Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Stix als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Kralik, Dr. Vogel, Dr. Kropfitsch und Dr. Zehetner als Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Leopold K*****, vertreten durch Dr. Peter Imre, Rechtsanwalt in Gleisdorf, wider die beklagten Parteien 1) Günter H*****, und 2) E*****AG, *****, beide vertreten durch Dr. Erwin Gstirner, Rechtsanwalt in Graz, wegen 48.474,84 S sA, infolge Rekurses der klagenden Partei und der beklagten Parteien gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht vom 28. Februar 1984, GZ 4 R 22/84-12, womit infolge Berufung der beklagten Parteien das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz vom 15. November 1983, GZ 12 Cg 74/83-7, aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Beiden Rekursen wird Folge gegeben.
Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben und das Urteil des Erstgerichts dahin abgeändert, dass die Entscheidung zu lauten hat:
Das Klagebegehren des Inhalts, die beklagten Parteien seien zur ungeteilten Hand schuldig, der klagenden Partei den Betrag von 48.474,84 S samt 4 % Zinsen seit 10. 1. 1983 zu bezahlen, wird abgewiesen.
Die klagende Partei ist schuldig, den beklagten Parteien die mit 11.830,87 S bestimmten Kosten des Verfahrens in erster Instanz (darin Barauslagen von 3.860 S und Umsatzsteuer von 590,43 S), die mit 2.533,24 S bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens (darin Barauslagen von 320 S und Umsatzsteuer von 163,94 S) und die mit 5.972,33 S bestimmten Kosten des Rekursverfahrens (darin Barauslagen von 560 S und Umsatzsteuer von 492,03 S) binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Am 7. 8. 1982 ereignete sich gegen 11:30 Uhr im Ortsgebiet von ***** auf der Kärntnerstraße im Bereich der Zufahrt zur Firma Holz-Steiner ein Verkehrsunfall, an dem der Kläger als Halter und Lenker des PKW mit dem Kennzeichen ***** und der Erstbeklagte als Lenker des PKW mit dem Kennzeichen ***** beteiligt waren. Die Zweitbeklagte ist der Haftpflichtversicherer des letztgenannten Kraftfahrzeugs. Der auf der Kärntnerstraße stadteinwärts fahrende Erstbeklagte kollidierte mit dem von ihm gelenkten Fahrzeug mit dem PKW des Klägers, der aus der Zufahrt zur Firma Holz-Steiner in die Kärntnerstraße einfuhr. Dabei wurden beide Lenker verletzt und beide Fahrzeuge beschädigt. Ein gerichtliches Strafverfahren fand gegen keinen der beiden beteiligten Lenker statt.
Im vorliegenden Rechtsstreit begehrte der Kläger aus dem Rechtsgrund des Schadenersatzes aus diesem Verkehrsunfall die Zahlung von 48.474,84 S sA (Fahrzeugschaden, Schmerzengeld). Der Höhe nach ist der Klagsbetrag nicht strittig. Dem Grunde nach stützte der Kläger sein Begehren auf die Behauptung, das Alleinverschulden an diesem Verkehrsunfall treffe den Erstbeklagten, weil er vorschriftswidrig an zwei auf den beiden stadteinwärts führenden Fahrstreifen der Kärntnerstraße aufgestauten Fahrzeugkolonnen vorbeigefahren und dabei gegen den PKW des Klägers gefahren sei, mit dem dieser versucht habe, durch eine in den aufgestauten Kolonnen für ihn freigehaltene Lücke aus der Zufahrt der Firma Holz-Steiner in die Kärntnerstraße einzufahren und auf dieser stadtauswärts weiterzufahren.
Die Beklagten wendeten dem Grunde nach im Wesentlichen ein, für den Erstbeklagten sei auf dem von ihm benützten Fahrstreifen der Kärntnerstraße eine Durchfahrtslücke zur Sperrlinie bzw in späterer Folge zur Leitlinie von 3 m verblieben. Der Erstbeklagte habe sich der Unfallstelle mit einer Geschwindigkeit im Bereich von 40 bis 50 km/h genähert und beabsichtigt, die verbleibende Durchfahrtslücke zu benützen, um in der Folge von der Kärntnerstraße nach links in eine VW-Werkstätte einzubiegen. Aus Sicherheitsgründen habe er den Seitenabstand zu der rechts von ihm befindlichen Fahrzeugkolonne vergrößert und dabei geringfügig die Sperrlinie überfahren. Der Kläger, der aus der Zufahrt zur Firma Holz-Steiner in die Kärntnerstraße eingebogen sei, um seine Fahrt stadtauswärts fortzusetzen, habe das Verkehrsgeschehen auf der Kärntnerstraße nicht beachtet und sei, ohne in der Fahrbahnmitte anzuhalten, nach links in den stadtauswärts führenden Fahrstreifen der Kärntnerstraße eingefahren. Er habe den dem Erstbeklagten zustehenden Vorrang verletzt. Der Erstbeklagte habe unverzüglich auf das Einfahren des Klägers reagiert, habe jedoch den Eintritt des Unfalls nicht mehr verhindern können. Schließlich wendeten die Beklagten eine Schadenersatzforderung des Erstbeklagten aus diesem Verkehrsunfall in der Höhe von 40.000 S (Fahrzeugschaden, Schmerzengeld) aufrechnungsweise gegen die Klagsforderung ein. Der Höhe nach ist auch diese Gegenforderung nicht mehr strittig.
Das Erstgericht entschied, dass die Klagsforderung mit 48.474,84 S zu Recht, die eingewendete Gegenforderung hingegen nicht zu Recht besteht. Es gab daher dem Klagebegehren statt.
Das Erstgericht stellte im Wesentlichen folgenden Sachverhalt fest:
Die Kärntnerstraße verläuft im Unfallsbereich annähernd in Nord-Süd-Richtung. Sie weist auf Höhe der Bezugslinie (Senkrechte zur Kärntnerstraße auf Höhe der südlichen Begrenzung der östlichen Einfahrt der Firma Holz-Steiner) vier Fahrspuren auf, wovon die beiden östlichen für den Verkehr in Richtung Norden, die westlichste für den Abbiegeverkehr zur Pyhrnautobahn und die westliche für den Geradeausverkehr in Richtung Süden bestimmt sind. Die beiden östlichen Fahrstreifen sind bis 6 m südlich der Bezugslinie durch eine Sperrlinie voneinander getrennt. Die östlichste Fahrspur stellt die Autobahnabfahrt in Richtung stadteinwärts dar. Sie ist durch ein negatives Vorrangzeichen von der Fahrspur der Kärntnerstraße abgesichert. Zwischen den beiden Geradeausfahrspuren der Kärntnerstraße befindet sich ebenfalls eine Sperrlinie bis 6 m südlich der Bezugslinie. Diese Sperrlinie geht in Richtung Norden in eine Leitlinie über; 37 m nördlich der Bezugslinie beginnt eine Linksabbiegespur unter anderem zur VW-Werkstätte. Aus der Höhe der Einfahrt der Firma Holz-Steiner besteht Sicht auf die Fahrbahn der Kärtnerstraße über mehr als 100 m und Sicht auf die Autobahnabfahrt auf ca 50 m. Die mittlere Sperrlinie der Kärntnerstraße befindet sich 9,4 m westlich des östlichen Fahrbahnrandes. Die Kärntnerstraße ist eine gekennzeichnete Vorrangstraße.
Zur Unfallszeit wollte der Kläger mit seinem PKW aus der Einfahrt der Firma Holz-Steiner in die Kärntnerstraße in Richtung stadtauswärts einbiegen. Auf der Kärtnerstraße herrschte sehr starker Verkehr. Es befand sich sowohl auf der östlichsten Fahrspur (von der Autobahnabfahrt) als auch auf der Fahrspur, die für die Fahrzeuge, die aus Richtung Straßgang kommen, bestimmt ist, eine Fahrzeugkolonne. Diese beiden Fahrzeugkolonnen waren im Stillstand, da auch weiter stadteinwärts Fahrzeugkolonnen vorhanden waren. Da der Bereich der Zufahrt frei war, begann der Kläger mit dem Einfahrts- bzw Abbiegemanöver. Er erreichte dabei eine Geschwindigkeit von 20 km/h. Zur selben Zeit fuhr der Erstbeklagte mit dem von ihm gelenkten PKW, von Straßgang kommend, auf der Kärntnerstraße. Er beabsichtigte, in weiterer Folge nach links zur VW-Werkstätte abzubiegen. Der Erstbeklagte fuhr an den beiden angehaltenen Fahrzeugkolonnen vorbei und überfuhr dabei die Sperrlinie, sodass er diese um 1,3 m überragte. Er hielt dabei eine Geschwindigkeit in der Größenordnung von 50 km/h ein.
Als sich der Erstbeklagte mit seinem PKW 15 m südlich der Bezugslinie befand, bemerkte er das herausfahrende Fahrzeug des Klägers, das sich zu diesem Zeitpunkt mit seiner Front 5,5 m westlich des östlichen Fahrbahnrandes und mit der linken Flanke ca 8 bis 9 m nördlich der Bezugslinie befand. Der Erstbeklagte leitete daraufhin sofort eine Bremsung ein. 5 m nördlich der Bezugslinie kam es zum Zusammenstoß der beiden Fahrzeuge, wobei der vom Erstbeklagten gelenkte PKW mit seiner linken voderen Ecke gegen die linke Flanke des Fahrzeugs des Klägers im Bereich der linken Tür prallte. Dadurch wurde der vom Erstbeklagten gelenkte PKW in seiner Ankommrichtung um ca 2 m zurückgeschoben. Vom Fahrzeug des Erstbeklagten zeichnete sich eine Bremsspur von insgesamt 3 m Länge ab. Zum Zeitpunkt der Kollision bewegte sich der PKW des Klägers unter einem Winkel von ca 45 Grad zur Fahrlinie des Erstbeklagten.
Unter Berücksichtigung einer Verzögerung von 8 m/sec2 und einer Reaktionssekunde inklusive Bremsschwellzeit ist bei einer Geschwindigkeit von 20 km/h ein Anhalteweg von ca 7 m erforderlich. Bei gleichzeitiger Reaktion des Klägers im Zeitpunkt der Reaktion des Erstbeklagten war ein Anhalten des PKW des Klägers vor der Fahrlinie des Erstbeklagten nicht mehr möglich.
Rechtlich beurteilte das Erstgericht den festgestellten Sachverhalt im Wesentlichen dahin, das Alleinverschulden treffe den Erstbeklagten, weil er durch seine Fahrweise gegen § 9 Abs 1 StVO verstoßen habe; er habe die Sperrlinie deutlich überfahren. Der Erstbeklagte hätte sein „Überholmanöver“ nicht durchführen dürfen, weil die Fahrspur für die aus Richtung Straßgang herankommenden Verkehrsteilnehmer bereits besetzt gewesen sei und ein Überholen deshalb ohne Überfahren der Sperrlinie nicht möglich gewesen sei. Hingegen habe der Kläger damit rechnen können, dass er gefahrlos aus der Zufahrt der Firma Holz-Steiner in die Kärntnerstraße einfahren könne, zumal die bei den Fahrzeugkolonnen auf den westlichen Fahrspuren der Kärntnerstraße gestanden seien und für eine genügende Durchfahrtslücke Raum geblieben sei. Der Kläger habe nicht damit rechnen können, dass in dritter Spur ein weiteres Fahrzeug aus Süden herankommen werde und er habe deshalb richtigerweise seine Aufmerksamkeit primär auf den Verkehr von rechts gerichtet. Eine Reaktionsverspätung sei dem Kläger nicht anzulasten.
Der gegen diese Entscheidung gerichteten Berufung der Beklagten gab das Berufungsgericht mit dem angefochtenen Beschluss Folge. Es hob das Urteil des Erstgerichts unter Rechtskraftvorbehalt auf und verwies die Rechtssache zur Urteilsfällung nach allfälliger Verhandlung an das Erstgericht zurück.
Das Berufungsgericht führte im Wesentlichen aus, dass es am Rechtswidrigkeitszusammenhang zwischen dem Überfahren der Sperrlinie durch den Erstbeklagten und dem entstandenen Schaden fehle, weil eine Sperrlinie nicht dem Schutz des diesseits der Bodenmarkierung befindlichen Querverkehrs diene. Darauf allein komme es aber nicht an. Die Teilung der Fahrbahnhälfte in zwei Fahrstreifen durch Bodenmarkierungen mache zunächst deutlich, dass sich nach Vorstellung der Straßenverwaltungsbehörde in dieser Fahrtrichtung zwei mehrspurige Fahrzeugkolonnen nebeneinander bewegen können sollten. Jedoch sei die Mindestbreite eines Fahrstreifens im Gesetz nicht ausdrücklich festgelegt. Ein Fahrstreifen müsse nur gemäß § 2 Abs 1 Z 5 StVO mindestens eine zur Fortbewegung einer Reihe mehrspuriger Fahrzeuge ausreichende Breite aufweisen. Aus § 9 Abs 1 2. Halbsatz der Bodenmarkierungsverordnung könne der Umkehrschluss gezogen werden, dass die Fahrstreifenbreite mit mindestens 2 m festgelegt sei. Es sei gesetzlich nicht vorgeschrieben, dass Fahrstreifen voneinander durch Bodenmarkierungen abgegrenzt sein müssten. Es könne daher vorkommen, dass ein durch Bodenmarkierungen von der restlichen Fahrbahn abgegrenzter straßenlängsgerichteter Fahrbahnteil zwei oder auch mehrere Fahrstreifen beinhalte. Bei einer Breite dieses Fahrbahnteiles von 4,65 m sei es möglich, dass sich zwei Personenkraftwagenreihen nebeneinander, also auf zwei Fahrstreifen, fortbewegten, ohne dass die erforderlichen Sicherheitsabstände unterschritten würden. Kein zweiter Fahrstreifen stünde allerdings innerhalb dieses abgegrenzten Fahrbahnteiles dann zur Verfügung, wenn er von mehrspurigen Fahrzeugen mit der höchstzulässigen Breite von 2,5 m benützt werde oder sich eine den abgegrenzten Fahrbahnteil benützenden Reihe mehrspuriger Fahrzeuge in dessen Mitte dahinbewegte. In solchen Fällen würde das Nichtausreichen der zur linksseitigen Sperrlinie hin verbleibenden Durchfahrtslücke die Annahme eines zweiten Fahrstreifens und die Bildung einer zweiten Fahrzeugreihe im gleichen Fahrbahnteil unzulässig machen. Es wäre für nachkommende mehrspurige Fahrzeuge ein Vorbeifahrverbot nach § 17 Abs 1 StVO entstanden. Durch ein solches Vorbeifahrverbot seien nicht nur entgegenkommende, sondern auch andere Straßenbenützer geschützt, wobei insbesondere an den Schutz des Querverkehrs jeglicher Art zu denken sei. Mit der Missachtung solcher Verbote müsse der – auch benachrangte – Querverkehrsteilnehmer nicht rechnen. Er müsse seine Fahrweise nicht auf Hindernisse einstellen, die aufgrund nicht rechtzeitig erkennbarer Verkehrswidrigkeiten anderer Verkehrsteilnehmer in seiner Fahrlinie gelangten. Der Umstand, dass im vorliegenden Fall der Unfallspunkt 11 m nach Ende der diesbezüglichen Fahrbahnteilung liege, spiele keine Rolle, weil diese Entfernung bei der vom Erstbeklagten eingehaltenen Fahrgeschwindigkeit von 50 km/h in weniger als einer Sekunde zurückgelegt werde, welche Zeit für eine Abwehrreaktion nicht ausreiche. Es sei daher eine Feststellung darüber erforderlich, welche Durchfahrtslücke zwischen der linken Begrenzung der linken Fahrbahnkolonne und der fahrbahnteilenden Sperrlinie für den Erstbeklagten verblieben sei. Im fortgesetzten Verfahren werde dieser Abstand festzustellen sein. Sollte er 2 m oder mehr betragen haben, werde davon auszugehen sein, dass links neben der stehenden zweiten Fahrzeugkolonne noch ein Fahrstreifen für die Durchfahrt des Erstbeklagten zur Verfügung gestanden sei, der Kläger daher mit einer solchen Durchfahrt rechnen habe müssen und durch Einfahrt in diesen Fahrstreifen den Vorrang des Erstbeklagten missachtet habe. Sollte die Durchfahrtsbreite weniger als 2 m betragen haben, sodass der Erstbeklagte die Durchfahrt nur unter tastendem Vorbeibewegen oder eben unter Überschreitung der Sperrlinie durchführen habe können, dann müsse ihm die Übertretung eines Vorbeifahrverbots bzw eine wesentliche Geschwindigkeitsüberschreitung angelastet werden, während der Kläger vorwurfsfrei bleibe.
Rechtliche Beurteilung
Gegen diese Entscheidung richten sich die Rekurse beider Streitteile. Der Kläger beantragt die Abänderung des angefochtenen Beschlusses im Sinne der Wiederherstellung des Urteils des Erstgerichts; die Beklagten beantragen, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und dem Berufungsgericht die neuerliche Entscheidung im Sinne der Abweisung des Klagebegehrens aufzutragen.
Die Beklagten haben eine Rekursbeantwortung mit dem Antrag erstattet, dem Rechtsmittel des Klägers nicht Folge zu geben.
Beide Rechtsmittel sind insoweit berechtigt, als die Sache spruchreif, allerdings im Sinne der Abweisung des Klagebegehrens.
Geht man nämlich vom bereits bisher unbekämpft feststehenden Sachverhalt aus, dann zeigt sich, dass dem Erstbeklagten ein Verschulden am Zustandekommen dieses Verkehrsunfalls nicht angelastet werden kann, während den Kläger ein eindeutiges und schwerwiegendes Verschulden trifft.
Was zunächst die Fahrweise des Erstbeklagten anlangt, der vor dem Zusammenstoß die Sperrlinie in der Fahrbahnmitte überfahren hatte, wobei diese Sperrlinie allerdings bereits 11 m vor der Kollisionsstelle geendet hatte, so kann ihm zunächst ein unfallskausaler Verstoß gegen § 9 Abs 1 StVO nicht angelastet werden. Bereits das Berufungsgericht hat zutreffend darauf verwiesen, dass sich das in dieser Gesetzesstelle normierte Verbot des Überfahrens von Sperrlinien grundsätzlich darauf bezieht, der Sicherheit aller auf der Fahrbahn jenseits der Sperrlinie befindlichen Verkehrsteilnehmer zu dienen (2 Ob 58/81; ZVR 1983/71 ua) und dass schon aus diesem Grund der spezifische Rechtswidrigkeitszusammenhang zwischen dem Überfahren der Sperrlinie durch den Erstbeklagten und dem Schaden des Klägers zu verneinen ist. Dazu kommt, dass der Erstbeklagte, da die Sperrlinie bereits 11 m vor der Kollisionsstelle endete, ohne weiters die Möglichkeit hatte, auch ohne Überfahren der Sperrlinie mit dem von ihm gelenkten Fahrzeug in die Unfallsposition zu gelangen. Auch aus diesem Grund hat es bei Beurteilung des Fahrverhaltens des Erstbeklagten außer Betracht zu bleiben, dass er bei Annäherung an die Unfallstelle die bereits 11 m vor dieser endende Sperrlinie überfahren hatte.
Zu prüfen bleibt, ob dem Erstbeklagten aus anderen Gründen das Vorbeifahren an den auf den beiden östlichen Fahrstreifen angehaltenen Fahrzeugkolonnen untersagt war. Auch diese Frage ist zu verneinen.
Ein Anwendungsfall des § 17 Abs 4 und des § 18 Abs 3 StVO liegt nicht vor. Der Kläger kam nämlich nicht etwa aus einer Querstraße, sondern fuhr aus einer Grundstückseinfahrt, also einer Verkehrsfläche im Sinne des § 19 Abs 6 StVO, in die Kärntnerstraße ein. Nach ständiger Rechtsprechung sind die in § 19 Abs 6 StVO beispielsweise angeführten Verkehrsflächen keine Querstraßen im Sinne des § 18 Abs 3 StVO (ZVR 1972/186; ZVR 1978/313; ZVR 1983/71 ua).
Es entspricht ständiger Rechtsprechung, dass der Verzicht eines Fahrzeuglenkers auf seinen Vorrang nur für sein eigenes Fahrzeug gilt und nicht auch für andere Verkehrsteilnehmer wirkt (SZ 45/65; ZVR 1981/10; ZVR 1983/71 ua). Aus der Tatsache, dass auf den beiden östlichen Fahrstreifen der Kärntnerstraße Fahrzeuglenker anhielten, um dem Kläger die Einfahrt in diese Straße zu ermöglichen, ist daher nichts zu Gunsten des Klägers bzw zu Lasten des Erstbeklagten abzuleiten.
Gemäß § 17 Abs 1 StVO ist das Vorbeifahren nur gestattet, wenn dadurch andere Straßenbenützer, insbesondere entgegenkommende, weder gefährdet noch behindert werden. Nach dieser Vorschrift war es den Erstbeklagten nicht verboten, unter Überschreitung der im näheren Unfallsbereich die Fahrbahnmitte markierenden Leitlinie links an den auf den beiden östlichen Fahrstreifen aufgestauten Kolonnen vorbeizufahren, allerdings nur unter der Voraussetzung, dass er mit Sicherheit damit rechnen konnte, damit den Gegenverkehr nicht zu gefährden oder zu behindern (Dittrich-Veit-Schuchlenz StVO3 § 17 Anm 9 und dort zitierte Rechtsprechung). Dass für den Erstbeklagten Umstände vorgelegen wären, die sein Vorbeifahrmanöver im Sinne des § 17 Abs 1 StVO unzulässig gemacht hätten, wurde weder behauptet noch festgestellt. Nach ständiger Rechtsprechung können unter den „anderen Straßenbenützern“ im Sinne dieser Gesetzesstelle, die durch die Vorbeifahrt nicht behindert werden dürfen, solche Straßenbenützer, die nicht gegenüber dem Vorbeifahrenden einen Anspruch auf Nichtbehinderung haben, nicht verstanden werden. Wer auf Grund einer Vorrangbestimmung gegenüber dem Vorbeifahrenden wartepflichtig ist, hat diesem gegenüber keinen Anspruch auf Nichtbehinderung (ZVR 1981/10; ZVR 1982/227; ZVR 1983/71 ua). Daraus folgt, dass der Erstbeklagte keineswegs gehalten war, sein Vorbeifahrmanöver im Hinblick auf ein mögliches Fehlverhalten des ihm gegenüber benachrangten Klägers (dazu wird noch Stellung zu nehmen sein) zu unterlassen.
Was letztlich die vom Erstbeklagten eingehaltene Fahrgeschwindigkeit „in der Größenordnung von 50 km/h“ anlangt, so hat zunächst der Kläger im Verfahren erster Instanz dem Erstbeklagten die Einhaltung einer überhöhten Fahrgeschwindigkeit gar nicht als verschuldensbegründendes Fehlverhalten angelastet. Im Übrigen hat der Lenker eines Fahrzeugs gemäß § 20 Abs 1 StVO die Fahrgeschwindigkeit den gegebenen Umstände, insbesondere den Straßen-, Verkehrs- und Sichtverhältnissen anzupassen. Dabei braucht der Kraftfahrer seine Fahrgeschwindigkeit aber nicht auf völlig unberechenbare Hindernisse und insbesondere nicht auf solche einzurichten, die aufgrund nicht rechtzeitig erkennbaren Verhaltens anderer Verkehrsteilnehmer in die Fahrbahn gelangen. Bloß abstrakt mögliche Gefahrenquellen brauchen bei der Wahl einer Geschwindigkeit bis zu 50 km/h im Stadtgebiet nicht in Rechnung gestellt zu werden (ZVR 1981/10; ZVR 1981/84; ZVR 1982/227; ZVR 1982/228 ua). Dass der Erstbeklagte bei der von ihm eingehaltenen Fahrgeschwindigkeit nicht in der Lage gewesen wäre, sein Fahrzeug innerhalb der tatsächlichen Sichtstrecke anzuhalten, wurde nicht behauptet und ist nicht hervorgekommen. Dass der Kläger aber seinen Vorrang nicht wahren würde, konnte der Erstbeklagte vor Wahrnehmung dieses Fahrzeugs nicht erkennen. Er war daher auch nicht verpflichtet, von vornherein ein solches Fehlverhalten des Klägers durch die Wahl einer niedrigeren Geschwindigkeit in Rechnung zu stellen (8 Ob 196/79; ZVR 1981/10; ZVR 1982/227; ZVR 1982/228 ua).
Da der Erstbeklagte nach den Feststellungen der Vorinstanzen sofort durch Bremsung seines Fahrzeugs reagierte, als er das Fehlverhalten des Klägers erkennen konnte, kann ihm auch eine Reaktionsverspätung bzw eine Fehlreaktion nicht angelastet werden.
Der aus einer Grundstückseinfahrt kommende Kläger war gegenüber dem ihm fließenden Verkehr befindlichen Erstbeklagten im Sinne des § 19 Abs 6 StVO benachrangt; es oblag ihm gemäß § 19 Abs 7 StVO, durch sein Einfahren in die Kärntnerstraße den Erstbeklagten weder zu unvermitteltem Bremsen noch zum Ablenken seines Fahrzeugs zu nötigen. Der dem Erstbeklagten zukommende Vorrang wäre diesem grundsätzlich auch dann nicht verloren gegangen, wenn er sich selbst fehlerhaft verhalten hätte (siehe dazu Diettrich-Veit-Schuchlenz StVO3 § 19 Anm 10 und dort zitierte Judikatur); dem Erstbeklagten kann aber, wie sich aus den obigen Ausführungen ergibt, derartiges nicht angelastet werden. Nach ständiger Rechtsprechung (ZVR 1975/177; ZVR 1979/64; 8 Ob 165/80; 8 Ob 12/81 ua) hat sich der benachrangte Kraftfahrzeuglenker, um eine ihm obliegende Wartepflicht erfüllen zu können, dann, wenn es schlechte Sichtverhältnisse erfordern, äußerst vorsichtig vorzutasten, um die notwendige Sicht zu gewinnen. „Vortasten“ bedeutet dabei in der Regel ein schrittweises Vorrollen in mehreren Etappen bis zu einem Punkt, von dem aus die erforderliche Sicht möglich ist. Dieser Verpflichtung ist der Kläger, der Vorrang des Erstbeklagten zu wahren hatte, in keiner Weise nachgekommen, wenn er nach den Feststellungen der Vorinstanzen aus der Grundstückseinfahrt in einem Zug in die Kärntnerstraße einfuhr, wobei er im Zeitpunkt des Zusammenstoßes eine Geschwindigkeit von 20 km/h einhielt. Dem Kläger ist daher ganz eindeutig ein schuldhafter Verstoß gegen die Vorrangbestimmung des § 19 Abs 6 StVO anzulasten.
Unter diesen Umständen kann aber bereits aufgrund des derzeitigen unbestrittenen Sachstandes – ohne dass es der vom Berufungsgericht für erforderlich erachteten zusätzlichen Feststellungen bedurfte – gesagt werden, dass dem Kläger ein schwerwiegender schuldhafter Verstoß gegen straßenverkehrsrechtliche Vorschriften, nämlich eine Vorrangsverletzung, anzulasten ist, während dem Erstbeklagten ein schuldhaftes Fehlverhalten nicht zur Last gelegt werden kann. Im Sinne des § 11 Abs 1 EKHG besteht daher kein Anlass und keine Möglichkeit, die Beklagten zum Ersatz des Schadens des Klägers heranzuziehen.
Damit erweist sich die Rechtssache als entscheidungsreif im Sinne der Abweisung des Klagebegehrens (§ 519 Abs 2 letzter Satz ZPO).
Es war daher in Stattgebung der Rekurse beider Streitteile wie im Spruch zu entscheiden.
Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens in erster Instanz beruht auf § 41 ZPO, die Entscheidung über die Kosten des Berufungs- und des Rekursverfahrens auf den §§ 41, 50 ZPO.
Textnummer
E122449European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1984:0080OB00041.840.0704.000Im RIS seit
20.08.2018Zuletzt aktualisiert am
20.08.2018