien fuße: traditionelle Propaganda, um auf die Gruppe aufmerksam zu machen sowie ein umfassendes religiöses System mit dem Ziel, Mitglieder zu indoktrinieren und zu rekrutieren. AAH habe Gruppen wie den IS dahingehend imitiert, dass soziale Medien genutzt würden, um die Rekrutierung über den Nahen Osten, Südasien und den Westen auszudehnen. Der irakische Fernsehsender al-Aahd gehöre der Miliz.

Eine der meistgenützten Methoden der AAH zur Gewinnung von Rekruten sei es, sich als Beschützer der schiitischen Gemeinschaft im Irak und im Ausland darzustellen. Sie hänge Poster auf und sende Rekrutierungsaufrufe auf irakischen Fernsehsendern, wobei häufig die Verbindungen mit dem Iran und der (libanesischen) Hisbollah betont würden. Ein Mitglied von AAH habe angegeben, dass er sich bei AAH gemeldet habe, da die Miliz "die schiitische Gemeinschaft im Irak und im Ausland schützen würde". In der Vergangenheit habe insbesondere die Möglichkeit, mit AAH nach Syrien zu ziehen und das Sajjida-Zainab-Heiligtum in er Nähe von Damaskus zu verteidigen, Iraker mobilisiert, sich AAH anzuschließen. Die Gruppe habe Wohnhäuser und Büros in Bagdad in Beschlag genommen, um Rekrutierungszentren zu eröffnen, wo sich Freiwillige melden könnten, um sich den bereits in Syrien kämpfenden Schiiten anzuschließen. Im Südirak würden Poster Männer dazu auffordern, sich mit weiteren irakischen Schiiten dem Kampf in Syrien anzuschließen. Auf den Postern sei eine Telefonnummer angeführt, die man zu diesem Zweck anrufen könne. Im August 2012 habe AAH eine Poster-Kampagne durchgeführt, bei der mehr als 20.000 Poster mit dem Logo der Gruppe und Fotos unter anderem des iranischen Revolutionsführers Ali Khamenei aufgehängt worden seien.

Die zweite umfassendere Schiene der Rekrutierung sei religiöser Aktivismus und ein eigenes Bildungssystem. Die Gruppe benutze insbesondere zwei Moscheen, die Sabatayn-Moschee in Bagdad und die Abdullah al-Radiya-Moschee in al-Khalis als Zentren der Rekrutierung. Führende Mitglieder von AAH würden Predigten in diesen Moscheen abhalten und für eine soziale und religiöse Reform im Irak werben. Hiermit würden sie versuchen, die Anwesenden dazu zu bringen, der AAH-Mission beizutreten, sie zu finanzieren oder auf andere Weise beizutragen. AAH habe ihre Reichweite auch durch ein Netzwerk von religiösen Schulen, bekannt unter dem Namen "Siegel der Apostel", erweitert. Diese Schulen, die im ganzen Land verteilt seien, würden der Gruppe als Propaganda- und Rekrutierungseinrichtungen dienen. Genau wie in ihrer militärischen und politischen Struktur, versuche AAH die Hisbollah-Miliz auch dahingehend zu imitieren, indem sie soziale Programme für Witwen und Waisen umsetze. Die Rekrutierungsmaßnahmen der AAH würden zum Großteil vom Iran finanziert.

Ein Bericht von GSDRC (Governance-Social Development-Humanitarian-Conflict), einem Zusammenschluss von Forschungsinstituten, Think Tanks und Beratungsorganisationen zum Thema internationale Entwicklung, informiert darüber, dass es die religiöse Legitimität für die PMF (Popular Mobilization Forces, Volksmobilmachungskräfte) die Rekrutierung einfacher macht als für die irakische Armee.

Es lastet viel Druck auf den Menschen, sich den Volksmobilmachungskräften anzuschließen. Dieser hat unterschiedliche Gründe, zum Beispiel öffentlichen Druck, Druck auf Familien und sogar das Bildungsministerium. Es gibt Fälle, in denen Prüfungen verlegt wurden, damit junge Menschen gegen den IS kämpfen können. Außerdem wird es als heroischer Akt gesehen, sich den Volksmobilmachungskräften anzuschließen. Manche Quellen sprechen davon, dass Kämpfer der Volksmobilmachungskräfte besser bezahlt werden als Soldaten der irakischen Armee, andere sprechen davon, dass nur Kämpfer an der Front bezahlt werden, andere gehen davon aus, dass die Milizen Großteils keinen Lohn erhalten. Es wird berichtet, dass die Volksmobilmachungskräfte auch Minderjährige rekrutieren.

Die US-amerikanische Online-Zeitung International Business Times (IBT) mit Sitz in New York beschreibt den Online-Rekrutierungsprozess schiitischer Milizen in einem Artikel vom Dezember 2015. Laut einem Forscher schiitischer Milizen an der Universität Maryland hätten schiitische Milizen eine noch ausgereiftere Methode als der IS, Leute mithilfe von Onlinemedien zu informieren und zu mobilisieren. Im Gegensatz zu Webseiten des IS auf Twitter und Facebook würde niemand die Seiten von schiitischen Milizen blockieren. Jedoch hätten die vom Iran unterstützen Milizen bereits Monate vor dem Fall der Stadt Mossul im Juni 2014 im Irak mithilfe einfacher technischer Mittel, zum Beispiel durch das Aufhängen von Postern oder Rekrutierungsaufrufen im Fernsehen, ihre lokale Reichweite ausgenutzt. Ein Analyst des Institute for the Study of War habe erwähnt, dass irakische Schiiten sich nur in die nächste Moschee begeben und dort zu fragen müssten, ob sie sich einer bestimmten Miliz anschließen könnten. Obwohl Online-Rekrutierung wichtig sei, würde sie nicht so stark benötigt wie bei anderen Gruppen, die weniger offen mit ihren Rekrutierungsmaßnahmen umgehen könnten. Schiitische Milizen seien in der Lage, vom Iran unterstützte Fernsehsender nutzen, um ihre Reichweite auszudehnen. Im Juni 2015 beispielsweise hätte die Miliz Kata'ib Hisbollah ihre Kontaktinformationen zwecks Rekrutierung auf al-Etejah, einem pro-iranischen Fernsehkanal, ausgestrahlt. Einen Monat später habe sie einen Spendenaufruf mit Angabe einer Bankverbindung schalten lassen, der auch in Teilen als ein Videoclip auf Youtube veröffentlicht worden sei, um mehr Spenden von außerhalb des Irak lebenden Schiiten zu erhalten.

Quellen:

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Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 26.07.2016 betreffend Zwangsrekrutierung durch schiitische Milizen

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ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation: Anfragebeantwortung zum Irak:

(Zwangs-)Rekrutierung durch schiitische Milizen: Sunniten, Schiiten, spezifische Gruppen; Konsequenzen bei Entziehung einer Rekrutierung [a-10079], 27. März 2017,

http://www.ecoi.net/local_link/338747/481775_de.html

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UNAMI (13.7.2015): Report on the Protection of Civilians in Armed Conflict in Iraq: 11 December 2014 - 30 April 2015, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1436959266_unami-ohchr-4th-pocreport-11dec2014-30april2015.pdf

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Al-Araby (8.5.2015): Anbar refugees 'forced into militias to fight IS group',

https://www.alaraby.co.uk/english/news/2015/5/8/anbar-refugees-forced-into-militias-to-fight-is-group, Zugriff 15.7.2016

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Carnegie Endowment for International Peace (1.2.2016): The Popularity of the Hashd in Iraq, http://carnegieendowment.org/syriaincrisis/?fa=62638

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Counter Extremism Project (o.D.): Asaib Ahl al-Haq, http://www.counterextremism.com/threat/asaib-ahl-al-haq

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GSDRC - Governance-Social Development-Humanitarian-Conflict (3.2016): The security sector in Iraq.

IBT - International Business Times: World Iraqi Shiite Militias Fighting ISIS Are Using Social Media To Recruit Foreign Fighters, 3. Dezember 2015,

1.6. Zur aktuellen Lage im Irak werden folgende Feststellungen unter Heranziehung der gegenüber dem Beschwerdeführer offengelegten und in der Folge abgekürzt zitierten Quellen getroffen:

1. Politische Lage

Im März 2003 kam es zum Einmarsch von Truppen einer Koalition, die von den USA angeführt wurde (BBC 12.7.2017). Als Grund hierfür wurden Massenvernichtungswaffen angegeben, deren Existenz jedoch nie bestätigt werden konnte. Nach dem im März 2003 erfolgten Sturz von Saddam Hussein, einem Angehörigen der sunnitischen Minderheit, wurden die Regierungen von Vertretern der schiitischen Mehrheitsbevölkerung geführt (BPB 9.11.2015). Mit 2003 begann der Aufstieg von [vorwiegend] irantreuen bzw. dem Iran nahestehenden schiitischen Parteien/Milizen, denen die amerikanischen Invasoren erlaubten, aus dem iranischen Exil in ihre Heimat zurückzukehren (SWP 8.2016; vgl. Hiltermann 26.4.2017). Es konnte nach der Entmachtung Husseins weder eine umfassende Demokratisierung noch eine Stabilisierung erreicht werden, da die Strukturen des neuen politischen Systems das Land entlang ethnisch-konfessioneller Linien fragmentierten (BPB 9.11.2015). Die von der US-Besatzung beschlossene Auflösung der irakischen Armee sowie das Verbot der Baath-Partei ließen viele Sunniten, darunter erfahrene Militärs, radikalen islamistischen Gruppen zuströmen (Spiegel 18.4.2015). Die sunnitische Minderheit fühlte sich zunehmend diskriminiert und radikale Anführer konnten immer mehr Anhänger gewinnen (AI 28.5.2008). Zudem hatte die Demontage der irakischen Armee und irakischen Sicherheitskräfte durch die US-geführte Koalition ein Sicherheitsvakuum hinterlassen, das die schiitischen Milizen zu füllen versuchten, wodurch es zu einem sunnitischen Aufstand kam (Hiltermann 26.4.2017). Die US-Regierung (sowohl die Bush-, als auch die Obama-Regierung) arbeitete zum Teil mit diesen Kräften (Badr-Miliz) zusammen, und verschloss vor den Gewaltexzessen der schiitischen Milizen gegenüber der sunnitischen Bevölkerung die Augen (Reuters 14.12.2015). Während die Revolte der Sunniten gegen die US-Präsenz seit 2003 eher eine nationalistisch als eine religiös geprägte Bewegung war, entwickelte die Revolte zunehmend einen dominanten radikal-sunnitisch-islamistischen Zug. Der in der Folge entstehende konfessionelle Bürgerkrieg (ca. 2005 bis 2007) führte zu einer Änderung der US-Politik im Irak, die wiederum die Niederlage von Al-Qaida im Irak (AQI) herbeiführte. Doch dadurch, dass das Problem der Ausgrenzung der Sunniten weiter bestehen blieb, kam es zu weiteren Protesten in den sunnitischen Gebieten in den Jahren 2013 und 2014, daraufhin zu einer gewaltsamen Antwort von Seiten des Staates und danach zur Übernahme sunnitischer Gebiete durch eine noch radikalere Version von Al-Qaida - durch die Organisation "Islamischer Staat" [IS, auch ISIS oder ISIL, vormals ISI, arabisch Daesh] (Hiltermann 26.4.2017). Diese konnte in große Teile der sunnitischen Gebiete im Westen des Irak, in kurdische Gebiete im Norden des Irak und in Teile Syriens vordringen (ACCORD 12.2016). Als die nach der Entmachtung Saddam Husseins neu aufgestellte Armee vorübergehend "kollabierte", mobilisierten schiitische Führer in Notwehr ihre Gefolgschaft, wodurch die schiitischen Milizen (allen voran die Badr Organisation, Asaib Ahl al-Haq und Kataeb Hezbollah, mit Unterstützung des Irans) verstärkt auf den Plan traten und sich nordwärts in die sunnitischen Gebiete bewegten (Hiltermann 26.4.2017).

Das politische Geschehen ist trotz großer Erfolge bei der Rückeroberung von IS weiterhin vom Kampf gegen den IS geprägt (ÖB 12.2016). Seit Ende 2015 wird der IS mit einem Bündnis auf Zeit aus irakischem Militär, kurdischen Peschmerga, schiitischen Milizen und Luftschlägen der internationalen US-geführten Anti-IS-Koalition bekämpft (AA 7.2.2017).

Nach dem Referendum über die Lossagung Irakisch-Kurdistans vom Irak am 25.9.2017 erklärte der Kurdenführer Mas?ud Barzani am Tag darauf (noch vor der offiziellen Bekanntgabe des Abstimmungsergebnisses), dass die Mehrheit der Kurden, die ihre Stimme abgaben, die Unabhängigkeit unterstützen würden. Die Beteiligung lag in etwa bei 72 Prozent (Al-Jazeera 27.9.2017). Wahlberechtigt waren ca. fünf Millionen Einwohner, darunter mehrheitlich Kurden verschiedenen Glaubens, aber auch Christen und die meist sunnitischen Araber und Turkmenen der Region (Tagesspiegel 25.9.2017). Nach vorläufigen Zahlen von Barzanis KDP (Kurdische Demokratische Partei) stimmten beim Referendum knapp 92 Prozent für die Unabhängigkeit. Trotz internationaler Kritik und Warnungen hatte die kurdische Autonomieregierung die Bürger am Montag abstimmen lassen (Standard 27.9.2017). Die Zentralregierung hält das Referendum für verfassungswidrig. Auch die Türkei und der Iran sind strikt gegen einen unabhängigen Kurdenstaat. Bereits kurz nach der Abstimmung hatten die türkische und die irakische Armee ein gemeinsames Militärmanöver begonnen. Laut dem irakischen Generalstabschef Uthman al-Ghanami finde die Übung in der Gegend des Grenzübergangs Habur statt, des Übergangs zwischen der Türkei und der Kurdenregion im Nordirak. Die türkische Armee hatte das Manöver bereits eine Woche zuvor begonnen (Standard 27.9.2017). Die Türkei reagierte auch mit der Ankündigung von wirtschaftlichen Sanktionen. Präsident Recep Tayyip Erdogan erklärte am Folgetag des Referendums, dass die "irakischen Kurden hungern würden, wenn sein Land keine Lastwagen mehr in die Region ließe." Er drohte darüber zudem mit einem Stopp des kurdischen Ölexports und einer militärischen Intervention im Nordirak nach dem Vorbild des türkischen Einmarschs in Syrien. Das Referendum nannte er "null und nichtig" (Al-Jazeera 27.9.2017; vgl. Standard 26.9.2017). Der Nachbarstaat Iran schloss als Reaktion auf das Referendum nach dem Luftraum laut offiziellen Angaben auch die Landgrenze zu den Kurdengebieten. Allerdings gab es unterschiedliche Berichte darüber, ob ein Grenzübergang weiterhin geöffnet blieb. Parlamentspräsident Ali Larijani kündigte am Dienstag zudem an, dass das Parlament "alles, was zu einer Desintegration der Region führen könnte", nicht anerkennen werde. Medienangaben zufolge gab es wegen des Referendums am Montag spontane Straßenfeiern in mehreren kurdischen Städten im Iran (Standard 26.9.2017). Der Iran und die von ihm finanzierten schiitischen Milizen im Irak. sehen die Unabhängigkeitsbestrebungen der irakischen Kurden als Bedrohung einer iranisch dominierten Neuordnung der Region, die über den Irak und Syrien bis in den Libanon reicht. Dazu braucht die iranische Führung einen Irak in seinen jetzigen Grenzen und mit seinen Ölquellen in Kirkuk. Iranische Militärs und Revolutionsgardisten mahnten zunächst in eher blumigen Worten, inzwischen melden sie das Recht auf militärische Aktionen auf kurdischem Territorium an, sollte Erbil die Unabhängigkeit vorantreiben. Sie wittern hinter dem Referendum auch eine amerikanisch-israelische Strategie zur Unterminierung iranischer Interessen. Was in diesem Fall nur zur Hälfte stimmt. Israel ist in der Tat der einzige Staat im Nahen Osten, der das Referendum befürwortet, Kurden und Israelis haben eine lange Geschichte gegenseitiger Unterstützung (Zeit 24.9.2017). Die Türkei und der Iran befürchten darüber hinaus Auswirkungen auf die Autonomiebestrebungen ihrer eigenen kurdischen Minderheiten. Die USA als wichtiger Verbündeter der Kurden hatten sich ebenfalls gegen das Referendum ausgesprochen, weil sie den Kampf gegen den IS gefährdet sehen (Standard 26.9.2017).

Die irakische Regierung beantwortete den Aufruf Barzanis, mit den Kurden nun in Verhandlungen zu treten, ebenfalls mit einer Drohung. Premierminister Haider al-Abadi forderte die Kurden auf, binnen drei Tagen die Kontrolle der Flughäfen im Norden des Landes an die Zentralregierung zu übergeben. Sollte dies nicht geschehen, werde die irakische Regierung den Luftraum sperren und keine Flüge mehr aus oder in den Nordirak zulassen. Inlandsflüge seien davon jedoch nicht betroffen und internationale Flüge in und aus der Kurdenregion könnten [nach derzeitigem Stand] über Bagdad stattfinden (Al-Jazeera 27.9.2017; vgl. Standard 26.9.2017). Darüber hinaus stimmte das irakische Parlament bereits am Montag dafür, die irakische Armee in jene Gebiete zu schicken, in denen das Referendum abgehalten wurde, die jedoch laut irakischer Verfassung von 2005 als "umstrittenen" gelten - insbesondere Kirkuk und Umgebung, wo die Kurden die völlige Kontrolle übernahmen, nachdem 2014 die irakische Armee vor dem "Islamischen Staat" (IS) geflohen war (Harrer 26.9.2017).

Der Armeeeinsatz in den umstrittenen Gebieten, insbesondere in Kirkuk und Umgebung, führte zum Zusammenbruch der irakisch-kurdischen Peschmerga unter dem gemeinsamen Druck von Irak und Iran kurz nach dem Referendum über die Unabhängigkeit der Kurden am 25. September 2017 und könnte den Nordirak letztlich eher destabilisieren. Die Peshmerga zogen sich am 16. und 17. Oktober 2017 aus den umkämpften Gebieten im Nordirak im Wesentlichen zurück (siehe hiezu die untenstehende Karte). Details dazu siehe Punkte

1.1. und 2.4.

Staatsform & Parteien

Der Irak ist formal-konstitutionell eine republikanische, demokratische, föderal organisierte und parlamentarische Republik. So sieht es die gültige Verfassung von 2005 vor. Sitz von Regierung und Parlament ist Bagdad. Staatspräsident ist seit dem 24.07.2014 der Kurde Fuad Massum, Angehöriger der irakisch-kurdischen Partei Patriotic Union of Kurdistan - PUK. Ein Teil des föderalen Staates ist auch das kurdische Autonomiegebiet, das im Nordosten des Iraks angesiedelt ist. Diese Föderale Region Kurdistan hat weitgehende Souveränität. Sie verfügt über eigene exekutive, legislative und judikative Organe und besitzt seit 2009 eine eigene Verfassung, sowie gesonderte Militäreinheiten, die Peschmerga (LIP 6.2015). Im Irak gibt es eine Vielzahl von Parteien (zu einer Anerkennung genügen laut Parteiengesetz 500 Unterschriften). Sie haben sich vor und nach den Wahlen zu Bündnissen zusammengeschlossen (AA 7.2.2017).

Wahlen & Premierminister

Die letzten nationalen Wahlen, die im April 2014 stattfanden, hatte zwar abermals der zuvor amtierende Premierminister Nouri al-Maliki gewonnen, da es jedoch auf Grund seines autoritären und pro-schiitischen Regierungsstils massive Widerstände gegen ihn gab, trat er im August 2014 auf kurdischen, internationalen, aber auch auf innerparteilichen Druck hin zurück (GIZ 6.2015). Maliki wird unter anderem vorgeworfen, mit seiner sunnitenfeindlichen Politik (Ausgrenzung von sunnitischen Politikern, Niederschlagung sunnitischer Demonstrationen, etc.) deutlich zur Entstehung radikaler sunnitischer Gruppen, wie dem IS, beigetragen zu haben (Qantara 17.8.2015; vgl. auch Abschnitt "Sicherheitslage"). Infolge dessen wurde die schiitisch dominierte Regierung des Premierministers Nuri al-Maliki von einer nationalen Einheitsregierung mit Beteiligung von Sunniten und Kurden unter dem gemäßigteren Premierminister Haidar al-Abadi abgelöst (HRW 29.1.2015). Abadi ist ebenfalls Schiite und ein Parteikollege Malikis in der Da'wa-Partei. Er ist mit dem Versprechen angetreten, das ethno-religiöse Spektrum der irakischen Bevölkerung wieder stärker abzudecken (GIZ 6.2015), und zunächst konnten durch seine Ernennung zum irakischen Premierminister tatsächlich einige gesellschaftliche Gräben geschmälert werden. Von einer tatsächlichen Versöhnung zwischen den ethnischen und religiösen Gruppierungen ist jedoch nichts zu bemerken (ÖB 12.2016). Die Besetzung aller politischen Führungspositionen, so auch der Kabinettsposten, folgt seit Jahren einem Kalkül ethnisch/religiöser Balance. Die sunnitischen Regierungs- und Parlamentsmitglieder stehen unter Druck, da ihre Kooperation in Bagdad bislang kaum dazu beitrug, ihre Klientel zu schützen (ÖB 12.2016). Das irakische Parlament wählte den moderaten sunnitischen Politiker Salim al-Jabouri zum Parlamentspräsidenten (Al Arabiya 15.7.2014).

Abadis Reformen sind bislang nur oberflächlicher Natur oder harren noch ihrer Umsetzung. Unterstützt werden die Reformpläne der Regierung bislang immerhin durch die höchste geistliche Autorität der Schiiten, Großajatollah Al-Sistani (AA 7.2.2017). Insgesamt ist die Zentralregierung aber schwach, Premierminister Abadi kann gegen die internen Rivalitäten der schiitischen Parteien nicht viel ausrichten. Er ist von zahlreichen Herausforderern umgeben: Dem Ex-Premierminister Nouri al-Maliki, dem Oppositionsführer und populärer Priester Muqtada al-Sadr, sowie den anderen Anführern schiitischer Milizen (Stansfield 26.4.2017).

Das irakische Parlament hat am 29.01.2017 die neuen Minister für Verteidigung und Inneres bestätigt. Der Armeegeneral Erfan al-Hiyali von der sunnitischen Minderheit im Land wird künftig das Verteidigungsministerium führen. Kasim al-Aradschi von der schiitischen Badr-Organisation leitet das Ressort Inneres. Ministerpräsident Haider al-Abadi lobte die Entscheidung des Parlaments als "guten Fortschritt zu einer entscheidenden Zeit". Beide Posten waren monatelang unbesetzt (ORF, 30.01.2017).

Schiitische Milizen, Rolle des Ex-Premierminister Maliki und Einfluss des Iran

Abadi hat mit dem Iran-freundlichen Ex-Premierminister Maliki (nunmehr Vize-Premierminister und Vorsitzender der State of Law Coalition, sowie Da'wa-Parteiführer) einen starken Widersacher innerhalb seiner Partei. Ein Problem Abadis ist auch die Macht der schiitischen Milizen - einerseits unverzichtbar für Abadi im Kampf gegen den "Islamischen Staat" (Standard 5.11.2015), gleichzeitig wird deren Einsatz aber von der sunnitischen Bevölkerung als das "Austreiben des Teufels mit dem Beelzebub" gesehen. Das Vertrauen der sunnitischen Bevölkerung in die schiitisch dominierte Zentralregierung bleibt weiterhin minimal. Der Einsatz dieser Milizen im Kampf gegen den IS wird von Sunniten meist abgelehnt, sie fürchten ein ruchloses Vorgehen der Milizen und dulden daher oft die sunnitischen Extremisten in ihren Gebieten. Berichte zu Übergriffen der schiitischen Milizen konterkarieren die Versuche von Premierminister Haidar al-Abadi, den arabischen Sunniten wieder Vertrauen in den irakischen Staat einzuflößen (ÖB 12.2016). Bezüglich der schiitischen Milizen spielt auch der schiitisch dominierte Iran eine große Rolle, der insgesamt einen großen Einfluss auf den Irak ausübt. An den Schalthebeln der Macht in Bagdad werden selbst hochrangige irakische Kabinettsmitglieder von der iranischen Führung abgesegnet oder "hinauskomplementiert". Dadurch kommt es auch dazu, dass Gesetze verabschiedet werden, wie z. B. jenes vom November 2016, das die schiitischen Milizen effektiv zu einem permanenten Fixum der irakischen Sicherheitskräfte macht (NYTimes 15.7.2017), und sie im Rahmen der Dachorganisation PMF (auch PMU, Popular Mobilisation Forces/Units, Volksmobilisierung, arabisch Al-Hashd al-Shaabi) der irakischen Armee gleichstellt (Harrer 9.12.2016). Diese Integration der schiitischen Milizen in die Regierungskräfte, die von vielen sunnitischen Politikern bekämpft wurde (HRW 16.2.2017), ist mehr formeller Natur, um den äußeren Schein zu wahren. In der Realität gibt es im Irak keine offizielle Instanz (auch nicht die Regierung), die die Fähigkeit hat, die Milizen zu kontrollieren (Hiltermann 26.4.2017). Die Eingliederung der Milizen in die irakische Sicherheitsstruktur sichert ihnen einerseits eine Finanzierung durch den Irak, während die [effektive] Kontrolle über einige der mächtigsten Einheiten weiterhin dem Iran obliegt. Dem Iran geht es dabei nicht nur um die weitere Ausbreitung der Kontrolle über irakisches Gebiet, sondern auch darum, einen Korridor zu den Stellvertreterkräften in Syrien und im Libanon zu bilden. Was im März 2017 passierte, nämlich, dass Iran-gestützte schiitische Milizen zum ersten Mal den gesamten Weg westwärts bis zur syrisch-irakischen Grenze vorstoßen konnten, quer durch irakisches, vorwiegend sunnitisches Gebiet, veranschaulicht dieses Vorhaben (ICG 31.5.2017; vgl. NY Times 15.7.2017). Der ehemalige Premierminister Maliki, der sich bereits zu seiner Amtszeit stark in Richtung Iran gelehnt hatte, und der nach Ende seiner Amtszeit weiterhin massiv von der Zusammenarbeit mit dem Iran profitierte, spielt heute auf politischer Ebene in Bezug auf die PMF eine zentrale Rolle. Unter anderem aufgrund der Schwäche des Irakischen Staates, der Dominanz des Irans, sowie ganz besonders aufgrund der Hilfe, die der reguläre irakische Sicherheitsapparat für das Zurückschlagen des IS benötigt(e), blieb Abadi keine andere Wahl, als den PMF-Milizen zu noch weiterem Einfluss zu verhelfen - in Fortsetzung der bezüglich der Milizen vorangetriebenen Legitimierungspolitik Malikis. Die PMF sind somit einerseits eine vom Staat mittlerweile legitimierte und der Armee gleichgestellte Dachorganisation von - fast ausschließlich - schiitischen Milizen, gleichzeitig werden sie aber von nicht-staatlichen Anführern befehligt (Carnegie 28.4.2017). Maliki versucht, an die Spitze der irakischen Politik zurückzukehren, und hat als Verbündete dabei den Iran und "seine" neue Hausmacht, die schiitischen Milizen (Harrer 13.2.2017). Gegen dieses Vorhaben regt sich insbesondere auch im Süden verstärkter Widerstand: Die Anhänger der Sadr-Bewegung [Muqtada al-Sadr: Führer der Sadr-Bewegung, einer politischen Partei, sowie Führer der Saraya al-Salam] wollen mittels Demonstrationen die Hoffnung Malikis auf eine Rückkehr verhindern. Ein innerschiitischer Konflikt zwischen Sadristen und Maliki-Anhängern ist spürbar, auch wenn diesbezügliche militärische Auseinandersetzungen unwahrscheinlich sind (Al Monitor 26.1.2017). Zu solchen Auseinandersetzungen war es zwischen diesen beiden Lagern im Jahr 2008 in Basra gekommen (BBC 12.7.2017).

Die Sadr-Bewegung ist aber auch gegenüber Abadis Regierung kritisch eingestellt. Muqtada al-Sadr stilisiert sich als irakischer Nationalist, der gegen den konfessionell-ethnischen Proporz in der irakischen Politik ankämpft, der jedoch andererseits Abadis Reformen zum Teil sogar blockiert, wie z.B. Abadis Versuch, eine Technokratenregierung aufzustellen. Darüber hinaus führt die Sadr-Bewegung regierungskritische Demonstrationen durch, die - trotz Aufrufs Sadrs, friedlich zu protestieren - außer Kontrolle geraten können und zuletzt im Februar 2017 in Bagdad zur wiederholten Erstürmung der Grünen Zone führten. Die Proteste der Sadr-Bewegung spielen Maliki in die Hände und schwächen Abadi zusätzlich, der in der Schusslinie zwischen Sadr und Maliki steht (Harrer 13.2.2017). In Hinblick auf die Parlamentswahl im Jahr 2018 und einen möglichen Erfolg des pro-iranischen Maliki, näherte sich Premierminister Abadi einer Koalition einflussreicher schiitischer religiöser und politischer Führer (darunter auch besagter Muqtada al-Sadr) an, mit dem Ziel

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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