Entscheidungsdatum
25.04.2018Norm
ASVG §410Spruch
I413 2159623-1/5E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Martin ATTLMAYR, LL.M. als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX, vertreten durch den Masseverwalter Dr. Herbert MATZUNSKI, Rechtsanwalt in 6020 Innsbruck, gegen den Bescheid der Tiroler Gebietskrankenkasse (TGKK) vom 08.03.2017, Zl. XXXX, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 04.04.2018 zu Recht erkannt:
A)
Der Beschwerde wird Folge gegeben und der angefochtene Bescheid vom 08.03.2017 wie folgt abgeändert: Die Tiroler Gebietskrankenkasse ist verpflichtet, binnen 14 Tagen die im Zeitraum 01.08.2016 bis einschließlich 06.12.2016 auf das Beitragskonto XXXX geleisteten AGH-Zahlungen in Höhe von insgesamt EUR 9.215,33 auf das Massekonto von RA Dr. Herbert MATZUNSKI als Masseverwalter von XXXX bei der XXXX, zu überweisen.
B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Über Antrag der belangten Behörde vom 26.07.2016 wurde über die Beschwerdeführerin wegen Beitragsrückständen das Insolvenzverfahren zu XXXX des Landesgerichts XXXX eröffnet und RA Dr. Herbert MATZUNSKI als Masseverwalter bestellt.
2. Mit Schreiben vom 15.02.2017 teilte der Masseverwalter der belangten Behörde mit, dass de facto ein Jahr lang keine Beitragsleistungen erfolgten, allerdings sog AGH (Auftraggeberhaftung)-Zahlungen eingegangen seien, welche nach der IO nicht anfechtbar seien, was aber nicht bedeute, dass die AGH-Zahlungen mit laufenden Beitragsvorschreibungen aufrechenbar seien. §§ 19, 20 IO regelten die Frage der Aufrechnung und seien gegenüber anderen Aufrechnungsvorschriften lex specialis. Demnach sei die Aufrechnung unzulässig, wenn zum Zeitpunkt des Erwerbs der Gegenforderung der Aufrechnungsgegner von der Zahlungsunfähigkeit Kenntnis hatte oder Kenntnis haben musste (§ 20 IO). Die belangte Behörde habe über die letzten Jahre insgesamt 10 Exekutionsverfahren eingeleitet. Zudem sei am 26.07.2016 zu XXXX des Landesgerichts XXXX wegen rückständiger Beiträge von mehr als EUR 10.0000,00 ein Insolvenzeröffnungsantrag eingebracht worden. Die nach dem Insolvenzbetrag eingegangenen AGH-Zahlungen seien nicht aufrechenbar, da Kenntnis bzw fahrlässige Unkenntnis der Zahlungsunfähigkeit zu unterstellen sei. Die im Folgenden im Schreiben genannten 7 AGH-Zahlungen in Höhe von insgesamt EUR 9.215,33 würden wegen Nichtaufrechenbarkeit ein Guthaben darstellen. Der Masseverwalter ersuchte um Überweisung dieses Guthabens auf das Massekonto oder um bescheidmäßige Ablehnung der Auszahlung des Guthabens.
3. Mit Bescheid vom 08.03.2017, XXXX, wies die belangte Behörde den Antrag auf Auszahlung von EUR 9.215,33, vom Beitragskonto XXXX von
XXXX ab, weil am Letzten des Kalendermonats nach dem Einlangen des Antrages, dem 28.02.2017, auf dem betreffenden Beitragskonto ein Rückstand in Höhe von EUR 22.549,60 bestehe und daher gemäß § 67a Abs 6 Z 1 ASVG dem Antrag auf Auszahlung von EUR 9.215,33 nicht stattgegebenen werde.
4. Gegen diesen dem Masseverwalter der Beschwerdeführerin am 09.03.2017 zugestellten Bescheid richtet sich die fristgerecht eingebrachte Beschwerde, in welcher die unrichtige rechtliche Beurteilung bemängelt wird. Zusammenfassend wird ausgeführt, dass es im vorliegenden Fall um AGH-Zahlungen vor Insolvenzeröffnung gehe, zu einem Zeitpunkt, als die belangte Behörde einen - letztlich zum Insolvenzverfahren führenden - Konkursantrag gestellt habe. Der Antrag des Masseverwalters habe sich nicht auf §§ 27 ff IO gestützt, weil AGH-Zahlungen gemäß § 67a Abs 2 ASVG nach dem 2. Abschnitt des ersten Hauptstückes des ersten Teiles der IO nicht anfechtbar seien. Dies bedeute nicht, dass die AGH-Zahlungen nicht auch nach dem ersten Hauptstück im ersten Abschnitt der IO - nach den Bestimmungen der §§ 19, 20 IO, ohne weiteres bei der belangten Behörde blieben. §§ 19, 20 IO seien zwingendes, unabdingbares Recht und gingen sämtlichen Rechtsvorschriften als leges speciales vor. § 67a Abs 4 ASVG erkläre die AGH-Zahlungen nach den Bestimmungen der §§ 27 ff IO für nicht anwendbar. Im Übrigen bestünde keine Sonderregelung. Die Sozialversicherungsträger könnten, wie aus den Materialen zur RV des AuftraggeberInnen-Haftungsgesetzes hervorgehe, zum einen über ihre Beitragsschulden nicht disponieren, zum anderen (im Unterschied zum Fiskus) jedoch konkrete Leistungspflichten gegenüber den Versicherten und sonstigen Anspruchsberechtigten haben, die im Wesentlichen durch Beiträge zu finanzieren seien. Es sei die Wertung und Absicht des Gesetzgebers zu erschließen, dass hinsichtlich der Sozialversicherungsbeiträge eine von den allgemeinen Regelungen des Insolvenzrechtes abweichende Behandlung der Haftungsbeiträge geschaffen werden sollte, nicht aber dass eine Sonderregelung hinsichtlich der Verrechnung/Aufrechnung geregelt wurde. Zu entscheiden sei, ob die §§ 19, 20 IO als leges speciales bei der Frage der Aufrechnung/Verrechnung anzuwenden seien und ob sich die belangte Behörde angesichts des eingebrachten Insolvenzantrages darauf berufen könne, keine Kenntnis bzw fahrlässige Unkenntnis von der Zahlungsunfähigkeit der Betragsschuldnerin gehabt zu haben. Aus § 67a Abs 4 ASVG lasse sich nur die Ausnahme rechtfertigen, dass AGH-Zahlungen im Sinne der §§ 27 ff IO anfechtungsfest seien. Demgegenüber würden die Aufrechnungsbestimmungen der §§ 19, 20 IO leges speciales darstellen. Die Aufrechnung sei unzulässig, zumal sich ein Gläubiger, der selbst den Insolvenzantrag gestellt habe, nicht auf die Unkenntnis der Zahlungsunfähigkeit berufen könne. Der belangten Behörde, die selbst den gegenständlichen Insolvenzantrag gestellt habe, sei Kenntnis bzw fahrlässige Unkenntnis von der Zahlungsunfähigkeit der Beitragsschuldnerin zu unterstellen. Sämtliche seit 26.07.2016 eingelangten AGH-Zahlungen seien nicht mehr zu verrechnen sondern dem Masseverwalter als Guthaben auszuzahlen. Daher beantragte die Beschwerdeführerin, dem Antrag auf Auszahlung Von EUR 9.215,33 von ihrem Beitragskonto stattzugeben.
5. Mit Schriftsatz vom 30.05.2017 legte die belangte Behörde die Beschwerde und den Verwaltungsakt dem Bundesverwaltungsgericht vor und erstattete eine Stellungnahme zur Beschwerde. Zusammenfassend vertrat die belangte Behörde den Standpunkt, dass § 67a Abs 6 Z 1 ASVG normiere, dass ein Guthaben auf einem Beitragskonto, welches sich aufgrund der Überweisung von Haftungsbeträgen ergebe, aufgrund eines gestellten Antrages nicht auszuzahlen sei, wenn am Letzen des Kalendermonats nach dem Einlangen des Antrages nicht alle Beitragskonten nach dem ASVG und GSVG des beauftragten Unternehmens ausgeglichen seien. Am Letzten des Kalendermonats nach dem Einlangen des Antrages, am 28.02.2017, habe das Beitragskonto einen Rückstand in Höhe von EUR 22.549,60 aufgewiesen, weshalb dem Antrag nicht stattgegeben werden konnte. Der Rückstand sei auch nicht bestritten worden. Die belangte Behörde sei auch für die Frage, ob ein Gutachten auszuzahlen wäre, zuständig. Daher beantragte die belangte Behörde die Beschwerde abzuweisen.
6. Am 04.04.2018 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht die mündliche Verhandlung statt.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Der in Pkt. I. dargelegte Verfahrensgang wird zum maßgeblichen Sachverhalt erhoben und zudem folgende weitere Feststellungen getroffen:
Am 26.07.2016 brachte die belangte Behörde gegen XXXX, Malerei, wegen rückständiger Beiträge von mehr als EUR 10.000,00 beim Landesgericht XXXX zu XXXX einen Insolvenzeröffnungsantrag ein. Zuvor hatte die belangte Behörde gegen XXXX, Malerei, jeweils wegen offener Beitragsrückstände in den letzten Jahren zumindest zehn Exekutionsverfahren eingeleitet, zuletzt am 20.05.2016 zu Zl. XXXX und am 06.07.2016 zu Zl. XXXX, jeweils des Bezirksgerichtes XXXX.
Über das Vermögen von XXXX, Malerei, wurde mit Beschluss des Landesgerichts Innsbruck vom 19.01.2017, XXXX, das Konkursverfahren eröffnet und RA Dr. Herbert MATZUNSKI zum Masseverwalter bestellt.
Nach dem Zeitpunkt des Insolvenzantrages durch die belangte Behörde am 26.07.2016 erfolgten AGH-Zahlungen in Höhe von insgesamt EUR 9.215,33. Im Einzelnen erfolgten folgenden Zahlungen an nachstehenden Tagen: Am 01.08.2016 EUR 2.006,49, am 08.08.2016 EUR 202,58, am 16.08.2016 EUR 2.774,91, am 16.08.2016 EUR 901,43, am 21.09.2016 EUR 1.061,86, am 21.09.2016 EUR 1.049,66, am 23.11.2016 EUR 27,62, am 28.11.2016 EUR 67,90 und am 06.12.2016 EUR 1.122,88.
Am 15.02.2018 stellte der Masseverwalter von XXXX den Antrag auf Auszahlung von AGH-Zahlungen in Höhe von EUR 9.215,33.
Zum Stichtag, dem letzten Tag des Monats, in dem der Antrag auf Auszahlung eines Guthabens gestellt worden ist, dem 28.02.2017, bestand auf dem Beitragskonto von XXXX ein Rückstand in Höhe von EUR 22.549,60.
2. Beweiswürdigung:
Der maßgebliche Sachverhalt ergibt sich aus dem vorgelegten Verwaltungsakt, insbesondere aus dem Aufforderungsschreiben vom 15.02.2017, der Kontoübersicht, dem angefochtenen Bescheid, der Beschwerde und den Aussagen des Masseverwalters im Rahmen der mündlichen Verhandlung am 04.04.2018. Er steht unstrittig fest.
3. Rechtliche Beurteilung:
3.1. Zuständigkeit und anwendbares Recht
Gemäß § 6 BVwGG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch EinzelrichterInnen, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.
Gemäß § 414 Abs 2 ASVG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht nur in Angelegenheiten nach § 410 Abs 1 Z 1, 2 und 6 bis 9 und überdies nur im Fall eines (hier nicht gestellten) Antrags einer Partei durch einen Senat. Der Beschwerdefall unterliegt daher der Einzelrichterzuständigkeit.
Gemäß § 28 Abs 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist.
Gemäß § 28 Abs 2 VwGVG hat über Beschwerden gemäß Art 130 Abs 1 Z 1 B-VG das Verwaltungsgericht dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.
3.2. Zu Spruchpunkt A) - Stattgebung der Beschwerde
3.2.1. Die maßgeblichen Bestimmungen des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes (ASVG), BGBl I Nr 198/1955 idF BGBl I Nr 2/2918 lauten wie folgt:
Behandlung der Beiträge im Insolvenzverfahren sowie bei der Zwangsverwaltung und Zwangsverpachtung im Exekutions- und Sicherungsverfahren
§ 65. (1) Für die Behandlung der Beiträge im Insolvenzverfahren sind die Vorschriften der Insolvenzordnung maßgebend.
[...]
Haftung bei Beauftragung zur Erbringung von Bauleistungen
§ 67a. (1) Wird die Erbringung von Bauleistungen nach § 19 Abs. 1a des Umsatzsteuergesetzes 1994 von einem Unternehmen (Auftrag gebendes Unternehmen) an ein anderes Unternehmen (beauftragtes Unternehmen) ganz oder teilweise weitergegeben, so haftet das Auftrag gebende Unternehmen für alle Beiträge und Umlagen (§ 58 Abs. 6), die das beauftragte Unternehmen an österreichische Krankenversicherungsträger abzuführen hat oder für die es nach dieser Bestimmung haftet, bis zum Höchstausmaß von 20 % des geleisteten Werklohnes, wenn kein Befreiungsgrund nach Abs. 3 vorliegt.
[...]
(4) Die Überweisung nach Abs. 3 Z 2 wirkt gegenüber dem beauftragten Unternehmen schuldbefreiend; sie gilt als Drittleistung und unterliegt nicht dem Zweiten Abschnitt des Ersten Hauptstückes des Ersten Teiles der Insolvenzordnung. Der Überweisungsdatensatz bzw. die elektronische Überweisung ist mit dem Vermerk "AGH" zu versehen und hat folgende Daten zu enthalten:
1. die DienstgeberInnennummer, wenn nicht vorhanden den Firmennamen und die Adresse des Auftrag gebenden Unternehmens,
2. a) die Umsatzsteuer-Identifikationsnummer, wenn nicht vorhanden die Finanzamts- und Steuernummer sowie
b) die DienstgeberInnennummer, in Ermangelung einer solchen bei Personen nach § 67e die Versicherungsnummer mit dem Zusatz "v", in sonstigen Fällen den Firmennamen
des beauftragten Unternehmens und
3. das Datum und die Nummer der Rechnung über den Werklohn.
[...]
(6) Guthaben auf einem Beitragskonto des beauftragten Unternehmens, die sich auf Grund der Überweisung von Haftungsbeträgen nach Abs. 3 Z 2 ergeben, sind auf schriftlichen Antrag, der innerhalb von fünf Jahren ab Einlangen der Zahlung an das Dienstleistungszentrum (§ 67c) zu richten ist, durch den jeweils zuständigen Krankenversicherungsträger auszuzahlen. Dem Antrag ist insbesondere dann nicht stattzugeben, wenn am Letzten des Kalendermonats nach dem Einlangen des Antrages beim Dienstleistungszentrum (§ 67c) 1. nicht alle Beitragskonten nach dem ASVG und GSVG des beauftragten Unternehmens ausgeglichen sind oder 2. [...] Wird dem Antrag nicht stattgegeben, so ist das Guthaben mit Verbindlichkeiten des beauftragten Unternehmens zu verrechnen, und zwar nach folgender Reihenfolge: offene Beitragsschulden, Ansprüche gegenüber dem beauftragten Unternehmen auf Grund einer Haftung nach Abs. 1, Zuschlagsleistungen, Abgabenforderungen des Bundes.
[...]
3.2.2. Die maßgeblichen Bestimmungen der Insolvenzordnung (IO), RGBl Nr 337/1914 idF BGBl I Nr 122/2017, lauten wie folgt:
Erster Teil
Insolvenzrecht
Erstes Hauptstück
Wirkungen der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens
Erster Abschnitt
Allgemeine Vorschriften
[...]
Aufrechnung.
§ 19.
(1) Forderungen, die zur Zeit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens bereits aufrechenbar waren, brauchen im Insolvenzverfahren nicht geltend gemacht zu werden.
(2) Die Aufrechnung wird dadurch nicht ausgeschlossen, daß die Forderung des Gläubigers oder des Schuldners zur Zeit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens noch bedingt oder betagt, oder daß die Forderung des Gläubigers nicht auf eine Geldleistung gerichtet war. Die Forderung des Gläubigers ist zum Zwecke der Aufrechnung nach §§ 14 und 15 zu berechnen. Ist die Forderung des Gläubigers bedingt, so kann das Gericht die Zulässigkeit der Aufrechnung von einer Sicherheitsleistung abhängig machen.
§ 20.
(1) Die Aufrechnung ist unzulässig, wenn ein Insolvenzgläubiger erst nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens Schuldner der Insolvenzmasse geworden oder wenn die Forderung gegen den Schuldner, über dessen Vermögen das Insolvenzverfahren eröffnet wurde, erst nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens erworben worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Schuldner der Insolvenzmasse die Gegenforderung zwar vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens erworben hat, jedoch zur Zeit des Erwerbes von der Zahlungsunfähigkeit des Schuldners, über dessen Vermögen in der Folge das Insolvenzverfahren eröffnet wurde, Kenntnis hatte oder Kenntnis haben musste.
(2) Die Aufrechnung ist jedoch zulässig, wenn der Schuldner die Gegenforderung früher als sechs Monate vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens erworben hat oder wenn er zur Forderungsübernahme verpflichtet war und bei Eingehung dieser Verpflichtung von der Zahlungsunfähigkeit des Schuldners weder Kenntnis hatte noch Kenntnis haben mußte.
[...]
3.2.3. Im gegenständlichen Fall ist primär strittig, ob insolvenzrechtliche Bestimmungen, namentlich §§ 19 und 20 IO, die belangte Behörde daran hindern, auf dem Beitragskonto der insolventen Beitragsschuldnerin nach Konkursantrag eingelangte AGH-Zahlungen mit aufgelaufenen Beitragsschulden zu verrechnen.
Gemäß § 65 Abs 1 ASVG sind für die Behandlung der Beiträge im Insolvenzverfahren die Vorschriften der Insolvenzordnung (IO) maßgebend. § 67a ASVG enthält in Abs 4 eine von der IO abweichende Sondernorm, welche die insolvenzrechtliche Anfechtung des überwiesenen Haftungsbetrages ausschließt. Den Materialien zur Regierungsvorlage des AuftraggeberInnen-Haftungsgesetzes (EBRV 523 BlgNR 23. GP, 5) zu entnehmen, dass nach § 67a Abs 4 ASVG die Leistung des Haftungsbetrages durch das Auftrag gebende Unternehmen gegenüber dem beauftragten Unternehmen schuldbefreiend wirkt und als Drittleistung gilt, dh diese Leistung nicht der Anfechtung im Konkursverfahren unterliegt. Dieses konkursrechtliche Privileg wird in den Materialien damit gerechtfertigt, dass die Sozialversicherungsträger zum einen über ihre BeitragsschuldnerInnen nicht disponieren könnten, zum anderen (im Unterschied zum Fiskus) jedoch konkrete Leistungspflichten gegenüber den Versicherten und sonstigen Anspruchsberechtigten hätten, die im Wesentlichen durch Beiträge zu finanzieren seien. Hieraus resultiere ein vehementes öffentliches Interesse an der Sicherung der Finanzierung der Sozialversicherung, die durch Praktiken der Beitragshinterziehung bedroht sei. Durch die Statuierung, den geleisteten Haftungsbetrag der Anfechtung im Konkursverfahren zu entziehen, werde somit eine sachlich begründete, stark eingegrenzte Ausnahmeregelung getroffen, die zur Hintanhaltung der spezifischen Probleme im Baubereich beitrage (EBRV 523 BlgNR 23.GP, 5).
Nach dem klaren Wortlaut der Regelung des § 67a Abs 4 ASVG unterliegt die Überweisung nach § 67a Abs 3 Z 2 ASVG ausdrücklich nicht dem Zweiten Abschnitt des Ersten Hauptstückes des Ersten Teiles der Insolvenzordnung (§§ 27 ff IO - Anfechtung der vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens vorgenommenen Rechtshandlungen). Der Erste Abschnitt des Ersten Hauptstückes des ersten Teils der IO (§§ 1 bis 26a IO) wird weder erwähnt, noch von § 67a ASVG ausgenommen. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass die Vorschriften der IO mit Ausnahme des im Zweiten Abschnitts des Ersten Hauptstücks des Ersten Teils der IO (§§ 27 bis 43 IO) geregelten insolvenzrechtliche Anfechtungsrechts gilt. Mit dieser Ausnahme ist für die IO anzuwenden (§ 65 ASVG). Damit gilt die Aufrechnungsbestimmung der §§ 19, 20 IO.
§ 67a ASVG normiert ein Sonderhaftungsrecht für die Auftraggeber, nach welchem beim Sozialversicherungsträger nach dem AGH-Regime über das Dienstleistungszentrum geleistete Zahlungen verbucht werden. Vorrangiges Ziel dieser Bestimmung ist die Bekämpfung des Sozialbetrugs va in der Bauwirtschaft durch Konstrukte, die von vornherein darauf abzielen, insbesondere keine Sozialversicherungsbeiträge und Zuschläge nach dem BUAG zu zahlen, indem Unternehmen, die sich Subauftragnehmer bedienen für alle von diesem abzuführenden Sozialversicherungsbeiträgen und Umlagen haftet. § 67a Abs 3 ASVG sieht zwei Haftungsbefreiungsgründe des auftraggebenden Unternehmens vor, ua durch Überweisung eines Haftungsfreistellungsbetrages an das Dienstleistungszentrums. Diese Zahlungen unterliegen nach § 67a Abs 4 ASVG nicht der insolvenzrechtlichen Anfechtung nach den §§ 27 ff IO. § 67a ASVG schafft aber durch diese Ausnahme von der insolvenzrechtlichen Anfechtung nicht ein Sonderinsolvenzrecht für die Sozialversicherungsträger. Aus der - engen - Formulierung des § 67a Abs 4 ASVG, wonach die Überweisung nicht dem Zweiten Abschnitt des Ersten Hauptstückes des Ersten Teiles der IO Insolvenzordnung unterliegt, kann nicht darauf geschlossen werden, dass die übrigen Bestimmungen der IO grundsätzlich auf diese Überweisungen nach § 67a Abs 3 Z 2 ASVG nicht anzuwenden wären. Vielmehr sind aufgrund des § 65 Abs 1 ASVG auch für diese Überweisungen die Vorschriften der IO maßgebend, ausgenommen des insolvenzrechtlichen Anfechtungsgerichts der §§ 28 ff IO. Die Überweisungen nach § 67a Abs 3 Z 2 ASVG genießen daher abgesehen von der mangelnden Anfechtbarkeit keine Sonderstellung im Insolvenzverfahren.
Die belangte Behörde verweist in ihrer Stellungnahme auf § 67a Abs 6 Z 1 ASVG, wonach das Guthaben auf einem Beitragskonto nicht auszuzahlen ist, wenn am Letzten des Kalendermonats nach dem Einlangen des Antrages nicht alle Beitragskonten nach dem ASVG und GSVG des beauftragten Unternehmens ausgeglichen sind, was im gegebenen Fall nicht der Fall ist. Der Verweis auf diese Bestimmung geht ins Leere, da es gerade dem Wesen der Insolvenz entspricht, dass Gläubiger nicht mehr im Wege der Einzelvollstreckung ihre Ansprüche durchsetzen können, sondern sich gemeinsam und gleichberechtigt am Insolvenzverfahren beteiligen müssen und quotenmäßig befriedigt werden, es sei denn sie sind zur Aussonderung oder Absonderung berechtigt, oder in anderer Weise privilegiert. Auf die Sozialversicherungsbeiträge der belangten Behörde trifft dies nicht zu. Sie sind nicht insolvenzrechtlich privilegiert und unterliegen demselben Schicksal wie andere unbesicherte Forderungen auch. Für die AGH-Zahlungen gilt dies ebenso (mit der einen Ausnahme, dass die Zahlungen der Haftungsfreistellungsbeträge nach § 67a Abs 4 ASVG unanfechtbar sind). Daher steht § 67a Abs 6 Z 1 ASVG - welcher mangels expliziter Regelung keine Ausnahme von der IO schafft - der Überweisung der geleisteten AGH-Zahlungen auf das Massekonto nicht entgegen. Eine Aufrechnung dieser Zahlungen mit offenen Beiträgen steht der belangten Behörde im Konkursfall nur nach den Bestimmungen der §§ 19, 20 IO zu, nicht aber nach § 67a Abs 6 Z 1 ASVG. Diese Bestimmung kann nur außerhalb des Insolvenzverfahrens greifen und verhindern, dass nicht insolvente Beitragsschuldner trotz offener Beiträge die Guthaben an Haftungsfreistellungsbeträgen (die ja ein Abzug ihres Werklohns sind) erhalten können.
Es ist somit zusammenfassend der Beschwerde beizupflichten, wenn diese die Auffassung vertritt, dass die Bestimmungen der §§ 19, 20 IO gegenüber § 67a ASVG als leges speciales anzusehen sind, der Bestimmung des § 67a ASVG vorgehen und damit im Insolvenzfall eine Aufrechnung unter den Voraussetzungen des § 20 IO verunmöglichen.
3.2.4. Zu klären ist nun, ob die belangte Behörde das gegenständliche Guthaben an AGH-Zahlungen gegen die offenen Beiträge der insolventen Beschwerdeführerin aufrechnen darf und deshalb von einer Überweisung dieses Guthabens auf das Massekontos befreit ist. Diese Frage ist - da keine Anfechtung im Raum steht, welche nach § 67a Abs 4 ASVG unzulässig wäre - iSd § 65 ASVG nach § 19 IO und insbesondere nach § 20 IO zu klären.
§ 19 IO gestattet es dem Gläubiger gegen Forderungen, die zur Zeit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens bereits aufrechenbar waren, grundsätzlich aufzurechnen. Eingeschränkt und präzisiert wird dieser Grundsatz durch § 20 IO.
Beschwerdegegenständlich ist nur das in den letzten sechs Monaten vor Konkurseröffnung und zwar im Zeitraum zwischen dem Monat des Konkursantrages durch die belangte Behörde am 26.07.2016 und dem Monat der Konkurseröffnung am 10.01.2017 entstandene Guthaben an AGH-Zahlungen. Daher ist im vorliegenden Fall nur zu prüfen, ob die unzulässig Aufrechnung ist, weil die belangte Behörde als Schuldner der Insolvenzmasse die Gegenforderung zwar vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens erworben hatte, jedoch zur Zeit des Erwerbes von der Zahlungsunfähigkeit der Beschwerdeführerin, über deren Vermögen in der Folge das Insolvenzverfahren eröffnet wurde, Kenntnis hatte oder Kenntnis haben musste (§ 20 Abs 1 letzter Fall IO).
Die belangte Behörde stellte am 26.07.2016 den Insolvenzeröffnungsantrag. Nach der Judikatur des OGH kann sich ein Gläubiger, der selbst einen Insolvenzantrag gestellt hat, nicht auf Unkenntnis der Zahlungsunfähigkeit berufen und zwar selbst dann nicht, wenn der Insolvenzantrag angewiesen wurde (OGH 14.06.2016, 3Ob105/16m). Aufgrund des durch die belangte Behörde gestellten Insolvenzeröffnungsantrages, welcher in weiterer Folge auch zur Insolvenzeröffnung und zur Bestellung des einschreitenden Masseverwalters führte, ist von einer Kenntnis bzw. zumindest fahrlässigen Unkenntnis der belangten Behörde von der Zahlungsunkenntnis der Beschwerdeführerin ist daher auszugehen.
Folglich ist in Anwendung von § 20 Abs 1 IO eine Aufrechnung der am Beitragskonto eingelangten Beträge gegen die am 28.02.2017 (dem letzten Tag des Monats des Antrages) bestehenden Schulden am Beitragskonto nicht möglich.
Damit hätte die belangte Behörde dem Antrag des Masseverwalters auf Überweisung des streitgegenständlichen Guthabens stattgeben müssen. Der bekämpfte Bescheid war daher dahin abzuändern, dass der streitgegenständliche Guthabensbetrag dem Masseverwalter auf das Massekonto zu überweisen ist.
Zu B) Zulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art 133 Abs 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG zulässig, weil die Entscheidung von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Es fehlt an einer expliziten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu den hier aufgeworfenen, in der Literatur überwiegend befürworteten und insolvenzrechtlich bedeutsamen Frage, ob § 67a ASVG über die Ausnahme von der insolvenzrechtlichen Anfechtbarkeit hinaus es dem Träger der Sozialversicherung auch erlaubt, ohne Rücksicht auf §§ 19, 20 IO AGH-Zahlungen im Rahmen einer Insolvenz des Auftragnehmers mit offenen Beiträgen gegenzuverrechnen oder gegen diese aufzurechnen. Derzeit besteht nur in Form eines Erkenntnisses des Bundesverwaltungsgerichts eine diesbezügliche, keineswegs gefestigte Rechtsprechung.
Schlagworte
Insolvenzverfahren, Masseverwalter, Revision zulässig,European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2018:I413.2159623.1.00Zuletzt aktualisiert am
20.08.2018