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E000 EU- Recht allgemein;Norm
32003R0343 Dublin-II Art2 lite;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Samonig, über die Revision des M N S, vertreten durch Dr. Wolfgang Schubert, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Kärntner Straße 10, gegen das am 1. Februar 2018 mündlich verkündete und am 15. Mai 2018 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes, W154 2184496-1/14E, betreffend Schubhaft (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte nach seiner Einreise nach Österreich am 27. Juni 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Dieser Antrag wurde mit dem in Rechtskraft erwachsenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 6. Juli 2017 zur Gänze abgewiesen; unter einem erging gegen den Revisionswerber eine Rückkehrentscheidung samt Ausspruch gemäß § 52 Abs. 9 FPG, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei.
2 Der in der Folge in das Vereinigte Königreich weitergereiste Revisionswerber stellte dort am 28. Juli 2017 neuerlich einen Antrag auf internationalen Schutz. Nachdem von Seiten Österreichs einem Wiederaufnahmegesuch zugestimmt worden war, wurde der Revisionswerber am 17. Jänner 2018 gemäß der Dublin III-Verordnung rücküberstellt und in Vollziehung eines entsprechenden Festnahmeauftrages gemäß § 34 Abs. 3 Z 1 BFA-VG am Flughafen Wien-Schwechat festgenommen. In der Folge verhängte das BFA über den Revisionswerber - ohne dessen vorangehende Einvernahme - mit Mandatsbescheid vom 18. Jänner 2018 gemäß § 76 Abs. 2 Z 1 FPG Schubhaft zur Sicherung seiner Abschiebung. Nach seiner Vernehmung am 19. Jänner 2018 wurde der Revisionswerber über den Termin seiner für 5. Februar 2018 geplanten Abschiebung nach Afghanistan informiert.
3 Im Zuge der Anhaltung in Schubhaft stellte der Revisionswerber am 25. Jänner 2018 in förmlicher Weise wiederum einen Antrag auf internationalen Schutz, zu dem er am folgenden Tag befragt wurde. In diesem Verfahren erließ das BFA gegenüber dem Revisionswerber am 31. Jänner 2018 einen Mandatsbescheid gemäß § 12a Abs. 4 AsylG 2005, mit dem festgestellt wurde, dass die Voraussetzungen nach der genannten Gesetzesstelle nicht vorlägen und dass dem Revisionswerber kein faktischer Abschiebeschutz zuerkannt werde.
4 Im Hinblick auf die vom Revisionswerber am 29. Jänner 2018 eingebrachte Schubhaftbeschwerde führte das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) am 1. Februar 2018 eine mündliche Verhandlung durch. An deren Ende verkündete das BVwG das vorliegend angefochtene Erkenntnis, mit dem gemäß § 22a Abs. 3 BFA-VG festgestellt wurde, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung die maßgeblichen Voraussetzungen für die Fortsetzung der Schubhaft vorlägen. Die Revision wurde gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig erklärt.
5 Am 5. Februar 2018 wurde der Revisionswerber sodann nach Afghanistan abgeschoben.
6 Gegen das in Rn. 4 genannte Erkenntnis richtet sich die vorliegende (außerordentliche) Revision, die dem Verwaltungsgerichtshof gemäß § 30a Abs. 7 VwGG gemeinsam mit den Akten des Verfahrens (beinhaltend die über entsprechenden fristgerechten Antrag des Revisionswerbers mittlerweile vorgenommene, mit 15. Mai 2015 datierte schriftliche Ausfertigung dieses Erkenntnisses) vorgelegt wurde. Darüber hat der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens - Revisionsbeantwortungen wurden nicht erstattet - erwogen:
7 Die Revision erweist sich entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des Verwaltungsgerichtes als zulässig und auch als berechtigt, weil das BVwG - wie sich aus den nachstehenden Ausführungen ergibt - in den entscheidungswesentlichen Punkten von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen ist. Das wird auch in der gemäß § 28 Abs. 3 VwGG erstatteten Zulässigkeitsbegründung der Revision zutreffend aufgezeigt.
8 Im vorliegenden Fall stellt sich zunächst die Frage, ob der Revisionswerber bei seiner Rücküberstellung aus dem Vereinigten Königreich im Hinblick auf den dort eingebrachten, inhaltlich noch nicht geprüften Antrag auf internationalen Schutz als "Drittstaatsangehöriger, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat", zu qualifizieren war oder nicht. Mit diesem Thema hatte sich der Verwaltungsgerichtshof bereits in dem (insoweit) eine vergleichbare Konstellation betreffenden Erkenntnis VwGH 19.3.2013, 2011/21/0128, ausführlich auseinandergesetzt. Er ist dabei vor dem Hintergrund der unmittelbar anwendbaren Bestimmungen der (damals geltenden) Dublin II-Verordnung zu dem Ergebnis gelangt, dass der in einem anderen Mitgliedstaat gestellte Asylantrag auch als in Österreich gestellt anzusehen sei, wenn sich die Republik Österreich im Hinblick auf die ihr nach der genannten Verordnung zukommende Zuständigkeit zur (Wieder-)Aufnahme des Fremden bereit erklärt hat. Eines (nochmaligen) Schutzersuchens bedürfe es nicht. Im Ergebnis bestehe damit die Pflicht des (wieder-)aufnehmenden Staates, den in einem anderen Mitgliedstaat gestellten Asylantrag, und sei es auch ein "Folgeantrag", bei dem ohne vorherige Prüfung nicht beurteilt werden könne, ob neue Fluchtgründe geltend gemacht werden, ohne Weiteres einer Prüfung zuzuführen. Unter diesen Bedingungen aus dem anderen Mitgliedstaat nach Österreich (rück-)überstellte Drittstaatsangehörige könnten daher auch nur nach den (gleichermaßen) für "Fremde, die einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt haben," und für "Asylwerber" geltenden Bestimmungen (damals: § 76 Abs. 2 und 2a FPG in der bis 31. Dezember 2013 geltenden Fassung) in Schubhaft genommen werden. Dazu kann des Näheren auf die Entscheidungsgründe dieses Erkenntnisses, die auch für die insoweit im Wesentlichen inhaltsgleichen Bestimmungen der Dublin III-Verordnung Gültigkeit haben, gemäß § 43 Abs. 2 VwGG verwiesen werden (vgl. daran anschließend auch VwGH 19.3.2013, 2011/21/0250, VwGH 11.6.2013, 2013/21/0037, und schon zur Dublin III-Verordnung VwGH 20.12.2016, Ra 2016/21/0345, Rn. 12; siehe in diesem Sinn auch EuGH (Große Kammer) 26.7.2017, C-646/16, Jafari, Rn. 83, woraus sich ergibt, dass ein nach Art. 13 Abs. 1 Dublin III-Verordnung wegen illegalen Überschreitens seiner Grenze zuständiger Mitgliedstaat den danach von diesem Drittstaatsangehörigen in einem anderen Mitgliedstaat gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen hat).
9 Galt der Revisionswerber somit im Zeitpunkt seiner Rücküberstellung aus dem Vereinigten Königreich am 17. Jänner 2018 als Drittstaatsangehöriger, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, über den noch nicht endgültig entschieden war, so war er "Antragsteller" im Sinne der Begriffsbestimmung des Art. 2 Buchst. b der Aufnahme-RL (Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung vom Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (Neufassung)). Auf den Revisionswerber waren daher nach deren Art. 3 Abs. 1 die Bestimmungen der genannten Richtlinie anzuwenden, und zwar solange er als Antragsteller im Hoheitsgebiet verbleiben durfte.
10 Dem Revisionswerber kam gemäß § 12 Abs. 1 AsylG 2005 aufgrund seines Asylfolgeantrags ab dem Zeitpunkt seiner Wiedereinreise faktischer Abschiebeschutz zu, der in dieser Konstellation nach innerstaatlichem Recht nur gemäß § 12a Abs. 2 AsylG 2005 bei Vorliegen der dort genannten Voraussetzungen vom BFA mit Bescheid hätte aufgehoben werden können. Ein solcher Bescheid ist im gegenständlichen Fall bis zur Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses nicht ergangen. Schon auf dieser Basis galt auch zu diesem Zeitpunkt für den Revisionswerber noch die Aufnahme-RL, sodass Schubhaft nach § 76 Abs. 2 Z 1 FPG gegen ihn nicht in Betracht kam (siehe zu einer insoweit vergleichbaren Konstellation VwGH 14.11.2017, Ra 2016/21/0219, unter Bezugnahme auf das grundlegende Erkenntnis VwGH 5.10.2017, Ro 2017/21/0009, auf deren Entscheidungsgründe jeweils gemäß § 43 Abs. 2 VwGG verwiesen werden kann; vgl. auch das Erkenntnis vom heutigen Tag, Ra 2018/21/0094). Angesichts dessen erweist sich der vom BVwG gemäß § 22a Abs. 3 BFA-VG vorgenommene Ausspruch, die maßgeblichen Voraussetzungen für die Fortsetzung der Schubhaft - evident gemeint: nach § 76 Abs. 2 Z 1 FPG - seien am 1. Februar 2018 vorgelegen, als inhaltlich rechtswidrig.
11 Auf die dargestellte Vorjudikatur ist das BVwG - trotz einer diesbezüglichen Bezugnahme des Revisionswerbers im Rahmen des Beschwerdeverfahrens - überhaupt nicht eingegangen. Es erachtete vielmehr allein die am 25. Jänner 2018 vom Revisionswerber vorgenommene Stellung des Asylfolgeantrags gegenüber den österreichischen Behörden für maßgeblich. Davon ausgehend habe der Revisionswerber diesen Antrag während der Anhaltung in Schubhaft innerhalb von achtzehn Tagen vor dem bereits für 5. Februar 2018 festgelegten, ihm davor zur Kenntnis gebrachten Abschiebetermin gestellt, sodass ihm gemäß § 12a Abs. 3 AsylG 2005 kein Abschiebeschutz zugekommen sei. Angesichts dessen - so folgerte das BVwG - sei die Rückkehrentscheidung vom 6. Juli 2017 nach wie vor durchsetzbar gewesen, zumal das BFA den faktischen Abschiebeschutz auch nicht mit dem am 31. Jänner 2018 erlassenen Bescheid gemäß § 12a Abs. 4 AsylG 2005 zuerkannt habe.
12 Damit hat das BVwG aber - wie in den Rn. 8 bis 10 dargelegt wurde - die entsprechend dem Unionsrecht auszulegende Rechtslage verkannt. Ausgehend von der Maßgeblichkeit der Stellung des Folgeantrags auf internationalen Schutz im Vereinigten Königreich bereits am 28. Juli 2017, der mit der Überstellung des Revisionswerbers gemäß der Dublin III-Verordnung am 17. Jänner 2018 zu diesem Zeitpunkt auch als in Österreich gestellt galt, war nämlich schon die grundsätzliche Voraussetzung nach § 12a Abs. 3 AsylG 2005 - dass er den Asylfolgeantrag binnen achtzehn Tagen vor einem bereits festgelegten Abschiebetermin gestellt hat und zuvor über den Abschiebetermin informiert worden war - nicht erfüllt. Aus demselben Grund wäre im Übrigen auch der Schubhafttatbestand des § 76 Abs. 6 FPG, dessen Heranziehung die Stellung des Antrags auf internationalen Schutz "während einer Anhaltung in Schubhaft" vorausgesetzt hätte, nicht in Betracht gekommen (vgl. auch dazu das schon genannte Erkenntnis VwGH 14.11.2017, Ra 2016/21/0219, Rn. 9).
13 Demzufolge war das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
14 Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014. Wien, am 3. Juli 2018
Gerichtsentscheidung
EuGH 62016CJ0646 Jafari VORABSchlagworte
Auslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Analogie Schließung von Gesetzeslücken VwRallg3/2/3Besondere RechtsgebieteGemeinschaftsrecht Richtlinie richtlinienkonforme Auslegung des innerstaatlichen Rechts EURallg4/3Gemeinschaftsrecht Verordnung unmittelbare Anwendung EURallg5/1European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2018:RA2018210025.L00Im RIS seit
07.08.2018Zuletzt aktualisiert am
03.09.2018