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19/05 Menschenrechte;Norm
AsylG 2005 §11;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Zens sowie den Hofrat Dr. Pürgy und die Hofrätin Dr.in Lachmayer als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Friedwagner, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 10. Mai 2017, W138 2132277-1/7E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (mitbeteiligte Partei: M N in W), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird in den Spruchpunkten A. II. und A. III. wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufgehoben.
Begründung
1 Der Mitbeteiligte, ein afghanischer Staatsangehöriger und Angehöriger der paschtunischen Volksgruppe, stellte am 3. November 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Dazu brachte er zusammengefasst vor, noch nie in Afghanistan gewesen zu sein, weil er im Iran geboren worden sei. Das Leben im Iran sei schwierig und die Behörden hätten ihn schlecht behandelt.
2 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) wies den Antrag mit Bescheid vom 25. Juli 2016 sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) ab. Es erteilte dem Mitbeteiligten keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Die Frist für die freiwillige Ausreise des Mitbeteiligten wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt IV.).
3 Das BFA führte in seiner Begründung unter anderem aus, dass für den Mitbeteiligten eine innerstaatliche Fluchtalternative in Kabul bestehe. Er könne dort seinen Lebensunterhalt bestreiten, zumal er arbeitsfähig sei und sich ohne Schwierigkeiten verständigen könne. Aus dem Vorbringen des Mitbeteiligten und der allgemeinen Situation sei nicht ersichtlich, dass ihm im Fall seiner Rückkehr eine unmenschliche Behandlung drohe oder eine im gesamten Herkunftsstaat vorliegende extreme Gefährdungslage bestehe.
4 In der dagegen erhobenen Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht brachte der Mitbeteiligte vor, im Iran geboren und aufgewachsen zu sein. Schon vor seiner Geburt habe sein Vater aus Afghanistan fliehen müssen. Der Mitbeteiligte sei mit den Traditionen und Lebensgewohnheiten in Afghanistan nicht vertraut und verfüge dort weder über ein soziales noch über ein familiäres Netz. Dazu legte er Berichte zur Sicherheitslage in Afghanistan vor, nach denen eine Rückkehr in seinen Herkunftsstaat nicht zumutbar sei.
5 In der am 27. April 2017 vor dem Bundesverwaltungsgericht durchgeführten mündlichen Verhandlung erklärte der Mitbeteiligte, dass die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides zurückgezogen werde.
6 Mit dem in Revision gezogenen Erkenntnis vom 10. Mai 2017 stellte das Bundesverwaltungsgericht das Verfahren über die Beschwerde hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten wegen Zurückziehung der Beschwerde ein (Spruchpunkt A. I.). Hinsichtlich Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wurde der Beschwerde stattgegeben und dem Mitbeteiligten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt A. II.). Das Bundesverwaltungsgericht erteilte dem Mitbeteiligten gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis 11. Mai 2018 (Spruchpunkt A. III.) und behob die von der belangten Behörde ausgesprochene Rückkehrentscheidung ersatzlos (Spruchpunkt A. IV.). Die Revision an den Verwaltungsgerichtshof erklärte das Bundesverwaltungsgericht gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig (Spruchpunkt B.).
7 In der Begründung stellte das Bundesverwaltungsgericht fest, der Mitbeteiligte sei in Teheran geboren. Er habe dort bis zu seiner Ausreise mit seinen Eltern und seinen drei Brüdern gelebt und sich zu keinem Zeitpunkt in Afghanistan aufgehalten. Er habe im Iran acht Jahre lang die Grundschule besucht und in dieser Zeit in der Landwirtschaft und "am Bau" gearbeitet. Die finanzielle Situation der Eltern des Mitbeteiligten sei durchschnittlich. Er habe in Afghanistan keine Verwandten. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan und einer Ansiedelung in Herat (Heimatprovinz der Eltern) oder in Kabul liefe der Mitbeteiligte Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Darüber hinaus legte das Bundesverwaltungsgericht seinen Feststellungen Berichte zu Afghanistan, insbesondere zur Herkunftsprovinz der Eltern des Mitbeteiligten, sowie Auszüge aus einem Gutachten eines länderkundigen Sachverständigen zugrunde. Das Bundesverwaltungsgericht traf zudem Feststellungen zur Sicherheits- und Versorgungslage in Kabul und zur Frage der Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative.
8 In rechtlicher Hinsicht folgerte das Bundesverwaltungsgericht, dass es sich bei dem Mitbeteiligten zwar um einen jungen, gesunden und arbeitsfähigen Mann handle, bei dem eine grundsätzliche Fähigkeit zur Teilnahme am Erwerbsleben an sich vorauszusetzen sei. Allerdings sei zu berücksichtigen, dass die Eltern des Mitbeteiligten aus der Provinz Herat stammten, der Mitbeteiligte aber selbst nie in Afghanistan gewesen sei. Er sei im Iran geboren und habe keine Verwandten in Afghanistan. Angesichts der persönlichen Situation des Mitbeteiligten könne nicht mit ausreichender Sicherheit erwartet werden, dass er unter den in seiner Herkunftsregion gegebenen wirtschaftlichen Umständen im Fall einer Rückkehr selbst in der Lage wäre, für seinen Lebensunterhalt aufzukommen. Eine Rückkehr in die Provinz Herat würde - sowohl auf Grund der schlechten Sicherheitslage, als auch wegen fehlender familiärer und sozialer Anknüpfungspunkte - eine reale Gefahr einer Verletzung des Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten.
9 Zur Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative hielt das Bundesverwaltungsgericht fest, aus den Länderberichten gehe hervor, dass neben einer prekären Sicherheitslage die Versorgung mit Nahrungsmitteln und Wohnraum insbesondere für alleinstehende Rückkehrer ohne familiären Rückhalt sowie finanzieller Unterstützung in Kabul nur unzureichend sei, weshalb diese mit großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten konfrontiert seien. Bei fehlender Bildung bzw. Fachausbildung gerieten diese zudem in ernste Versorgungsschwierigkeiten. Der Mitbeteiligte sei zwar ein arbeitsfähiger und gesunder junger Mann mit Grundschulbildung sowie geringer Berufserfahrung. Er sei aber im Iran geboren, dort aufgewachsen und nie in Afghanistan gewesen. Er verfüge in Afghanistan auch über keine sozialen oder familiären Anknüpfungspunkte. Ein in den Richtlinien von UNHCR geforderter gesicherter Zugang zu Unterkünften, wesentlichen Grundleistungen und Erwerbsmöglichkeiten sei daher nicht ersichtlich. Die von UNHCR dargelegten "bestimmten Umstände", nach denen es alleinstehenden leistungsfähigen Männern in berufsfähigem Alter ohne spezifische Vulnerabilität möglich sein könne, ohne Unterstützung von Familie und Gemeinschaft in urbaner Umgebung zu leben, lägen im gegenständlichen Fall nicht vor.
10 Das BFA erhob gegen dieses Erkenntnis, soweit dem Mitbeteiligten der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt A. II) und ihm infolge dessen eine Aufenthaltsberechtigung erteilt (Spruchpunkt A. III) wurde, die gegenständliche Amtsrevision.
11 Der Verwaltungsgerichtshof hat über diese nach Einleitung des Vorverfahrens und Erstattung einer Revisionsbeantwortung durch den Mitbeteiligten in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
12 In der Revision wird zur Begründung ihrer Zulässigkeit unter anderem vorgebracht, das Bundesverwaltungsgericht sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu den Voraussetzungen für das Vorliegen einer extremen Gefahrenlage im Sinne des Art. 3 EMRK und zur innerstaatlichen Fluchtalternative abgewichen. Der Mitbeteiligte habe familiäre Anknüpfungspunkte im Iran, zu denen regelmäßig Kontakt bestehe. Allfällige finanzielle Unterstützungsleistungen kämen daher auch durch diese in Betracht. Außerdem sei der Mitbeteiligte Angehöriger der paschtunischen Volksgruppe, von der er Unterstützungsleistungen durch die Stammes- und Clanstrukturen in Anspruch nehmen könne. Das Bundesverwaltungsgericht habe sich nicht näher damit auseinandergesetzt, dass Unterstützungsleistungen durch Familienangehörige auch dann erfolgen könnten, wenn diese räumlich getrennt lebten.
13 Die Amtsrevision ist zulässig und auch begründet. 14 Der Verwaltungsgerichtshof hat sich bereits wiederholt mit
dem Kriterium nach § 8 Abs. 1 AsylG 2005 einer realen Gefahr einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung durch eine Rückkehr nach Afghanistan - im Besonderen bei Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Kabul - auseinandergesetzt. In Fortsetzung dieser Rechtsprechung wurde etwa in jenem Fall, der dem hg. Erkenntnis vom 19. Juni 2017, Ra 2017/19/0095, zugrunde lag, - unter Hinweis auch auf die Judikatur des EGMR - das Vorliegen einer realen Gefahr im Sinn des § 8 Abs. 1 AsylG 2005 verneint. Der Sachverhalt dieses Verfahrens stimmt in den entscheidungswesentlichen Punkten mit dem vorliegenden Fall überein. Es wird daher gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG auf die Entscheidungsgründe dieses Erkenntnisses verwiesen (siehe im gleichen Sinn VwGH 25.5.2016, Ra 2016/19/0036; 8.9.2016, Ra 2016/20/0063; 25.4.2017, Ra 2016/01/0307; 8.8.2017, Ra 2017/19/0118; 20.9.2017, Ra 2016/19/0209; 20.9.2017, Ra 2017/19/0190; 20.9.2017, Ra 2017/19/0205; 18.10.2017, Ra 2017/19/0157; 5.4.2018, Ra 2017/19/0616, sowie insbesondere zur Situation von bereits im Iran geborener afghanischer Antragsteller VwGH 30.5.2018, Ra 2018/18/0228, mwN und VfGH 12.12.2017, E 2068/2017).
15 Im Übrigen hat der Verwaltungsgerichtshof in seiner jüngeren Rechtsprechung bereits erkannt, dass eine schwierige Lebenssituation (bei der Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht), die ein Asylwerber bei Rückführung in das als innerstaatliche Fluchtalternative geprüfte Gebiet vorfinden würde, für sich betrachtet nicht ausreicht, um eine innerstaatliche Fluchtalternative zu verneinen. Mit Bezug auf die Verhältnisse in Afghanistan wurde ausgeführt, es könne zutreffen, dass ein alleinstehender Rückkehrer ohne familiären Rückhalt und ohne finanzielle Unterstützung in der afghanischen Hauptstadt Kabul (anfangs) mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten konfrontiert sei. Soweit es sich aber um einen jungen und gesunden Mann, der über Schulbildung und Berufserfahrung verfüge, handle, sei - auf der Grundlage der allgemeinen Länderfeststellungen zur Lage im Herkunftsstaat - nicht zu erkennen, dass eine Neuansiedlung in Kabul nicht zugemutet werden könne. Dies stehe auch im Einklang mit der Einschätzung der UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19. April 2016, denen zufolge es alleinstehenden, leistungsfähigen Männern im berufsfähigen Alter ohne spezifische Vulnerabilität möglich sei, auch ohne Unterstützung durch die Familie in urbaner Umgebung zu leben (vgl. zB VwGH 29.5.2018, Ra 2018/20/0146, mwN).
16 Aus den in VwGH Ra 2017/19/0095 dargestellten Gründen ist die angefochtene Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes mit Rechtswidrigkeit belastet. Durch die Feststellungen des BVwG wird zwar (wie in den zitierten gleich gelagerten Fällen) eine schwierige Lebenssituation für den Mitbeteiligten bei einer Rückkehr nach Afghanistan - insbesondere auch hinsichtlich einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Kabul - aufgezeigt. Die Annahme des Bundesverwaltungsgerichts, es sei unter Berücksichtigung der den Mitbeteiligten betreffenden individuellen Umstände davon auszugehen, es bestehe im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan auch in Kabul die reale Gefahr einer Verletzung des Art. 3 EMRK, ist aber eine rechtliche Beurteilung, die in den Feststellungen keine Deckung findet. Vor dem Hintergrund der in Rn. 14 zitierten Rechtsprechung gilt dies auch für die vom Verwaltungsgericht angenommene Unzumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative.
17 Das angefochtene Erkenntnis war daher im Umfang seiner Anfechtung sowohl hinsichtlich des Spruchpunktes A.II. als auch hinsichtlich des Spruchpunktes A.III., weil dieser mit der Aufhebung des Spruchpunktes A.II. seine rechtliche Grundlage verliert (vgl. VwGH 5.12.2017, Ra 2017/01/0236), wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben. Der nicht angefochtene Spruchpunkt A.IV. verliert durch die ex tunc-Wirkung der gegenständlichen Aufhebung durch den Verwaltungsgerichtshof seine Rechtsgrundlage (vgl. dazu VwGH Ra 2018/20/0146, mwN).
Wien, am 2. August 2018
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2018:RA2017190229.L00Im RIS seit
22.08.2018Zuletzt aktualisiert am
03.09.2018