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L9200 Sozialhilfe, Grundsicherung, MindestsicherungNorm
B-VG Art144 Abs1 / AnlassfallLeitsatz
Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses im AnlassfallSpruch
I. Die Beschwerdeführerin ist durch das angefochtene Erkenntnis wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in ihren Rechten verletzt worden.
Das Erkenntnis wird aufgehoben.
II. Das Land Wien ist schuldig, der Beschwerdeführerin zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe
1. Die Beschwerdeführerin ist nigerianische Staatsangehörige und hält sich seit zumindest 12. November 2009 im österreichischen Bundesgebiet auf. Die am 28. Juni 2014 geborene Tochter der Beschwerdeführerin ist österreichische Staatsbürgerin. Der Beschwerdeführerin wurde mit Bescheid des Landeshauptmannes von Wien ein Aufenthaltstitel "Familienangehöriger" gemäß §47 Abs2 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (im Folgenden: NAG) für den Zeitraum 19. April 2016 bis 19. April 2017 rechtskräftig erteilt.
Die Beschwerdeführerin stellte am 29. Dezember 2015 einen Antrag auf Zuerkennung von Leistungen der Bedarfsorientierten Mindestsicherung nach dem Gesetz zur Bedarfsorientierten Mindestsicherung in Wien (Wiener Mindest-sicherungsgesetz; im Folgenden: WMG). Mit Bescheid vom 29. Februar 2016 wies der Magistrat der Stadt Wien diesen Antrag als unbegründet ab. Dagegen erhob die Beschwerdeführerin Beschwerde an das Verwaltungsgericht Wien.
Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis vom 26. Juli 2017 wies das Ver-waltungsgericht Wien diese Beschwerde gemäß §5 WMG ab. Der Beschwerde-führerin sei für den Zeitraum 23. August 2013 bis 23. August 2014 eine Aufent-haltsbewilligung besonderer Schutz gemäß §69a NAG gewährt worden. Zum Zeitpunkt der Antragstellung auf Zuerkennung von Leistungen der Bedarfs-orientierten Mindestsicherung habe die Beschwerdeführerin über keinen gültigen Aufenthaltstitel im Bundesgebiet verfügt. Seit 19. April 2016 sei der Aufenthalt der Beschwerdeführerin im Bundesgebiet rechtmäßig, jedoch handle es sich bei dem erteilten Aufenthaltstitel "Familienangehöriger" gemäß §47 NAG um keinen der in §5 Abs2 Z3 und 4 WMG taxativ aufgezählten Aufenthaltstitel. Der Beschwerdeführerin sei auch kein subsidiärer Schutz erteilt oder Asylstatus gewährt worden (vgl. §5 Abs2 Z1 WMG). Die Beschwerdeführerin sei auch nicht EWR-Bürgerin oder Familienangehörige eines gemäß §5 Abs2 Z2 WMG gleichgestellten EWR-Bürgers, der von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht habe. Sie sei somit nicht gemäß §5 Abs2 WMG österreichischen Staatsbürgern gleichgestellt. Auch der Umstand, dass die Beschwerdeführerin die Mutter einer minderjährigen österreichischen Staatsbürgerin sei, vermöge nichts an der eindeutigen Rechtslage des WMG zu ändern, zumal dort ein Anspruch auf Leistungen ausschließlich volljährigen österreichischen Staatsbürgern – oder diesen im Sinne des §5 Abs2 WMG gleichgestellten Personen – einer Bedarfsgemeinschaft zuerkannt werden könne. Sofern keine volljährige anspruchsberechtigte Person in einer Bedarfsgemeinschaft Leistungen beantrage, könne demnach auch keine Bedarfsorientierte Mindestsicherung zugesprochen werden. Daraus folge, dass die Beschwerdeführerin nicht zum Kreis der anspruchsberechtigten Personen nach dem WMG zähle. Die Abweisung des Antrages auf Zuerkennung von Leistungen der Bedarfsorientierten Mindestsicherung durch die belangte Behörde sei daher zu Recht erfolgt.
2. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung im verfassungsgesetzlich gewähr-leisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander und die Verletzung in Rechten wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes (§5 Abs2 WMG) behauptet wird. Dass Inhaber eines Aufenthaltstitels "Familienangehöriger" gegenüber Inhabern von den in §5 Abs2 WMG angeführten Aufenthaltstiteln benachteiligt werden, stelle eine unsachliche Differenzierung im Wesentlichen gleicher Sachverhalte dar. Die Aufenthaltstitel nach §47 Abs2 NAG seien in wesentlichen Punkten nicht von den in §5 Abs2 WMG angeführten Fällen zu unterscheiden. Deren Inhaber hätten angesichts der Tatsache, dass sie voraussetzungsgemäß zur "Kernfamilie" eines österreichischen Staatsbürgers gehören, eine ähnliche Bindung zu Österreich wie jene Personen, die über einen Daueraufenthaltstitel verfügen würden. Es erscheine unsachlich, dass österreichischen Minderjährigen die Begünstigung durch Leistungen der Bedarfsorientierten Mindestsicherung an einen unterhaltspflichtigen Elternteil verweigert werde, wenn sich dieser Elternteil auf Grund eines Aufenthaltstitels gemäß §47 Abs2 NAG in Österreich aufhalte.
Das Verwaltungsgericht Wien legte die Gerichtsakten und der Magistrat der Stadt Wien, Magistratsabteilung 40, Stabstelle Sozialrechtlicher Support, die Verwaltungsakten vor, von der Erstattung einer Gegenschrift wurde abgesehen.
3. Aus Anlass dieser Beschwerde leitete der Verfassungsgerichtshof gemäß Art140 Abs1 Z1 litb B-VG von Amts wegen ein Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des §5 des Gesetzes zur Bedarfsorientierten Mindestsicherung in Wien idF LGBl für Wien 38/2010, und des Wortes "anspruchberechtigten" in §7 Abs1 letzter Satz des Gesetzes zur Bedarfsorientierten Mindestsicherung in Wien, LGBl für Wien 38/2010 idF LGBl für Wien 6/2011, ein. Mit Erkenntnis vom 27. Juni 2018, G415/2017, stellte er fest, dass die Wortfolgen "„Daueraufenthalt – EG“ oder „Daueraufenthalt – Familienangehöriger“, denen dieser Aufenthaltstitel", "§45 oder §48" und "erteilt wurde" in §5 Abs2 Z3 Wiener Mindestsicherungsgesetz, LGBl 38/2010, verfassungswidrig waren.
4. Die Beschwerde ist begründet.
Das Verwaltungsgericht Wien hat eine verfassungswidrige Gesetzesbestimmung angewendet. Es ist nach Lage des Falles nicht ausgeschlossen, dass ihre Anwendung für die Rechtsstellung der Beschwerdeführerin nachteilig war.
Die Beschwerdeführerin wurde also durch das angefochtene Erkenntnis wegen Anwendung einer verfassungswidrigen Gesetzesbestimmung in ihren Rechten verletzt (zB VfSlg 10.404/1985).
Das Erkenntnis ist daher aufzuheben.
5. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
6. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– enthalten.
Schlagworte
VfGH / AnlassfallEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2018:E2239.2016Zuletzt aktualisiert am
20.08.2018